87 Sekunden - Lone Theils - E-Book

87 Sekunden E-Book

Lone Theils

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Eine junge Frau liegt ertrunken im Christianshavns Kanal, mitten in Kopenhagen. Kriminalkommissar Georg Guldmann erkennt schnell, dass es sich um einen Mord handelt und die Frau vermutlich nicht das einzige Opfer ist. Die Ermittlung führt in die Kopenhagener Restaurantbranche, in das Parlamentsgebäude Christiansborg und ins Opernhaus. Erst im Gerichtssaal kommt schließlich die ganze grauenhafte Wahrheit ans Licht. Oder doch nicht?-

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Seitenzahl: 186

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Lone Theils

87 Sekunden

Übersezt von Mareike Zoege

Saga

87 Sekunden

 

Titel der Originalausgabe: 87 sekunder

 

Originalsprache: Dänisch

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright ©Lone Theils 2017 by Agreement with Grand Agency Copyright

Copyright © 2017, 2022 Lone Theils und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728225509

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

„Der Instinkt, unter Wasser nicht einzuatmen, ist so stark, dass er über die Agonie des Sauerstoffmangels triumphiert. Es spielt keine Rolle, wie verzweifelt die ertrinkende Person nach Luft verlangt, sie atmet nicht ein, bis sie sich am Rande der Bewusstlosigkeit befindet. In diesem Zustand enthält das Blut so viel Kohlendioxyd und so wenig Sauerstoff, dass chemische Sensoren im Gehirn ein unwillkürliches Atemholen auslösen, ob sich der Mensch nun unter Wasser befindet oder nicht. Das ist der so genannte break point. Laborversuche haben ergeben, dass dieser Punkt nach 87 Sekunden eintritt. Es ist eine Art neurologischer Optimismus, als wollte der Körper sagen: ‚Dieses Anhalten des Atems bringt uns um, also können wir genauso gut einatmen.‘“

 

Sebastian Junger: Der Sturm – Die wahre Geschichte von sechs Fischern in der Gewalt des Ozeans

Kapitel 1

Die Wasserleiche

Georg Guldmann wog das Messer in seiner Hand, schätzte ab, ob es scharf genug war für die Aufgabe, die vor ihm lag. Er erblickte sein eigenes Spiegelbild in der Klinge und stellte fest, dass er eine Rasur nötig hatte und vielleicht auch mit dem Haartrimmer über seinen Schädel fahren sollte.

Dann schwang er das Messer wie ein Scharfrichter, der keine Zeit hat, an die Schweinerei zu denken, die folgen würde.

Im selben Augenblick, als er feststellte, dass ihm ein perfekt weich gekochtes Ei gelungen war, klingelte das Telefon.

„Guldmann“, sagte er.

„Es wurde ein totes Mädchen gefunden. Du bist gefragt“, teilte ihm der wachhabende Polizeibeamte mit.

Georg stand auf, nahm einen Kugelschreiber aus der obersten Schublade und notierte die Adresse am Rand der Samstagszeitung, die er noch nicht aufgeschlagen hatte.

In diesem Moment kam Astrid aus dem Badezimmer und mit ihr eine dampfende Wolke, die nach Zitrusfrucht und Rosmarin duftete. Acqua di Parma.

„Arbeit?“

„Ja“, erwiderte Georg nur.

Sie küsste ihn auf den Scheitel und zupfte ein wenig am Kragen seines Bademantels – dem Vorkriegsmodell, wie sie zu sagen pflegte.

„Dann komm mal lieber in die Puschen. In diesem Aufzug kannst du keinen Mord aufklären.“

Georg ließ das Ei stehen, während er Trine Valentin anrief und ihr die Adresse in Christianshavn durchgab.

Astrid war in der Zwischenzeit ins Schlafzimmer gegangen, und als sie wieder herauskam, nahm sie sich ohne weiteres seinem Ei an.

„Ich habe dir Klamotten aufs Bett gelegt“, sagte sie.

Georg schaute dem Ei sehnsüchtig hinterher, aber er hielt den Mund.

Manche Arbeitsgewohnheiten waren besser als andere, und die vielen Jahre in der Kostümabteilung der Oper hatten Astrid gelehrt, dass man herauslegt, was die Leute anziehen sollen, bevor sie auf den Gedanken kommen, nachzufragen.

Zehn Minuten später war Georg auf dem Weg in die Stadt.

 

Harry Madsens Cousin war Lokführer. Im vorigen Jahr hatte er einen Selbstmörder überfahren, und seitdem war Harry froh, dass ihm als Schiffsführer diese Art von Sorgen erspart blieb. Dass er nicht aus Albträumen aufschrecken und immer und immer wieder das dumpfe Geräusch eines Körpers hören würde, der auf die Maschine trifft.

Aber an diesem Samstagmorgen, auf der ersten Sightseeingtour auf der Roten Route und mit einem fast vollen Boot, verließ ihn dieses Glück.

Carmen sah sie zuerst.

Ohne nachzudenken und ohne das Mikrofon vom Mund zu nehmen, schrie sie über das ganze Boot:

„Stopp, Harry! Da ist ein totes Mädchen unter der Brücke.“

Erst danach schlug sie die Hand vor den Mund und stellte das Mikrofon aus.

Einer der Passagiere schüttelte den Kopf.

„Das ist doch nie und nimmer ein Mädchen. Das ist eine Gummipuppe“, meinte der Tourist.

Aber Carmen konnte sehen, dass das Wunschdenken war.

Harry legte sofort den Rückwärtsgang ein, aber es dauerte ein paar Augenblicke, bis das Boot reagierte. Einige unendliche Sekunden lang sah es aus, als ob sie genau auf den Körper zuglitten, der auf der Wasseroberfläche trieb und unter der Brücke der Sankt Annæ Gade hin und her dümpelte. Sie hatte schneeweiße Arme, ein blaues Sommerkleid und helles Haar, das wie Seegras wogte.

 

Das war die Geschichte, die Georg Stück für Stück aus Harry Madsen herausbekam, während der Rettungsdienst die Frau an Land bugsierte und Oskar Hvid von der Spurensicherung den ganzen Prozess fotografisch dokumentierte.

Trine war fünf Minuten nach ihrem Chef eingetroffen, eine Sporttasche über der Schulter. Georg nahm an, dass auch sie für diesen Samstag andere Pläne gehabt hatte. Vielleicht hatte sie zum CrossFit gehen wollen?

Er erinnerte sich vage daran, wie sie ihm einen Vortrag gehalten hatte, als sie gerade erst von ihrer vorigen Stelle in Fredrikshavn in sein Team gewechselt war. Sie hatten in der Kantine gesessen, und ihre blauen Augen unter dem Pony waren aufgerissen vor Entsetzen über Georgs unverhohlene Vorliebe für Kohlenhydrate. Damals hatte er gedacht, dass es so vieles gibt, was man nicht weiß, wenn man erst 28 Jahre alt ist.

Trine war in das Boot gesprungen und damit beschäftigt, die Namen der Passagiere zu notieren. Das musste getan werden, obwohl Georg bezweifelte, dass dort jemand irgendetwas von Bedeutung gesehen hatte.

Er wandte sich Carmen zu, die erstaunlich ruhig geblieben war. Sie war eine zart gebaute, dunkelhaarige junge Frau mit einem leichten Akzent, den er entweder als Spanisch oder Italienisch einordnete.

„Ist alles okay bei Ihnen? Brauchen Sie psychologische Unterstützung?“, fragte der Kriminalkommissar.

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

„Nein. Alles in Ordnung. Ich will einfach nur weiterfahren.“

Georg musterte sie.

„Okay. Falls Sie es sich anders überlegen, sagen Sie Bescheid.“

Nachdem Carmen ihm Name und Adresse diktiert hatte, überflog er die wenigen Auskünfte, die sie ihm hatte geben können.

Das Boot hatte um 9:03 Uhr bei Sonnenschein am Hafen in Nyhavn abgelegt. Die Verspätung lag an einem Ehepaar, das im letzten Moment angerannt gekommen war. Ja, es war Carmen gewesen, die die Frau zuerst entdeckt hatte. Die Leiche hatte mit dem Bauch nach oben auf der Wasseroberfläche getrieben, festgeklemmt unter der Brücke. Das war wohl so kurz nach halb zehn. Carmen hatte nicht auf die Uhr gesehen. Und ja, es war der Skipper gewesen, der die Zentrale angerufen hatte, die wiederum die Polizei kontaktiert hatte.

„Jetzt ist sie oben. Willst du kurz einen Blick auf sie werfen, bevor wir fahren?“

Der Rettungssanitäter tippte dem Kommissar auf die Schulter und schaute vorsichtig zu Carmen herüber, um zu sehen, ob alles okay war.

Georg steckte sein Notizbuch zurück in die Tasche und sah, wie Trine gerade wieder an Land sprang.

„Hat jemand was gesehen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Irgendein Idiot bleibt dabei, dass es eine Puppe war. Er sollte vielleicht mal mit jemandem sprechen. Ansonsten nicht viel Brauchbares. Nur die auf den vordersten Plätzen konnten die Frau sehen.“

Georg ging zu dem Skipper hinüber.

„Sie dürfen jetzt weiterfahren. Ist jemand am Anleger, um die Leute entgegenzunehmen?“

Harry Madsen nickte, immer noch etwas blass um die Nase.

„Die Zentrale schickt jemanden.“

„Gut. Dann wünsche ich gute Fahrt“, sagte Georg mit einem Nicken.

Carmen sprang ins Boot, und Georg steuerte auf den Krankenwagen zu, dicht gefolgt von Trine. Er schaute zur spiralförmigen Kirchturmspitze der Vor Frelsers Kirke – der Erlöserkirche –herüber, die vor dem blauen Himmel glitzerte, während die Leute vom Rettungsdienst die Leiche für die erste Untersuchung vorbereiteten. Dann zwang er seinen Blick herunter auf die Realität, die vor ihm lag.

Die offene Tür des Krankenwagens stellte zum Glück einen Sichtschutz dar, sodass sich in den bezaubernden roten und gelben Stadthäusern hinter den Stockrosen niemand am Vormittagskaffee verschluckte.

Die junge Frau war in einen schwarzen Leichensack gelegt worden. Ihr Haar war immer noch nass, als ob sie bloß gerade eine Runde geschwommen wäre. Die Augen standen halb offen. Das trägerlose hellblaue Sommerkleid schmiegte sich an ihren Körper. Sie war hübsch. Ganz objektiv gesehen hübsch, mit harmonischen Gesichtszügen und vollen Lippen. Georg schätzte sie auf Mitte zwanzig.

Sie sah aus wie eine, die ausgegangen war, vielleicht einen Bacardi Breezer zu viel getrunken hatte und gleich mit einem Kater aufwachen würde.

Georgs Blick blieb an etwas Rotem hängen, und er schob den Leichensack behutsam ein Stück zurück. Auf dem rechten Unterarm breitete sich ein unregelmäßiges feuerrotes Mal aus, das er Trine zeigte.

„Sieht aus wie eine Brandwunde“, stellte sie fest.

Georg nickte.

„Mal schauen, was der Gerichtsmediziner sagt.“

Er winkte Oskar Hvid zu sich und zeigte auf die Wunde, woraufhin der Kollege von der Rechtsmedizin ein paarmal mit der Kamera knipste.

„Küchenunfall, wenn du mich fragst“, sagte er leise.

Der Rettungssanitäter räusperte sich.

„Wenn sonst nichts mehr ist, würden wir sie jetzt gern in die Rechtsmedizin fahren.“

„Sie haben nichts in der Nähe gefunden? Eine Tasche, ein Portemonnaie oder ein Telefon?“

Der Rettungssanitäter schüttelte den Kopf.

„Nix.“

Dann schob er die Frau in den Krankenwagen, schlug die Tür zu und stieg ein.

Egal, was der Frau in Christianshavn zugestoßen war, sie verließ den Platz in würdevollem Tempo. Wenn der Schaden so endgültig war, gab es keinen Grund für Blaulicht – keinen Grund, ins Krankenhaus zu hetzen, um etwas zu verhindern, was bereits geschehen war.

Georg würde sich nie an den Anblick eines langsam fahrenden Krankenwagens gewöhnen.

Jetzt galt es, herauszufinden, wer die Frau war. Anschließend wartete die Aufgabe auf ihn, den Angehörigen zu berichten, dass das Allerschlimmste der Welt geschehen war.

„Sollen wir einen Taucher rufen?“, fragte Trine.

„Gib mir noch eine Viertelstunde. Lass uns erst schauen, ob wir ihre Tasche oder ihr Handy finden können“, sagte Georg und zeigte auf die andere Seite der Brücke hinüber.

Den Blick auf die Pflastersteine gerichtet, setzte er sich in Bewegung und bemerkte nicht, dass die Straße sich langsam mit Touristen und Kopenhagenern füllte, die nicht im Geringsten ahnten, dass hier erst vor sehr kurzer Zeit eine tote Frau aus dem Wasser gezogen worden war.

Er folgte dem Kanal, blieb an einem Mülleimer neben einer Bank stehen, zog ein paar Handschuhe aus der Tasche und wühlte zwischen den zusammengeknüllten Brötchentüten herum, aber erbeutete nicht viel mehr als eine senfverschmierte Würstchenpappe, einen verbogenen schwarzen Kamm und einen mitleidigen Blick einer Frau mit Buggy, die an ihm vorbeiging.

Ernüchtert streifte er die Handschuhe ab, rollte sie zu einer kleinen Kugel zusammen und schaute fragend zu Trine herüber, die dabei war, ein Stockrosenbeet zu inspizieren. Sie bemerkte seinen Blick und schüttelte den Kopf.

Georg verabscheute den Gedanken, über die Medien nach den Angehörigen der Frau suchen zu müssen, und hoffte, dass jemand von sich aus bei der Polizei anrufen würde, weil eine Partnerin, Mitbewohnerin oder Tochter vermisst wurde. Aber er wusste auch, dass die Chancen, dass das so früh am Tag passieren würde, verschwindend gering waren.

Kurz darauf rief er Trine zu sich herüber.

„Wir wissen noch nicht einmal, ob sie hier ins Wasser gefallen ist. Sie kann ja heute Nacht mit dem Strom bis zur Brücke getrieben worden sein.“

„Oder woanders getötet und hierhergebracht worden sein“, fügte Trine hinzu.

Georg sah sich prüfend um. Der Abstand zwischen Kai und Wasser war klein. Nur ein einziger verkehrter Schritt, und man landete im Kanal. Oder ein einfacher Schubs.

In der Nähe der Brücke standen lauter Häuser mit großen Fenstern zum Kanal. Gestern war ein heller Juniabend gewesen. Irgendjemand musste doch draußen gewesen sein und gesehen haben, was mit der Frau passiert war. Falls es denn hier passiert war.

„Okay. Dann ist jetzt Türenklingeln angesagt. Ich übernehme die Cafés.“

Trine seufzte demonstrativ, aber Georg tat, als ob er nichts gehört hätte.

Am Tresen des Cafés Oven Vande – Über Wasser – bestellte er einen Kaffee. Nur ein paar Schlucke später hatte er erfahren, dass hier zur Morgenschicht völlig neues Personal gekommen war und dass die beiden, die das Café heute Nacht zugemacht hatten, erst gegen Abend wieder hier sein würden.

Ordnungshalber fragte er an den Tischen herum, ob jemand der Gäste in der Nacht zuvor hier im Café gewesen war. Die meisten antworteten ihm nur mit einem Kopfschütteln. Eine stillende Mutter schenkte ihm einen ebenso müden wie verständnislosen Blick.

„Was glauben Sie denn?“, fragte sie, bevor Georg zum nächsten Café weitereilte.

Offensichtlich hatte niemand eine blonde Frau in einem blauen Sommerkleid gesehen. Weder auf dem Fußweg am Kanal noch im Wasser treibend.

Nach einem recht kurzen, obligatorischen Jammern über mangelnde Ressourcen stellte ihnen der diensthabende Polizeibeamte ein paar Männer zur Verfügung, die mithelfen konnten, an beiden Seiten des Kanals entlangzugehen und nach dem Portemonnaie oder der Tasche der Frau zu suchen – irgendetwas, das Aufschluss über ihren Namen geben könnte.

Dann überließ Georg Trine und der angerückten Polizeimannschaft Christianshavn, während er selbst das Rechtsmedizinische Institut ansteuerte.

 

Georg arbeitete schon seit vielen Jahren mit Frederik Melvang zusammen und hatte die Gründlichkeit dieses Mannes zu schätzen gelernt.

Die meisten Kollegen stöhnten, wenn sie sahen, dass Melvang der diensthabende Rechtsmediziner war, denn er war bekannt als Dänemarks größter Pedant: der Mann, der alles dreifach kontrollierte, wo andere Rechtsmediziner sich schlicht damit zufriedengaben, die übliche Prozedur einzuhalten.

Egal, wie irritierend das war, machten Melvang gerade diese Eigenschaften Georgs Meinung nach zum besten Pathologen des Landes.

Und er enttäuschte ihn auch diesmal nicht.

Jedem Idioten wäre die große Brandwunde am rechten Unterarm der Frau aufgefallen. Aber ein Mann wie Melvang war nötig, um die Dinge zu entdecken, die die Frau, die jetzt auf der Pritsche vor ihm lag, von einem gewöhnlichen Ertrinkungsopfer unterschied.

Der Rechtsmediziner winkte Georg zu sich herüber und zeigte mit seinem Silikonhandschuhfinger anklagend auf eine Stelle.

Georg musste die Lesebrille vom Kopf auf die Nase schieben, um es zu erkennen: ein klitzekleines Einstichloch in der Haut der jungen Frau. Ein ganz frisches Einstichloch, das sie sich unmöglich selbst hatte zufügen können. Es befand sich ganz oben an ihrem rechten Schulterblatt.

Der Pathologe zog sein Handy heraus und rief das Labor an, wo schon die Blutproben eingetroffen waren.

„Melvang hier. Ihr müsst noch einen Test für mich durchführen. Und es ist eilig.“

„Was hast du gefunden?“, fragte Georg, nachdem Melvang das Telefonat beendet hatte.

„Ein Einstichloch“, sagte Melvang.

„Ja, das hast du mir gezeigt. Ich meine, was glaubst du, was das sein kann?“

Melvang starrte Georg ungläubig an.

„Guldmann. Wie lange arbeiten wir jetzt schon zusammen?“

Georg überlegte.

„Hm. Vielleicht so um die elf Jahre.“

Melvang wiegte den Kopf ein wenig hin und her, so, wie man es tut, wenn man vollkommen selbstverständliche Fakten noch einmal ganz von vorne erklären muss.

„Es sind genau elf Jahre, drei Monate und zwei Tage. Aber wie auch immer. Mein Punkt ist: Habe ich in all dieser Zeit jemals den Ergebnissen vorgegriffen, bevor meine sehr kompetenten Kollegen im Labor ihre Arbeit erledigen durften?“

Georg senkte den Blick und schüttelte den Kopf, während er daran dachte, warum sich seine Kollegen mit Melvang so schwertaten.

„Wann rechnest du mit Ergebnissen?“

Melvang sah ihn wieder an.

„Das kommt darauf an, wie eilig es ist. Ich könnte trotz Wochenende extra Personal einbestellen. Aber du weißt, das kostet.“

Seit der Reform, die festgelegt hatte, dass die Polizei die Dienste der Rechtsmediziner bezahlen muss, musste ein Polizist zu Fragen wie dieser Stellung beziehen. Wie sehr eilt ein toter Mensch? Georg empfand es oft als ein geschmackloses Kalkül, wenn man buchstäblich eine Leiche auf dem Tisch liegen hatte. Er kratzte sich am Nacken.

Im Prinzip deutete nichts zwingendermaßen auf eine Tötung hin. Der Einstich könnte von einer Impfung stammen. Wenn er bloß einen Namen gehabt hätte, wäre es die einfachste Sache der Welt gewesen, bei ihrer Arztpraxis nachzufragen.

„Wie schnell wirst du die Ergebnisse bekommen?“

Melvang rechnete schnell im Kopf nach.

„Montagvormittag, falls wir das Wochenende nutzen. Nach 11 Uhr, aber vor 13 Uhr.“

„Gut, dann machen wir es so.“

„Ausgezeichnet“, sagte der Rechtsmediziner und machte damit weiter, die Frau akribisch zu untersuchen.

Er studierte das Brandmal mit einer Lupe. Machte ein paar Fotos, überspielte sie auf seinen Laptop und öffnete eine Seite mit Bildern von Hautkrankheiten, die Georg nicht mal seinem schlimmsten Feind wünschen würde. Melvang scrollte unbeeindruckt durch sieben, acht Seiten mit Fotos, bevor er plötzlich stoppte.

„Ja! Ich wusste es.“

Georg trat näher heran und setzte die Brille wieder auf. Melvang zeigte auf eine Brandwunde, die der der Frau glich.

„Das ist von einer Konferenz in Chicago, auf der ich letztes Jahr war. Mein Kollege Miles Kowalski sammelt Brandwunden. Diese hier stammt von Dampf. Also keinem direkten Kontakt.“

„Und du meinst, so eine hat die Frau hier?“

„Ich muss das Ganze genauer untersuchen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß“, sagte Melvang.

Er wandte sich wieder dem Arm der Frau zu und untersuchte ihn gründlich.

„Interessant.“

„Was?“

„Es haben sich keine Blasen gebildet. Dazu ist es nicht gekommen, bevor sie gestorben ist, also hat sie sich kurz vorher verbrannt.“

„Hast du irgendwelche Vermutungen, was die Wunde verursacht haben kann? War es ein Unfall, oder kann jemand anderes sie ihr zugefügt haben?“

Melvang zuckte mit den Schultern.

„Im Moment kann ich nur raten. Es kann ein Unfall gewesen sein. Es kann sein, dass jemand sie geschubst hat oder ihren Arm an eine Wärmequelle gehalten hat. Ich muss sie in ein paar Tagen noch mal anschauen, um zu sehen, ob blaue Flecken aufgetreten sind.“

Georg hatte keine andere Wahl, als Melvang in Ruhe mit der Leichenschau weitermachen zu lassen. Er versuchte, seinen Ärger darüber beiseitezuschieben, dass er nicht wusste, wer die Frau war. Früher oder später würde er den Namen des hübschen jungen Gesichts erfahren, und dann würde es leichter werden, den Faden zu finden, an dem er anfangen könnte zu ziehen, um den Handlungsverlauf zu entwirren.

Seine Gedanken wurden von dem klirrenden Geräusch von Metall auf Metall unterbrochen.

„Ein Ring. Weißgold. Initialen A.F.“, stellte Melvang fest.

Jetzt hatte er einen Anfang.

Das Handy vibrierte. Georg stellte immer den Ton aus, wenn er in der Rechtsmedizin war. Es schien ihm irgendwie respektlos, einen Gitarrenriff durch den Keller ertönen zu lassen. Aus demselben Grund trat er in den Flur hinaus, um Trine zurückzurufen.

„Was gibt’s? Hast du etwas gefunden?“

„Nein. Eine Gerda Rasmussen in der Nummer 42 hat etwas gehört, was sie als eine Horde Fußballrowdys bezeichnete, so um halb drei. Sie hat aus dem Fenster geschaut, aber kann keine Beschreibung abgeben, außer dass sie eventuell blaue Trikots anhatten. Ich bin dabei zu klären, ob es irgendwelche Überwachungskameras gibt, die wir überprüfen können.“

Georg seufzte.

„Das ist alles?“

„Hm. Der Wachhabende hat versucht, dich zu erreichen. Er weiß ja, dass du bei Melvang bist, aber er hat gesagt, dass du ihn anrufen sollst, wenn du draußen bist.“

„Hat er gesagt, warum?“

„Nein.“

 

Georg rief den wachhabenden Polizeibeamten zurück, der ihn direkt zu Malte Svendsen durchstellte, dem Neuzugang der Abteilung, der Telefondienst gehabt hatte.

„Also, ich habe gehört, dass du für den Fall mit der jungen Frau im Kanal zuständig bist.“

„Ja.“

„Und ich weiß natürlich nicht, ob es was damit zu tun hat, aber ich habe einen Anruf von einer Ann-Charlott Danielsen bekommen.“

„Ja?“, sagte Georg und versuchte, die Ungeduld in seiner Stimme zu verbergen.

„Es ist so, sie wollte anrufen, um eine Freundin als vermisst zu melden. Und es war auch irgendwas mit einem Handy, was ich nicht ganz verstanden habe.“

„Okay. Hast du eine Personenbeschreibung bekommen?“

„Ja. Sie ist circa eins siebzig groß, normaler Körperbau. Helles Haar. Blaue Augen.“

„Und was hatte sie an?“

„Das wusste die Freundin nicht. Da war nur irgendwas, dass sie nicht zu einer Verabredung aufgetaucht ist. Sie wirkte ziemlich aufgeregt deswegen.“

„Und wie ist jetzt der Stand der Dinge?“

„Na ja, ich habe ihr gesagt, dass sie 24 Stunden warten muss, bis wir irgendetwas in die Wege leiten können. Dass sie gern wieder anrufen kann.“

Es war nicht so, dass Malte dem üblichen Prozedere nicht vollkommen korrekt gefolgt war. Aber es war genau diese Art von Obrigkeitsdenken der Jugend, die Georg zur Verzweiflung brachte.

„Okay, Malte“, sagte er mit erzwungener Ruhe, „dann wollen wir mal hoffen, dass sie wieder anruft.“

„Ja, ansonsten kannst du sie ja auch zurückrufen. Ich habe ihre Nummer und alles Mögliche notiert. Sie wohnt im Blegdamsvej. Ich schicke dir gleich eine SMS mit den Kontaktdaten.“

Plötzlich sah es doch gar nicht mehr so düster aus mit der Jugend.

 

Georg entschied sich, das Auto stehen zu lassen und den kurzen Weg zu Ann-Charlotts Adresse gegenüber des Panum Instituttet – der Fakultät für Gesundheits- und Medizinwissenschaften der Universität Kopenhagen – zu Fuß zu gehen. Im Hauseingang fand er die Klingel mit dem Namen Danielsen. Vierter Stock ohne Fahrstuhl, stellte er seufzend fest.

Sie drückte auf den Türöffner, ohne zu fragen, wer geklingelt hatte, und höflichkeitshalber hielt er im dritten Stock inne, um kurz seinen keuchenden Atem in den Griff zu bekommen. Es ist eine Sache, einem fremden Mann die Tür zu öffnen. Eine andere, die Tür für einen Mann zu öffnen, der so abgehetzt stöhnt, dass er keine Luft übrighat, um sich vorzustellen.

Die Tür war hellgrau, und Ann-Charlott öffnete sofort. Ihre Augen waren rot und verweint. Im Arm hielt sie eine getigerte Katze.

Georg stellte sich vor und zeigte darüber hinaus seine Kriminaldienstmarke.

„Ich dachte, ich könnte es erst morgen melden“, sagte sie verwirrt und wies ihm den Weg in eine ordentliche, kleine Küche mit gelbgestrichenen Wänden und einem Plakat für OTA Solgryn Haferflocken.

Georg setzte sich schwerfällig an den Küchentisch, während sie Wasser für den Nescafé aufsetzte, der in Dänemark gern getrunken wird. Der Kriminalkommissar ließ die Eindrücke auf sich wirken. Ihre Bewegungen waren nervös und vorsichtig. Ein bisschen wie die Katze, die von ihrem Arm gehüpft war und jetzt auf einem Sofa im angrenzenden Wohnzimmer lag und Georg misstrauisch beobachtete.

„Okay, Ann-Charlott“, sagt er dann, „ich würde gern wissen, wen Sie als vermisst melden wollen.“

Sie sah aus, als könnten jeden Moment wieder die Tränen rollen. Nur eine einzige Träne entschlüpfte ihr, bevor sie sich zusammennahm.

„Meine Freundin Amalie Frederiksen.“

Das passte zu den Initialen in dem Ring.

„Und wie kommt es, dass Sie sie als vermisst melden?“

Ann-Charlott machte eine kurze Pause, bevor sie ihre Gefühle in den Griff bekam.

„Weil ich heute Geburtstag habe.“

Georg sah sich unauffällig um. Es gab keine Anzeichen von Festlichkeiten.