75 kmh - Andre Pfeifer - E-Book

75 kmh E-Book

André Pfeifer

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Beschreibung

Andre Pfeifers eigene Erlebnisse mit einer S 51 electronic zu DDR-Zeiten gemischt mit den Zweitaktabenteuern seines Sohnes in der heutigen Zeit sind der Treibstoff der folgenden Erzählung. Eine Simson Clique. Ein Auftrag. 600 Kilometer. Verfolgungen, Schleichwege, ein Rennen und jede Menge Pannen. Alles wegen eines Mädchens.

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Andre Pfeifer wurde 1968 in Weimar geboren und arbeitet seit 2009 als Schriftsteller.

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf in der ehemaligen DDR fuhr er bis zur Wende eine Simson S 51 electronic. In Schule, Lehre und Freizeit, und kreuz und quer durch die DDR.

Für Maximilian und seine Simson-Mopeds

LiebeLeser,

ich bin ein Kind der DDR.

Zur Jugendweihe bekamen wir damals hauptsächlich Geldgeschenke. Entweder wir kauften uns davon einen Kassettenrekorder oder ein Moped.

Bei mir war es eine dunkelgrüne S 51 electronic und seit ich fünfzehn Jahre alt war, begleitete mich mein Simson-Moped in die Schule und in die Lehre und ich fuhr kreuz und quer durch die DDR.

Mittlerweile haben Simson-Mopeds einen gewissen Kultstatus erreicht und auch mein Sohn fuhr mit fünfzehn eine S 51. Einige Begebenheiten in diesem Buch gehen auf meine früheren Abenteuer in der DDR zurück, andere spiegeln Erlebnisse meines Sohnes in der heutigen Zeit wider. Trotz alldem ist die folgende Geschichte ein Werk der Dichtkunst. Alle Geschehnisse und Namen entspringen meiner Fantasie und Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen mit wirklichen Ereignissen oder Personen sind natürlich reiner Zufall.

Und nun wünsche ich euch beim Lesen denselben Spaß, den ich beim Schreiben hatte!

AndrePfeiferIm April 2024

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Einleitung

Simson-Mopeds wurden in der DDR hergestellt und in großer Zahl von allen Bevölkerungsschichten, besonders jedoch von Jugendlichen gefahren. Im Laufe der Jahrzehnte wurden fast sechs Millionen Simson-Mopeds produziert.

Nach dem Gesetz darf ein bis Ende Februar 1992 auf dem Gebiet der DDR in Betrieb genommenes Simson-Moped mit 60 km/h fahren, wobei andere Mopeds meist nur bis 50 km/h zugelassen sind. Genau deshalb sind diese Mopeds so begehrt. Und in Wirklichkeit fahren sie meist schneller als 60 km/h, wobei 75 km/h schon immer der absolute Traum waren.

Eins

„Was bist du gefahren? 75 km/h? Auf der Geraden? Im Leben nicht! Das haben die Kisten vor dreißig Jahren nicht geschafft, als sie neu waren, und heute erst recht nicht!“ Hendrik schüttelt den Kopf und beißt in seine Bratwurst.

„Vielleicht mit Rückenwind.“ Bernd dreht einen Grillkäse und prüft die letzten beiden Bratwürste auf dem Rost. Dann legt er Ivo eine in dessen Brötchen und nimmt sich die andere.

Ivo klemmt die Bratwurst im aufgeschnittenen Brötchen ein und zeigt an dem kleinen Bratwurstrost in die Höhe. „Schau mal! Der Rauch steigt kerzengerade auf.“ Er schaut kurz in den locker bewölkten Aprilhimmel über dem Steinbruch, zwischen dessen Schotterbergen sie sitzen. „Da ist kein Wind! Die 75 km/h waren echt.“ Er spricht ziemlich gutes Deutsch, hat aber immer noch einen deutlichen russischen Akzent.

„Heute früh war bestimmt Wind. Morgenwind.“

„Den ganzen Tag war kein Wind!“ Ivo drückt sich eine kräftige Ladung Senf aus einer Dosierflasche auf seine Wurst.

Nick zeigt mit seiner Semmel auf Ivo und grinst. „Hast du die Zahlen auf deinem Tacho auch richtig abgelesen? Ist immerhin deutsche Schrift.“

„Haha! Könntest ja mal nebenherfahren mit deiner frisierten Karre und die Geschwindigkeit vergleichen, aber du hast ja nicht mal einen Tacho dran!“ Ivo grinst zurück, und beißt genüsslich von seiner Wurst ab.

„Nick könnte ja beim Fahren von der Seite auf Ivos Tacho gucken, dann wären wir sicher.“ Hendrik spült den Rest seiner Bratwurst mit einem kräftigen Schluck Cola runter.

„Mit dem Fernglas oder was? Bei der Geschwindigkeit?“ Nick rutscht auf seinem Kalksteinblock nach vorn und funkelt Hendrik an.

Hendrik rülpst verhalten und hält die Hand vor den Mund. „Nimm doch Bernd mit hintendrauf. Du fährst und Bernd guckt.“

Bernd braust auf. „Bist du wahnsinnig? Ich fahr doch nicht bei Nick mit. Das einzige, was bei dem seiner Karre funktioniert, ist der Motor!“

„Dessen Karre!“ Hendrik hebt den Zeigefinger. „Wie soll Ivo sonst ordentliches Deutsch lernen.“

„Du kannst mich mal!“ Dann wendet sich Bernd an Nina und legt ihr den Grillkäse auf eine Scheibe Brot. „Und musst du eigentlich immer ´ne Extrawurst machen mit deinem vegetarischen Kram?“

„Extrawurst? Wer isst denn hier die Würste?“ Nina lacht und schiebt den Käse auf dem Brot zurecht. Dann nimmt sie ein Stück Paprika und zeigt damit auf die vier Jungs. „75 km/h sind schon möglich, wenn alles stimmt an dem Moped. Und Ivos Mühle ist ganz gut in Schuss. Also, Luft auf den Reifen, Kettenspannung, sauberer Auspuff, gutes Öl im Getriebe, Vergasereinstellung, Zündung, Zündkerze und nicht zuletzt ordentlicher Sprit mit dem richtigen Zweitaktöl.“

„Addinol!“ Ivo reißt die Arme zu einer Siegerpose in die Höhe und tut geradeso, als wäre Addinol sein größter Sponsor. Dabei hat er nur zwei Aufkleber rechts und links auf seinem Tank.

„Das liegt doch nicht am Gemisch!“ Bernd hat gerade abgebissen und klingt ziemlich lustig mit vollem Mund.

Hendrik hustet gekünstelt und tut so, als würde Nina die größte Baron-Münchhausen-Flunkerei erzählen. „Naja, das mit dem Gemisch ist ganz schön weit hergeholt.“

„Na, dann passt mal gut auf.“ Bevor sie vor zwei Jahren mit ihrer Mutter umzog, verbrachte Nina viel Zeit bei ihrem Onkel, der eine kleine Werkstatt hat und ihr alles über Motoren und Zweiradtechnik beibrachte, was er wusste. „In einem Zweitaktmotor ist das Öl, das den Kolben und die Pleullager schmiert, dem Kraftstoff zugesetzt. Zuwenig Öl – Kolbenfresser! Zuviel Öl – weniger Leistung!“ Nina lächelt in die Runde und hebt ihr Stück Paprika ein wenig höher. „Denn bevor der Sprit im Zylinder explodiert und den Kolben bewegt, und damit die ganze Karre ins Rollen bringt, muss er verdichtet werden. Und Öl zu verdichten kostet den Motor mehr Kraft, als Benzin zusammenzudrücken. Je weniger Öl im Gemisch, desto besser! Wer 1:33 Gemisch fährt, ist im Nachteil zu dem, der 1:50 fährt. Und mit einem wirklich hochwertigen Zweitaktöl kann man sogar 1:60 fahren oder noch weniger. Also: Addinol! Bestes Öl!“ Sie legt das Stück Paprika auf ihrem Käse ab und hält Ivo ihren ausgestreckten Arm mit geöffneter Hand zum Abklatschen entgegen.

Und Ivo schlägt ein.

Bernd schließt seinen Mund, der eine Weile offenstand und staunt Nina an. „Meine Fresse, was ein Vortrag. Bist du schon mal für einen Jungen gehalten worden?“

„Nee. Und du?“ Amüsiert beißt Nina ein großes Stück Paprika-Grillkäse-Brot ab.

Bernd steht wieder der Mund offen und alle anderen verfallen in hämisches Gelächter.

Hendrik schlägt Bernd spaßig auf die Schulter.

„Kannst ja nächste Woche zu Natalies Geburtstagsfete gehen. Unter all den Grazien, die sich dort versammeln, erkennt man dich dann schon als Jungen!“

Alle lachen wieder, aber Bernd holt mit lästernder Stimme zum Gegenschlag aus. „Das ist höchstens was für Nick. – Oooh, Natalie, meine Traumfrau!“

Nick wird knallrot. Sonst bringt ihn nichts so schnell aus der Fassung. Aber Natalie, eine Klasse tiefer, hat es ihm angetan. Hübsch sind viele, aber dass Natalie genau wie er Abitur machen will, zieht Nick magisch an.

„An die kommst du nicht ran.“ Hendrik winkt ab. „Dort zu viel Kohle und hier zu wenig.“ Er zeigt auf Nicks Moped, an dem tatsächlich nur Motor und Vergaser gepflegt aussehen. Die Reifen sind abgefahren. Es gibt Risse in der Sitzbank, Dellen im Blech und jede Menge Rost. Etliche Kabelbinder halten das Mopedkennzeichen, Leitungen, Bowdenzüge und Schutzbleche in Position.

Ivo hat den Mund noch voll, aber er muss seinen Gedanken wohl aussprechen, bevor er ihn vergisst. „Ich würde es dir wünschen.“ Er schaut zu Nick. „Dann müssten wir nicht immer heimlich hierherkommen.“ Sein Blick schweift über den Steinbruch.

Hendrik schüttelt den Kopf. „Quatsch! Dann dürften wir überhaupt nicht mehr herkommen! Denkst du, Natalies Vater ließe uns hier rumhängen und auf seinen Schotterbergen Cross fahren, nur weil seine Tochter mit Nick ginge? Das blanke Gegenteil! Er würde zu Nick sagen, entweder ihr bleibt meinem Steinbruch fern, oder du siehst Natalie nie wieder. Mann, der macht seine ganze Kohle mit dem Schotter und dem Splitt, den die hier rausholen.“

„Aber wir machen doch gar nichts kaputt.“ Bernd scharrt mit dem Fuß hin und her. „Denkst du das stört den Schotter, wenn wir hier rumfahren?“

„Ist schon eine Art unbefugtes Betreten. Da sind ja auch die ganzen Maschinen und LKWs und …“

Während die Jungs weiterhin die Vor- und Nachteile einer Liebesbeziehung von Nick und Natalie diskutieren, isst Nina still ihr Brot. Dann steht sie auf, streckt die Arme über ihren Kopf und läuft zu einem Schotterhügel, von dem sie einen schönen Blick auf die Wälder hat, zwischen denen der Steinbruch liegt. Sie hat nicht viel am Hut mit Mädchen wie Natalie oder anderen an ihrer Schule, die sich herausputzen und die tollsten Klamotten haben. Doch manchmal würde sie sich gern wie ein Mädchen fühlen, dem die Jungs nachschauen.

Sie weiß, dass sie keine Schönheit ist und die lange Narbe am Hals von dem Unfall, den sie als Kind hatte, sieht auch nicht sehr einladend aus. Doch sie hat eine gute Figur und auch die knapp schulterlangen, wuscheligen braunen Haare, die vorn als Pony ins Gesicht hängen, sind ganz hübsch. Klar ist sie oft mit Nick zusammen, der sie auch in diese Simson-Gang, wie sie es nennen, gebracht hat. Aber für ihn ist sie nur ein guter Kumpel, wie seine Freunde, obwohl …

„Nina? Alles klar?“ Bernd bleibt seitlich des Schotterhaufens stehen und fummelt an seinem Hosenbund herum, als müsse er mal.

Nina lässt die Schultern hängen. Niemand sieht sie hier als Mädchen. Sie verdreht die Augen. „Kannst du vielleicht mal ein Stück weitergehen?“

„Hä? Was? Ach so.“ Bernd schlurft um den Schotterberg herum.

Mit einem Mal kommt er wieder hervorgerannt und gestikuliert wild in der Gegend herum. „Leute, sie kommen! Los weg hier!“

Alle springen auf.

„Wer?“

„Was?“

„Wo?“

„Natalies Vater. Sein Jeep steht vorn am Eingang. Und ein Polizeiauto.“ Bernd ist total aufgeregt.

„Bleib ruhig. Das dauert ´ne Weile, bis die uns hier oben finden.“ Hendrik läuft zum Aussichtspunkt. „Ist ja nicht das erste Mal.“

Ivo folgt ihm. „Aber die Polizei war noch nie dabei.“ Während Bernd und Nina zusammenpacken, gießt Nick einen kleinen Kanister Wasser über die glühende Holzkohle auf dem Rost und versteckt den dreibeinigen Campinggrill dann zwischen ein paar großen Kalksteinblöcken.

Schon sind Hendrik und Ivo zurück. Alle setzten ihre Rucksäcke auf.

Hendrik schaut zu Nick und Nina. „Ihr fahrt am besten den Steilhang hoch und dann oben durch den Wald. Da seid ihr weg.“

Ivo mischt sich ein. „Ich hab den Steilhang letztens auch geschafft.“

„Schon klar, aber da können noch tausend Sachen schiefgehen und wenn sie dich erwischen, musst du vielleicht zurück nach Sibirien.“ Hendrik grinst.

„Dort laufen jedenfalls nicht solche Lästermäuler rum!“ Ivo muss trotzdem lachen.

„Das nicht, aber dort kommst du in einen Steinbruch zum Arbeiten, nicht zum Bratwurstessen und Sonnetanken.“

„Hey, Leute! Können wir dann mal?“ Nina steht an ihrem Moped und hat schon den Helm auf.

Hendrik biegt sein Versicherungskennzeichen ein wenig hoch, so dass es von hinten nicht zu lesen ist. „Pass auf, Ivo! Bernd und ich, wir fahren hier drüben raus, dann die Straße ein Stück Richtung Eingang und den guten Feldweg runter zur Ossel. Da können sie uns gern verfolgen, aber die Holzbrücke überqueren sie nicht, denn die ist über den Winter ziemlich morsch geworden.“ Hendrik strahlt. Solche Aktionen sind genau sein Ding. Dann sieht er Ivo an und zeigt lachend zwischen zwei Schotterhügeln hindurch. „Du fährst nach Osten, Richtung Heimat sozusagen, nur nicht so weit. Hinter Bremsdorf auf die Hauptstraße und dann kannst du sehen, ob du tatsächlich die 75 km/h schaffst.“

„Los jetzt!“ Nina tritt ihre Simson an.

Auch die anderen Mopeds heulen auf. Nur Bernd stampft auf dem Kickstarter herum, ohne dass etwas passiert.

„Kein Schock, Mann!“ Nina ruft durch den Motorenlärm. „Es ist warm genug.“

„Ach so.“ Bernd schiebt den Kaltstarthebel zurück und tritt noch einige Male ins Leere. Auf einmal springt seine Kiste an. Dichter Qualm kommt aus dem Auspuff und verhüllt den Grillplatz.

Aus dem blaugrauen Abgasnebel fahren fünf Mopeds heraus in verschiedene Richtungen. Schottersteinchen fliegen herum. Staub wirbelt auf. Zweitaktsound liegt über dem Steinbruch.

Nina sieht Nick vor sich auf dem Schotterweg, der zu einem ganzen Netz von Wegen gehört, auf dem die LKWs des Steinbruchs hin- und herfahren, um Kalkstein zur Siebanlage in der Nähe des Eingangs zu transportieren. Sie versucht an Nick dranzubleiben, aber Nicks Zylinder mit 60 Kubikzentimetern und entsprechend großem Vergaser macht einen riesigen Unterschied zu Ninas original 50-Kubik-Motor. Der mehr als doppelte Spritverbrauch hat Nick nie gestört. Also zieht er davon, dass der Schotter nur so zur Seite spritzt. Und muss plötzlich höllisch bremsen.

Nina sieht mit einem Mal die schwarzen Abgaswolken über der Kalksteinkuppe, auf die sie zufahren. Dann die beiden senkrechten Auspuffrohre des riesigen Komatsu Muldenkippers, der den Hügel heraufkommt, den sie hinabfahren wollen. Der LKW stellt sich quer, um den Weg zu versperren.

Nina bleibt fast das Herz stehen. Sie weiß, dass Nicks Bremsen nicht die besten sind, völlig unzureichend für die Übermotorisierung seiner S 51. Sie sieht, wie er ins Schlingern gerät, als er nach links auf das mannshohe Hinterrad des Kippers zusteuert. In einer Staubwolke rutscht Nicks Moped herum, aber Nina scheint es, als sei das gewollt. Denn Nick hat schon den linken Stiefel auf dem Boden, um die Maschine abzufangen, gibt dann wieder Gas und fährt um das riesige Rad herum. Er fährt hinter dem LKW unter der überstehenden Kipperwanne entlang, nun aber auf die Abbruchkante des Schotterplateaus zu.

Nina hat keine Zeit mehr Angst um Nick zu haben. Sie muss selbst bremsen und rechts um die mächtige Schnauze des Muldenkippers herumfahren. Bloß nicht am Abgrund entlang! Auch ihr Moped schlingert auf dem losen Schotter, aber das ist nicht das erste Mal. Nina hat alles unter Kontrolle. Sie gibt Vollgas und kann es nicht erwarten die andere Seite des LKW zu erreichen. Sie schaut nach links und sucht Nick. Sie sieht ihn nicht. Sie sieht nur eine dichte Staubwolke hinter den riesigen Rädern des Kippers. Endlich entdeckt sie Nick ein ganzes Stück weiter unten auf dem Weg. Er steuert den Steilhang an, der sich rechts bis hoch zum Waldrand zieht. Dort stehen die Betreten-verboten-Schilder. Dort ist die Grenze des Steinbruchs. Und etwas weiter im Wald ist ein Forstweg. Da müssen sie hin.

Nina hält den Gasgriff am Anschlag und sucht die Ideallinie, die sie in die ausgefahrene Rinne führt, die oben in den Wald mündet. Ihr Ausweichmanöver hat Geschwindigkeit gekostet, normalerweise fährt sie so schnell wie möglich auf dem Schotterweg bergab und dann mit genügend Schwung den Steilhang hoch. Hoffentlich wird es jetzt reichen.

Es wird immer steiler, Nina schaltet bis runter in den ersten Gang und gibt wieder Vollgas. Leistung hat ihre S 51 genügend, gut gepflegt und optimiert, genau wie Ivos. Aber Leistung allein genügt nicht. Die Leistung auf den Boden zu bringen ist viel wichtiger. Und da sind Ninas Stollenreifen Gold wert. Nun kommt es nur noch darauf an die richtige Position auf dem Moped zu halten. Nicht zu weit nach vorn lehnen, damit das Hinterrad auf dem losen Schotter nicht durchdreht, aber auch nicht zu weit nach hinten, damit das Vorderrad nicht hochkommt. Nina hat ausreichend Gefühl und Körperbeherrschung. Was sie jedoch nicht hat, ist ausreichend Schwung.

Es sind nur noch ein paar Meter bis zur Kante. Bis zu der Stelle, an der die Fahrrinne kaum noch Steigung hat und Wurzeln und festgefahrener Waldboden genügend Haftung bieten. Aber Nina spürt schon, dass es nicht reichen wird. Der Motor wird immer leiser und läuft bereits untertourig. Wie bei ihren ersten Versuchen.

Nina wird abspringen müssen und das Moped auf die Seite legen und halten, damit es nicht den Hang hinunterrutscht. Bei ihren Versuchen kamen dann die Jungs zu Hilfe, aber allein wird sie es niemals schaffen, ihr Moped nach oben in den Wald zu zerren. Nick hatte einen Riesenvorsprung, er ist sicher schon auf dem Forstweg und in Sicherheit.

Den Gasgriff am Anschlag, zieht Nina leicht am Kupplungshebel und lässt die Kupplung schleifen, als würde sie anfahren. Das bringt noch ein wenig mehr Kraft. Trotzdem verliert der Motor an Drehzahl. Er dreht so langsam und schwerfällig, dass Nina meint, die einzelnen Kolbenbewegungen herauszuhören. Dann verstummt der Motor und das Moped bleibt stehen.

Nina springt ab und versucht die Maschine zu halten. Und genau in diesem Moment taucht Nick an der Kante auf. Mit einem Satz ist er bei ihr, steht über dem Vorderrad, ergreift den Lenker etwas weiter innen und hält das Moped.

Nina ist überrascht, erlöst und irgendwie superglücklich. Sie steht unsicher auf dem Geröll, ihre Hände an den Griffen und starrt Nick ins Gesicht. Unbewusst sucht sie sicheren Stand. Sie denkt nicht darüber nach, wieso Nick keinen Helm trägt, sie denkt nicht daran, den Ganghebel in Leerlaufposition zu schalten, damit sie das Moped hinaufrollen können. Sie starrt nur Nick an und versinkt in seinen dunklen Augen. Er ist zurückgekommen. Ihretwegen …

„Machst du mal den Gang raus?“ Nick lächelt sie an. „Wir sollten hier verschwinden.“

„Ja, klar.“ Nina fängt sich wieder, zieht die Kupplung und betätigt den Ganghebel.

Dann schauen beide zurück zum Muldenkipper, dessen Motor aufbrummt. Dichte Rauchwolken bleiben zurück, als er seinen Weg nach oben zu ihrem Grillplatz fortsetzt.

„Mit so ´nem Kipper haben sie uns noch nie verfolgt.“ Nina schiebt mit Nicks Hilfe die letzten Meter nach oben.

„Ja. Wer weiß, was es noch für Überraschungen gibt.“ Auf ebenem Waldboden geht Nick zu seinem Moped, das an einem Baum lehnt. Auf dem Boden verstreut liegen sein Rucksack, sein Helm und seine Handschuhe.

Nina tritt ihre S 51 an und beobachtet Nick. Er setzt Rucksack und Helm wieder auf und zieht sich die Handschuhe an.

Nina lacht. „Hast dir ja Zeit gelassen mit deiner Rettungsaktion. Wolltest du die Jacke auch noch ausziehen?“

Nick zieht sein Moped vom Baum weg und dreht sich zu Nina um. „Vielleicht wollte ich nur dabeistehen und jubeln, wenn du über die Kante fährst.“

„Du wusstest, dass ich es nicht schaffe.“ Nina merkt sofort, wenn Nick nicht die Wahrheit sagt. Er kann nicht lügen. Für viele, die die Wahrheit nicht vertragen, ist das ein Problem. Aber Nina weiß bei Nick immer, woran sie ist. Und so weiß sie auch, dass sie nur Kumpels sind.

„Ist doch keine Schande. War halt ein Kipper im Weg.“

„Jedenfalls danke, dass du zurückgekommen bist.“ Und bevor Nick in Ninas Blick etwas sieht, das er nicht sehen soll, fährt Nina an ihm vorbei den Pfad entlang.

Doch Nicks Gedanken sind nicht bei Nina, als er ihr hinterherfährt. Er denkt an Natalie, die Samstag Nachmittag immer Tennis spielt, wenn das Wetter passt. Und heute spielt sie gewiss. Nick wäre nie vorzeitig vom Grillplatz verschwunden, aber jetzt kann er auf jeden Fall in Kuppelstedt an der Tennisanlage vorbeifahren, sich auf eine Bank am Parkrand setzen und ganz entspannt durch den Maschendraht zaun Natalie beim Spielen zuschauen.

Plötzlich leuchtet Ninas Bremslicht auf und sie stoppt. Nick bremst und kommt ins Rutschen, zieht schnell nach rechts, steuert zwischen zwei dicken Kiefern hindurch und kommt im Wacholdergestrüpp zum Stehen.

Nina stellt den Motor ab und zeigt zum Forstweg, der sich unter ihnen hinter einer flachen Böschung dahinschlängelt. Ein kleiner grüner Geländewagen steht auf dem Weg in Fahrtrichtung nach rechts.

Nick steigt ab, zieht sein Moped neben Ninas und biegt sein Kennzeichen hoch. „Kein Problem. Ob Jäger oder Förster, die sind alle nicht schnell genug.“ Er zeigt nach rechts. „Ich fahre noch ein Stück durch das Gestrüpp und dann auf den Weg. Der wird mir schon folgen und du kannst dann in der anderen Richtung verschwinden.“

„Alles klar.“ Nina weiß, dass das die beste Idee ist. Sie muss keine Spielchen spielen und oberselbstbewusst darauf hinweisen, dass auch sie den Jeep ablenken könnte.

Nick steigt auf, aber er dreht sich noch einmal zu Nina um. „Kommst du morgen zum Mittagessen?“

„Ich weiß noch nicht.“ Nina erschrickt vor ihrer eigenen Antwort. Spielt sie jetzt doch Spielchen? Was ist plötzlich los mit ihr? Hat sie auf einmal Angst mit Nicks Familie Mittag zu essen? Das ist doch alle drei bis vier Wochenenden so.

„Also bis dann.“ Nick fährt los. Nina scheint es, als habe er sie unter seinem Helm überhaupt nicht gehört.

Sie schaut Nick hinterher. „Klar komme ich.“ Sie spricht nur zu sich selbst.

Ihre Mutter hat ab und zu Wochenendschichten. Irgendwann hatte Nick sie zum Mittagessen eingeladen, damit sie Sonntags nicht allein essen müsse. Seitdem kommt sie oft zum Essen. Sie fühlt sich wohl bei Nicks Familie.

Nina nimmt den Helm ab. Sie lauscht Nicks Motorengeräusch hinterher, das leiser wird. Dann entdeckt sie Nick auf dem Weg. Sofort setzt sich der kleine Jeep in Bewegung.

Erst kommen die Wacholderbüsche, die eigentlich eine Seltenheit sind, hier in der Gegend aber wie Unkraut wachsen, dann ein flacher, trockener Graben, und schon ist Nick auf dem Forstweg, schaut kurz nach links zum Jeep und gibt dann kräftig Gas. Sein Hinterrad zieht eine ordentliche Spur in die dünne Schotterschicht auf dem Weg. Nick schaltet einen Gang hoch und als er wieder Gas gibt, stottert der Motor und geht dann plötzlich aus. Mit einem Mal, ohne Vorwarnung, ohne ersichtlichen Grund.

Das kann doch nicht wahr sein! Nicks Gedanken rasen durch seine Mopedtechnik. Vape-Zündung, Zündkabel, Kerzenstecker, Zündkerze. Da gibt es keine Probleme. Da geht nichts mit einem Mal kaputt! Er bleibt stehen, bewegt das Moped hin und her und lauscht auf das plätschernde Benzin im Tank. Nicht mehr ganz voll, aber noch weit entfernt von der Reserve.

Der Suzuki Jeep hält kurz vor ihm an. Ein dicker Mann schält sich heraus. Nick scheint es, als komme das Fahrzeug auf der Fahrerseite ein wenig aus den Federn. Er schiebt das Moped quer zum Weg, sodass der Mann sein verbogenes Versicherungskennzeichen nicht erkennen kann.

„Was wird denn das hier? Du kommst doch aus dem Steinbruch, oder? Nimm mal den Helm ab.“

Ein Integralhelm mit geschlossenem Visier ist keine schlechte Tarnung. Nick bleibt auch erstmal stumm, um sich nicht durch seine Stimme zu verraten. Seine Gedanken drehen sich weiter um das Problem mit seinem Moped.

„Na, hier haben wir ja sogar ein Kennzeichen.“ Der Mann geht langsam auf Nicks Moped zu. Mit einem Mal bleibt er stehen und lauscht den Weg entlang.

Jetzt hört Nick es auch. Mopedknattern. Ein S 51 kommt gemütlich um eine Kurve und Nick bleibt fast das Herz stehen.

Der Mann baut sich vor dem heranschleichenden Moped auf und es hält tatsächlich an. Der Fahrer nimmt sogar den Helm ab. Es ist eine Fahrerin.

Nina schüttelt die Haare und schimpft mit zuckersüßer Stimme. „Och, Mann, wo geht es denn jetzt hier zum Einkaufszentrum? Die im Dorf haben gesagt, die erste nach rechts. Und wo bin ich gelandet? Mitten im Wald, Mann! Haben Sie hier mal irgendein Schild?“

Der Mann starrt Nina an. „Da ist doch eine Schranke, vorn an der Straße.“

„Hab mich auch schon gewundert, was das soll, aber wenn die´s doch so gesagt haben.“

Der Mann zögert, er weiß nicht, was er machen soll.

Nina wettert weiter. „Entschuldigung? Wo ist das denn jetzt? Die machen doch auch irgendwann zu und ich kann heute Abend nicht wieder in den gleichen Sachen zur Party gehen.“

Nick bricht unter seinem Helm fast in Gelächter aus. Nina ist ja so cool. Plötzlich hat Nick Benzingeruch in der Nase. Seine Augen suchen den Benzinschlauch, der vom Benzinhahn am Tank zum Vergaser führt. Aber da ist kein Schlauch. Vom Benzinhahn tropft das Benzin ins Leere. Der Schlauch ragt daneben in die Höhe. Na klar! Der Benzinschlauch sitzt recht straff auf einem Röhrchen am Benzinhahn. Bei seiner Fahrt durch das Gestrüpp muss er abgerissen sein. Mit schnellen Handgriffen hat Nick den Schlauch wieder an den Benzinhahn gesteckt. Jetzt muss er nur noch warten, bis der Vergaser vollläuft. Und dann hat er genau einen Versuch die Kiste anzutreten.

Noch ist der Mann abgelenkt. Er schickt Nina mit einer ausführlichen Beschreibung den Weg zurück zur Straße und betont noch einmal, dass Mopeds im Wald nichts zu suchen haben. Übertrieben tölpelhaft wendet Nina ihr Moped und versucht es wieder anzutreten.

Nun dreht sich der Mann zu Nick, dessen Moped schlagartig aufheult. Nick jagt um den Jeep herum den Weg entlang. In der anderen Richtung zuckelt Nina davon.