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Um sich und ihren Neffen über Wasser zu halten, arbeitet die junge Eleanore als Haushälterin. Eine Annonce mit dem Titel »9 1/2 Stunden täglich« weckt ihre Aufmerksamkeit. Eleanore stellt sich in dem alten viktorianischen Anwesen vor, ist jedoch irritiert, dass sie von der Schwester des Hausherrn, statt von ihm empfangen wird. Sie erhält den Job und ist froh, dass sie auch ihren Neffen Alex mit zur Arbeit bringen kann, da sie niemanden hat, der sich um ihn kümmert. Doch der Junge klagt immer häufiger darüber, von einem unheimlichen Mann beobachtet zu werden. Wer ist der geheimnisvolle Hausherr und warum versteckt er sich in den alten Geheimgängen seines viktorianischen Anwesens? Kann Eleanore das Geheimnis um ihn lüften?
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Copyright © 2020 Drucie Anne Taylor
Korrektorat: S. B. Zimmer
Satz und Layout: Julia Dahl
Umschlaggestaltung © D-Design Cover Art
Angelwing Verlag / Paul Dahl
6 Rue Saint Joseph
57720 Obergailbach / Frankreich
angelwing-verlag.de
Alle Rechte, einschließlich das, des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte, Ähnlichkeiten mit lebenden, oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Um sich und ihren Neffen über Wasser zu halten, arbeitet die junge Eleanore als Haushälterin. Eine Annonce mit dem Titel »9 1/2 Stunden täglich« weckt ihre Aufmerksamkeit. Eleanore stellt sich in dem alten viktorianischen Anwesen vor, ist jedoch irritiert, dass sie von der Schwester des Hausherrn, statt von ihm empfangen wird.
Sie erhält den Job und ist froh, dass sie auch ihren Neffen Alex mit zur Arbeit bringen kann, da sie niemanden hat, der sich um ihn kümmert. Doch der Junge klagt immer häufiger darüber, von einem unheimlichen Mann beobachtet zu werden.
Wer ist der geheimnisvolle Hausherr und warum versteckt er sich in den alten Geheimgängen seines viktorianischen Anwesens? Kann Eleanore das Geheimnis um ihn lüften?
1. Eleanore
2. Grayson
3. Eleanore
4. Grayson
5. Eleanore
6. Grayson
7. Eleanore
8. Grayson
9. Eleanore
10. Grayson
11. Eleanore
12. Grayson
13. Eleanore
14. Grayson
15. Eleanore
16. Grayson
17. Eleanore
18. Grayson
19. Eleanore
20. Grayson
21. Eleanore
Epilog
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Werke der Autorin
9 ½ Stunden täglich.
Haushälterin für gehobenes Privathaus gesucht!
Zu Ihren zukünftigen Aufgaben gehören:
Wir wünschen uns:
Melden Sie sich unter folgender Telefonnummer: 555-93486
Wieder und wieder las ich die Anzeige und überlegte, ob ich mich wirklich in diesem Haushalt vorstellen sollte. Ich saß im Auto, stand vor besagtem Anwesen und mir schlug das Herz bis zum Hals. Zwar hatte ich durch meinen letzten Job im Eastside Hotel Erfahrungen in Haushaltsführung sammeln können, aber ich konnte keine besonders extravaganten Gerichte kochen. Gut, mit einem Kochbuch würde ich auch das hinbekommen, aber ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt für die Stelle infrage kommen würde.
»Jetzt oder nie«, sagte ich leise zu mir, schluckte die Übelkeit hinunter und stieg aus dem Mustang. Es war das Auto meiner Schwester, das sie zurückgelassen hatte, bevor sie fortging. Es war nicht das Einzige, das sie bei mir ließ, als sie abhaute, sondern seither kümmerte ich mich auch um meinen Neffen Alex. Er war ihr vollkommen egal, als sie mit diesem Kerl durchbrannte. In einer Nacht und Nebel Aktion war sie verschwunden, hinterlassen hatte sie uns vor zwei Jahren bloß eine Nachricht, dass sie keine Mutter mehr sein könnte, ihr Leben genießen will und mich bittet, mich um Alex zu kümmern. Ich hatte überhaupt keine Ahnung von Erziehung, musste mein Studium aufgeben und uns seither mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten, damit ich die laufenden Kosten decken konnte. Ein Job in diesem Haus würde all unsere Probleme auf einen Schlag lösen. Und ich hoffte so sehr, dass ich ihn bekommen würde.
Ich hatte keine Ahnung, wer in dieser Villa lebte, aber ich würde es herausfinden, sobald ich sie betreten hatte. Noch einmal atmete ich tief durch und machte mich auf den Weg zur geflügelten Haustür. »Das wird gutgehen, Eleanore, keine Sorge.« Ich betätigte die Klingel und stellte fest, dass meine Hand zitterte. Gott, warum war ich denn so aufgeregt?
Es dauerte nur einen Augenblick, bis die Tür geöffnet wurde. »Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«, fragte eine große Blondine – als ich auf ihre Füße schaute, erkannte ich, dass sie mörderisch hohe Schuhe trug.
»Guten Tag, mein Name ist Eleanore Roberts, ich habe mich auf die Stelle als Haushälterin beworben«, erwiderte ich und hoffte, dass ich in Abigails altem Kostüm Eindruck machte. Sie hatte bei einer Bank gearbeitet und ihr Kleiderschrank war voll damit, aber die Blazer konnte ich nicht schließen, weil meine Schwester wesentlich schlanker als ich war.
Sie nickte. »Sehr erfreut, mein Name ist Evelyn Harris, ich bin die Schwester des Hausherrn. Kommen Sie herein, Mrs. Roberts.«
»Miss«, korrigierte ich sie leise. »Danke.« Ich folgte ihr ins Haus und staunte nicht schlecht wegen all des Pomps. Hier durfte ich nichts herunterwerfen, sonst wäre ich sicher lebenslänglich verschuldet.
»Mein Bruder sucht jemanden, der das Haus auf Vordermann bringt und in Ordnung hält. Haben sie bereits Berufserfahrung oder wurden Sie von der Arbeitsagentur geschickt?«, wollte sie wissen und setzte sich in einen der Ohrensessel, die vor einem großen Kamin standen.
Ich räusperte mich. »Ich habe bis vor vier Wochen als Zimmermädchen im Eastside Hotel gearbeitet und war für die Suiten zuständig. Leider war dies bloß eine Vertretungsstelle für eine Kollegin, die in Elternzeit war, deshalb wurde mein Vertrag nicht verlängert.«
Sie nickte und deutete auf den anderen Sessel. »Nehmen Sie bitte Platz, Ms. Roberts.«
»Danke«, sagte ich noch einmal, dann nahm ich ihr gegenüber Platz.
»Haben Sie einen Lebenslauf und vielleicht Arbeitszeugnisse dabei?«
»Sicher.« Ich reichte ihr die Bewerbungsmappe. »Da ich nicht wusste, an wen ich die Bewerbung adressieren soll, habe ich die Chiffre der Anzeige eingetragen«, erklärte ich, als sie das Anschreiben mit einer gehobenen Augenbraue studierte.
Sie las beinahe eine Viertelstunde in meinen Unterlagen und atmete tief durch. »Ihre Arbeitszeugnisse sehen gut aus und Sie sind bisher die einzige Bewerberin, die Berufserfahrung mitbringt. Ich lasse Sie einen Moment allein und bespreche das mit meinem Bruder.«
»Alles klar«, erwiderte ich.
Ms. Harris erhob sich und ließ mich allein.
Nachdenklich ließ ich meinen Blick schweifen, während ich überlegte, ob ich genug Glück haben würde, um den Job zu bekommen. Das Gehalt würde schlagartig all meine Probleme lösen, denn damit könnte ich meine Mietschulden und auch einige andere Posten tilgen, die mir im Nacken saßen. Meine Schwester hatte ihren Erbanteil mitgenommen und meiner steckte in meinem Studium, das ich nicht zu Ende bringen konnte. Wäre sie bloß ein halbes Jahr später abgehauen, dann hätte ich meinen Abschluss in der Tasche gehabt, aber nein, sie verschwand und ich musste Alex die Mutter ersetzen.
»Ms. Roberts?«
Ich zuckte zusammen, da sie mich so unverhofft angesprochen hatte. »Ja, Ms. Harris?«
»Mein Bruder möchte wissen, wann Sie anfangen können«, entgegnete sie. »Wäre es möglich, dass Sie bereits am Montag die Stelle antreten?«
Daraufhin nickte ich. »Ja, es wäre möglich, allerdings müsste ich meinen Neffen mitbringen, weil ich so schnell keinen Babysitter organisieren kann.«
Sie hob eine Augenbraue. »Wie alt ist Ihr Neffe?«
»Er ist sechs Jahre alt, aber ich versichere Ihnen, dass er nichts durcheinanderbringt und sich ruhig verhalten wird«, antwortete ich aufrichtig. »Für meine letzten Arbeitgeber war es kein Problem, dass er mit mir kam.«
Sie nickte. »Ich werde mit meinem Bruder darüber sprechen. Entschuldigen Sie mich bitte noch einmal.«
»Werde ich für Ihren Bruder tätig sein?«, erkundigte ich mich.
»Ja, das werden Sie, allerdings lebt er zurückgezogen und zeigt sich selten, deshalb übernehme ich die Gespräche mit den Bewerberinnen«, erklärte sie und zeigte mir ein sehr falsches Lächeln. »Entschuldigen Sie mich bitte«, wiederholte sie, anschließend ließ sie mich noch einmal allein.
Seufzend blieb ich zurück. Dieser Raum war wundervoll eingerichtet. Es waren altmodische Möbel, wahrscheinlich antik, aber ich hatte kein Auge dafür. Ich hatte Pädagogik studiert und mich selten mit Möbelstücken befasst. Erst als Alex ein neues Bett brauchte, beschäftigte ich mich damit. Aber sonst galt, was günstig und einigermaßen bequem war, wurde gekauft – sofern ich es mir leisten konnte. Diesmal ließ sie mich wesentlich länger allein und ich wusste nicht, ob ich mich ungeniert umsehen sollte oder nicht. Fakt war, ich brauchte einen Lageplan, um hier alles zu finden, denn das Haus wirkte von außen schon so groß, dass es im Inneren sicher einem Labyrinth glich. Dennoch wollte ich diesen Job haben, denn ich brauchte ihn sicherlich dringender als viele anderen Bewerberinnen. Und neuneinhalb Stunden am Tag konnte ich aufbringen. Zwar wusste ich nicht, ob ich auch an den Wochenenden arbeiten musste, aber das würde ich herausfinden. Mr. und Ms. Harris würden mir sicher noch einen Vertrag vorlegen, denn ich bezweifelte, dass Leute ihres Standes ohne einen Arbeitsvertrag aufwarten würden.
»Da bin ich wieder«, verkündete sie und diesmal zuckte ich nicht zusammen. Ich war froh, dass ich sie gehört hatte, sonst wäre es sicher doch passiert. Ich war unheimlich schreckhaft, aber das war Alex zuzuschreiben, denn mit ihm schepperte es ständig und unerwartet im Haus. Mit einem Räuspern setzte sie sich. »Mein Bruder ist damit einverstanden, dass Sie Ihren Neffen mitbringen, allerdings gibt es ein paar Räume, die der Junge keinesfalls betreten darf.«
»Er wird in meiner Nähe bleiben und nicht alleine durch das Haus streunen, das versichere ich Ihnen.«
»Eve, sag ihr die Stelle zu«, tönte es aus dem Nichts und ich sah mich irritiert um.
»In Ordnung, Gray«, erwiderte sie, ohne den Blick von mir zu lösen. »Dann würde ich sagen, sehen wir uns am Montag um acht Uhr, ich werde Ihnen alles zeigen, was Sie wissen müssen.«
»Vielen vielen Dank, Ms. Harris«, sagte ich lächelnd und musste mich wirklich zusammenreißen, nicht vor Freude zu jubeln oder ihr um den Hals zu fallen.
»Sie haben drei Monate Probezeit, in diesen Wochen können Sie ohne Angabe von Gründen kündigen oder gekündigt werden. Natürlich erhalten Sie in diesem Fall ein Arbeitszeugnis, aber ich bezweifle, dass es so weit kommen wird, da Ihre bisherigen Zeugnisse Sie als äußerst gewissenhaft beschreiben.«
»Danke«, erwiderte ich.
»Dürfen wir die Unterlagen behalten? Dann können wir den Vertrag vorbereiten, damit Sie ihn am Montag unterschreiben können.«
»Sicher«, nickte ich.
»Sehr schön.« Sie erhob sich und ich tat es ihr gleich. Ms. Harris brachte mich zur Haustür, doch unterließ sie es, mir die Hand zu reichen. »Bis Montag, Ms. Roberts.«
»Bis Montag, Ms. Harris.« Ich schenkte ihr noch ein Lächeln, dann eilte ich zu meinem Auto.
Ich stand am Fenster, als die Bewerberin zu ihrem Auto ging. Sie war ein hübsches Ding, zumindest von hinten, weshalb ich leise »Dreh dich um« wie ein Mantra aufsagte. Aufmerksam musterte ich sie. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Als sie an der Fahrertür stand, erkannte ich ihre femininen Gesichtszüge. Verdammt, diese Frau war unglaublich schön.
Es klopfte, weshalb ich mich von ihrem Anblick losriss. Ich drehte mich zur Tür um. »Herein.«
Meine Schwester betrat meine Suite. Ich hatte nach dem Ableben meiner Frau und meines Sohns mehrere Räume zusammengelegt, sodass ich ein Wohn- und ein Schlafzimmer für mich allein hatte. Hier, ebenso im Kinderzimmer sorgte ich selbst für Ordnung, doch der Rest des Hauses musste in Schuss gebracht und gehalten werden. »Hey, Großer«, sagte sie lächelnd.
Ich nickte ihr zu. »Was kann ich für dich tun, Eve?«
»Warum wolltest du ausgerechnet diese Bewerberin einstellen? Du sagtest, sie sollte möglichst alleinstehend und kinderlos sein«, wollte sie wissen und betrachtete mich nachdenklich.
»Sie sah danach aus, dass sie Geld braucht. Außerdem hat sie Berufserfahrung, mit der andere Bewerberinnen nicht glänzen konnten«, antwortete ich aufrichtig. »Da sie mich hier in den Räumen nicht aufsuchen wird, werde ich auch nicht mit dem Kind in Kontakt kommen.«
Sie schnaubte. »Ich finde es unpassend, Gray.«
»Das ist mir bewusst, darauf werde ich aber keine Rücksicht nehmen. Du solltest bloß die Bewerbungsgespräche führen, damit ich mich diesen Frauen nicht stellen muss, nachdem du mir verraten hast, was in der Gegend über mich erzählt wird«, hielt ich dagegen. »Ich bitte dich, führ sie am Montag herum, lass sie den Arbeitsvertrag unterschreiben, und dann misch dich nicht mehr in diese Angelegenheit ein.«
Evelyn nickte unzufrieden. »Na schön, aber beschwer dich nicht, wenn du nicht damit zurechtkommst, dass Ms. Roberts mit ihrem Neffen im Haus ist.«
»Neuneinhalb Stunden pro Tag werde ich schaffen.«
»Soll sie auch an den Wochenenden arbeiten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, bloß vorkochen, damit ich es nur aufwärmen muss, wenn ich hungrig bin.«
»Wirst du dich ihr zeigen?«
»Das entscheide ich noch.« Seufzend ging ich zum Sessel und ließ mich darauf nieder. »Früher oder später wird sie erfahren, für wen sie arbeitet.«
Sie nickte. »Wenn du nichts dagegen hast, werde ich jetzt nach Hause fahren. Jason erwartet mich.«
»In Ordnung.«
»Ich habe dir etwas von Mrs. Bernsteins Kartoffelgratin und Steaks mitgebracht. Du musst sie nur braten.«
»Danke, Eve.«
»Keine Ursache.« Sie kam zu mir und küsste meine Wange. »Versprich mir, dass du dich irgendwann nicht mehr verkriechst.«
Daraufhin zuckte ich mit den Schultern. »Im Moment will ich mich noch nicht zeigen.«
»Es ist zwei Jahre her, Gray.«
»Das ist mir bewusst, dennoch brauche ich Zeit. Vielleicht bringen Ms. Roberts und ihr Neffe etwas frischen Wind ins Haus, sodass ich mich wieder hinauswage, aber vorerst werde ich mich nicht zeigen.«
Eve seufzte. »Na schön.« Sie richtete sich wieder auf. »Erschreck diese Frau nicht zu Tode, ich will nicht noch mal in die Situation kommen, einem Notarzt zu erklären, warum die Haushälterin einen Herzinfarkt hatte.«
»Wie alt ist Ms. Roberts?«
Meine Schwester warf einen Blick in die Mappe, die sie in den Händen hielt. »Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt.« Anschließend reichte sie mir die Unterlagen. »Du kannst dir alles noch mal in Ruhe ansehen. Es ist bloß kein Foto im Lebenslauf.«
»Danke.«
»Ich bringe dir morgen wieder etwas zu essen und Jason wird dir später noch Getränke bringen, weil fast nichts mehr im Haus ist.«
Ich winkte ab. »Ich lasse jemanden vom Supermarkt kommen, genießt ihr den Abend.«
»In Ordnung, dann sehen wir uns morgen.« Eve ging zur Tür. »Melde dich, falls du etwas brauchst.«
Ich rang mir ein Lächeln ab, seit jenem grauenvollen Tag gab es nichts, das mir so schwerfiel, wie zu lächeln. »Mache ich. Danke, Kleine.«
Meine Schwester erwiderte es, allerdings stand es ihr besser zu Gesicht, anschließend ließ sie mich allein.
Ich atmete auf, da ich es nicht leiden konnte, wenn ich Gesellschaft hatte. Aus diesem Grund wollte ich auch die Haushälterin nicht sehen. Früher oder später würde ich mich ihr zeigen, aber erst mal würde ich sie beobachten. Dieses Haus war alt und hatte so viele Geheimgänge, dass ich kommen und gehen konnte, wie ich wollte. Mrs. Deckard, meine vorherige Haushälterin, bekam mich nur einmal zu Gesicht. Leider hatte sie sich so sehr vor mir erschreckt, dass sie die Augen verdrehte und umkippte. Ich rief sofort einen Krankenwagen, danach meine Schwester, die glücklicherweise an jenem Tag im Haus war. Nach diesem Vorfall hatte Mrs. Deckard gekündigt, da sie nicht noch einmal so erschreckt werden wollte. Ich hatte vollstes Verständnis dafür, aber leider musste ich deshalb eine neue Haushälterin suchen. Hoffentlich konnte Ms. Roberts kochen, aber wenn sie ein Kind versorgen musste, bekam sie sicher einiges hin, das man gefahrlos essen konnte.
Nachdem ich am Fenster verfolgt hatte, dass Evelyn das Grundstück verließ, ließ ich meine Räume hinter mir. Zielstrebig ging ich in das Kinderzimmer meines Sohnes. Hier hatte ich nichts verändert, alles war noch genau so, wie er es an jenem schicksalhaften Tag hinterlassen hatte. Adrian und Caroline fehlten mir. Von einem Moment auf den anderen hatte mein Leben kopfgestanden. Ich hatte die beiden verloren und würde sie nie wieder sehen können, außer auf Fotos und alten Videoaufnahmen. Adrian wäre jetzt auch sechs Jahre alt, er war ein Sonnenschein und konnte nie genug davon bekommen, wenn ich ihm Gute Nacht Geschichten vorlas.
Ich setzte mich auf den Boden, sah mir den Straßenteppich an und vor meinen Augen verschwamm die Umgebung.
Tränen benetzten meine Wangen, während ich mich einmal mehr den Erinnerungen hingab.
Montagmorgen stand ich um kurz vor acht Uhr am Fenster, wo ich darauf wartete, dass Ms. Roberts zu ihrem ersten Arbeitstag erschien. Ich wurde aufmerksamer, als der rote Mustang aufs Grundstück rollte. Mein Blick haftete an dem Wagen und ich konnte es kaum erwarten, sie aussteigen zu sehen.
Ich sah meine Schwester aus dem Haus kommen, sie schaute zu mir hoch und ich nickte ihr zu, danach wandte sie den Blick wieder zu Ms. Roberts’ Auto.
Sie parkte gerade, anschließend stieg sie aus. Aus der hinteren Beifahrertür kletterte ihr Neffe, der ihr unwahrscheinlich ähnlichsah. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich geglaubt, dass es sich um ihren Sohn handelt. Er ergriff ihre Hand, dann gingen die beiden zu Eve. Ms. Roberts bot ihr die Hand an, jedoch ignorierte meine Schwester diese, was mich schnauben ließ. Eve war noch nie besonders freundlich gewesen, insbesondere nicht zu Menschen aus der unteren und mittleren Schicht, aber Ms. Roberts erweckte nicht den Eindruck, dass sie zu wenig Geld hatte, auch das Kind war vernünftig gekleidet. Während ich die beiden betrachtete, fühlte ich einen Stich in meinem Herzen. Mit geschlossenen Augen wandte ich mich vom Fenster ab, ging zurück zum Sessel und setzte mich.
Ich verlor mich in Erinnerungen und hörte die Schritte, die sich durch den Flur vor meinen Räumen bewegten.
»Diese Räume hier sind tabu, der Hausherr lebt dort und möchte nicht gestört werden«, erklärte Eve – ich erhob mich.
Ich ging an die Tür und legte mein Ohr an das glatte Holz.
»Werde ich Ihren Bruder noch kennenlernen?«, erkundigte sich Ms. Roberts.
»Er zeigt sich nicht besonders gern, aber vielleicht wird er sich Ihnen früher oder später vorstellen. Erschrecken Sie sich bitte nicht, wenn er auf einmal aus dem Nichts kommt«, antwortete Eve freundlich.
»Alles klar.«
»Nell, darf ich mit meinem DS spielen?«, hörte ich eine Kinderstimme fragen.
»Gleich, Schatz. Ms. Harris zeigt uns noch alles, danach darfst du spielen, okay?«
»Okay«, seufzte der Junge.
»Folgen Sie mir bitte, Ms. Roberts, dann sind wir auch schnell durch«, sagte Eve.
»Auch dieser Raum ist streng untersagt. Bitte berücksichtigen Sie das. Alle anderen Räume dürfen Sie betreten. Mein Bruder hängt einen Zettel an seine Tür, wenn er etwas benötigt. Das Essen ist ihm vor die Tür zu stellen, dann klopfen Sie zweimal und entfernen sich. Haben Sie das verstanden, Ms. Roberts?«
»Ja. Mr. Harris hängt Zettel an die Tür, falls er etwas benötigt, das Essen vor eben jener abstellen, zweimal klopfen und mich dann entfernen«, wiederholte sie.
»Richtig. Er erwartet das Frühstück um neun Uhr, Mittagessen um vierzehn Uhr und das Abendessen um halb sechs, also zu Ihrem Feierabend.«
»Stellt er das gebrauchte Geschirr auch wieder vor die Tür?«, hörte ich Ms. Roberts fragen. Ihre Stimme klang unheimlich schön, hell und weiblich.
»Ja, meistens eine Stunde, nachdem er gegessen hat. Bitte klopfen Sie nicht grundlos bei ihm, das kann er nicht ausstehen«, erklärte Eve weiter.
»In Ordnung.«
»Ihre Gehaltsschecks legt er Ihnen jeden Freitag in der Küche auf die Anrichte. Auch finden Sie dort eine Einkaufsliste, die er ebenfalls schreibt, damit Sie wissen, was er möchte.«
»Gibt es auch einen Speiseplan oder habe ich beim Kochen freie Hand?«
»Sie haben freie Hand, außer er wünscht etwas Spezielles, dann lässt er es Sie wissen. Ich gebe Ihnen gleich noch meine Handynummer, damit Sie mich erreichen können, falls Sie Fragen haben.«
»Alles klar.«
Die Schritte entfernten sich und ich verstand nicht, worüber die beiden sich noch unterhielten.
Seufzend ging ich zurück zum Sessel, schenkte mir ein Glas Whiskey ein und sah ins Kaminfeuer. Draußen tobte der Winter und der Schnee lag hoch. Ich lebte außerhalb der Stadt und wusste, dass Ms. Roberts täglich um die fünfzig Meilen hier rauskommen musste, aber das war mir egal. Ich überlegte bloß, ob ich das Gehalt nicht ein wenig anpassen sollte, weil ihre Spritkosten sicher steigen würden, wenn sie täglich die weite Strecke fahren musste.
Nachdem ich das Glas geleert hatte, erhob ich mich erneut. Ich ging zu der versteckten Tür, die zu den Geheimgängen führte, anschließend verschwand ich darin. Ich folgte den Stimmen der Frauen und sah Ms. Roberts durch die verschiedenen Gucklöcher an, die in den Kunstdrucken an den Wänden angebracht waren. So offensichtlich, dass den Porträts Augen fehlten, hatte ich es nie gemacht, meist waren die Schlitze weiter unten angebracht, sodass ich durch ein dunkles Netz schauen konnte. Es beeinträchtigte die Sicht ein wenig, aber lieber sah ich undeutlich, als erwischt zu werden. Ja, es war nicht die feine Art, meine neue Angestellte zu beobachten, aber das tat ich immer, bevor ich mich offenbarte.
»So, damit wären wir mit dem Rundgang fertig. Der Gärtner kommt montags und donnerstags, er wird sich Ihnen auch noch vorstellen.«
»Okay, kommt sonst noch jemand, den ich ins Haus lassen muss?«
»Nein, sonst kommt niemand. Ich habe einen Schlüssel und mein Vater kündigt sich vorher bei meinem Bruder an. Er wird Ihnen in dem Fall eine Nachricht zukommen lassen, damit Sie unseren Vater ins Haus lassen.« Sie räusperte sich. »Eine Liste mit den Allergien meines Bruders hängt in der Küche am Kühlschrank, ansonsten ist er leicht zufriedenzustellen.«
Ich sah, dass Eve Ms. Roberts musterte.
»Sie können gern legere zur Arbeit erscheinen, aber es wäre schön, wenn sie nicht in so ausgelatschten Sneaker hier auftauchen«, fuhr meine Schwester fort.
Ms. Roberts senkte den Blick, auch ließ sie die Schultern hängen. »Es tut mir leid, ich werde zukünftig andere Schuhe tragen.«
Darüber sollte ich mit Eve sprechen. Ms. Roberts brauchte bequeme Schuhe, wenn sie täglich stundenlang das Haus putzte, einkaufen ging oder andere Aufgaben erledigte. In den ersten Tagen würde sie eine Menge zu tun haben, denn Mrs. Deckard hatte vor sechs Wochen gekündigt. Die Annonce hatte ich nur aufgegeben, weil Eve und Dad mich unter Druck gesetzt hatten. Sie waren der Meinung, dass jemand im Haus sein sollte, damit ich nicht vereinsamte. Allerdings konnte keine der bisherigen Haushälterinnen etwas daran ändern, dass ich mich zurückzog. Ich war einsam, seit meine Frau und mein Sohn umgekommen waren, und ich fühlte mich wie ein gottverdammter Mörder, weil ich sie nicht von dem Ausflug abgehalten hatte. Ich wusste, dass die Straßen vereist waren, aber hatte sie nicht aufgehalten, als sie in den Zoo fahren wollten. Mit einem Kopfschütteln vertrieb ich die Gedanken, jetzt sollten sie mich nicht einholen. Ich wollte es nicht, denn ich wusste, dass ich zweifellos zusammenbrechen würde. Ihre Sternengeburtstage waren der Horror für mich, weil ich mich an jenem Tag immer an die Bilder erinnerte, die sich mir am Unfallort boten.
Als Eve und Ms. Roberts aus meinem Sichtfeld verschwanden, machte ich mich auf den Weg zurück in mein Wohnzimmer.
Ms. Harris war gerade gegangen und ich stand in der Küche. Ich wusste nicht, was ich meinem neuen Boss zum Frühstück machen sollte, aber da Alex und ich auch noch keines hatten, entschied ich mich für Rühreier, Bacon und Brötchen.
»Tante Nell, darf ich jetzt spielen?«
»Ja, Schatz, setz dich an den Esstisch und spiel, ich mache Frühstück.«
»Danke«, sagte er und ich folgte ihm mit meinem Blick. Als er saß, wandte ich mich dem großen Side-by-Side Kühlschrank zu. Ich holte Eier, Milch, Bacon und eine Rolle Aufbackbrötchen heraus, danach suchte ich nach Kochgeschirr.
Eine Viertelstunde später hatte ich alles zusammen, was ich brauchte. Ich kümmerte mich darum, das Frühstück zuzubereiten, während Alex sein Nintendospiel zockte. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass er sich immer wieder darüber ärgerte, etwas nicht geschafft zu haben, aber ich konnte ihm nicht helfen. Ich hatte als Kind nie eine Spielekonsole, meine Interessen lagen immer ganz woanders. Ich war viel lieber im Garten, überhaupt draußen, um zu spielen, statt mich mit einer Konsole in meinem Zimmer zu verkriechen. Bloß Alex hatte sich dieses Teil so sehr gewünscht, dass ich so viel Geld wie möglich gespart hatte, um ihm das Gerät und ein paar Spiele zu schenken. Die Sachen waren zwar gebraucht, aber das machte sie nicht schlechter. Sie waren gut in Schuss, das war die Hauptsache, und sie bereiteten ihm Freude.
»Das riecht gut«, sagte Alex. »Und ich habe Hunger.«
»Es ist gleich fertig, Schatz«, erwiderte ich. Während die Eier stockten, richtete ich ein Gedeck auf dem Holztablett an. Es war zehn vor neun – gleich musste das Frühstück vor Mr. Harris‘ Tür stehen. Hoffentlich schaffte ich es noch rechtzeitig, aber seine Schwester hatte mir so viele Dinge erklärt, dass die Zeit wie im Flug vergangen war. Als alles fertig war, richtete ich den Teller für meinen Chef an und stellte auch eine Tasse Kaffee sowie Kaffeesahne und Zucker auf das Tablett, da ich nicht wusste, wie er seinen Kaffee trank. Bevor ich es jedoch nach oben brachte, brachte ich Alex eine Portion mit gebutterten Brötchen und eine Tasse Milch. »Ich bringe Mr. Harris das Frühstück, okay?«
»Ja.«
»Du darfst schon essen«, ließ ich ihn wissen, holte das Tablett und machte mich auf den Weg in die obere Etage. Das Teil war schwer und es kostete mich Mühe, es zu balancieren, aber ich schaffte es bis ins Obergeschoss, ohne eine Katastrophe anzurichten. Ich erreichte Mr. Harris‘ Tür und stellte es davor ab, danach sah ich das Türblatt an. Eine Nachricht hing daran. Seufzend nahm ich sie an mich, danach klopfte ich zweimal und begab mich zurück in die Küche. Mit einer Portion des Rühreis und einem Brötchen setzte ich mich zu Alex an den Tisch. »Gefällt es dir hier?«, erkundigte ich mich.
»Mir ist kalt«, antwortete er. »Aber es ist wirklich groß und schön.«
»Ja, es ist wirklich sehr kalt hier drin. Ich werde gleich mal schauen, ob ich die Heizung in Gang gebracht kriege«, sagte ich lächelnd, dann fing ich an zu essen. Es war nur natürlich, dass Mr. Harris nicht alle Räume heizte, wenn er sich bloß in seinen aufhielt. Während ich kaute, entfaltete ich die Nachricht.
Guten Morgen, Ms. Roberts,
Es freut mich sehr, dass Sie den Job angenommen haben. Ich hoffe, Sie und Ihr Neffe werden sich unter meinem Dach wohlfühlen.
Ich möchte Sie bitten, die Fenster zu putzen. Das muss nicht heute sein, aber sollte diese Woche passieren. Zudem müssen Sie einkaufen. In der Küche steht eine antike Kaffeedose, in die ich immer das Haushaltsgeld stecke. Legen Sie mir bitte die Quittungen auf die Anrichte in das Haushaltsbuch, damit ich Ihre Ausgaben sehe.
Wenn Sie das Haus verlassen, denken Sie bitte daran, die Türen und Fenster zu schließen. Die Heizung braucht immer ein wenig, um warmzulaufen, ich habe sie heute Morgen eingeschaltet, damit Sie nicht frieren, aber es kann noch ein wenig dauern, bis das Haus aufgeheizt ist. Ich bitte Sie, dies zu entschuldigen.
Fühlen Sie sich bitte wie Zuhause und lassen Sie mich wissen, wann Sie Pause machen, damit ich weiß, dass ich Sie in dieser Zeit nicht im Haus hören werde.
Hochachtungsvoll,
Grayson Harris
Ich hob eine Augenbraue. Ich sollte also die Fenster putzen. Dieses Haus hatte verdammt viele davon. Es wäre wohl besser, schon heute mit den Fenstern im Erdgeschoss anzufangen und mich dann durch jedes Zimmer zu arbeiten. Aber wie sollte ich die Fenster der verbotenen Räume putzen? Würde er es selbst tun oder sollte ich sie ignorieren? Ich sollte Mr. Harris eine Nachricht schreiben, um es zu erfahren.
Nachdem wir gefrühstückt hatten, hatte ich mich um den Abwasch gekümmert. Danach hatte ich den Staubsauger und den Staubwedel geholt, um erst mal all den Staub zu eliminieren, der sich angesammelt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange hier schon niemand mehr saubergemacht hatte, aber es war wirklich furchtbar staubig. Bloß die Küche und das Wohnzimmer waren es nicht, offenbar wurden diese Räume regelmäßig benutzt und gesäubert.
»Darf ich fernsehen?«, fragte Alex gelangweilt.
Ich schaute zu ihm. »Ich habe noch keinen Fernseher entdeckt, aber sobald ich einen gefunden habe, darfst du dir bestimmt ein paar Kinderserien sehen.«
»Soll ich Mr. Harris fragen?«
Daraufhin schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich denke, es ist okay, wenn du fernsiehst. Es wird ihn bestimmt nicht stören.«
Alex verzog das Gesicht. »Darf ich mit dem Ball draußen spielen?«
»Nein, Alex, ich habe dich lieber im Auge. Lass mich Staubsaugen und -wischen, danach können wir ein wenig in den Garten gehen, okay?«
»Na schön.«
»Wenn du möchtest, kannst du mir helfen oder du spielst noch ein wenig mit deiner Konsole«, schlug ich vor.
»Ich will nicht mehr mit dem DS spielen«, hielt er wütend dagegen.
Ich biss die Zähne zusammen. Warum musste er ausgerechnet jetzt einen Trotzanfall bekommen? In den letzten Wochen hatte er keinen einzigen, dieser war der zweite am heutigen Tag. »Alex, das ist mein neuer Job und ich bin in der Probezeit, das heißt, dass ich ihn ganz schnell wieder los bin, wenn ich meine Aufgaben nicht erledige. Also bitte, setz dich hin und spiel irgendwas.«
Er schnaubte. »Ja, Nell.«
»Und komm bitte mit mir, wenn ich den Raum wechsle.«
»Ja, Nell«, wiederholte er brummend und setzte sich auf die Treppe.
Zwischenzeitlich hatte ich Mr. Harris einen Zettel an seine Tür gehängt, in dem ich ihm mitteilte, dass ich immer dann eine kleine Pause machen würde, wenn ich ihm sein Essen gebracht hatte, damit Alex und ich auch essen konnten. Außerdem bat ich ihn, mir mitzuteilen, was er diese Woche zum Abendessen haben wollte. Ich wollte ihm nicht einfach etwas vorsetzen, womit er sich abfinden musste, denn das fand ich unpassend. Ich glaubte nicht, dass er Mac’n’Cheese oder etwas in der Richtung essen wollte, was ich sonst für Alex und mich kochte, wenn ich keine Ahnung hatte, was ich einkaufen sollte.
Nachdem ich den Staubsauger weggebracht hatte, kam ich an den Räumen meines Chefs vorbei. Ich erkannte eine Nachricht, die ich im Vorbeigehen an mich nahm. Während ich wieder nach unten ging, las ich seinen Brief.
Überraschen Sie mich, aber bitte werfen Sie einen Blick auf die Liste meiner Allergien. Einen Fernseher finden Sie im Spielzimmer, falls Ihrem Neffen langweilig ist. Das Frühstück war köstlich, ich bin gespannt, was Sie zu Mittag zaubern werden. Übrigens müssen Sie nicht zweimal am Tag kochen, mittags nehme ich für gewöhnlich einen Salat oder Sandwiches zu mir, abends wird gekocht. Für Salat müssten Sie einkaufen, ich hätte gern Baguette dabei. Selbstverständlich übernehme ich Ihre Benzinkosten, bitte denken Sie an die Quittungen, damit ich Ihnen das Geld in einen Umschlag legen kann.
Grayson Harris
Na schön, dann musste ich eben zum Supermarkt fahren. Ich ging ins Wohnzimmer, wo Alex auf mich warten wollte. »Alex?«
Er hob den Blick von seiner Handheldkonsole.
»Wir müssen einkaufen.«
Daraufhin verzog mein Neffe das Gesicht zu einer unzufriedenen Grimasse. »Darf ich hierbleiben?«
»Nein, du kommst bitte mit mir. Ich möchte dich in diesem großen Haus nicht allein lassen.«
»Ich will aber nicht einkaufen.«
»Alex, ich diskutiere jetzt nicht mit dir«, sagte ich ernst. »Zieh bitte deine Jacke an und dann komm in die Küche.«
»Ich will nicht!«
»Sofort!«, herrschte ich ihn an und erschreckte mich vor der Intensität meiner Stimme. Aber ich hatte die Schnauze voll. Er war schon den ganzen Tag so unleidlich und das wollte ich mir nicht länger antun. Ich war nicht seine Mutter, das wussten wir beide, aber ich war die Einzige, die sich für ihn interessierte. Ich hatte keine Ahnung, wer sein Vater war, und Abby hatte sich darüber immer ausgeschwiegen. Alex und ich hatten bloß einander, sonst niemanden mehr. Abby war nicht erreichbar, ihr Facebookaccount deaktiviert und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie finden sollte. Meine Großeltern waren im letzten Jahr kurz nacheinander verstorben, sie hatten mich unterstützt, damit ich arbeiten gehen konnte und Alex versorgt war, Eltern hatte ich nicht mehr. Sie waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich sieben Jahre alt war. Abby und ich waren auch von unseren Großeltern aufgezogen worden. Sie bedeuteten mir alles, doch dann starb mein Großvater an einem Herzinfarkt und Grandma nur drei Monate später – ich bin heute noch der Meinung, dass sein Tod ihr das Herz gebrochen hatte, weshalb sie schließlich auch den ewigen Schlaf fand. Sie konnten bestimmt nicht ohneeinander leben. Ich wünschte, ich würde auch so eine Liebe finden, die über Jahrzehnte hielt und erst mit dem Tod endete. Aber im Moment hatte ich keine Hoffnung, dass sie mir je begegnen würde. Ich konnte nicht ausgehen, um jemanden kennenzulernen, und meine letzten Online-Dating-Erfahrungen hatten mich so sehr erschreckt, dass ich sofort mein Profil auf jener Plattform gelöscht hatte. Ich hatte Dinge gesehen, die ich nicht einmal in einer Beziehung sehen oder erfahren wollte, was mich zutiefst erschüttert hatte. Männer, die Frauen würgen mussten, um einen hochzukriegen; oder sie fesseln und versohlen mussten, um einsatzbereit zu sein … Das waren wirklich noch die harmloseren Dinge, die man mir anvertraut hatte.
»Du bist gemein!«, rief Alex, rutschte vom Sofa und lief in die Küche, wo wir unsere Jacken abgelegt hatten.
Seufzend folgte ich ihm. »Es tut mir leid, aber ich kann dich hier nicht allein lassen.«
»Das glaube ich dir nicht!«, schrie er mich mit tränennassem Gesicht an. Verdammt, ich hasste es, wenn er weinte, weil ich dann oftmals nicht wusste, was ich tun sollte.
»Alex, das ist nicht unser Haus, wir beide müssen uns an Mr. Harris’ Regeln halten und ich möchte dich nicht allein lassen«, erklärte ich ihm. »Ich weiß nicht, ob er damit einverstanden wäre, und ich kann nicht einfach zu ihm gehen, um ihn nach jeder Kleinigkeit zu fragen.«
Er brummte bloß, schniefte und zog widerwillig seinen Anorak an, was ich daran erkannte, dass er mit dem Reißverschluss kämpfte – das tat er immer nur, wenn er unruhig war.
Ich gab klein bei. Es war mir lieber, die Schlachten, die ich schlug, selbst auszusuchen, und jetzt war nicht der passende Zeitpunkt für einen Streit. Ich band mir den Schal um, setzte meine Mütze auf und schlüpfte schließlich in meinen Parka. Danach holte ich zweihundert Dollar aus der Kaffeedose, ebenso nahm ich den Einkaufszettel an mich, der bereits am Morgen in der Küche gelegen hatte. Wenn ich schon für Mr. Harris einkaufen gehen musste, konnte ich auch den Einkauf für Alex und mich erledigen. So konnte ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Als Alex und ich fertig waren, machten wir uns auf den Weg zu meinem Auto. Ich kam mir beobachtet vor, weshalb ich stehenblieb, mich umdrehte und den Blick hob. Ich sah, dass jemand am Fenster gestanden haben musste, denn die Gardine bewegte sich, ohne dass ein Windzug dafür gesorgt haben konnte. Kopfschüttelnd wendete ich mich wieder ab, öffnete den Mustang und ließ Alex einsteigen. Er setzte sich auf seine Sitzerhöhung und schnallte sich an, danach setzte ich mich auf den Fahrersitz. Den Haustürschlüssel hatte ich in der Hosentasche, das Geld von Mr. Harris ebenfalls, es konnte nichts mehr schiefgehen.
»Nell?«
Ich sah Alex fragend an. »Was gibt’s?«
Er hielt eine Packung Rice Crispies hoch. »Können wir eine Packung Cornflakes kaufen, die ich bei Mr. Harris essen darf?«
»Sicher«, erwiderte ich und legte sie in den Wagen, in dem auch der Korb für unseren Einkauf stand. Ich wollte sie selbst bezahlen, statt Mr. Harris dafür aufkommen zu lassen, denn wir durften schon kostenfrei bei ihm essen. Unsere Snacks sollte er nicht auch noch bezahlen müssen. »Möchtest du noch etwas?«
»Gummibärchen«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.
»Dann kaufen wir dir auch Gummibärchen«, entgegnete ich gut gelaunt. Ich war froh, dass seine schlechte Laune erst mal verflogen war, so stritten wir uns wenigstens nicht mehr. Es war furchtbar anstrengend, wenn er eine Trotzphase hatte. Hoffentlich hielt die nicht wieder länger an, sonst wüsste ich nicht, ob ich ihn nicht ganz versehentlich bei Mr. Harris vergessen würde. Ich musste zugeben, dass ich neugierig auf meinen Boss war, allerdings durfte ich seine Räume nicht betreten. Warum auch immer. Ich hatte keine Ahnung, warum ich verschiedene Zimmer nicht sehen durfte, aber er hatte sicher seine Gründe.
»Bekomme ich auch Chips?«
»Übertreib’s nicht, Alex«, erwiderte ich lächelnd und arbeitete weiter die Einkaufsliste ab. Mr. Harris hatte unheimlich viel aufgeschrieben und ich war mir nicht sicher, ob die zweihundert Dollar reichen würden. Außerdem war der Wagen fast voll. Ich würde jetzt nur noch die Liste abarbeiten und dann zur Kasse gehen.
Eine Stunde später lud ich die Einkäufe aus dem Kofferraum und trug sie nacheinander ins Haus. Es waren verdammt viele und auch schwere Taschen, weshalb ich das Gefühl hatte, jeden Moment Arme wie ein Orang-Utan zu haben.
»Nell!«, schrie Alex auf einmal hysterisch.
Ich ließ die beiden Tüten fallen und rannte los. »Was ist?«, fragte ich alarmiert, als ich ins Wohnzimmer stürmte.
»Da war ein gruseliger Mann.«
Ich zog die Augenbrauen hoch, während ich mich umsah, aber entdeckte niemanden. Nicht einmal einen Hinweis auf jemanden, der im Raum gewesen sein könnte. »Hier ist niemand.«
»Hier war aber ein Mann!«, sagte er laut – er hatte Tränen in den Augen.
Ich seufzte. »Vielleicht war das Mr. Harris.«
»Der ist bestimmt nicht so gruselig.«
Seufzend setzte ich mich zu ihm auf die Couch. »Ich weiß, dass du dich erschreckt hast, aber er wohnt hier und bewegt sich auch mal durch das Haus, Schatz.«
Alex drängte sich an mich, ich schloss die Arme um ihm. »Er hat mir Angst gemacht.«
»Tut mir leid.« Ich küsste seinen Scheitel und löste ihn von mir. »Er wird dir nicht wehtun, keine Angst.«
»Danke, Mom … Nell«, erwiderte er schluchzend.
»Möchtest du mit mir in die Küche kommen?«
Alex schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier und spiele DS.«
»Möchtest du vielleicht fernsehen? Mr. Harris schrieb mir, wo der Fernseher versteckt ist.«
»Darf ich denn?«, wollte er wissen.
»Sicher.« Ich erhob mich. »Komm mit, ich bringe dich zum Fernseher. Du bleibst dann dort und ich sehe zwischendurch nach dir.«
»Okay.«
Ich brachte Alex in das sogenannte Spielzimmer und schaltete ihm den Disney Channel ein. »Ist das okay?«
»Ja«, nickte er und setzte sich in einen der großen Fernsehsessel, die davor standen. »Darf ich meine Gummibärchen haben?«
»Ich bringe dir gleich ein Schälchen«, erwiderte ich und ließ den Blick schweifen. »Ruf mich, wenn du mich brauchst, okay?«
»Mache ich.«
Ich verließ das Spielzimmer und machte mich auf den Weg in den Hausflur, wo ich die Einkäufe fallengelassen hatte. Ich war froh, dass ich die Tüten mit den Gläsern schon in die Küche gebracht hatte, sonst hätte es eine Mordssauerei gegeben. Nachdem ich alles eingesammelt hatte, brachte ich die Brown Bags in die Küche, anschließend holte ich die restlichen vier Tüten. Ich räumte alles weg, brachte dabei Ordnung in die Schränke und warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst halb eins, also hatte ich noch gut eine Stunde Zeit, bis ich kochen musste. Ich würde den Timer in meinem Handy einstellen und in der nächsten Stunde die Fenster im Erdgeschoss putzen, dann würde ich das Mittagessen für Mr. Harris zubereiten und weitermachen. So bekam ich wenigstens den Tag herum, ohne mich zu langweilen.
Ich hatte den Jungen erschreckt, war aber froh, dass ich schnell genug aus dem Wohnzimmer verschwunden war, sodass Ms. Roberts mich nicht gesehen hatte. Es tat mir leid und ich überlegte, mich zu entschuldigen, aber als ich ihre Worte gehört hatte, dass sie davon ausging, dass bloß ich derjenige war, der durchs Haus streunte, verwarf ich den Gedanken. Ich hatte mitbekommen, dass sie den Jungen ins Spielzimmer gebracht hatte, weshalb ich mich dort im Geheimgang aufhielt. Ich betrachtete ihn und kam mir dabei wie ein Verbrecher vor. Es war nicht normal, dass ich ein Kind beobachtete, das sich in meinem Haus aufhielt, aber ich hatte so lange keines mehr gesehen, dass ich nicht rational entschied. Außerdem hatte ich so einen näheren Blick auf meine neue Haushälterin werfen können. Hoffentlich nahmen die beiden mir nicht übel, dass ich sie beobachtete, andererseits war dies mein Haus und ich konnte tun und lassen, was ich wollte.
Vier Wochen später war der Alltag eingekehrt. Draußen schneite es seit Tagen und im Radio hatte ich gehört, dass die Kinder schneefrei hatten. Das war auch der Grund dafür, dass Ms. Roberts den Jungen, den ich inzwischen mehr als einmal unwillentlich erschreckt hatte, wieder mitbrachte. In den neuneinhalb Stunden, die sie am Tag im Haus war, sang Ms. Roberts und brachte voll guter Laune den Haushalt in Schuss – für mich war es die beste Zeit des Tages. So viel Lebensfreude hatte zuletzt Caroline in diese vier Wände gebracht. Manchmal folgte ich Ms. Roberts über die Geheimgänge, aber ich zeigte mich ihr noch nicht.
Nun befand ich mich in meiner Suite und sah, dass ein Zettel unter der Tür durchgeschoben wurde. Ich erhob mich vom Sessel und ging zu der Notiz.
Heute hatte ich keine Nachricht an der Tür. Möchten Sie etwas Bestimmtes zu Abend essen?
Ich verzog meine Lippen zu einem schmalen Lächeln, danach ging ich an meinen Schreibtisch.
Ich würde mich über Spaghetti mit Fleischbällchen freuen. Das letzte Mal waren sie vorzüglich.
Nachdem ich meine Antwort auf die Notiz geschrieben hatte, brachte ich sie zurück zur Tür. Da ich keine Schritte gehört hatte, ging ich davon aus, dass sie noch im Flur stand. Ich hatte den Zettel kaum ein Stückchen durch den Türspalt geschoben, da zog Ms. Roberts schon daran.
Etwas später bekam ich ihn noch einmal zurück.
Dann werde ich Spaghetti mit Fleischbällchen zubereiten, bevor ich Feierabend mache.
Ich hob eine Augenbraue, anschließend drehte ich mich zum Fenster. Es schneite immer noch heftig, außerdem war es stürmisch. Bei diesem Wetter konnte ich sie unmöglich zurück in die Stadt fahren lassen. Noch einmal lief ich zum Schreibtisch.
Es wäre mir lieber, wenn Sie und Ihr Neffe in einem der Gästezimmer übernachten würden.