89/90 - Peter Richter - E-Book + Hörbuch

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Peter Richter

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Beschreibung

Das Lebensgefühl einer rebellischen Generation am Ende der DDR

Sie sind der letzte Jahrgang, der noch alles mitmachen darf – damals in Dresden vom Sommer vor der Wende bis zur Wiedervereinigung: die lauen Freibadnächte und die Ausweiskontrollen durch die »Flics« auf der »Rue«, die Konzerte im FDJ-Jugendklub »X. Weltfestspiele« oder in der Kirche vom Plattenbaugebiet, wo ein Hippie, den sie »Kiste« nennen, weil er so dick ist, mit wachsamem Blick Suppe kocht für die Punks und ihre Pfarrerstöchter.

Sie sind die Letzten, die noch »vormilitärischen Unterricht« haben. Und sie sind die Ersten, die das dort Erlernte dann im Herbst 89 erst gegen die Staatsmacht anwenden. Und schließlich gegeneinander. Denn was bleibt dir denn, wenn du zum Fall der Mauer beiträgst, aber am nächsten Tag trotzdem eine Mathe-Arbeit schreiben musst, wenn deine Freundin eine gläubige Kommunistin ist und die Kumpels aus dem Freibad zu Neonazis werden?

Von der Unschuld des letzten Sommers im »Tal der Ahnungslosen« bis zu den Straßenschlachten rund um die deutsche Einheit: Peter Richter beschreibt in seinem autobiografischen Roman das chaotische Ende der DDR aus der Sicht eines damals Sechzehnjährigen – pointiert, authentisch und sprachlich brillant. Coming of Age im Schatten von Weltgeschichte.

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Seitenzahl: 535

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PETER RICHTER

89/90

Roman

Luchterhand

1. Auflage

© 2015 Luchterhand Literaturverlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Umschlaggestaltung: Buxdesign, München

ISBN 978-3-641-13694-9www.luchterhand-literaturverlag.de

https://www.facebook.com/luchterhandverlag

https://twitter.com/luchterhandlit

Inhalt

Buch eins: 1989

1. Teil

2. Teil

3. Teil

4. Teil

5. Teil

6. Teil

7. Teil

8. Teil

9. TEIL

Buch zwei: 1990

1. Teil

2. Teil

3. Teil

4. Teil

5. Teil

6. Teil

7. TEIL

Letzter Teil

Epilog

Mit Ausnahme der zeitgeschichtlichen Figuren sind die Charaktere in dieser Geschichte reine Fiktion, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt.

The further we goAnd older we growThe more we knowThe less we show.The Cure: A Primary

Buch eins: 1989

I. Teil

Als der Sommer kam, der die Welt verändern sollte, drapierte ich mein Bettzeug so, dass es aussah, als läge jemand darin, öffnete das Fenster und sprang in die Nacht. Das war keine große Sache; wir wohnten im Hochparterre. Unter dem Fenster wuchs schon kein Gras mehr deswegen.

Auf der Straße roch es nach Gärten, die einen Tag voller Sonne hinter sich hatten, es war zwar erst Ende April, aber schon so warm, wie manchmal im Juli nicht, und auf den Serpentinen zur Grundstraße hinunter, wo S. schon stand und eine rauchte, eine Alte Juwel, die er mit dem Daumen und dem Zeigefinger hielt und mit dem Mittelfinger wegschnipsen würde, bevor er mir auf die Schultern haute, da wusste ich: Wenn jetzt das Leben enden müsste, dann von mir aus; besser konnte es gar nicht mehr werden.

Wir würden sechzehn werden in diesem Sommer, erst S. und dann ich, und dann wäre der Spaß vorbei, da waren wir uns sicher. Dann entfiele der Kitzel, glaubten wir, die Furcht, einem Lada der Volkspolizei vor die Scheinwerfer zu geraten, wenn wir mit Wein und Whisky und Wermut aus dem Keller vom Vater auf dem Weg waren zu irgendwelchen Mädchen, in deren Zimmer wir einstiegen, weil die auch noch nicht schlafen wollten. Denn wir waren viel zu jung zum Schlafen damals, wir kamen gar nicht dazu, jedenfalls nicht in den Nächten. Dafür drückte uns dann tagsüber die Müdigkeit den Kopf auf die Schulbank.

/ /

Der eine ging dann zum Beispiel mit dem Mädchen in dessen Kinderzimmer, und der andere schaute sich im Wohnzimmer der Eltern um; bei einigen lag das Westgeld ungelogen lose in den Schubladen.

Wenn jemand was vermisst, soll er sich bitte melden, ich zahl das gern zurück. So viel war es ja auch gar nicht. Wenn man das bei bestimmten Leuten am Hauptbahnhof eins zu neun umtauschen kann, ist aber auch wenig viel. Wir waren inzwischen so weit, dass es für einen Bass, eine Gitarre und vielleicht sogar für einen Verstärker reichte. S. hatte Beziehungen. Beziehungen muss man haben, sagte er. Und ich fand das beeindruckend, dass das in beiden Richtungen galt: S. hatte immer Beziehungen mit Mädchen, S. hatte aber auch Beziehungen zu zwielichtigen Typen, die waren dann eher geschäftlicher Natur, und beide handhabte er, schien es mir, auf die gleiche umtriebige Weise.

Jetzt am Samstag sollte das Ding über die Bühne gehen, wie er sich, zwischen zwei hektischen Zügen an der Alten Juwel, ausdrückte, denn S. und ich liebten gewisse Filme mit Ellen Dellen, die abends manchmal im Zweiten liefen.1 Polizisten nannten wir deswegen Flics und unsere Fußgängerzone die Rue. Aber da waren wir nicht die Einzigen. Die, die dort nach der Schule herumhingen, an den Springbrunnen, bis die Flics kamen und sich die Personalausweise zeigen ließen, die sagten alle Rue zu unserem Fußgängerboulevard. S. hatte seinen Ausweis schon oft vorzeigen müssen. Er hatte so seine Theorien darüber. Er glaubte, dass die Flics geheime Zeichen in den Papieren hinterließen, Zinken, die ihn als Staatsfeind auswiesen, der schon bald zur Gitarre greifen würde, um sie alle totzuschießen.2

Den Kauf der Instrumente konnte ich persönlich ebenfalls kaum erwarten, ich hatte bloß die Sorge, dass wir schon zu viel von dem Geld im Intershop auf den Kopf gehauen hatten, größtenteils für exotische Fertiggerichte und Zigaretten.3 Heute schäme ich mich offen gesagt vor allem dafür, und die einzige Erklärung, die ich dafür vorbringen kann, ist ebendiese: Wahnsinn aus Schlafmangel.

/ /

Einmal war ich sogar beim Schwimmen fast eingenickt, am helllichten Nachmittag inmitten quiekender Kinder. Eine üppige Bademeisterin, die, soweit wir wussten, wasserscheu war und es nicht schätzte, wenn sie beim Plaudern und Rauchen gestört wurde, die aber, wie man zugeben musste, für ihr Alter immer noch gut genug aussah, um uns in unseren Tagträumen heimzusuchen mit ihrem Badeanzug, der schneeweiß war und aus Frottee, die hatte daraufhin jedenfalls eine Trillerpfeife aus den Tiefen ihres Dekolletés genestelt und ein Mal scharf hineingepustet. Später an diesem Nachmittag hatte sie S. dann noch des Bades verwiesen, und zwar für den gesamten Rest der Saison.

War von der Längsseite ins Wasser gesprungen worden? Wurden Mädchen vom Beckenrand geschubst? Was auch immer: Auf jeden Fall flog S. raus, und wir gingen mit. So kam das, dass wir eben auch das Freibad nur noch nachts besuchten.

Jetzt war die Saison noch gar nicht richtig losgegangen – und wir gingen gleich von vornherein nur noch nachts. Nachts war es ohnehin viel besser dort. Nachts kam es überhaupt erst richtig zur Geltung, wenn das Fünfzigmeterbecken im Mondlicht glänzte und der Wald hinter den Liegewiesen schwarz und bedeutungsvoll schwieg. Nachts sprach das Bad eher die romantischen Neigungen an. Nachts war es vor allem fast voller. Alle wesentlichen Leute, die tagsüber da waren, waren nachts erst recht da. Sie lagen zum größten Teil sogar auf den gleichen Plätzen. Alle Cliquen hatten seit den Tagen, als wir alle noch in kurzen Hosen um die Tischtennisplatte gerannt waren (»Chinesisch!«), ihre festen Reviere und waren zum Anbaden im Mondschein vollzählig anwesend. Es bot sich praktisch das gleiche Bild wie am Tage, nur ohne Rentner und Kinder und als Negativ: schwarzer Himmel, weiße Leiber. Ein Mädchen schwamm sogar Bahnen wie sonst nur die Damen am Vormittag, zielstrebig und mit eisern übers Wasser erhobenem Kopf.

Das war das Detail, das nicht ins Bild passte: Ich kannte dieses Mädchen nicht. Hatte es noch nie hier gesehen.

/ /

Sonst kannte ich nämlich alle. Ich werde hier jetzt aber nur diejenigen nennen, die im weiteren Verlauf noch eine Rolle spielen oder zumindest noch einmal auftauchen werden. Und selbst das kann womöglich verwirrend sein. Das ist nicht anders als bei einer Party: Man bekommt einen Haufen Leute vorgestellt und kann sich keinen Namen merken. Wer interessant ist, stellt sich dann mit der Zeit schon von alleine heraus; hier genauso.4

/ /

Da musste zunächst einmal die große, weiche Faust von H. geschüttelt werden, dem sogenannten Baby: der Vater Inhaber eines selbständigen Handwerksbetriebes, einer Reifenbude, glaube ich, den das Baby eines Tages erben würde, daher keinerlei Notwendigkeit, sich in irgendeiner Form anzustrengen oder gar zu zügeln und dementsprechend uferlos, was seine Formen anging, damit meine ich die äußeren wie die des allgemeinen Umgangs. Er blieb beim Händeschütteln aus Faulheit sitzen. Mir war das immer noch lieber, als wenn Leben in H.s teigige Körpermassen fuhr, das konnte dann anstrengend werden mit dem. Manchmal sagte das Baby zu irgendeinem armen Wicht auf der Straße »Walkman her«, und dann gab ihm der besser seinen Walkman, und meistens schmiss das Baby den Walkman dann einfach nur weg, denn er hatte selber schon genügend von den Dingern zu Hause liegen.

Das Mädchen im Wasser kannte er nicht, viel zu weit weg, viel zu dunkel, ihm doch egal.

Schwimmt auf jeden Fall wie eine Oma, sagte S.

/ /

Dann beanspruchte das Mädchen mit den größten Ohrringen am Ort unsere Aufmerksamkeit. Man hätte kleine Papageien hineinsetzen können in die Kreolen. Deren Freund war irgendwie sauer. Wegen letztem Wochenende. Und S. mit entrüstet hochgerissenen Augenbrauen: Auf mich?

Und sie so: Nein, auf mich! Unglaublich, oder? Ich werde doch bei meiner eigenen Fete mal mit einem anderen abziehen dürfen?

Wir bestätigten ihr, dass da nichts dabei sei, und sagten, ihr Freund solle sich mal wieder einkriegen. Der Freund selbst war nicht da. Wahrscheinlich war er gar nicht mehr ihr Freund.

/ /

Wir hätten alle aus der 59., der 60. und der 62. POS, die da jetzt in kleineren Gruppen um Kerzen herumhockten, die sie in Weinflaschen gerammt hatten, mit Vor- und Zu- oder zumindest Spitznamen ansprechen können. Bei größeren Gruppen klopfte S. aber mit den Knöcheln nur mal kurz aufs Gras, wie man das in Kneipen am Stammtisch beobachten kann.5

Hast Du eine Ahnung, wer die Oma da im Wasser ist? Du? Nö. Nie gesehen. Jemand sagt mit tiefem Bass: Kristin Otto.6 Gelächter. Schulterklopfen. Wir müssen weiter, wir sehen uns, bis dann.

/ /

Sogar von der anderen Seite des Flusses waren welche da, die wir ebenfalls seit immer schon kannten, ohne allerdings die Namen zu wissen, und die wir deshalb unter uns »den Langen« nannten oder »den Kurzen« oder »den Geschleckten«, denn der Lange war lang, der Kurze eher kurz, und der Geschleckte lief herum, als hätte er seinen Kopf in ein Glas Gelee getunkt. Die drei verunsicherten mich ehrlich gesagt ein bisschen. Das hing, erstens, damit zusammen, dass sie von der anderen Seite waren, der größeren und irgendwie eigentlicheren Seite der Stadt, wo wir eben nicht ganz so zu Hause waren wie auf unserer; das hatte aber auch damit zu tun, dass der Lange sich seit »Beat Street« nur noch wie ein Automat bewegte, und »Beat Street« war jetzt auch schon wieder eine ganze Weile her.7

S. hatte mal behauptet, der Lange sei schon mit dabei gewesen, als damals die ersten beiden Graffiti im originalen New York Style auf der Alaunstraße an eine Brandwand gemalt worden waren, und zwar mit dem Pinsel, weil es Sprühdosen mit Autolack bei uns ja nun einmal gar nicht gab. Aber der Lange wollte darüber nie etwas Schlüssiges sagen, er sprach seit geraumer Zeit überhaupt nur noch Dinge, die sich reimten. Und jetzt zappelte er da schon wieder rum und machte Rhythmusgeräusche mit dem Mund dazu, und der Kurze sowie der Geschleckte nickten dazu auf eine dräuende, muskulöse Art. In dieses Nicken war auch der Gruß an uns miteingestrickt, und wir versuchten genauso sparsam zurückzugrüßen.

Was für ein absolut wundervoller Quark, dieses Leben als Junge: so nicken, dass es auch als Nichtnicken durchgehen konnte, Stimme tiefer stellen, keinen Schmerz kennen, wie ein Autist durchs Leben schlurfen … Wir fanden das selber schwachsinnig, aber geil.

/ /

Die Kirsche da im Wasser, sagte einer, der K. hieß, sehe doch ganz gut aus, soweit man das erkennen könne, denn damals sagten die Leute noch Kirsche, oder Biene, oder Schnecke, und wurde dafür von dem Mädchen, das er selber im Arm hatte, in die Seite geboxt.

Dieser K. zum Beispiel machte auch Abitur. Der stand sogar exakt jetzt vor den Prüfungen, der hätte eigentlich über seine Bücher gehört. Aber einer wie K. konnte nicht über seinen Büchern sitzen, wenn im Freibad Mädchen zu besichtigen waren. Der war davon wirklich besessen, also: noch besessener als alle anderen, und wir waren, fürchte ich, schon schlimm. Von K. nun wusste man aber, dass er sich für absolut gar nichts anderes interessierte als das. Während normale Jungs in öden Unterrichtsstunden noch die Namen ihrer Lieblingsspieler auf die Schulpulte gekritzelt hatten oder das Vereinswappen von Dynamo oder »Dem Rudwaleit, dem Rudwaleit, dem hauen wir die Eier breit«, hatte K., so wurde das erzählt, von hinten her, durch den Ärmelausschnitt der T-Shirts hindurch, am Wachsen der Brüste und der Achselhaare seiner Mitschülerinnen Anteil genommen.8 Er machte da auch überhaupt kein Geheimnis draus. Trotzdem – und das ist es, was uns anderen dabei am meisten zu schaffen machte –, trotzdem hatte er immer Freundinnen, meistens sogar hübsche.

Und während er eine ziemlich hübsche, ziemlich neue Freundin im Arm hielt, hatte sich K. strategisch so positioniert, dass er beim Plaudern auch die Geschwister F. im Blick hatte.

Die Geschwister F. wiederum waren nicht nur hübsch, die waren das, was man schön nennt. Vielleicht ist das richtige Wort auch betörend.

Ich war mit beiden schon zusammen gewesen, sogar mehr oder weniger gleichzeitig, dies allerdings bereits in einem Alter, in dem man sich zwar fragt, ob man miteinander gehen will, dann aber gar nicht weiß, was das jetzt konkret bedeutet, und als wir es wussten, war es irgendwie zu spät, und die beiden wurden immer noch betörender.

Hier wurden sie deshalb jetzt von Typen belagert, die alle schon irgendetwas studierten, Kunst oder Musik, und sich beim Reden mit der Hand durch die Haare fuhren, fürchterliche Angeber, die dann aber angenehm dumm guckten, als die betörenden Schwestern nämlich uns – und das heißt exakt: mir und S. – kleine Küsschen zur Begrüßung auf die Wangen hauchten. Begrüßungsküsschen waren noch recht neu bei uns. Ein Import aus Frankreich, würde ich sagen. Durch gewisse Filme vermittelt. Von gewissen Superweibern sofort übernommen.

/ /

Dies nun sahen allerdings und zu meiner großen Überraschung auch Björn Borg und Ivan Lendl, die deswegen so hießen, weil sie sich auf dem Tennisplatz die Bälle hin- und herprügeln konnten, ohne dass jemals einer ins Netz oder ins Aus ging. Die hatten aber auch sonst alles, was ich zum Beispiel nicht hatte. Schläger von Head, Hosen von Fila, Bälle von Dunlop. Mein Schläger war von den Tschechen, und ich musste noch mit weißen Bällen spielen, das fand ich manchmal fast genauso beschämend wie meine Rückhand. Ich hasste sie.

Nein. Ich bewunderte und beneidete sie natürlich aus tiefstem Herzen.

Und jetzt winkten mir diese Tennisgiganten zu, als wäre ich, keine Ahnung, der André Agassi in ihrer Mitte. Die kannten hier nämlich sonst niemanden.

/ /

Normalerweise brachte mich das Aufeinandertreffen von Bekannten aus grundverschiedenen, sich gegenseitig eher ausschließenden Zusammenhängen immer ein wenig in Verlegenheit, weil dann S. zum Beispiel wissen wollte, weshalb mich solche Tennispopper denn jetzt schon wieder grüßten wie ihren allerbesten Freund. Ausgerechnet S., der zehntausendmal mehr Leute aus hunderttausendmal abseitigeren Submilieus kannte, und vor allem: von ihnen auch zurückgekannt wurde. Aber in dieser ersten Sommernacht des Jahres war das grundsätzlich eher beglückend. Das da war meine Welt. Sie kam mir weit und wild vor bei Nacht, und ich war darin noch nicht einmal die kleinste aller Nebenfiguren.

Aus irgendeinem Grund wäre das jetzt begrüßenswert gewesen, wenn dieses Mädchen, das da unbeirrt seine Bahnen zog, das mitbekommen hätte. Denn sogar der kleine D. war da, die Nervensäge, die wiederum uns, meinem Freund S. und mir, so devot und treu und doof hinterherschlich wie wir, fürchte ich, den Älteren.

/ /

Man konnte den kleinen D. mit seiner Stimmbruchstimme herumkrakeelen hören. Er teilte mit, dass er mit der E. im Unterholz gewesen sei: Überall Brennnesseln! Aber sie lag unten! Pause. Dann Riesengelächter. Allerdings nur von ihm selber.

Und die E. so: Träum weiter, du Wicht. Krieg erst mal Haare am Sack.

Und dann kam er kichernd zu uns rüber, und wie fängt einer, der so mit den Frauen redet, ein Gespräch unter Jungs an? Mit einmal ordentlich Rotze aus der Nase ziehen und vor sich auf den Boden aulen.9 Und mit Fußball, natürlich.

Sonnabend gegen Cottbus, sagte also der D. und zog sorgenvoll Luft durch die Zähne ein.

Gottchen, sagte S., die Lutscher aus Cottbus, Mittwoch geht es gegen die Biften …10 Und danach sagte er nichts mehr, denn damit war eigentlich alles geklärt, und D. nickte und durfte sich trollen.

/ /

Hätte man damals schon sagen können, wer dort eines Tages wem einen Baseballschläger über den Kopf hauen würde? Hätte man damals schon herumgehen können und sagen: Du, mein Freund, wirst mal den Drogen zum Opfer fallen, und du da wirst sie ihm verkaufen; du daneben wirst mit Immobilien viel Geld verdienen, du hier wirst vorher für ihn auf den Strich gehen, du dort drüben wirst in München eine Karriere machen, während der dahinten in zwanzig Jahren Mülltonnen nach Pfandflaschen durchsucht – und du, kleiner D., wirst bald gar nicht mehr unter uns sein?

Noch wussten wir nicht, wie alles kommen und was alles verschwinden würde. Noch galten bewaldete Achseln als begehrenswert. Noch wusste keiner, wie schnell sich selbst das ändern würde. Wir waren in einer Phase der Unschuld, die wir natürlich für das Gegenteil hielten: War jemals jemand so erwachsen wie wir?

/ /

Viele Jahre später würden wir Frauen und Kinder haben, wunderbare Frauen und prachtvolle Kinder, wir würden uns in der Schweiz treffen oder in den USA und trotzdem immer wieder über damals reden. Über die Sache im Rudi Arndt, wo S. seine Frontzähne eingebüßt hat, und über das Haus am Bischofsweg, wo er alleine drinsaß mit einem Schwarzen und einer Schwangeren, als sie unten begannen, die Gitter aufzuflexen. Was zur Hölle wolltest Du denn im Rudi Arndt? Reden? Du dachtest echt, man kann mit denen reden? Und wie er vielleicht fünfzig Leute dort gezählt hatte und daraufhin siebzig von uns los sind, und wie in der Zwischenzeit aber aus den fünfzig dort dreihundert geworden waren, weil die irgendein sinnloses Konzert hatten in ihrem sinnlosen Rudi.

Und die Frauen würden sagen, wer ist denn immer dieser Rudi? Und dass wir wie zwei Opas klingen, die vom Krieg erzählen.

Daraufhin würden wir sagen, dass Rudi Arndt ein jüdischer Kommunist war und ein rechtsradikaler Jugendklub, und sie würden verständnislos gucken, denn unsere Frauen sind da nun einmal nicht aufgewachsen, in jenem kleinen Land.

/ /

Nach allem, was noch folgen sollte, kommen mir diese Nächte im Freibad heute vor wie das Paradies, wo die Tiere noch alle friedlich auf derselben Wiese grasten. Überall drückten sich die Pärchen herum, und gebadet wurde nackig. Das hatte nichts mit FKK zu tun. Beim FKK hielten Rentner rücksichtslos ihren Speck in die Sonne. Das hier war das Gegenteil. Hier huschten, weiß und dürr, die Körper von Leuten durch das Mondlicht, die jung genug waren, um vor Aufregung über all das mit sämtlichen Gliedern zu schlottern.

Zusätzlicher Grund zum Schlottern: Das Wasser war noch knackig kalt um diese Jahreszeit. Aber selbst das war wunderbar, weil es wach machte. Daher: Tauchen, Prusten, lange, beglückte Schwimmzüge, als wäre man zum ersten Mal nach langer Zeit wieder am Meer. Ich verstand jetzt auch die geheimnisvolle Schwimmerin: Man musste sich schon ein bisschen bewegen, damit man nicht fror.

Am anderen Ende des Beckens kreischte ein Mädchen kurz auf und kriegte sich dann gar nicht wieder ein; und ich wusste ohne hinzusehen: Da hatte mein Freund S. seine Hände im Spiel. Der Mond, der alte Spanner, spiegelte sich auf dem Wasser. Noch drei bis vier Züge, und ich würde am Ende der Bahn anschlagen, wo die Schwimmerin jetzt kurz verschnaufte.

Wie hätten wir denn bitte damals schon, in diesem Moment, eine Ahnung haben sollen, was in diesem Jahr noch alles passieren sollte? Was in den nächsten Minuten passieren würde, war in jedem Fall spannender.

/ /

Was dann geschah, war nämlich dies: Das Licht ging an, und jemand brüllte »Polizei«.

Da sah man erst einmal, wie viele Leute insgesamt dort waren, in allen Ecken und Winkeln saßen welche und knutschten herum und sahen jetzt zu, dass sie sich in die Büsche schlugen. Manche blieben auch erst einmal stehen und starrten wie die Rehe nachts auf der Landstraße gebannt in das blendende Licht. Einige dachten vielleicht auch, das sei wieder so ein Witzbold, der die anderen nur ein bisschen erschrecken will. Es kam immer mal wieder vor, dass jemand das Licht anmachte, »Polizei« rief und sich dann auf die Schenkel haute. Mein Freund S. war so ein Kandidat. Der wusste jedenfalls, wo die Schalter für das Flutlicht waren. Aber mein Freund S. konnte es diesmal nicht gewesen sein, denn der kraulte in diesem Moment ziemlich zügig zum nächstgelegenen Beckenrand, und das tat ich dann mal lieber auch. Der undankbarste Ort, an dem man sein konnte, wenn die Polizei das Licht andrehte, war nun einmal das Wasser. Es war gar nicht daran zu denken, sich noch die Klamotten überzuziehen. Mussten wir eben nackt durch das Unterholz springen. Man hat sofort Striemen und Kratzer an den undankbarsten Stellen, und barfuß ist so ein Waldboden auch kein Spaß. Am Ende standen wir dann wie beim Versteckspiel hinter Bäumen, während die Beamten Schwerwiegendes in den Wald hineinriefen.

Hausfriedensbruch!

Zusammenrottung!

Es war zum Totlachen: Eben hatten da noch die größten Großmäuler der ganzen Umgebung um das Becken gehockt, jetzt waren eine Handvoll Flics da, und alle waren weg. Ich sah niemanden mehr. Nur, zwei Bäume weiter, das Mädchen aus dem Wasser. Als sie merkte, dass ich rüberschaue, sagte ich »Hi«, und das Mädchen sagte: »Tach.«

Und so begann das mit uns.

/ /

Die meisten lernen sich erst kennen und ziehen sich dann aus, bei uns war es umgekehrt. Wir sagten Hallo und schauten dann wieder zu den Flics hin, die jetzt tatsächlich Anstalten machten, unsere Sachen zusammenzusammeln. Ich sah uns schon nackt nach Hause gehen. Oder mit ein paar Zweigen bekleidet, irgendwas zwischen heillos verschämt und unverklemmt natürlich: Ich sah uns ein wandelndes Sinnbild unserer eigenen Jugend abgeben. Aber dann sah ich, zum Glück, doch etwas ganz anderes. Ich sah nämlich, wie der eine Polizist ein paar Stiefel der englischen Marke Dr. Martens mit Luftpolstersohle und Stahlkappe, sogenannte Docs, und allem Drum und Dran an den als Anziehhilfen gedachten Schlaufen packte und ein wenig damit in unsere Richtung winkte.

Falls jemand was vermisst.

Ich kannte diese Schuhe. Dafür hatte eine Großtante meines Freundes S. bis nach Düsseldorf in ein Geschäft fahren müssen, wo sie fast einen Herzinfarkt erlitt: Die Herren Verkäufer seien allesamt tätowiert gewesen wie Sträflinge, zum Teil bis hoch ins Gesicht. S. war der Erste von uns, der echte Doc Martens hatte. Manche hatten Springerstiefel von den Tschechen, ich hatte nur »Arbeitsstiefel« für EVP 51,– M aus einem Berufsbekleidungsgeschäft in der Webergasse, und auch die wollten zu Hause erst einmal durchgesetzt sein.11

Es war abzusehen, dass S. das nicht einfach so geschehen lassen konnte. Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass er einfach aus dem Wäldchen heraus auf die Beamten zuspazieren würde, so als sei er nur mal kurz pinkeln gewesen, sich seine Sachen nahm und einfach wieder anzog. Die Polizisten nahmen breitbeinig Aufstellung vor ihm und wippten vor Vorfreude in den Knien. Er sollte dann seinen Personalausweis zeigen, und als er das kleine blaue Buch aus seiner Gesäßtasche genestelt hatte, sagte er offenbar das, was er den staatlichen Organen gegenüber gerne mal sagte: Und welcher von den Genossen ist jetzt der, der lesen, welcher der, der schreiben kann?

Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass mein heroischer Freund S. das Theater, das daraufhin losbrach, in erster Linie für alle anderen auf sich nahm. Die Fremde begriff das schneller, und als S. zum Streifenwagen verbracht wurde, war sie die Erste, die ihre Klamotten vom Beckenrand sammelte.

/ /

Sie hieß L. und war vor einem halben Jahr aus Potsdam hergezogen. Schwamm deswegen halt gern. Die Seen dort oben. Kannte hier noch keinen, hatte nur gehört, dass die Leute sich hier nachts zum Baden trafen. Bitte schön, hatte sie gedacht, tagsüber Badengehen fand sie zwar insgesamt vernünftiger, und auch über Zäune klettern sei eigentlich nicht so ihres, aber wenigstens habe man nachts freie Bahn und könne so schwimmen, wie das von den Erbauern eines Schwimmbeckens gedacht und vorgegeben sei, ohne dass einem ständig einer in die Quere kommt.

Ich erfuhr, dass L. Jazzdance machte, privat aber lieber Liedermacher mochte: Degenhardt und Hannes Wader. Oder Biermann, als der noch hier war.

Und ich erfuhr, dass sie an ihrem 18. Geburtstag in die SED eintreten wollte.12

/ /

Ich glaube, ich musste kurz stehen bleiben, als sie das sagte. Sicher ist, dass ich Lust hatte, einen Knoten in die Straße zu machen, um mir Zeit und Ort auf immer zu merken. Denn das war die Nacht, in der ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Kommunistin traf. Also: eine echte, eine, die nicht nur sagt, sie sei eine, weil sie das gerade sagen muss, und auch keine Pionierleiterin oder FDJ-GOL-Sekretärin, die damit ihr Geld verdient.13

/ /

Wir waren in den frühen Siebzigern geboren, und wenn ich mal den Bücherschrank meiner Eltern konsultierte, dann war die Produktion von Zukunftszuversicht und Optimismus irgendwie eingestellt worden, als wir in den Kindergarten kamen, seitdem wurde durchweg nur noch gehadert und sinniert und gefroren und griechisches Drama imitiert.

Im Grunde waren wir von Anfang an in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass es bei uns trostlos war – aber es war eben bei uns, und das war nun einmal der Ort, wo das Abenteuer unseres Aufwachsens stattfand. Wir waren fünfzehn in dem Jahr, in dem es mit der DDR zu Ende ging, und wenn man fünfzehn ist, ist man eher an Dingen interessiert, die einem zum ersten Mal passieren. Und L. nun war tatsächlich der erste Mensch in meinem Alter, der ganz privat und ungefragt bekannt gab, dafür zu sein, wo privat und ungefragt eigentlich alle immer nur dagegen waren.

Damit war diese L. für mich auf einen Schlag sogar noch exotischer als der Transvestit, der seit einem Jahr bei uns um die Ecke wohnte. Der war, so gesehen, viel eher Teil der Mehrheitsgesellschaft.

/ /

Mir war damals ein Teller aus der Hand gefallen beim Abwaschen, als ich aus unserem Küchenfenster einen Mann die Straße hochlaufen sah, der Frauenkleider trug und Lippenstift und seine Zigaretten mit Zigarettenspitze rauchte, ich hatte so etwas noch nie gesehen und offen gestanden auch nicht für möglich gehalten. Aber S. hatte zu diesem Zeitpunkt nicht nur bereits Bekanntschaft mit diesem Wesen geschlossen, er wusste auch schon, dass es bis eben gesessen hatte, wegen was Politischem. Danach hatten sie ihm bei uns um die Ecke die Mansarde einer burgähnlichen Villa zugewiesen, zur Resozialisierung, wie das dann immer genannt wurde. Vermutlich aber auch, um die Nachbarn ein bisschen zu erschrecken.

/ /

Bei uns standen Jugendstilvillen hinter Rhododendronbüschen, bei uns wohnten Maler, Musiker, Schauspieler, Ärzte, Professoren, Diplomingenieure. Kann ja sein, dass im ganzen Rest des Landes die Arbeiter und die Bauern das Sagen hatten, zum Ausdruck gebracht durch die Genossen der Partei. Bei uns aber nicht. Wenn unser Viertel im Westen gelegen hätte, wäre das vermutlich eine sogenannte Hochburg von CDU und FDP gewesen, so war es eine der entsprechenden Blockparteien CDU und LDPD.14 Wenn ich meine Eltern ärgern wollte, stellte ich Honecker-Reden im Fernseher an und machte das Fenster auf, damit die Leute draußen dachten, wir hätten sie nicht mehr alle.

Der Einzige, der am Siebten Oktober die DDR-Fahne raushing, wohnte nebenan im Erdgeschoss, wo sie nicht besonders auffiel. Das war Herr P., der als Erzieher im Jugendwerkhof arbeitete, ein Sozialist von der autoritäreren Sorte. Jugendwerkhof war echt nichts, worauf irgendjemand scharf sein konnte. Es wurde damals viel von einem Typen in Berlin erzählt, der in den Jugendwerkhof gesteckt wurde, weil er die Tochter vom Polizeipräsidenten dort geschwängert hatte, hinterher war der dann wirklich ein stadtbekannter Schläger, Hooligan, Nazi und was weiß ich noch alles. Keine Ahnung, was ganz genau in diesen Dingern ablief. K. behauptete, dass dort auch Mädchen hinkommen, die zu viel herumbumsen, wegen HwG, häufig wechselnde Geschlechtspartner, und der kleine D. hatte gekräht: Die kriegen die Würstchen in der Suppe dort nur geschnitten. Und die Mädchen alle: Perverse Sau!

Herr P. kam jedenfalls immer in Uniform von der Arbeit heim, und an den Sonntagen sah man ihn in einer anderen Uniform, erwartungsvoll ausschreitend, zu seiner freiwilligen Schicht bei der Pioniereisenbahn im Großen Garten eilen, wo er hoffte, Kindern und Jugendlichen eine Richtung weisen zu können, die sie später beruflich nicht wieder mit ihm zusammenbringen würde.

/ /

Dann gab es noch die alte Frau R., die jede Woche den Schaukasten vom Wohnbezirksausschuss der Nationalen Front dekorierte; das heißt, sie nagelte in dem Kasten, der an dem Zaun vom Konsum hing, Verlautbarungen, die nie ein Mensch las, neben ein vergilbtes Poster.15 Auf dem Poster, das weiß ich immerhin noch, stand: »Ein Gewehr ist dann eine gute Sache, wenn es für eine gute Sache da ist.« Ich bilde mir ein, dass am Lauf des Gewehres eine rote Fahne hing. Es gab allerdings auch die, die hinter vorgehaltener Hand behaupteten, dass die gute Frau R. diesen Job vor der Gründung der SED bereits für die NSDAP gemacht habe. Aber das war es auch schon. Einen wirklich ernst zu nehmenden Befürworter des Systems hatte ich bis dahin schlicht und einfach noch nicht getroffen, schon gar nicht in unserem Alter. Später habe ich noch ein paar mehr Leute kennengelernt, die mit achtzehn in die SED eingetreten sind. Das war allerdings in Orten wie Magdeburg oder Berlin, wo man sich sowieso über nichts wundern musste. Und noch später konnte man sogar in medienwissenschaftlichen Studien nachlesen, dass ausgerechnet das Westfernsehen die Leute in diesen Gegenden, und das heißt: in so gut wie allen Gegenden außer unserer, so sediert und treu und gefügig gemacht hat.16 Bestimmt hat es auch in unserer Stadt Kommunisten gegeben, überzeugte Genossen, alles andere wäre auch absurd, gebe ich zu, aber ich hatte keine Ahnung, wo die wohnten, in den Plattenbaugebieten vermutlich.

Es glaubt einem heute oft keiner, aber es war nun einmal so: In meiner alten Schule hatte es nur einen Einzigen gegeben, hinter dessen Namen im Klassenbuch vermerkt war, dass der Vater in der Partei war, und das war der, der immer die Klassenkeile bekam. Auch deswegen. Eigentlich nur deswegen. Manchmal hatte ich ihm währenddessen zurufen wollen, er solle es nicht persönlich nehmen: Das ist nur was Politisches.

/ /

Schon mal nachts um drei mit einem Mädchen, das man im Grunde nur noch küssen will, damit es mal die Klappe hält, über die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik geplaudert? Über den Unterschied von Ulbricht und Honecker?

Ich bis dahin nicht.

Vielleicht hätte man ihr nicht ausgerechnet mit Brigitte Reimann kommen sollen. Ich hatte gesagt, dass ich in unserem Bücherschrank mal was von Brigitte Reimann gefunden hatte. Es ging um eine junge Frau, die eine Stadt bauen soll, rund um ein neues Kraftwerk, und die sich zwischen zwei Männern nicht entscheiden kann, ungefähr so. Ab da war sie aufgetaut. Es machte fast den Eindruck, als ob sie gerne selber diese Architektin wäre, zur Not auch ohne die beiden jungen Männer. Sie sah sogar ein bisschen so aus wie Brigitte Reimann, auf so eine aufgeweckte Art melancholisch; vielleicht wusste sie das und fand die Bücher schon deshalb gut.

Am liebsten las sie: Peter Hacks. Alles.

Und du?

Und ich: Georg Heym und Stefan Heym, Hauptsache Heym.

Sah sie beide eher kritisch. Aber immerhin hatten wir was zum Reden.17

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Wir saßen auf der kleinen Treppe vor ihrer Haustür, und bis irgendwann das Fenster aufging und ein bärtiger Mann sich erkundigte, warum seine Tochter vor der Tür saß, statt im Bett zu liegen, waren noch sehr erstaunliche Dinge zu erfahren.

Erstens: Sie hatte tatsächlich kein einziges Stück Stoff aus dem Westen am Leib, nicht eine Faser, und war auch noch stolz darauf. Nie im Leben, sagte sie, würde sie abgelegte Sachen von drüben auftragen, wer sei sie denn.18 Und ich: Das heißt, du hast niemanden, der dir welche schickt? Und sie: Ich brauch da niemanden. Leute, die sich auf ihre West-Beziehungen was einbilden oder überhaupt auf ihre Beziehungen, die fände sie würdelos.

Zweitens: Sie ging mit S. in eine Klasse. Und sie mochte ihn nicht.

Er hatte mir nie etwas von einer Neuen in seiner Klasse erzählt. Die beiden hatten auch eben im Bad so getan, als kannten sie sich gar nicht. Es sah ganz so aus, als wäre die Abneigung beidseitig. Und ich war inzwischen auf der EOS und bekam nichts mehr mit.19

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S. war später auf unsere Schule gekommen. Irgendwo aus dem Süden der Stadt, wo offensichtlich ein anderer Wind wehte. Ihm wurde nachgesagt, bereits über weitreichende sexuelle Erfahrungen zu verfügen, was S. auch nie dementierte. Das verschaffte ihm Bewunderung und Missgunst. Er konnte mit beidem ganz gut umgehen. Als sich herausstellte, dass wir beim Länderklauen in der großen Pause beide immer England sein wollten, für uns das exotischste Land der Welt, wurden wir unzertrennlich.20 S. war nur zwei Monate älter, aber trotzdem eine Klasse über mir. Das hieß, dass wir uns in den kleinen Pausen nicht sehen durften.

Die kleinen Pausen werden im Klassenzimmer verbracht, unnötiger Aufenthalt auf den Gängen wird von den Aufsicht führenden Lehrern und FDJlern unterbunden. So die Schulordnung.

Standen wir eben die komplette Pause über auf dem Klo, Gestank war egal, und unterhielten uns dort über Musik. Ganz am Anfang hatte S. noch Kim Wilde gehört, was er später leugnen sollte, so wie ich heute leugnen würde, dass ich damals noch nicht einmal Kim Wilde kannte, weil das Modernste, das bei uns zu Hause gehört wurde, ungefähr Rachmaninow war. Aber dann bekam S. von seinen Westverwandten die »Black Celebration« von Depeche Mode geschickt, und wir wussten, wir würden Synthesizer brauchen und Megaphone, und unsere eigene Band würde kälter klingen als die Eiszeit. Kurz danach bekam er aber auch »Staring at the Sea«, die Singles-Sammlung von The Cure, und, großer Gott, es war vollkommen klar, dass unsere eigene Band gar nicht anders heißen konnte als: Die Gruft. Oder: Mond. Oder: Beinhaus. Oder so. Wir begannen, uns die Haare zu toupieren.

Bei den Grufties sind wir dann aber relativ schnell wieder rausgeflogen. Wir waren angeblich zu albern für die. Ein Typ, der aussah wie Bela B. von den Ärzten, hatte sich im Volkshaus Laubegast vor uns aufgebaut und gesagt, ihr bringt dauernd die Weiber zum Gackern, Sportsfreunde, so geht das nicht.

Uns war es recht. S. hatte ohnehin schon etwas viel Geeigneteres in der Hinterhand.

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Auf der Rue hatte er einen kennengelernt, der sich Ratte nannte. Der hatte ihm eine Kassette mitgegeben. Wir saßen in meinem Zimmer, und S. drückte, jetzt pass mal gut auf, Kollege, die Playtaste von meinem Rekorder. Rauschen, eine Stimme, die, vom Dialekt her, direkt aus dem Nebenzimmer zu kommen schien, sagte: Okäy, Aoufnahme … ab! Eine Gitarre quietschte ein wenig, ein Bass bumperte langsam los, es kam fast zu so etwas wie einer Melodie, auch ganz sparsam. Waren das Joy Division? Nein, warte mal, das musste von uns kommen. Das klang exakt so, wie ein Konsum aussah, wie eine HO-Kaufhalle im Sommer, wenn nur noch Schnaps da war und sonst nicht viel anderes.21 Da war Leere, und das wenige, was es gab an Tönen, kam einem gleich viel wesentlicher vor, so wie Wasser in der Wüste. Dann gab es tatsächlich irgendwann Gesang. Das Erste, was man mitbekam, war, dass der Sänger nicht unbedingt ein Caruso war. Aber er hatte offensichtlich etwas zu erzählen. Ich verstand es eigentlich erst, als S. mitsang, und er sang besser: Du hast die Wahl / und wirst nichts entscheiden / Traurige Farce mit gekauften Statisten /
Du bist Sklave und sitzt auf dem Thron / als Teil einer Generation, die glücklich ist …

Und dann sprudelten Gitarre, Bass und Schlagzeug umeinander herum und machten eine so fröhlich depressive Tanzmusik, dass man es kaum fassen konnte. Und gleichzeitig klang es irgendwie: machbar. So, als müsste das auch von uns eines Tages hinzukriegen sein.

Kaltfront, sagte S. mit einer gewissen Feierlichkeit in der Stimme, so heißen die, eine Band von hier, direkt um die Ecke, kaum was älter als wir, wir müssen uns ranhalten, Kollege.

Da waren wir in der siebenten Klasse.

Egal welchem Götzen du die Füße küsst
/ Unter welchem Banner du dich selbst betrügst
/ Stürze dich vom Zug vor der nächsten Station /
Als Teil einer glücklichen Generation.

Noch am selben Nachmittag hauten wir uns Sesselgleiter aus Metall in die Jacken, was ein besserer Ersatz für Killernieten ist, als man möglicherweise so denkt. Es stand vollkommen außer Frage, dass unsere Band Die Knechte heißen würde. Oder: Die Nachrichten. Oder: Ausfallschritt. Oder: Nein. Oder so.

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Wir hatten trotzdem für alles, was uns auf unserem Weg bisher so begegnet war, tiefes Verständnis. Wir mochten immer noch die blassen Wesen, die Cure oder Siouxie oder Bauhaus hörten und in Rimbaud-Bändchen blätterten, und wir mochten immer noch die Depeche Mode-Freaks mit ihren spitzen Schuhen und hohen Frisuren, ich fand das wundervoll, wenn ich mit S. irgendwo langlatschte, an einem Nachmittag, und ein Fenster stand offen, und in dem Fenster saß dekorativ so eine Gestalt in Karottenhosen, von der man gar nicht sagen konnte, ob Junge oder Mädchen, der Geruch von »Action«-Haarspray wehte einem entgegen – und ein paar dürre schöne Eiskristalle aus einem Synthesizer; und S. kannte die Gestalt natürlich und rief was hoch. Irgendwas in der Art von: Na, du Ei, hörste wieder De-Mo? Und die Gestalt winkt nur lasch ab und sagt: Gibt doch nüscht andres.

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Das Gleiche sagten auch die Langhaarigen, die in zackigen Buchstaben Metallica oder Slayer und manchmal sogar auch MCB in die Schulbänke ritzten.22 Und denen war ebenfalls unbedingt recht zu geben. Wir fanden so gut wie alles interessant, berechtigt, aufregend. Selbst die Langhaarigen, die Gammler, die Penner, oder auch: die Kunden, wie sie sich selber nannten, mit ihren Hirschbeuteln und Bluesmessen.23 Sogar die Kirchenmäuse ohne BH, die immer noch Schlaghosen trugen und Gerhard Schöne hörten.

Bei dem waren wir sogar selber schon gewesen, als der in der Freilichtbühne »Junge Garde« Kinderlieder übers Popeln gesungen hat. Oder darüber, dass man die Schwachen, Verträumten, Dicken und Unsportlichen nicht verprügeln sollte, weil die andere Qualitäten haben. Gottchen, ja. Es hatte auch Zeiten gegeben, in denen wir uns »Kinder, die anders sind« nennen wollten, nach einem Buch über Eltern von Behinderten.

Aber gläubige Kommunisten? Hatten selbst wir noch nicht in unsere Fürbitten aufgenommen.

1 Alain Delon

2 Der Personalausweis, das kleine blaue Buch mit dem Foto drin, auf dem wir alle, als wir es mit vierzehn bekamen, noch wie Musterschüler in die Kamera lächelten, die meisten zum letzten Mal in ihrem Leben.

3 »Nasi Goreng«, »Ernte 23«, »Reval«, »Marlboro«. Die Intershops waren ja im Prinzip nur dazu ins Leben gerufen worden, um das im Lande herumgeisternde Westgeld einzusammeln, die harten Währungen, die sogenannten Valuta, und Westzigaretten, die weniger kosteten als im Westen, waren immer schon attraktiv für rauchende Westbesucher gewesen. Insofern verhielten wir uns hier im Prinzip sehr staatsbürgerlich. Dass einem aber als Wechselgeld in diesen Läden keine West-Münzen zurückgegeben wurden, sondern pro West-Groschen je ein West-Schokoladentäfelchen, das war eine Sauerei, schon weil Zigaretten und Schokolade nicht gut zusammen schmecken.

4 Und wir haben eine Menge Partys gefeiert damals. Wir nannten sie nur noch nicht so. Wir benutzten damals tatsächlich noch den altertümlichen Begriff Fete. Uns kam Party altertümlich vor. Partys waren das, was unsere Eltern feierten.

5 POS: Polytechnische Oberschule. Das hieß nun einmal so. Das ging uns flott von den Lippen. Warum man sich ab der ersten Klasse schon Oberschüler nennen durfte und was »polytechnisch« eigentlich konkret heißen soll, das hat uns damals am allerwenigsten geschert. Es galt: Von der 1. bis zur 10. Klasse gehen alle auf die POS. (Außer sie müssen auf eine Sonderschule gehen.) Und manche gehen danach für das Abitur noch zwei Jahre auf die EOS, die Erweiterte Oberschule. (Außer sie finden einen Weg, wie sie schon früher dahin kommen. Dazu später mehr.)

6 Sechsfache Goldmedaillengewinnerin von Seoul; man hatte immer das Gefühl, wenn der Sportreporter Heinz-Florian Oertel sie interviewte, lag er zwei Oktaven über ihr.

7 »Beat Street« war 1985 bei uns in die Kinos gekommen. Woanders beriefen sich Rapper, Sprayer, Breakdancer immer auf den Film »Wild Style«, bei uns aber lief »Beat Street«, vermutlich weil der von Harry Belafonte produziert worden war, und Harry Belafonte war ein oft gesehener Gast auf dem Festival des Politischen Liedes in Berlin, wo man dankbar war über jeden Amerikaner, der sich bei uns blicken ließ, das kleine Land mit seinem Besuch beehrte. Angela Davis war meiner Erinnerung nach dauernd da, Dean Reed sowieso, und Harry Belafonte, der war praktisch die Schnittmenge aus beiden. Wir fanden die deswegen, glaube ich, alle, ohne je groß darüber gesprochen zu haben, peinlich, schunkelnde FDJ-Blusen, Mitklatsch-Musik, das war nicht unsere Tasse Tee. Aber dadurch, wie gesagt, bekamen wir »Beat Street«, und »Beat Street« veränderte alles, darüber konnte man wirklich mal nicht meckern. Auch wenn die Musik da drin letztlich nicht bei uns hängen blieb: Weder S. noch ich hatten jemals Pläne, mit unserer Band Hiphop zu machen.

8 Bodo Rudwaleit war der Torwart vom Berliner Fussballclub Dynamo, BFC, der vordergründig nichts mit unserer Sportgemeinschaft Dynamo, SGD, zu tun hatte, abgesehen von der Tatsache, dass in jenem Land eben überall die Betriebssportgemeinschaften der Sicherheitsorgane Dynamo hießen – so wie die der Eisenbahner Lokomotive, die der Metallurgen Stahl oder die der Bauarbeiter Aufbau, irgendein Betrieb war eben immer der Träger. Dass das bei unserem Verein nun ausgerechnet die sogenannten Flics waren: Was soll man machen? Wichtig war nur, bei Dynamo das a zu betonen und nicht das y. Wer das y betonte, war ein Physiklehrer oder aus dem Westen oder einfach nur ahnungslos, ein Dynnamo war ein Apparat zum Lichtmachen am Fahrrad, Dynaamo war Fußball, die Betonungsverschiebung zeigt den Bedeutungswechsel an, sie steht für die Aneignung durch die Leute. Es ließ sich so auch besser rufen.

9 Die Aule, Substantiv. Aulen, Verb. Das möglichst beiläufige, dabei aber auch möglichst weite Auswerfen der Mischung aus Nasenschleim und Spucke spielte eine große Rolle unter den Jungs damals, besonders solchen wie D.; das Wort selber, heißt es, stammt aus dem Schlesischen.

10 Der Berliner Fußballclub Dynamo, vgl. Anm. 8.

11 EVP: Endverbrauchspreis. Stand in jenem Land nun einmal auf jedem Preisschild vor der Zahl, so wie das M für Mark dahinter.

12 SED: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

13 FDJ-GOL: Grundorganisationsleitung der Freien Deutschen Jugend. Freie Deutsche Jugend: nicht offiziell der Jugendverband, dafür aber offiziell die Kampfreserve der SED (vgl. Anm. 12). Eine Grundorganisation umfasste normalerweise die Schüler einer Schule. Der Sekretär war ein Erwachsener in Festanstellung. Pionierleiter: Praktisch das Gleiche wie ein FDJ-GOL-Sekretär, nur für die Jungen Pioniere (erste bis dritte Klasse, blaues Halstuch) und die Thälmannpioniere (vierte bis siebte, rotes Tuch).

14 Nicht, dass das irgendetwas geändert hätte, die Parteien im sog. antifaschistisch-demokratischen Block hatten ja per Gesetz nur die Rolle von Satrapen, aber man bekam oft einen ganz triftigen Grund genannt, da mitzumachen: Wer schon woanders gebunden ist, hat ein gutes Argument, warum er nicht in die SED eintreten kann.

15 Nationale Front: der Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen der DDR unter dem Primat der SED. Der Konsum wiederum war der Lebensmittelladen der schon sehr alten Konsumgenossenschaft, die für Einkäufe Marken ausgab, die das Jahr über gesammelt und an langen Winterabenden angeleckt und in ein Konsumbüchlein geklebt wurden oder auch nicht, Hauptsache, man betonte Konsum auf dem O. Konsum mit Betonung auf dem U war etwas anderes. Das verhielt sich ähnlich wie die Sache mit Dynamo, vgl. Anm. 8.

16 Vgl.: Holger Lutz Kern, Jens Hainmueller: Opium for the Masses: How Foreign Media Can Stabilize Authoritarian Regimes. In: Political Analysis, 17 (4), 2009, S. 377-399.

17 Ich glaube, Georg Heym kannte sie auch gar nicht so gut, das waren expressionistische Gedichte, die ich mal als Songtexte in Erwägung gezogen hatte, als unsere, S.s und meine, Band noch wie The Cure klingen sollte, dunkel und bedeutungsvoll. L.s Einwände hatten mehr damit zu tun, dass Stefan Heym seine letzten Bücher zuerst im Westen veröffentlicht hatte.

18 Ich fand immer, es war okay, wenn Schuhe, Socken und Unterhosen von uns waren, Socken und Schlüpfer aus dem Westen, das wäre wirklich dekadent gewesen, dann hätte man sich auch das Neue Deutschland über Genex kommen lassen können. (Bei der Außenhandelsgesellschaft Genex bestellten sich diejenigen, die genug Westgeld oder großzügige Westverwandte hatten, einen Citroën oder einen Golf oder ein Eigenheim.) S. hingegen, seit er die Dr. Martens hatte, sagte: Nur Socken und Schlüppies von uns.

19 EOS: Erweiterte Oberschule, also die eigentliche Oberschule, das Gymnasium. Vgl. Anm. 5.

20 Aus Frankreich kamen unsere Filme, aber aus England kam die Musik. Mit den USA hatten wir es weniger, Amerika sah uns in den Filmen oft irgendwie zu beigebraun, magenkrank und sowjetisch aus. Man hatte das Bedürfnis, Hilfssendungen hinzuschicken.

21 Konsum mit Betonung auf dem O wie in Anm. 15. Die Kaufhallen der staatlichen Handelsorganisation, HO, würde man heute vielleicht Supermärkte nennen, damals aber nicht, denn die waren nicht super, und unter einem Markt stellt man sich in der Regel auch etwas Opulenteres vor.

22 MCB, in Magdeburg gegründete Band, die sich mit dem Song »Heavy Mörtel Mischmaschine« und einer Vertonung von Christian Morgenstern hervorgetan hatten. Zwanzig Jahre später sollte der Gitarrist sich mit zwei Gleichgesinnten und dem Lied »Ick wer zun Schwein« als Kandidat für den Grandprix de la Chanson bewerben. War damals auch nicht abzusehen.

23 Hirschbeutel: selbstgenähte Umhängetaschen aus Wandteppichen, die im Idealfall einen röhrenden Hirsch darstellten, Erkennungszeichen der Blues-Freaks. Blues-Messen: Blues-Konzerte in Kirchen, die von Leuten mit Hirschbeuteln besucht wurden.

2. Teil

Die Sache mit dieser L. ging mir noch am nächsten Tag gehörig in meinem übermüdeten Kopf herum, um den, soweit ich mich erinnere, ein Haarnetz gespannt war aus Gründen der Sicherheit und zum Arbeitsschutz. Der nächste Tag muss ein Freitag gewesen sein, weil es immer schon der Freitag war, an dem wir nicht in die Schule mussten, sondern zum PA-Unterricht in den VEB Pentacon, ein Kamerawerk, abwechselnd zu ESP und PA, Einführung in die Sozialistische Produktion und Praktische Arbeit, Theorie und Praxis, und diese Woche dran war: PA. Manche sprachen von Kinderarbeit. Aber ich glaube nicht, dass wir die Produktivität wesentlich erhöht haben. Das Fach hatte man eingeführt, um schon während der Schulzeit eine realistische Vorstellung vom Rest des Lebens zu vermitteln, von seinen Stechkarten, Kittelschürzen und Kantinengängen – und eben auch vom Arbeitsschutz. Immer wieder wurde die Geschichte von dem Mädchen aufgetischt, dessen Haare sich in der Bohrmaschine verfangen hatten, die Schauergeschichte vom blutigen Skalp. Mädchen und Metal-Fans mussten Haarnetze tragen, ich auch. Es war jetzt schon eine Weile her, dass S. und ich bei den Grufties rausgeflogen waren, aber ich war immer noch mehr oder weniger frisiert wie der Sänger Robert Smith. Die Haare standen, liebevoll verfilzt, in die Höhe.

Da half es nix, dass gar keine Bohrmaschine im Raum war. Der Arbeitsgang hieß »Schläucheln«, Drähte waren durch Gummischläuche zu fädeln, gemeinsam mit einer Brigade von reiferen Frauen, die schon am Vormittag Schaumwein tranken und schweinische Witze rissen. Es war unbegreiflich, wie man das aushalten konnte, jeden Tag, ein ganzes Leben lang.

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Der einzige Mann, der ab und zu durch das Bild lief, war einer aus dem Lager, so ein Idiot von der Sorte, die am Wochenende in der Disko zu Modern Talking tanzen und auf dem Nachhauseweg einem Mosambiquaner eine reinhauen, und wenn sie keinen finden, dann halt ihrer Alten, so ein Kettchentyp mit Schimmeljeans und Sauerkraut als Haaren. Ich glaube, korrekt hießen diese Jeans »moon-washed«, aber wir sagten Schimmeljeans dazu; S. hatte mal rausgehauen, dass die Leute, die solche Jeans anhaben, Hosen oder Jacken, im schlimmsten Fall Hosen und Jacken, wie Blauschimmelkäse aussehen: Das sind verdammte Roquefort-Menschen, von innen weich und von außen eklig.24

Dieser Schimmelscheißer jedenfalls kam gelegentlich rein, brachte auf seinem Wagen neuen Kram zum Wegarbeiten an, zwickte den Frauen in den Hintern, bis die entweder aufjauchzten oder ihm eine knallten, und dann, zu mir, jedes Mal: Augen geradeaus, du Homo!

Das muss einer erst mal bringen, der selber blondierte Minipli-Locken auf dem Kopf hat, vorne kurz und hinten lang. Wieso musste der eigentlich kein Haarnetz tragen?

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Im Hintergrund spielte dazu das Radio Schlager. Immer abwechselnd einen aus dem Westen und einen von uns. G. G. Anderson mit »Am weißen Strand von San Angelo« und gleich darauf Olaf Berger mit »Es brennt wie Feuer«. Schwer zu sagen, wo der Unterschied lag. Vielleicht war bei dem Westschlager noch mehr Sahne im Sound. Die Frauen sagten, dass »der Olaf« tatsächlich beim Werk direkt um die Ecke wohne und, »für einen von uns« ziemlich »schnuckelig« sei. Dann kamen die Nachrichten, die Kandidaten der Nationalen Front freuten sich auf die Kommunalwahlen, die DDR lag gut im Plan, im Rest der Welt ging es drunter und drüber, dann noch das Wetter, und wieder war eine Stunde geschafft.

Das Haarnetz war eigentlich ganz gut, damit einem der Kopf bei all dem nicht auseinanderflog, denn die vom Arbeitsschutzbeauftragten (und nicht nur dem) inkriminierte Frisur war ja nur ein äußeres Abbild davon, wie sehr nach Kraut und Rüben es innendrin aussah.

Eine Kommunistin. Eine nacktbadende. Und dann wiederum das hier.

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Ich sehe mich noch, wie ich, um auf andere Gedanken zu kommen, den Rest des Tages auf dem Teppich im Zimmer der jüngeren der beiden Schwestern F. herumliege. Dass es der Teppich im Kinderzimmer eines Mädchens ist, wäre, wenn ich zwischendurch eingeschlafen wäre und mich beim Aufwachen gefragt hätte, wo ich bin, unter anderem daran zu erkennen gewesen, dass an den Wänden Poster hingen, die Jungs mit freiem Oberkörper beim Lehnen an den Zäunen von Pferdekoppeln zeigten. Oder daran, dass aus dem Kassettenrekorder eine vollkommen unberechenbare Mischung von Inner City und Billy Bragg, den Ärzten und Fine Young Cannibals kam, meistens noch mit dem Gequassel der Radiomoderatoren auf den Lied-Enden. Es war, neben allem anderen, schon auch diese sagenhafte Schlampigkeit, die einen an Mädchen in dem Alter so fertigmachte.

Das Mädchen selber hatte währenddessen den Raum kurz verlassen, es war von seiner Mutter »mal eben« rausgerufen worden, in exakt dem Tonfall, in dem Töchter wahrscheinlich auf der ganzen Welt »mal eben kurz« rausgerufen werden, wenn es nach Ansicht ihrer Mütter mit dem Klassenkameraden im Kinderzimmer für zu lange zu still geworden war. Dabei hatte die Mutter von F. vermutlich völlig übertriebene Befürchtungen gehabt. Wir kannten uns schon viel zu lange. Genau genommen, fiel mir auf, als ich beim Herumliegen auf ihrem Kinderzimmerteppich ihr Kinderzimmerfenster in den Blick nahm, genau genommen kannten die jüngere der beiden betörenden Schwestern F. und ich uns schon seit dem Kindergarten, wo ich ihr einmal unfassbare Angst vor diesem Fenster gemacht haben musste. Während wir dort nebeneinander auf die Töpfchen gesetzt wurden (auch die F. hatte ich schon sehr früh nackt gesehen!), muss ich etwas altklug, aber doch ganz zutreffend etwas gesagt haben, was tags zuvor dem Fernsehen zu entnehmen gewesen war. Nämlich den Satz: »Das Hakenkreuz bedeutet Tod.« Die kleine F. hatte daraufhin eine komplette Nacht nicht schlafen können, weil auch an dem Fensterkreuz in ihrem Kinderzimmer Haken angebracht waren, nämlich für die Gardine, und sie dachte, sie müsse nun sterben.

ENDE DER LESEPROBE