9 Grad - Elli Kolb - E-Book

9 Grad E-Book

Elli Kolb

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Über die Kraft der Kälte, das Zurückfinden zu sich selbst, echte und sprengbare Grenzen im Leben und Freundschaften, die bereichern

Neun Grad hat das Wasser, als Josie sich zum ersten Mal in den Fluss wagt, um ihrer schwer kranken Freundin Rena einen Wunsch zu erfüllen. Vielleicht betäubt der Kälteschmerz ja auch die Angst, sie zu verlieren. Doch was Josie dann erlebt, übersteigt alles, was sie sich erhofft hat. Beim Eisbaden spürt sie sich zum ersten Mal selbst, erlebt ihren Körper, mit dem sie immer gehadert hat, ganz neu. Und noch etwas ist neu: ihre Beziehung zu Lee, den sie über Tinder kennengelernt hat. Doch Lee kämpft mit seinen eigenen Dämonen, ist depressiv. Was bedeutet das für ihre Liebe - und was machen Grenzerfahrungen mit einem? Elli Kolb erzählt es in ihrem bewegenden Roman.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitat12345678910111213141516Weitere Informationen zum Thema Eisbaden bzw. WinterschwimmenDanksagung

Über dieses Buch

Neun Grad hat das Wasser, als Josie sich zum ersten Mal in den Fluss wagt, um ihrer schwer kranken Freundin Rena einen Wunsch zu erfüllen. Vielleicht betäubt der Kälteschmerz ja auch die Angst, sie zu verlieren. Doch was Josie dann erlebt, übersteigt alles, was sie sich erhofft hat. Beim Eisbaden spürt sie sich zum ersten Mal selbst, erlebt ihren Körper, mit dem sie immer gehadert hat, ganz neu. Und noch etwas ist neu: ihre Beziehung zu Lee, den sie über Tinder kennengelernt hat. Doch Lee kämpft mit seinen eigenen Dämonen, ist depressiv. Was bedeutet das für ihre Liebe – und was machen Grenzerfahrungen mit einem? Elli Kolb erzählt es in ihrem bewegenden Roman.

Über die Autorin

Elli Kolb, geboren 1986, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften sowie Nordische Philologie in München und Göteborg. Heute lebt sie in Fürth, nicht weit von einem Fluss entfernt. Wenn sie nicht dort, am Flussufer, anzutreffen ist, bloggt sie auf understandingly.de über Mind-Body-Connections und mentale Gesundheit, vor allem über das Potenzial von Kälte bei Depressionen.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Umschlaggestaltung: Barbara Thoben, Köln

Umschlagmotiv: © Samantha French

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-6132-1

luebbe.de

lesejury.de

»Those who see any difference between soul and body have neither.«

Oscar Wilde

1

Die Dämmerung hatte die Farbe von frischen blauen Flecken, die sich bald ineinander auflösen würden. Doch noch spiegelten sie sich im See wider und drängten sich durch die hohen Fenster zu uns ins Foyer, wo wir zu dritt warteten. Wenn ich mich nicht täuschte, konnte ich sie in den Augen von Rena und Anton sogar als eine Art Schmerz herumwandern sehen. Aber ich beschloss zu glauben, dass es eine gute Art Schmerz war, die Art von Schmerz, die irgendwann vorübergehen würde.

Wir standen in der Kassenschlange eines Schwimmbads, in das uns Rena bestellt hatte. So etwas war in unserer Freundschaft noch nie vorgekommen – dass Rena uns extra an einen Ort eingeladen hatte, um uns dort etwas zu erzählen, das sich angeblich sonst nirgendwo vermitteln ließ.

Genau so hatte sie es gesagt: »Wenn ihr nicht kommt, kein Problem. Aber dann werdet ihr es nie erfahren – oder erfahren vielleicht schon, aber ihr werdet es nicht verstehen.«

»Und was, wenn du es uns erzählst, und wir kapieren es trotzdem nicht, weil wir schlicht und ergreifend zu doof sind?«, hatte Anton gefragt, aber Rena hatte nur das Gesicht verzogen und gesagt, in diesem Fall sei sie wahrscheinlich ein bisschen enttäuscht, aber dann wisse sie wenigstens, dass sie mit uns in Zukunft im Prinzip nur noch über so etwas wie Fast Food reden könne. Kein Problem.

Trotzdem sah ich ihr an, wie angespannt sie war. Auch ich war an diesem Tag unerklärlich nervös; in meinem Kopf und in meinem Bauch pochte eine Art Countdown.

Rena bezahlte für uns alle den Eintritt und ging voraus zu den Umkleidekabinen. An der Fensterfront, die einen lang gezogenen Blick auf den See und die davor eingelassenen Schwimmbecken freigab, stoppte sie. Es war Anfang November, und draußen wehte seit Tagen unablässig ein Wind, der durch die Bäume fuhr und die Oberfläche des Sees neben dem Schwimmbad aufwirbelte. Das Wasser sah stürmisch und gleichzeitig unzugänglich aus. Mir erschloss sich absolut kein Grund, dort hineinzuspringen, wie andere Badegäste das taten.

Rena deutete auf die zitternden Arme und Beine und schreckgeweiteten Pupillen der Menschen auf dem Steg und sagte: »Da sind wir nachher auch.«

»Sind wir nicht«, sagte Anton.

»Sind wir doch«, sagte Rena triumphierend. »Heute geht ihr mit mir in die Sauna.«

»Fuck«, sagte Anton, mehr zu mir als zu Rena.

Nun war uns endgültig klar, dass irgendetwas mit Rena nicht stimmte. Seit sie vor zwei Wochen in der Bibliothek umgekippt war, hatte sich etwas an ihr verändert. Ich kam einfach nicht mehr an sie heran.

Bei unseren gemeinsamen Mittagessen in der Mensa hatte sie zwar ihren Kopf an meine Schulter gelehnt, obwohl sie das sonst nie tat. Aber wenn ich dann den Arm um sie gelegt und gefragt hatte, ob alles in Ordnung war, war sie abrupt wieder von mir abgerückt, hatte sich auf eine förmliche Weise aufrecht hingesetzt wie eine Stewardess und gesagt, klar, sie sei nur müde.

»Ist es wegen der Sache in der Bibliothek?«, hatte ich gefragt, aber da hatte Rena nur einen großen Schluck von meinem Kaffee genommen, auf die Tischplatte geschaut und den Kopf geschüttelt.

Fünf Minuten später kuschelte sie sich wieder an mich und sagte: »Du hast es gut, Josie, du hast ein gutes Leben. Du bist eine tolle Freundin. Und deine Haare riechen auch gut, weißt du das?«

»Rena«, sagte ich. »Schau mich mal an. Und jetzt mal Klartext, okay? Was ist denn los mit dir? Irgendetwas ist doch los mit dir!«

Als sie immer noch nichts sagte, nahm ich mein Handy, öffnete Google Earth und hielt Rena den Bildschirm direkt vor die Augen.

Keine Reaktion.

»Lebst du noch?«, fragte ich. »Du musst doch jetzt irgendwo auf den Erdball tippen und dir einen Ort aussuchen.«

So wie immer, schloss ich in Gedanken an, sagte es aber nicht. Normalerweise spielten wir das Spiel mit dem Globus, den Rena einmal von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte, aber wenn wir unterwegs waren, ging es mit Google Earth auch.

»Mach du«, sagte Rena.

Ich tippte blind irgendwo hin. Es war mitten im Pazifik, weit und breit keine Insel.

»Was würdest du da jetzt tun?«, fragte ich trotzdem.

»Einfach irgendwie überleben.«

»Ich würde auf dem Deck eines Segelboots liegen, aufs Wasser gucken und Meerwind einatmen«, sagte ich. »Dann würde ich versuchen, dir über Rauchzeichen ein Selfie von mir zuzuschicken.«

»Ein Selfie über Rauchzeichen, klar, warum nicht?«, sagte Rena.

»Weil es kein Netz gibt«, sagte ich. »Würdest du dich nicht freuen, ein riesiges Porträt von mir aus Rauch zu bekommen?«

»Doch, doch, natürlich«, sagte Rena pflichtschuldig. »Was siehst du auf dem Segelboot?«, fragte sie dann.

»Ich bin umgeben von Wellen«, sagte ich. »So viele, dass man sie gar nicht mehr zählen kann, in allen Blauschattierungen, die man sich vorstellen kann. Ich bin umgeben von so viel Blau, dass der Himmel und das Wasser komplett austauschbar geworden sind.«

Wir spielten dieses Spiel fast jeden Tag. Rena, weil sie unstillbares Fernweh hatte, oder vielleicht auch, weil es sie an ihren Vater erinnerte; ich, um gemeinsam mit Rena eine Parallelwelt aufzumachen. Ich fand Parallelwelten generell gut.

Rena seufzte. »Das klingt schön.«

So wortkarg war sie sonst nie, deswegen war ich mir sicher, dass irgendetwas passiert war. Auch die Idee, in die Sauna zu gehen, passte nicht zu Rena. Wenn wir gemeinsam im Schwimmbad waren, dann eigentlich nur, um im Warmwasserbereich abzuhängen und über unser mehr oder weniger vorhandenes Liebesleben zu reden – »mehr oder weniger vorhanden«, weil es zwar da war, aber nicht besonders beeindruckte.

»Ich meine, immerhin haben wir überhaupt ein Liebesleben«, hatte ich einmal während einer unserer Thermalbad-Sessions konstatiert. »Wir könnten noch schlimmer dran sein. Aber warum zur Hölle ist es so schwer, jemanden zu finden, den man wirklich mag?«

»Das Leben ist hart, Josie«, hatte Rena erwidert, und Anton hatte gesagt: »Carpe diem, nutzet den Tag, meine lieben Freundinnen, ihr nutzt den Tag einfach nicht gut genug«, und dann war er schnell weggeschwommen, weil er Angst hatte, von uns untergetaucht zu werden.

Jetzt öffnete Rena die Tür zur Damenumkleide. »So, hinein mit dir«, sagte sie zu mir. Und zu Anton: »Wir sehen uns gleich, ja?«

Anton schlurfte ohne große Begeisterung davon, ich seufzte und ging durch die Tür, die Rena mir immer noch aufhielt.

»Warum ausgerechnet Sauna?«, fragte ich. »Warum, Rena?«

»Das schaffst du schon, Josie, okay?«, sagte sie.

»Ich hasse es jetzt schon.«

»Hör doch einfach mal kurz auf zu denken«, sagte sie mit einem aufmunternden Lächeln. »Vertrau mir. Wir denken sowieso alle viel zu viel nach. Das ist quasi das Hauptproblem der Moderne.«

»Das Hauptproblem der Moderne?«, fragte ich belustigt. Ihre Doktorarbeit hatte in ihrem Leben nun offenbar völlig die Regie übernommen. Sie schrieb über Marcel Prousts Zeitkonzept in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, was ihr meiner Meinung nach nicht besonders guttat. Zum einen kommandierte ihre Doktormutter sie ständig herum und beauftragte Rena sogar dann, bei Symposien und Vorträgen Kaffee für alle Beteiligten zu kochen, wenn Rena selbst einen Vortrag hielt. Zum anderen musste sie ständig die Gliederung ihrer Arbeit ändern, weil die Doktormutter öfter mal ihre Meinung wechselte, was besonders dann vorkam, wenn sie schlechte Laune hatte. Zum anderen hatte ich das Gefühl, dass Rena von ihren Recherchen zur literarischen Moderne verschluckt wurde und nun alles mit ihren Modellen erklären wollte, auch wenn wir uns schon längst nicht mehr in der Moderne, sondern der Postmoderne befanden. Die Postmoderne ignorierte Rena einfach.

Rena sah mich mit einem würdevollen Blick an und stieg in einer eleganten Bewegung aus ihrer Jeans.

»Ich denke nur einfach gerade darüber nach«, sagte sie. »Privat, quasi. Dass man so viel kontrollieren will, einfach weil man denkt, dass man es mit dem Wissen, das man hat, auch kann. Aber dann stellt sich heraus, dass –«

»Dass das Leben einfach so passiert«, sagte ich. »Ich weiß schon.«

In der Umkleidekabine war es so eng, dass ich immer jemanden berührte, egal, wie vorsichtig ich mich bewegte. Der erzwungene Körperkontakt machte mich fertig; am liebsten hätte ich mich sofort wieder angezogen und wäre gegangen, raus aus der warmen, trockenen Luft, weg von dem, was Rena uns erzählen wollte, irgendwohin, wo ich mich nicht vor anderen ausziehen musste. Im Hintergrund summte ein Föhn, ich zog mir den Pullover über den Kopf, versuchte, dabei nicht aus Versehen meinen Bauch anzuschauen, und trotzdem war mit einem Mal alles wieder da: das Gefühl, mich voller Weichheit nach allen Seiten auszubreiten, ohne feste Kontur, ohne feste Form.

Reiß dich zusammen, Josie, sagte ich mir innerlich, da stehst du drüber! Dein Körperbild ist nur eine Folge von manipulativen Marketingstrategien. Im Mittelalter wäre deine Figur ganz große Klasse gewesen. Oder wenigstens in der Renaissance.

Unter meinen nackten Füßen spürte ich die Fugen der warmen Fliesen.

Dein Körperbild ist nur eine Folge von Marketingstrategien, wiederholte ich leise im Kopf. Ich dachte, wenn ich es nur oft genug wiederholte, würde es mich irgendwann beruhigen. Rena, Anton und ich hatten uns schon oft über das Thema unterhalten, ohne dass es mich in irgendeiner Form weitergebracht hätte.

»Es ist ja nicht deine Schuld, dass du seit deiner Geburt mit Werbung überschüttet worden bist«, hatte Rena gesagt. »Sind wir doch alle. Du darfst das nicht so persönlich nehmen.«

»Es ist ein bisschen schwierig, es nicht persönlich zu nehmen, wenn man sich so falsch fühlt«, hatte ich gesagt.

»Wir fühlen uns alle falsch«, hatte Anton gesagt. »Das ist doch genau das Ziel von Werbung!«

Ich hatte ihm einen misstrauischen Blick zugeworfen. »Ich finde, du wirkst ganz entspannt«, hatte ich gesagt. »Du wirkst nicht so, als würdest du dich falsch fühlen.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Anton leichthin. »Jetzt bin ich darüber hinweg.«

»Und wie hast du das geschafft?«

»Ich habe mich auf meine innere Schönheit konzentriert«, sagte Anton und lächelte weise.

»What the fuck!«, sagte ich, aber Anton war noch nicht fertig. »Schönheit ist Geist, der einen sinnlichen Leib hat«, zitierte er voller Inbrunst.

Anton war dafür bekannt, zu allen passenden und unpassenden Lebenssituationen weise Sprüche parat zu haben, die Rena und mich ziemlich nervten, aber Anton gehörte zu den Guten. In den letzten zehn Jahren hatte er sich Renas und meine zahlreichen Krisen immer geduldig angehört, uns ausgefallene Gerichte gekocht und unser Leben ab und zu mit einem Spruch veredelt.

»Nichts gegen deine Sprüche«, sagte Rena. »Aber über dein Timing, Anton, solltest du dir wirklich mal Gedanken machen, ob das –«

»Ich time meine Sprüche perfekt«, sagte Anton. »Mein Geist ist voller Schönheit!«

Ich sagte nichts mehr, während Anton und Rena diskutierten, doch das Gefühl, meinen Körper ausziehen zu wollen wie ein Kleidungsstück, war sehr stark.

Rena hatte ihre Klamotten inzwischen im Spind verstaut und sich in ein Handtuch gewickelt. Ich kam nicht umhin, zu bemerken, dass selbst ihr Rücken elegant aussah. Sie hatte eine Art, sich zu bewegen, durch die ihr Körper überall natürlich wirkte, so als sei er schon immer da gewesen: in Bars, in Aufzügen und auf Wanderwegen. Ich konnte sie mir überall vorstellen, und sie passte überall gleich gut hin; in all den Jahren, die wir uns kannten, war sie überall sofort harmonisch mit der Umgebung verschmolzen. Nicht nur um diese Fähigkeit beneidete ich sie. In unserem Dreiergespann war Rena immer diejenige gewesen, deren Bild von der Zukunft am genauesten war und die sich deswegen am meisten Mühe gab, es ohne Fehler aus der Gegenwart herauszumeißeln. Sie war sehr diszipliniert, stand früh auf, beschwerte sich dann zwar den ganzen Tag, müde zu sein, und äußerte vermehrt Kritik an unserer Leistungsgesellschaft, hielt aber trotzdem meistens durch, während ich bei der kleinsten Ablenkung sofort innerlich weich wurde. Danach kehrte ich reumütig zu meinen Aufgaben zurück und dachte über meine Ziele im Leben nach und darüber, dass ich keine Pause verdient hatte. Ich konnte mich nur entspannen, wenn jemand anderes in meiner Gegenwart sehr entspannt war. Dann übertrug sich das auf mich.

Renas Mutter wohnte in unserem Heimatort gegenüber vom Kiosk meiner Eltern und kaufte regelmäßig Zeitschriften und belegte Brötchen. Renas schulische Erfolge erwähnte sie mit keinem Satz; ich wusste aber von Rena, dass sie sehr stolz auf sie war und dass Rena sich auch deswegen bei allem immer so anstrengte. Eine Zeit lang hatte ich sogar bei Rena und ihrer Mutter gewohnt, als mein Vater wegen einer Hüftoperation länger im Krankenhaus lag und meiner Mutter mit dem Kiosk und mir alles zu viel geworden war. Rena und ich waren damals zehn gewesen, hatten am Nachmittag gemalt und abends in einem Bett geschlafen, während der Globus eine Ecke des Zimmers in sanftes blaues Licht gehüllt hatte. Rena hatte mir Jahre später einmal erzählt, wie leid ihr es getan hatte, dass ich abends immer so viel geweint hatte, aber ich konnte mich überhaupt nicht daran erinnern. Ich erinnerte mich nur daran, dass es bei Rena Nutella zum Frühstück gegeben hatte, dass es wichtig war, die Hausaufgaben zu machen, denn die wurden später von Renas Mutter überprüft, und dass ich Renas Mutter unbedingt gefallen wollte. Sie fragte mich jeden Tag, wie es in der Schule gewesen war, welches Buch ich gerade las und wie es mir gefiel. Überhaupt redete sie so viel mit uns, dass mir alles, was ich tat, plötzlich wichtig vorkam. Renas Mutter trug gern beige, duftende Cashmere-Pullis, hörte im Radio immer nur Nachrichtenprogramme und fragte mich bei jedem Essen, was ich trinken wollte, Wasser oder Saft. Ein bisschen erinnerte sie mich auch an meine eigene Mutter. Beide sagten ähnliche Sätze. Renas Mutter sagte vor allem: »Da muss man eben durch«, und meine ermahnte mich oft: »Reiß dich mal zusammen«, oder auch: »Stell dich nicht so an«, woraus ich schloss, dass ich keine Probleme hatte oder jedenfalls keine zu haben hatte. Ich hörte sie den Satz auch oft zu sich selbst sagen, manchmal sogar zu ihrer eigenen Mutter. Aber eigentlich sagten wir alle den Satz ständig in verschiedenen Variationen, am häufigsten aber, wenn wir mit uns selbst sprachen.

Ich ließ mich auf die Holzbank vor den Spinden fallen, zog dort meine restlichen Klamotten aus und verstaute sie im Schrank. Gerade als ich den Schlüssel abzog und mir das Bändchen mit ihm am Handgelenk befestigte, tippte Rena mir auf die Schulter.

»Noch mal wegen vorhin«, sagte sie. »Was ich sagen wollte, war: Man kann nicht alles immer nur über den Verstand regeln.«

»Ja klar«, sagte ich. »Und?«

»Das war es eigentlich, was ich sagen wollte«, sagte Rena. »Denk dran bei dem, was ich euch nachher erzählen werde, okay?«

Beim Verlassen der Umkleide streifte ich mit der Hüfte aus Versehen eine ältere Dame, die daraufhin ins Schwanken geriet. Das Geräusch des Föhns verschluckte meine Entschuldigung, und die Dame schaute mich nur verwirrt an, also brüllte Rena für mich: »Sie wollte sich nur bei Ihnen ENTSCHULDIGEN! Aber sie ist ja so weich, dass sie Ihnen bestimmt nichts getan hat, oder?«

Mit diesen Worten zog Rena mich aus der Tür in die Vorhalle der Sauna.

»Warum hast du das gesagt?«, fragte ich wütend. »Dass ich so weich bin? Sollte das eine Anspielung sein, dass ich –«

»Na, Weichheit ist eine Schlüsselkompetenz«, sagte Rena. Es klang weise, war es aber nicht, und sie fügte hinzu, dass das mal ein Typ zu ihr gesagt habe, der von einer Stelle an ihrem Oberarm nicht mehr losgekommen sei. Es sei dort so weich, habe er Mal um Mal wiederholt und die Stelle anschließend so oft gestreichelt, dass es zum Schluss richtig wehgetan habe. »Der Rest meines Körpers hat ihn gar nicht mehr interessiert«, sagte Rena. »Der war egal. Nur das Weiche hat gezählt.«

a

Das Metall der Spindschlüssel klimperte leise an unseren Handgelenken, als wir den Durchgangsraum zur Sauna betraten: schwarze Schieferböden mit den Spuren nasser Füße, der Geruch von Wasser und Feuer in der Luft, zum See hin verglaste Wände. Die Tür zum Steg, der zum Wasser führte, stand auf. Ständig huschten Menschen hinein und hinaus. Ihre Haut war gerötet, sie hinterließen eine Spur aus Wassertropfen, bei denen ich mir nicht sicher war, ob sie vom Sprung in den See stammten oder von den Wolken, die sich mittlerweile gnadenlos über dem Wasser auftürmten und vereinzelt dünne Regentropfen auf die Saunagäste hinabfallen ließen.

Es war merkwürdig, sich in einem Innenraum zu befinden, der eine Abgeschlossenheit so deutlich verweigerte. Hier war wirklich alles offen – man konnte durch die Glaswände die zwei Saunen sehen, die Kühle der Wellen draußen, die Wolken, deren Formation sich bereits wieder auflöste. Jetzt war das Wasser nur noch dunkel; keine Spur mehr von den Lichtreflexen, die den See hatten aussehen lassen wie einen Teil des Himmels.

Anton war offensichtlich schon vor uns mit dem Umziehen fertig geworden und wärmte sich die Hände an einem Kamin in der Mitte des Raumes. Mich wunderte es, dass er mit niemandem ein Gespräch begonnen hatte. Von uns dreien war er eindeutig der extrovertierteste – er sprach gern fremde Leute an und fand schnell heraus, wo es etwas Gemeinsames, Verbindendes gab. Dieses Extrovertierte zog mich sehr an. Eine Zeit lang war ich sogar ein bisschen verliebt in ihn gewesen. Rena ging es ähnlich, und vielleicht war das der Grund dafür, dass Anton irgendwann vehement darauf bestanden hatte, dass wir uns immer zu dritt trafen: um klar zu machen, dass es sich nicht um ein Date handelte. Rena und ich hatten erst begriffen, dass er sich mehr für Männer als für Frauen interessierte, als er es uns in der zwölften Klasse genau mit diesen Worten sagte. Als Antwort hatten wir ihn umarmt. Ich glaube, wir wussten einfach nicht genau, was wir sagen sollten, aber Anton hatte uns angestrahlt und gesagt: »Jupp, hätten wir das also auch geklärt.« Wir hatten uns damals erst ein Jahr gekannt. Anton hatte einmal wiederholen müssen und war dadurch in Renas und meine Stufe gekommen.

Mittlerweile steckten wir in den Endzügen unseres Studiums – zumindest Anton und ich. Rena hatte nach Abschluss ihres Lehramtsstudiums schon mit ihrer Doktorarbeit in Romanistik begonnen. Sie hatte es irgendwie geschafft, sehr viel schneller als Anton und ich zu studieren. Anton war im gefühlt viertausendsten Semester, hatte aber so oft den Studiengang gewechselt, dass er gerade erst an seiner Bachelorarbeit in Sozialer Arbeit schrieb, während ich für meine Masterarbeit in Literaturwissenschaften recherchierte. Ich liebte Lesen auf dieselbe Art, wie ich Schlafen liebte – wie etwas, in dem man sich zuhause fühlt, in dem man zum Teil aber auch festhängt und aus dem man nicht richtig aufwachen kann. Neben den Recherchen für meine Masterarbeit suchte ich panisch nach einem Job für später. Mein Bafög würde bald auslaufen, irgendwie musste ich Geld verdienen.

Anton sah auf, als Rena und ich uns ihm näherten, und ging einen Schritt vom Kamin weg. Sein Gesichtsausdruck war unlesbar – irgendwo zwischen Gedanken an noch nicht abgeschickte Tinder-Nachrichten und generellen Gedanken über das Leben, die ebenfalls noch nicht fertig gedacht waren, weil das auch gar nicht möglich war: etwas vollständig zu Ende zu denken. Ich meine, es hört ja nirgendwo auf, der Horizont entfernt sich immer weiter, je näher man ihm kommt.

Von draußen kam ein Windstoß. Ich sah, wie sich die Härchen auf Renas Unterarm aufstellten.

»Gehen wir rein, oder?«, fragte sie, und ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie voraus zur ersten Sauna und öffnete die Tür.

Die Hitze, die uns entgegenschlug, löste in mir den dringenden Wunsch aus, meine Augen mit den Händen zu bedecken. Rena hatte das Handtuch, das sie sich um den Körper geschlungen hatte, schon abgestreift und sich daraufgesetzt, Anton ebenfalls. Beide sahen auf ihre Weise schön und intakt und wie sie selbst aus. Ich hingegen schämte mich, als ich mich aus dem Handtuch schälte, und als mir das klar wurde, schämte ich mich noch mehr. Ich hatte mich eigentlich immer für eine Feministin gehalten. Trotzdem schaffte ich es nicht auszublenden, dass andere mich in bestimmte Teile aufteilen konnten, die ihnen gefielen oder eben nicht. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Zum Glück nahm mich die Hitze mit der Zeit mehr und mehr in Beschlag, und ich vergaß, wie ich aussah, um mehr darüber nachzudenken, wie ich mich fühlte. Mit jedem Wimpernschlag erhitzten sich meine Augäpfel mehr, und auf einmal hatte ich Sorge, sie könnten schmelzen. Mein Herzschlag beschleunigte sich.

In den folgenden Minuten steigerte sich die Schnelligkeit meiner Gedanken erst; dann fielen sie in sich zusammen. Während ich noch denken konnte, ging ich im Kopf all die anderen Orte durch, die sich Rena im Laufe der Jahre ausgesucht hatte, um dort Zeit mit uns zu verbringen. Die Sache mit Rena war nämlich die: Ihr waren Orte wichtiger als anderen Leuten. Die Umgebung sage einem etwas, meinte sie, etwas, was man selbst nicht sagen könne, weil Worte sowieso nicht ausreichten. Deshalb hatte sie in der Vergangenheit schwierige Gespräche irgendwo geführt, wo noch irgendetwas anderes mitreden konnte. Sie hatte uns unter einem Vorwand dort hingelockt und dann die Bombe platzen lassen: in einem Wald oder auf einem Supermarktparkplatz, auf dem immer wieder dieselbe Straßenlaterne aus- und wieder angegangen war. Sie hatte es aber bisher immer ohne Vorankündigung getan. Das war der Unterschied zu dem Gespräch, das gleich folgen sollte, und das war auch der Grund für das flaue Gefühl in meiner Magengegend. Sie hatte uns dieses Treffen als eines angekündigt, bei dem es besser wäre, wenn wir uns innerlich darauf vorbereiteten.

Alles in allem war ich mir nicht sicher, ob es eine gute Sache war, dass der Hintergrund bei Gesprächen mit Rena immer so viel mitredete. Sagte sie trotzdem, was sie sagen wollte, oder gab sie den Part des Sprechens einfach ab? Manchmal hatte ich jedenfalls den Eindruck, dass Rena unsere Antworten gar nicht wissen wollte, dass sie die Umgebung benutzte, um von sich abzulenken und uns zum Schweigen zu bringen.

So hatte sie den Kiosk meiner Eltern als Gesprächsort ausgewählt, um Anton und mir von ihrem Plan zu erzählen, die Schule zu schmeißen. Das war kurz vor dem Abitur gewesen. Rena hatte mit meinen Eltern gesprochen, sich unter einem Vorwand den Schlüssel zum Kiosk geliehen und Anton und mich auf zwei Schemel platziert. Sie selbst saß auf dem Tresen, baumelte mit den Beinen und nahm sich ein Twix aus dem Regal, das sie sofort wieder zurücklegte.

»Es ist so«, sagte sie. »Seht euch hier mal um.«

»Ich bin hier praktisch aufgewachsen, Rena«, sagte ich. »Was erwartest du von mir? Was soll ich jetzt plötzlich sehen, was nicht total normal für mich ist?«

»Na ja, ich meine ja nur«, sagte Rena. »Die Auswahl. Es gibt so viele unterschiedliche Varianten von allem. Und das hier ist nur ein kleiner Kiosk.«

»Jetzt sag schon, was dir auf dem Herzen liegt«, sagte Anton genervt. »Ich will wieder nach Hause.«

»Ich fühle mich wie ein Produkt«, sagte Rena, und Anton und ich schauten auf. »Ich fühle mich wie etwas, was es schon tausend Mal gibt. Und trotzdem soll ich mich anstrengen, um noch mehr wie etwas zu werden, was schon da ist.«

Dann brach sie in Tränen aus. Ich wusste, dass sie seit Tagen kaum schlief und nur noch lernte.

Sie wolle alles hinwerfen, sagte Rena. Sie komme zu gar nichts mehr von dem, was sie eigentlich tun wolle; gleichzeitig wolle sie aber ihre Mutter nicht enttäuschen.

»Ach, Rena«, sagte Anton. »Hör doch einfach auf zu lernen. Du schaffst das Abi auch so.«

»Ja, aber ›auch so‹ reicht nicht!«, rief Rena.

»Für was reicht das nicht?«, fragte ich.

»Für ein Medizinstudium«, sagte Rena.

Ich verlor in diesem Moment fast das Gleichgewicht auf meinem Schemel. Mir war nicht klar gewesen, dass Rena auf ein Medizinstudium hinarbeitete – obwohl Anton und ich wussten, dass Renas Mutter immer mal wieder gesagt hatte, eine Ärztin in der Familie zu haben, das wäre etwas. Wir wussten auch, dass Renas Kernfamilie ziemlich klein war, also eigentlich nur aus ihrer Mutter und Rena und ihren Großeltern mütterlicherseits bestand. Renas Vater war früh gestorben. Allzu viel Auswahl an potenziellen Ärztinnen gab es also nicht.

»Willst du denn wirklich Medizin studieren?«, fragte ich schließlich. »Das will doch eigentlich nur deine Mutter, oder?«

»Das ist das Gleiche«, sagte Rena und putzte sich die Nase. »Ich habe irgendwie das Gefühl, dass ich alles erreichen muss, was ich theoretisch erreichen könnte, versteht ihr?«

»Nein, ehrlich gesagt, nicht ganz«, sagte Anton. »Man kann doch auch einfach sein Leben genießen.«

»Hast du dazu vielleicht noch einen schönen Spruch?«, fragte Rena sauer.

»Carpe diem?«, schlug ich vor, und Rena und ich lachten gehässig.

Anton zuckte mit den Schultern. »Ihr müsst euer Leben ja nicht genießen«, sagte er. »Wollte nur mal anmerken, dass man das theoretisch könnte.« Er griff ins Regal neben sich und angelte sich ein Milky Way. »Ich darf doch, oder?«, fragte er. »Ich geb deinen Eltern später das Geld, ja?«

Rena sah ihn an, während er die Verpackung aufriss und sich den Schokoriegel in den Mund steckte. Dann richtete sie ihren Blick auf eine Packung Paprikachips. »Ich glaube, ich brauche auch noch etwas zu essen«, sagte sie. Es klang wie eine Frage an mich.

»Nur zu«, sagte ich. »Bedient euch einfach.«

»Aber du musst auch was nehmen, okay?«, sagte Rena zu mir.

»Okay.«

In meiner Erinnerung aßen wir die nächsten Stunden wahllos Süßes und Salziges durcheinander und sprachen kaum mehr über das Thema, das Rena angeschnitten hatte. Sie selbst erwähnte es auch nicht noch einmal, sondern lernte weiter und machte das beste Abitur des Jahrgangs. Sie schrieb sich dann allerdings doch nicht für Medizin ein, weil ihre Mutter mittlerweile gehört hatte, dass Ärzte zum Teil Vierundzwanzigstundenschichten absolvieren mussten. Das fand sie zu viel. Eine Lehrerin in der Familie zu haben konnte ebenfalls nur Vorteile haben, befand sie. Vor allem begeisterte sie, dass der Job so krisensicher war. »Da kann dir nichts passieren«, sagte sie mindestens einmal am Tag zu Rena. »Ich wünschte, ich hätte mir damals auch mehr Gedanken gemacht, was das Finanzielle angeht.«

Renas Mutter selbst war Chefsekretärin bei einem Automobilhersteller. Ich hatte immer gedacht, dass sie eigentlich gut verdiente, aber vielleicht nicht gut genug für sie. Für Rena wünschte sie sich jedenfalls nur das Beste – was auch immer das genau bedeuteten sollte. Und weil Rena nichts richtig schwerfiel, konnte sie alles anbieten, was von ihr verlangt wurde. Darüber war sie im Grunde auch froh, hatte sie mir einmal anvertraut. Auf diese Weise könne man sich nützlich fühlen, auch wenn man unglücklich sei.

Wenn ich mich jetzt an den Abend erinnerte, dachte ich weniger an die Verpflichtung, die Rena ihrer Mutter gegenüber empfinden musste, sondern vor allem an das, was wir gegessen hatten: die Säure der Gummibärchen, die Marzipan-Nougat-Riegel, die sonst nur alte Damen kauften und die für einen Moment jeglichen Gedanken erstickten, wenn man sie aß, weil der Geschmack so intensiv war; die Chips »zur Neutralisierung«, wie Anton sagte.

Irgendwann hatten wir uns auf den kalten Boden gesetzt, das Essen in unserer Mitte ausgebreitet und uns darauf fokussiert wie auf ein Lagerfeuer, über das man nicht mehr zu wissen brauchte, als dass es jetzt da war, und wer wusste schon, was danach kommen würde.

Anton und Rena hatten sich zwei Tage später mit einem Blumenstrauß und einem Geschenkgutschein bei meinen Eltern bedankt. Auf die Karte dazu hatte Anton geschrieben: Glück ist das Einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt. Und Rena hatte darunter geschrieben: Er meinte eigentlich: Sorry, dass wir eure Süßigkeiten aufgegessen haben, und danke, es war sehr gut.

Als ich an den Abend im Kiosk mit Rena und Anton dachte, musste ich inmitten der Gluthitze lächeln. Bald jedoch verblassten meine Gedanken; sie rannen mir in einem kleinen Fluss aus Schweiß die Stirn hinunter und tropften mir in die Augen. Die Szenerie um mich herum begann zu flimmern, die Sekunden dehnten sich aus und zogen sich wieder zusammen, und plötzlich wurde mir klar, dass ich weder auf die Vergangenheit noch auf die Zukunft Zugriff hatte – mit einem Schlag war alles weg. Ich war kurz davor, aufzugeben und die Hitze einfach ihr Ding machen zu lassen, egal, wie es für mich ausginge. Erst im letzten Moment kam mein Überlebenswille zurück. Mit einem Ruck stand ich auf.

Die Hitze war im Stehen und Gehen noch beißender. Endlich draußen konnte ich sogar Rena ansehen, wie sehr die Hitze ihren Körper verändert hatte. Ihr Gesicht war dunkelrot, sie atmete zu schnell, viel schneller als Anton und ich, und für einen Moment befürchtete ich, sie werde in Ohnmacht fallen. Aber sie ging zielgerichteten Schrittes zum Steg, zögerte nicht, sondern nahm Anlauf und sprang in den See.

Anton tat es ihr gleich, auch wenn er direkt wieder auftauchte und zurück zum Rand schwamm. Ich selbst stand lange auf dem Steg, trat von einem Bein aufs andere und konnte mich nicht überwinden. Der Kontrast zwischen meiner aufgeheizten Haut und dem dunklen, kalten Wasser erschien mir einfach zu stark. Doch irgendwann machte ich es wie die anderen beiden und sprang. Als sich das eiskalte Wasser um meinen Körper schloss, hatte ich das Gefühl zu sterben.

Ich spürte, wie meine Muskeln sich anspannten und sich für eine Reise bereit machten – an einen Ort, wo man noch nicht alles über sich weiß. Da konnte ich loslassen. Auf einer Linie mit den Wellen ließ ich den Hinterkopf ins Wasser sinken und schaute in den Himmel. Das Dunkel der Wolken schien mir aus vielen bunten Punkten zusammengesetzt zu sein.

Kurz bevor mich die Kraft in meinen Armen und Beinen vollends verließ, stieg ich aus dem Wasser. Auch Rena war schon draußen, Wassertropfen perlten von ihrer Haut ab, sie hatte sich das Handtuch nur um den Kopf geschlungen und den Körper nicht einmal abgetrocknet. Erst jetzt sah ich die frische Narbe an ihrem linken Rippenbogen. Sie war auffällig genug, dass ich sie sofort wahrnahm, aber dann auch wieder unauffällig genug, dass ich nicht sofort nachfragte, was dahintersteckte.

Rena bedeutete Anton und mir, uns neben sie auf eine Bank zu setzen. Merkwürdigerweise fror ich nicht.

»Ich … Was ich euch sagen wollte …«, setzte sie an. »Oder, was anderes zuerst: Wie hat es euch bis jetzt gefallen?«

»Bitte, Rena, sag uns einfach, was du sagen wolltest, okay?«, sagte Anton. »Ich halte keine weitere Verzögerung mehr aus!«

»Okay«, sagte Rena. »Ja. Also eigentlich wollte ich euch nur zeigen, wie es ist.«

»Wie was ist?«, fragte Anton.

»Dieser Wechsel, wisst ihr? Es ist so ein Schock.«

»Ja?«

»Ich war schon mal tot«, sagte sie unvermittelt, so unvermittelt, dass ich anfing zu lachen. Es war eine Übersprungshandlung, die ich nur mühsam unter Kontrolle bekam. Anton warf mir einen mahnenden Blick zu.

»Es war vor zwei Wochen«, sagte Rena. »Ich habe euch nicht ganz die Wahrheit gesagt.« Sie seufzte.

In meinem Kopf raste es. Sie musste die Sache in der Bibliothek meinen. Leider war ich nicht dabei gewesen, ich hatte nur die Berichte der anderen gehört, die nicht besonders dramatisch klangen: ein Schwächeanfall zwischen den Bücherregalen und Sanitäter, die Rena abtransportiert hatten; schließlich ein paar Tage im Krankenhaus. Anton und ich hatten sie dort besucht und ihr Gummibärchen und Blumen mitgebracht, und Rena hatte steif und fest behauptet, sie sei nur zur Beobachtung da, alles wieder gut.

Als sie die Geschichte nun erneut erzählte, klang sie ein wenig anders. Sie habe plötzlich nicht mehr richtig atmen können, sagte sie. Zuerst habe sie sich nichts dabei gedacht. Dann aber sei ihr klar geworden, dass das Gefühl, ihr stecke ein Messer in der Brust, nicht vorübergehend war, sondern mit jeder Minute schlimmer wurde, und sie sei panisch geworden. Die Bibliotheksaufsicht habe einen Krankenwagen für sie gerufen.

Ich stellte mich schon auf eine detaillierte Schilderung grausiger medizinischer Details ein. Doch davon erzählte Rena fast nichts. Sie konzentrierte sich auf den Teil im Krankenwagen. Sie waren kaum losgefahren, sagte sie, da habe sie gespürt, dass etwas nicht stimmte. Sie fühlte sich in etwas zurückgezogen, zu etwas hingezogen und von etwas fortgezogen – alles gleichzeitig. Sie habe diese Empfindungen nicht zuordnen können, sagte sie; es sei so schnell gegangen. Aber als sie sich selbst von oben gesehen habe, habe sie verstanden.

Mir stellten sich die Härchen am Unterarm auf.

Rena legte den Arm um mich. »Sorry, dass ich euch nicht früher davon erzählt habe«, sagte sie. »Aber ich konnte irgendwie nicht. Ich musste das erst für mich selbst verarbeiten.«

Es sei ein Erlebnis, das sich nicht einmal im Ansatz vermitteln ließe, fuhr sie fort. Das sei das Problem. Es übersteige die eigenen Wahrnehmungen und schrumpfe einen, und am Ende fühle man sich schon deshalb von allen anderen getrennt, weil man etwas erfahren hatte, was sonst niemand erfuhr und was man wahrscheinlich gar nicht erfahren können sollte, weil einem nämlich anschließend der Kopf platzte.

»Aber wie war es denn, ich meine …«

Es gebe eigentlich keine Worte dafür, sagte Rena. Das sei ja das Problem. Aber wenn sie nicht darüber rede, fühle sie sich so, als sei sie eine Tote unter Lebenden, als sei sie in jenem Moment wirklich gestorben und nun von allen anderen durch einen unsichtbaren Vorhang getrennt.

Ich nahm ihre Hand. »Aber du bist doch noch da«, sagte ich.

»Bin ich das wirklich?«, fragte Rena und sagte, sie habe das Gefühl, seitdem immer an zwei Orten gleichzeitig zu sein.

»Besser an zwei Orten gleichzeitig als an gar keinem Ort«, sagte ich, und Rena begann zu lachen.

»Du bist wirklich nicht gut im Trösten«, sagte sie.

Ich sagte: »Tut mir leid«, und sie sagte: »Wollen wir noch reingehen?«

Ihr sei nach Leichtigkeit gewesen, meinte Rena später. Ihr Körper sei ihr plötzlich zu schwer geworden, und dann habe sie ihn verlassen und ihn von der Decke aus betrachtet, wie man Wellen im Meer betrachtete: Sie waren schön, aber man konnte ihnen keine Identität zuweisen.

Anton sah erst aus wie vom Donner gerührt. Dann leuchtete etwas Rationales in seinen Augen auf, und er beruhigte sich wieder.

»Aber sag doch mal, was hattest du jetzt eigentlich?«, fragte er. »Ich meine, woher kamen die Schmerzen und alles?«

»Einer meiner Lungenflügel ist kollabiert«, sagte Rena.

»Einfach so?«, fragte Anton fassungslos.

»Die wollen noch ein paar Tests machen«, sagte Rena. »Ist ein bisschen ungewöhnlich, dass ein Lungenflügel einfach so kollabiert, aber … ja.«

»Vielleicht haben die dir was Komisches gegeben im Krankenwagen«, sagte Anton. »Vielleicht hast du dich deswegen von oben gesehen.«

»Aber das war keine Halluzination.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Anton.

Ich hatte Angst, dass die beiden ausgerechnet jetzt beginnen würden zu streiten, also versuchte ich, das Gespräch umzulenken. »Was muss man denn machen, wenn ein Lungenflügel kollabiert ist?«, fragte ich schnell.

»Die haben einen Schlauch in mich reingelegt«, sagte Rena. »Irgendwie zwischen die Rippen oder so.« Sie wirkte, als würde es sie nicht interessieren. Für sie lief ihre Erzählung auf etwas anderes hinaus.

»Warum hast du uns das alles nicht früher erzählt?«, fragte Anton, der sich anscheinend doch noch nicht vom Schock erholt hatte.

Rena zuckte mit den Schultern. »So was erzählt man nicht einfach so. Wie gesagt, man muss es erst einmal für sich selbst verarbeiten. Vor allem, weil ihr euch nicht vorstellen könnt, wie einen das …« Sie brach ab.

»Aber danach?«, fragte Anton weiter. »Was hast du dir gedacht, als du … dich selbst so angesehen hast?«

»Man denkt nichts mehr«, sagte sie. »Man ist einfach.«

Da war ich fast neidisch.

a

Wir gingen an diesem Tag noch viele Male in die Sauna. In die erste, die »normale«, in der wir schon gewesen waren, und in die zweite, die dunkle, in der fast nur Männer saßen und sich mit Birkenzweigen auf die Schultern klopften. Die zweite Sauna hieß »Rauchsauna«, und wenn man sie verließ, klebten überall am Körper kleine Rußpartikel, die auch das Seewasser nicht abspülen konnte.

Je öfter wir in der Sauna waren, desto ruhiger und schwerer fühlte ich mich – als hätte sich die ganze Luft der Welt verdichtet und drückte mich zu Boden. Vielleicht lag es auch daran, dass in der Hitze nichts mehr eine Rolle spielte. Ich fand es selbst merkwürdig. Obwohl immer noch ein Teil von mir in Aufruhr war und weitere schlechte Nachrichten von Rena befürchtete, wurde ich plötzlich von einer inneren Hitze getragen, der nicht einmal die Kälte des Sees etwas anhaben konnte.

Rena redete und redete – aber nur in den Saunapausen, im Wasser oder direkt danach; nie in dieser Hitze, die einen aufzulösen schien und alle Gedankengänge stoppte. Auf der Terrasse, eingehüllt in Handtücher, erzählte sie uns, dass sie versucht habe, ihr Erlebnis entweder einzuordnen oder zu vergessen, dass es ihr aber nicht gelungen sei. Vor allem in den letzten Tagen habe sie immer wieder daran denken müssen, und da sei ihr klar geworden, dass sie mit uns sprechen müsse. Mit Anton und mir.

Plötzlich klang es so, als hätte sie uns noch nicht alles gesagt. Ich sah Rena für eine Millisekunde zögern, bevor sie weitersprach. Sie blickte auf den See. Wasseroberfläche und Himmel waren nun kaum mehr zu unterscheiden: Schwarz ging in Schwarz über, und am Horizont berührten sie sich wohl, aber das konnte man nicht sehen.

»Die Sache ist die.« Sie setzte neu an. »Also, ich habe jetzt meine Policy geändert. Das wollte ich euch sagen.«

»Du hast deine allgemeinen Geschäftsbedingungen geändert?«, fragte Anton und runzelte gespielt besorgt die Stirn.

»Ja, ich sage jetzt immer gleich, was Sache ist«, sagte Rena. »Das habe ich mir vorgenommen. Und die Sache ist die, dass ich …« Sie machte eine kurze Pause. »Also, ich wollte euch warnen.«

»Wovor?«, fragte Anton.

»Na ja«, sagte Rena. »Ich sage ab jetzt immer die Wahrheit. Wenn ihr beleidigt seid, dann … ja, dann tut es mir leid, aber ich sage jetzt trotzdem immer das, was ich denke.«