Aber der Himmel - grandios - Dalia Grinkevičiūtė - E-Book

Aber der Himmel - grandios E-Book

Dalia Grinkevičiūtė

4,9

Beschreibung

Nach der Annektion Litauens 1941 wird Dalia Grinkevičiūtė zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder von den Sowjets nach Sibirien deportiert. Ihre Jugendjahre verbringt sie in der Verbannung im Altai Gebiet und in der Arktis. 21-jährig gelingt Grinkevičiūtė die Flucht. Zurück in Litauen schreibt sie ihre Erinnerungen an die Verbannung in großer Eile auf lose Blätter und vergräbt sie aus Angst vor der Entdeckung durch den KGB in einem Einweckglas im Garten. Kurz darauf wird sie vom KGB verhaftet und erneut deportiert. Nach ihrer Entlassung bleiben die Erinnerungen verschollen, erst nach Dalia Grinkevičiūtės Tod werden die Aufzeichnungen wie durch ein Wunder 1991 gefunden. Die lose Blattsammlung ist zu einem der wichtigsten Dokumente der litauischen Geschichte geworden und zeigt mit ungeheurer Sprachgewalt das Schicksal eines 14-jährigen Mädchens in der Verbannung auf. "Die Erinnerungen von Dalia Grinkeviciute, die sie im Alter von 23 verfasste, unmittelbar nachdem sie aus der Verbannung nach Litauen zurückkehrte, gehören heute zum litauischen Nationalerbe. In diesem Jahr erschienen sie erstmals vollständig in deutscher Übersetzung." Friederike Kenneweg, Spiegel Online, 17.11.2014

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Aber der Himmel – grandios

Dalia Grinkevičiūtė alsStudentin. Omsk, 1955

Dalia Grinkevičiūtė

Aber der Himmel – grandios

Aus dem Litauischen übersetzt von Vytenė MuschickHerausgegeben von Vytenė Muschick und Anna HusemannMit einem Nachwort von Tomas Venclova

Dalia Grinkevičiūtės Wegin die Verbannung

Inhalt

Einleitung

Aber der Himmel – grandios

Nachwort

Zeittafel

Personenverzeichnis

Einleitung

Am 14. Juni 1941 wird Dalia Grinkevičiūtė, ein 14-jähriges, litauisches Mädchen aus Kaunas, zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder deportiert. Nach einer monatelangen Reise mit vielen Zwischenstationen erreichen sie im August 1942 zusammen mit Hunderten von anderen Deportierten die Insel Trofimowsk in der Arktis. Kurz vor Einbruch des arktischen Winters sollen sie hier in der Verbannung ein Lager für sich selbst errichten.

Sechs Jahre später darf Dalia Grinkevičiūtė diesen Ort wieder verlassen, um in Jakutsk 1948 eine Ausbildung zu beginnen. Der Mutter wird vom NKWD verwehrt mitzukommen, sie gelangt jedoch unbemerkt an Bord des Dampfes. Während der Fahrt wird der Betrug entdeckt, der NKWD nimmt Dalia Grinkevičiūtė die Papiere ab und schickt sie kurzerhand zur Strafe in die Kohlegruben nach Kangalas, ohne dass sie sich von ihrer Mutter noch hätte verabschieden dürfen. Als die Förderung eingestellt wird, darf sie nach Jakutsk zurückkehren, wo sie sich ihre Mutter aufhält. Die Mutter weiß, dass sie bald sterben muss und wünscht sich noch einmal ihre Heimat zu sehen und in Litauen zu sterben.

Im Februar 1949 reisen beide Frauen ohne Papiere mit dem Flugzeug aus Jakutien über Moskau illegal nach Litauen. Ein Suchbefehl zwingt sie, sich bei Bekannten und Verwandten versteckt halten zu müssen. Aus Angst vor Entdeckung wechseln die todkranke Mutter und Tochter mehrmals hastig ihre Bleibe.

In dieser Situation – illegal in einem Versteck lebend – beginnt die mittlerweile 22-Jährige ihre Erinnerungen unter äußerstem Druck und mit höchster innerer Anspannung an verschiedenen Orten, auf losen Blättern aufzuschreiben. Dalia Grinkevičiūtė erinnert sich, was sie als 14–15-Jährige in den ersten Jahren der Verbannung erlebte. Sie berichtet über alles in der Gegenwartsform. Im Strom der Erinnerung wechseln allerdings immer wieder, oft unvermittelt, die Zeitebenen und die Orte. Häufig erzählt sie direkt aus der Situation des erinnerten Geschehens heraus, manchmal merken wir, dass sie aus ihrem derzeitigen Versteck aus auf Vergangenes zurückblickt. Auch die Zeit der glücklichen Kindheit in Kaunas und der Sehnsucht nach ihr ist immer gegenwärtig. Die Aufzeichnungen enden abrupt im Jahre 1942 oder 1943.

Im Frühling 1950 wird der Zustand der Mutter hoffnungslos. Als sie am 5. Mai 1950 stirbt, schlägt Dalia Grinkevičiūtė eine Grube in den Betonboden des Kellers ihres Elternhauses in der Perkūno Allee 60 in Kaunas, um ihre Mutter dort unbemerkt beerdigen zu können. Sie spürt, dass sie vom KGB observiert wird und vergräbt die beschriebenen losen Blätter in einem Weckglas im Garten des Hauses. Dalia Grinkevičiūtė vertraut ihre Erinnerungen der Erde an. Gerade noch rechtzeitig, denn im Mai 1950 wird sie tatsächlich vom KGB verhaftet. Weil sie das Angebot einer Zusammenarbeit ablehnt, wird sie erneut über etliche Gefängnisse und Lager in Kaunas, Vilnius, Moskau und Sverdlowsk in die Verbannung nach Sibirien geschickt.

Erst 1956 darf Dalia Grinkevičiūtė nach Litauen zurückkehren. Sie sucht im elterlichen Garten nach ihren vergrabenen Erinnerungen, findet aber ihre Aufzeichnungen nicht wieder.

In Sowjetlitauen arbeitet sie als Ärztin in einem Provinzkrankenhaus in Laukuva. Die ehemalige Deportierte ist für die lokalen Behörden unbequem, 1974 wird sie entlassen und darf nicht mehr als Ärztin praktizieren. Dalia Grinkevičiūtė zieht zu ihrer engen Freundin Aldona Šulskytė: Dort schreibt sie ihre Erinnerungen nochmals in verkürzter Form auf. Diese Version wird im Untergrund weiterverbreitet, mehrmals abgeschrieben und vervielfältigt. Auf diesem Weg gelangen die Erinnerungen 1979 auch zu Moskauer Dissidenten, später in die USA und erst 1988 erscheinen sie in einer Zeitschrift in Litauen. Dalia Grinkevičiūtė erlebt das nicht mehr, sie stirbt 1987 an einem Krebsleaiden.

Erst 1991, als Litauen wieder frei und unabhängig ist, wird das Weckglas beim Umpflanzen einer Pfingstrose entdeckt und die Blätter ins Kriegsmuseum in Kaunas gebracht, wo sie restauriert und abgeschrieben werden. Beide Versionen der Erinnerungen erscheinen 1997 unter dem Titel »Lietuviai prie Laptevų jūros« (Litauer an der Laptewsee). Heute befindet sich das Originalmanuskript der Erinnerungen von 1949/1950 im Nationalmuseum in Vilnius und gehört zur Pflichtlektüre an litauischen Schulen.

Diese Übersetzung basiert auf den Erinnerungen von 1949/1950, sie reflektieren unmittelbarer, emotionaler und detaillierter die Erlebnisse in der Verbannung. Die unlesbaren Stellen sind wie folgt gekennzeichnet: (…).

Die Geschichte des Manuskripts ist zugleich die Geschichte von Dalia Grinkevičiūtė. Es ist eine Geschichte von losen Blättern, die einen eigenen Charakter angenommen haben, unbeugsam, standhaft und widerstandsfähig. Hier wird ein schutzloses Blatt Papier zum unzerstörbaren Erbe.

Der Vermerk im Archiv zum Manuskript lautet: »Insgesamt 229 lose Blätter. Aus der Erde geholt am 29. April 1991 (in Kaunas, Perkūno Allee 60). Geschrieben mit Bleistift, Tinte, auf einem einfachen Papier.«

Da ich Dalia Grinkevičiūtė während der Sommerferien in Laukuva bei meiner Tante Aldona Šulskytė persönlich kennenlernen durfte, machte ich es mir zur Aufgabe, ihre sehr persönliche und zugleich zeitlose Erfahrung in anderen Sprachen zugänglich zu machen. Durch Unterstützung von Books from Lithuania und Matthes & Seitz Berlin ist das jetzt auf Deutsch möglich.

Mein Dank gilt außerdem dem litauischen Kulturattaché in Deutschland Gabrielė Žaidytė, Tomas Venclova, Irena Veisaitė, Delija Valiukėnas, Meike Rötzer, Tomas Mrazauskas, Stephanie Lindner, Martin Muschick, Stephan Muschick und Norbert Beckmann-Dierkes.

Vytenė Muschick

Aber der Himmel – grandios

Was ist das? Meine Hand berührt … kaltes Eisen. Ich liege auf dem Rücken … schön … die Sonne … ein Schatten …

Ich ahne, ein Abschnitt meines Lebens ist zu Ende. Punkt. Von jetzt an beginnt ein neuer, unbekannter, der Angst macht. 24 Menschen liegen neben mir. Schlafen sie? Wer weiß, jeder hat seine eigenen Gedanken, jeder hat sein Leben hinter sich gelassen, gestern einen Teil des Lebens abgeschlossen. Jeder hat eine Familie, Verwandte, seine Nächsten, geliebte Menschen. Jetzt verabschieden sie sich in Gedanken von allen. Plötzlich ruckelt der Waggon. Von der oberen Liege fällt ein Gegenstand. Niemand schläft. Stille. Ich ziehe mich rasch an, muss mich von Kaunas verabschieden. Alle drücken sich an die Fenster. Es ist alles zu Ende, zu Ende, zu Ende. Schluss, aus. Noch ein Stoß und der Zug setzt sich in Bewegung. Ich sehe die Türme der Karmelitenkirche vorüberziehen, sie glänzen golden in der Morgensonne. Es ist halb fünf. Kaunas schläft noch. Die 63 Waggons rollen leise und bringen uns, 1500 Litauer, in eine unbekannte Ferne, ein unbekanntes Leben. Tränen in unseren Augen. Die Kinder weinen, als verstünden auch sie alles, sie schweigen, folgen mit ihren Blicken den verschwindenden Bilder der Stadt, den vorüberziehenden Feldern. Seht hin, Kinder, schaut euch das an, prägt euch die Bilder dieser Minuten ein. Viele hundert Augenpaare streifen zum letzten Mal über ihre Heimatstadt … »Ich weiß, ich werde das hier nicht mehr wiedersehen,« sagt meine Mutter. Diese Worte treffen mich wie Messerstiche. Der Lebenskampf beginnt, Dalia. Gymnasium, Kindheit, Toben, Spielen, Quatsch machen, Theater, die Freundinnen – das ist alles Vergangenheit. Du bist jetzt eine Erwachsene. Du bist gerade vierzehn geworden. Du musst dich um deine Mutter kümmern, den Vater ersetzen. Mein Lebenskampf beginnt, der erste Akt meines Überlebenskampfes.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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