Abgebrüht - Ulrike Maier - E-Book

Abgebrüht E-Book

Ulrike Maier

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Beschreibung

Dieses Buch entstand zuerst in Gedanken, während die Autorin, Tierärztin und Fleischbeschauerin, ihre täglichen Runden durch den schönen Kahlgrund fuhr. Diesen unterfränkischen Landstrich, bezeichnet sie als ihr „Revier“, denn sie überwacht hier die Schlachtungen und kontrolliert die Hygiene in den Landmetzgereien. Der Krimi "Abgebrüht" rückt den Schlachterberuf in den Mittelpunkt. Leser, die Interesse am Abtauchen in die scheinbar archaische Welt der Landmetzger haben, werden mit Freude der Tierärztin in ihrem ungewöhnlichen Alltag folgen, der durch einen mysteriösen Mord, einen toten Hund und die Liebe zu einem Jungmetzger erschüttert wird.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Neunundvierzig

Fünfzig

Impressum

Prolog

Alice hielt erschöpft ihr frisch entbundenes Baby im Arm und jedes Mal wenn sie zwischendurch klar im Kopf wurde, krallten sich alle ihre Gedanken zuversichtlich an einer gemeinsamen Zukunft fest. Sie stellte sich vor, wie sie beide eines Tages über alles reden konnten.

Eines Tages, dachte sie, ist mein Kind alt genug und ich werde ihm alles erzählen, nun lächelte sie sogar schwach, trotz des metallischen Geruchs des eigenen Blutes in der Nase.

Ich habe es geschafft dich auf die Welt zu pressen, mein Baby, nun lebe und wachse! Ihre Zuversicht schwand plötzlich. Sie würde es hier alleine nicht schaffen und was wurde dann aus dem Kind, das noch ungewaschen zwischen ihren Brüsten lag? Tränen stiegen in ihr hoch und furchtbare Angst um das Leben des Neugeborenen zwang sie aus den blutigen Laken.

Alice musste es in Sicherheit bringen, bevor er zurückkam.

Sie musste!

Eins

Es waren nun fast zwei Monate her, seit Tobias ermordet wurde. An einem sehr frühen Montagmorgen im Juni fand Janus ihn, nachdem er in den Schlachtraum trat. Man hatte seinem schlanken, langen Gesellen die Kehle durchgeschnitten und der Metzgermeister begriff ziemlich rasch, dass dem Jungen nicht mehr zu helfen war. Nachdem er ein paar Mal schluckte, um dem Würgereiz Herr zu werden, rief er über sein Handy die Polizeiinspektion Alzenau an.

Auch heute war wieder ein Montag, sechs Uhr fünfundzwanzig, und Leonie betrat den Schlachtraum nach wie vor mit gemischten Gefühlen. Sie sah die Leiche damals nicht, da sie erst so gegen halb sieben hier eintraf. Polizeibeamte ließen sie nicht durch, was ihr nur recht war, aber Janus Vormann zeigte ihr einige Tage später den Tatort.

„Da kniete er“, sagte er nur mit belegter Stimme und wies nach rechts auf den metallenen, tiefen Wasserbehälter hin. Der viereckige Messersterilisator hing an der Wand, etwa mittig des weiß gekachelten Raumes. Janus selbst würde den entsetzlichen Anblick wohl nie vergessen können. Mit der rechten Gesichtshälfte lehnte Tobias am Wassertank, die Beine waren angewinkelt und der linke Handrücken berührte den Boden. Es sah aus als hätte man ihn nach dem tödlichen Schnitt sanft dort hindrapiert. Vor seinen Knien sammelte sich eine Blutlache, überhaupt war die Vorderseite des weiß gekleideten Gesellen schwarz-rot und der Halsschnitt erschien wie ein lachender, blutiger zweiter Mund. Dennoch wirkte Tobias Jordan entspannt, wie mit offenen Augen schlafend, da sein Tod vermutlich äußerst überraschend kam.

Längst war sein Blut fortgewaschen und eine Woche später schlachtete Vormann hier schon wieder. Es ließen die Schweine ihr Leben, die dank Tobias Tod noch sieben Tage länger im angrenzenden Wartestall grunzen durften.

Leonie sah Janus damals etwas konsterniert an, aber er hob nur die Schultern, wortkarg wie immer und sie interpretierte es so: „Ich muss weiterhin Geld verdienen!“, oder so: „Ich bin ein kaltherziges Arschloch, Tobi ist tot und das Leben geht eben weiter!“

Den letzten Satz strich sie wieder. Janus war alles andere als kaltherzig! Selten hatte sie jemanden wie ihn getroffen, der so oft freundlich lächelte und ihr absolut uneigennützig erschien. Er war ein Handwerker mit Leib und Seele, geradeaus und unkompliziert. Zumindest erlebte Leonie Bendrick ihn so seit zwei Jahren, die sie nun beruflich miteinander zu tun hatten.

Sechs Montage also hatten sie alle seither wieder ihren Job erledigt. Ohne Tobias Jordan. Leonie vermutete aber, dass sie diesen fensterlosen Schlachtraum nie mehr betreten konnte, ohne an den jungen Gesellen denken zu müssen, der in dieser Metzgerei lernte und nach Tom Vormanns Aussage im ersten Lehrjahr dreißig Kilo verlor. „Tobi war ein fetter, großer Kerl und ich hatte so meine Zweifel. Aber Janus stellte ihn ein und man bekommt heutzutage sowieso kaum mehr einen Lehrling für die Ausbildung zum Metzger. Hat ein schlechtes Image. Tiere töten und so. Jedenfalls nahm Tobi binnen kürzester Zeit massiv ab und übrig blieb ein langes Elend.“ Janus Bruder sah dabei etwas unwillig auf seinen leicht gewölbten Bauch.

An Tobias Stelle half nun Vater Vormann am Schlachttag aus, der eigentlich seinen Ruhestand genießen wollte. Das bedeutete nicht, dass er sich ein Hobby zulegte und im Winter gen Süden zog. Ivo Vormann übergab vor zwei Jahren das Geschäft an seine beiden Söhne. Janus leitete die Metzgerei und Tom den Laden, plus den Party- und Kantinenservice. Der Vater stellte sich nach wie vor für alle Arbeiten zur Verfügung, die anfielen, genoss es aber, wie er versicherte, zumindest die Last der Verantwortung von den Schultern zu haben.

„Morgen“, brummte Vormann Senior jetzt, der Därme am Wasserkran putzte, als Leonie in voller Montur eintrat. Weiße Stiefel, weiße Hose, weißer Kittel, Kopfhaube und weiße Lederschürze.

„Ja, Morgen“, brummte die junge Tierärztin zurück und ihr Blick glitt durch den verschmutzten Raum. Viel Blut, schaumiges, ockerfarbenes Wasser aus der Brühmaschine und einige Schweineaugäpfel bedeckten den roten, rutschfesten Spezialfußboden. Sie nahm all das kaum mehr wahr und machte sich auf die Suche nach einem scharfen Messer.

„Du weißt schon, dass man erst den Raum reinigt und danach die Därme putzt!“, kritisierte sie nebenbei den Sechzigjährigen. Ivo sah sie auf gleicher Höhe nur kurz mitleidig an und sie konnte förmlich seine Gedanken lesen.

Ich erledige diesen Job seit gefühlten hundertfünfzig Jahren und niemand wurde jemals krank, nur weil ich die Därme jetzt putze und so weiter!Zeit ist Geld!

Werner, der alte Geselle, schaltete den Hochdruckreiniger ein und erschlug mit dem Höllenlärm jegliches Gespräch. Leonie war das einerlei. Montag war definitiv nicht ihr Tag! Morgens um fünf aufzustehen war schlicht unmenschlich, aber um sechs Uhr musste sie die erste Lebendbeschau in Albstadt durchführen. Gegen halb sieben dann stand der Betrieb Vormann an, wo sie die amtliche Fleischbeschau innehatte. Das hieß unter anderem Darmschlingen und Nieren begutachten, Lymphknoten anschneiden, Trichinenproben entnehmen und Innereien sowie Schweinehälften auf Genusstauglichkeit bewerten. Am Schluss stempelte sie die Schlachtkörper noch mit dem betriebseigenen EU-Siegel und schrieb ein Protokoll, das dem zuständigen Amt zur Abrechnung diente.

Bevor sie Letzteres im Hauptgebäude der Metzgerei schrieb, ging sie jeden Montag einen schmalen Gang entlang, der eine Rechtskurve beschrieb und betrat den großen, lang gezogenen Produktionsraum. Dort sah sie Janus im hinteren Teil, die Wurstküche, schon heftig werkeln und der Fleischwolf rotierte. Er tätigte die ersten Vorbereitungen für die Herstellung von verschiedenen Aufschnittsorten und Würstchen. Für Leonie war sein Job ein Buch mit sieben Siegeln und sie hegte insgeheim Bewunderung für solche Handwerker, die genau wussten, was sie taten. Wie kamen die Salamischeiben aus dem Schwein, fragte sie sich schon oft. Natürlich hatte sie dies einst während ihres Studiums gelernt, aber wenn sie ehrlich war, so hatte es sie herzlich wenig interessiert. Sie wollte Tiere heilen und nicht Salami herstellen. Dieses Denken hatte sich inzwischen geändert, denn sie war neugierig geworden, seit sie es mit dem Beruf des Fleischers ständig zu tun hatte. An ihr jedenfalls lag es nicht mehr zu erfahren, aber sie vermied es am Montagmorgen durch zu viele Fragen zu stören, da Hektik bei den Metzgern herrschte.

Sie ging die zehn Meter bis ans andere Ende des hell erleuchteten, kühlen Raumes, nahe genug, um mit ihm sprechen zu können. „Guten Morgen!“, brüllte sie gegen den Lärm an, „muss ich was wissen?“ Er drehte sich nach ihr um. Auch Janus war komplett in weiß gekleidet und trug eine weiße Baseballkappe. Die schob er ein wenig mit dem Handrücken in den Nacken, da seine Hände voller Wurstbrät waren. „Bulle am Mittwoch. Bin gegen acht Uhr fertig.“

„Von wem?“

„Lehmann.“

Sie nickte und seufzte. Hier beinhalteten viele Nachnamen die Endung -mann. Vormann, Lehmann, Heilmann, Hofmann und Hoffmann, Bachmann, Rossmann und Bergmann, um nur einige zu nennen. Wie sollte man da den Überblick behalten? Aber in diesem Fall wusste sie wer Lehmann war. Ein Landwirt aus Eichenberg, von dem Janus einen Bullen schlachten würde.

Trotz der etwas nüchternen Umgebung war Janus wie immer ein sehr angenehmer Anblick an diesem frühen Montagmorgen. Siebenundzwanzig Jahre war er alt und als die gleichaltrige Leonie ihn das erste Mal sah, blieb ihr fast die Spucke weg. Sie pflegte nicht das Vorurteil des stiernackigen Metzgers mit den dicken Fingern, aber einen Mann wie Janus hätte sie überall erwartet, nur nicht in einer ländlichen Metzgerei. Ihrer subjektiven Meinung nach, gehörte dieser Kerl auf den Laufsteg als Männermodel, wo er lächerliche Klamotten tragen konnte.

Ihre Laune stieg auch jetzt rapide an. Den in ihren Augen überaus attraktiven Janus zu treffen war immer ein Highlight und machte den grässlichen Wochenanfang erträglicher. Obwohl er stets sparsam mit Worten umging, so schnellte sofort ein Lächeln auf seine schön geschwungenen Lippen, wenn sie ihn ansprach. In diesem Moment verabscheute sie ihre hässliche Kopfbedeckung.

Leonie passte sich in punkto Wortkargheit an. „Sonst?“

„Am Donnerstag ein paar Lämmer von Hemberger. Sonst nichts mehr diese Woche, es sei denn…“,

„Dein Vater schießt noch eine Wildsau.“

„Richtig“, lächelte er.

„Na dann bis Mittwoch.“

Er nickte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Leonie nahm im Umkleideraum endlich das Haarnetz ab und ließ den langen, geflochtenen Zopf herabbaumeln. Sie wusch die Schürze, die Stiefel und die Hände, wechselte den weißen Arztkittel mit ihrer schwarzen Weste und verließ das Gebäude. Vollgepackt mit ihrer Ausrüstung eilte sie über den gepflasterten Hof und trat durch eine nah gelegene Haustür in den hinteren Bereich des Verkaufraumes der Metzgerei. Dort traf sie auf Thomas, Tom Vormann, Janus älteren Bruder. Auch er war schon beschäftigt, eilte von hier nach da, wie immer mit geschwollenen, roten Augen. Vermutlich lag ein langes, arbeitsreiches Partyservice-Wochenende hinter ihm.

„Morgen, Tom“, sagte Leonie.

„Ja, hallo, guten Morgen! Schon fleißig? Willst du einen Kaffee? Ich könnte dir schon frische Brötchen und selbstgemachte Marmelade meiner Mutter anbieten.“

Im Gegensatz zu Janus war Tom sehr leutselig und entsprach eher dem Klischee eines Metzgers. Er war ein großes Muskel bepacktes Kraftpaket und besaß volle, rote Lippen. Sein ganzes Wesen aber erschien Leonie sehr liebenswert und wie Janus überragte er sie um mindestens eine Kopfeslänge.

Leonie winkte jetzt ab. Sie hatte heute Morgen noch viel zu tun und so früh noch keinen Hunger.

„Wie war dein Wochenende?“, fragte Tom und während Leonie ihren Protokollblock zurechtlegte, eilte er aus der Küche in den Laden, dann durch den Gang in den Ladenkühlraum. Die junge Tierärztin war es gewohnt ihm entweder hinterher zu brüllen oder mit der Antwort einfach abzuwarten, bis er wieder in der Küche angekommen war. Sie saß auf einem Schemel an einer dunkelbraunen langen Theke, die in L-Form an zwei Wänden entlanglief. Sie diente mehreren Zwecken. Als Frühstückstisch für die ganze Crew der Vormanns und als Arbeitsfläche für die Partyservice-Vorbereitungen.

„Schön und kurz, wie immer“, entgegnete sie lapidar, als er zurückkam. Die Fleischbeschau fand auch am Samstag statt und so blieb ihr nur der Sonntag, um auszuschlafen.

„Endlich ein Kerl in Sicht?“

Sie grinste belustigt. „Tom, das geht dich gar nichts an!“

Er hielt kurz inne und trat so nahe seitlich neben sie, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte. Tom war gerade mal zwei Jahre älter, konnte sie aber absolut väterlich anblicken.

„Warst du aus?“

„Nein.“ Sie sog den männlichen Duft ein.

„Leonie, ich sage das auch ständig zu Janus! Niemand klopft an die Tür und sagt, he, ich bin dein Traumpartner. Man muss ausgehen, etwas unternehmen…“,

„Jaja.“ Dass sie vielleicht Janus Traumfrau sein könnte, auf diese Idee kam er anscheinend nicht. Janus leider auch nicht.

„Du weißt was jaja bedeutet?“

Sie nickte, ja, das wusste sie. Leck mich am Arsch!

„Was gibt’s Neues im Fall Tobias?“, wechselte sie das Thema.

Tom schüttelte den Kopf mit dem kurz geschorenen dunkelblonden Haar. „Nicht den Hauch einer Spur. Es ist beängstigend, dass irgend so ein Verrückter immer noch frei herumläuft. Das ganze Dorf ist besorgt!“

„Kann ich mir vorstellen.“ Leonie hatte das alles nur am Rande mitverfolgt, aber es war schon makaber gewesen, wie die Vormannsche Metzgerei nach dem Mord plötzlich von allen Dörnsteinbachern aufgesucht wurde. Im Laden diskutierten die Menschen den Mord, der nur ein paar Meter weiter geschah, sie klagten über ihre Ängste und kauften sich gleichzeitig noch ein Schnitzel.

„Ich muss los“, erklärte sie jetzt und packte ihren Kram zusammen. Den gelben Durchschlag des Kontrollprotokolls ließ sie auf der Theke liegen.

„Ausgerechnet in dieser Nacht nahm mein Bruder den Hund mit in seine Wohnung. Das wurmt ihn ziemlich. Eik hätte sonst bei einem Fremden angeschlagen!“

Unangebracht fand Leonie nun den Gedanken, dass sie so gerne mit dem Schäferhundmix getauscht hätte. Janus liebte den Köter, der ihr immer ein wenig bösartig erschien. „Niemand sollte sich schuldig fühlen, Tom. So etwas Schreckliches erwartet doch keiner. Was sagt denn eigentlich Tobias Familie dazu? Führte er vielleicht ein Doppelleben?“

Tom Vormann schnaubte dezent. „Tobi? Er war zwar zwanzig, aber er benahm sich wie ein Vierzehnjähriger, wenn du verstehst? Sein Hobby war der Modellflugzeugbau!“ Das sagte er mit einem Kopfschütteln. „Es gab keine Freundin und keine sogenannte Clique, nur seine Vereinskameraden von diesem Flugzeugbastelclub. Ich meine, du kanntest ihn ein wenig. Er war so wortkarg wie Janus.“ Tom lächelte nun bitter. „Das schweigende Trio, wenn man Werner mitrechnet! Nach all den Lehrlingen, die wir ausbildeten, passte Tobi wie kein anderer zu uns und gerade deshalb übernahm Janus ihn nach der Lehre.“ Nun fielen seine breiten Schultern ein wenig herunter, als ob er resignierte. „Herrgott, es tut mir so leid um Tobi!“

Leonie machte ein betroffenes Gesicht. Da Tobias Jordan tatsächlich sehr einsilbig und sehr jung im Gegensatz zu ihr war, fanden sie kaum geeignete Gesprächsthemen. Man grüßte sich und er setzte immer ein wenig diesen ehrfürchtigen Blick auf, wenn die Frau Doktor erschien, auch wenn sie den Titel noch gar nicht verdiente. Die meisten nannten sie Frau Doktor, was schmeichelhaft, aber noch unkorrekt war. Leonie war amtliche Tierärztin, nicht mehr und nicht weniger.

„Ja, Tom, also dann“, murmelte sie etwas hilflos, eilte an ihm vorbei und er nickte grüßend.

Als Leonie hinaus auf den Innenhof der Metzgerei trat, schielte sie nach rechts, in der Hoffnung Janus noch einmal zu sehen. Aber heute hatte sie kein Glück und so hetzte sie zu ihrem Van, wo ihre Bobtailhündin im großzügigen Kofferraum geduldig wartete.

Zwei

Ihr Zuhause befand sich in der unterfränkischen Gemeinde Karlstein. Leonie bewohnte eine Erdgeschoßwohnung in einem Mietshaus mit sechs Parteien. Gegen halb zwölf schloss sie aufatmend die Wohnungstüre auf und deponierte eine Plastikbox im ersten, rechts liegenden Zimmer. Ihr Türzuraum, wie sie ihn nannte, da hier alles ungeordnet und chaotisch verwahrt wurde. Schuhe und Jacken, unausgepackte Umzugskisten, einen alten Computer, eben all das, was ein Gast nicht sehen sollte. Wenn überhaupt mal ein Gast erschien!

Leonie war vor mehr als zwei Jahren hier eingezogen und rechnete fest damit, dass ihr damaliger Freund Mark später nachkam. Er schrieb noch an seiner Doktorarbeit an der Uni Gießen und besetzte dort eine Assistentenstelle. Vor zweieinhalb Jahren beendete sie selbst ihr Studium und begann bald ihre unbezahlte Promotion. Deshalb musste sie nebenbei Geld verdienen und ergatterte diesen Job. Amtliche Tierärztin beim Landratsamt Aschaffenburg, was einem Halbtagsjob nahe kam, wenn auch mit Samstagsarbeit.

Leonie füllte jetzt ihre altmodische Kaffeemaschine und schaltete sie ein. Endlich Frühstück!

Seit sie aber hier wohnte, frühstückte sie alleine. Ihr langjähriger Freund erschrak sich offensichtlich sehr über ihre Aussage, lieber Karriere machen zu wollen, als Kinder zu bekommen. So lautete jedenfalls Marks seichte Erklärung damals, als er sich Hals über Kopf von ihr trennte.

Nun nahm sie sich einen Kaffeebecher und holte Milch und Butter aus dem Kühlschrank.

Inzwischen war ihr Ex schon verheiratet, werdender Vater, promoviert und in fester Anstellung, während sie alleine in der großen Wohnung lebte. Fünfundsechzig Quadratmeter waren mehr als ausreichend für sie. Allerdings fehlte es ihr immer noch an Möbeln, da Mark das meiste gehörte. Sie war bei ihm in ein komplett eingerichtetes Appartement eingezogen und gemeinsam brauchten sie sich kaum etwas anzuschaffen. Also zog sie unter anderem nur mit ihren Büchern, dem kleinen Zweitfernseher und ihrem Laptop wieder aus. Es war frustrierend mit siebenundzwanzig Jahren kaum etwas zu besitzen, außer ein paar geliehene, alte Stücke, die sie vom Dachboden ihrer Eltern holte. Zuallererst musste sie sich dann auch noch ein Auto anschaffen, was ihr mithilfe ihres Schwagers relativ preisgünstig gelang. Sie lieh sich das Geld für den silbernen Touran bei ihren Eltern und stotterte es jetzt monatlich ab.

Aber Leonie Bendrick war weit davon entfernt unglücklich zu sein. Jeden Monat ging es ein bisschen finanziell aufwärts, denn sie verdiente nicht schlecht. Sie konnte die Miete alleine stemmen und die Raten am Auto pünktlich bezahlen. Für ihre Begriffe lebte sie ganz gut, da sie bescheiden war und es gelang ihr sogar ein wenig zu sparen. Nach beinahe zwei Jahren beobachtete sie still vergnügt, wie sich ihr Lebensstandard ein wenig hob, während die Seiten ihrer Doktorarbeit nur langsam anwuchsen.

Inzwischen schmierte sie sich ein Käsebrot und schaltete das Notebook ein. Der Kaffee war fast durchgelaufen und sie aß am Schreibtisch vor dem Monitor. E-Mails abrufen und Online-Nachrichten lesen. Erstere gab es keine, wie meist und sonst geschah auch nur Mord- und Totschlag auf der Welt.

Da das Ende des Augusts so sicher kam wie das Amen in der Kirche, beschloss sie endlich mit der monatlichen Abrechnung zu beginnen. Sie musste ihre Protokolle noch mit den gefahrenen Kilometern versehen, was immer eine etwas verzwickte Angelegenheit war. Wo war sie wann gewesen? Sie öffnete einen Routenplaner im Internet, worin sie die Orte eingeben konnte, die sie besucht hatte. Karlstein-Alzenau, Alzenau-Dörnsteinbach, Dörnsteinbach-Heimbach und der Computer spuckte die Kilometer aus. Eine öde, aber notwendige Arbeit.

Mit dem letzten Bissen im Mund, besorgte sie sich einen weiteren Becher Kaffee und den Protokollblock und fühlte etwas, was da nicht hin gehörte. An der Rückseite, einem Kartonboden, hing ein Notizzettel, der das Logo der Metzgerei Vormann trug. Anscheinend war er feucht geworden und am Karton angetrocknet. Sie zog ihn vorsichtig ab und konnte die kurze Nachricht auf einen Blick lesen.

Für Janus, stand da in Schönschrift, zusammen mit einer E-Mail-Adresse. Gruß Jessika.

Wer zum Teufel ist Jessika?

Janus Schwester hieß Katja und die weiblichen Aushilfen der Metzgerei Nicole, Diana und Marion.

Leonie fand sich nachdenklich am Notebook wieder und öffnete die E-Mails. Sie besaß die Adresse von Janus, respektive die der Metzgerei Vormann. Er gab sie ihr vor ein paar Monaten mit dem Hinweis, dass alle Neuerungen, die ihr vom Landratsamt für die Metzgereien mitgeteilt wurden, ihn interessierten. Leonie entwarf zweimal jährlich eine Art Mitteilungsschreiben für die Metzger, damit sie die neuen Gesetze und Bestimmungen für ihren Bereich kannten, aber die druckte sie aus. Nur Janus bekam alles per E-Mail. Er saß abends oft am PC, auch um die Homepage der Metzgerei zu aktualisieren, das zumindest wusste sie über ihn. Sie beide waren gleich alt und er fuhr Motorrad, ein uraltes Teil, das ihm irgendjemand vererbte. Leonie musste den Oldtimer einst ausgiebig bewundern, aber fand wenig Gefallen an dem altertümlichen roten Gefährt.

Tom hatte Leonie damals mitleidig beobachtet, als ihr Janus die Maschine mit glänzenden Augen vorführte. Er konnte viel reden, wenn er wollte. Damals machte sie an einem Sonntagabend die Lebendbeschau der Schlachtschweine und die Antiquität stand im Hof. Janus nutzte seine knappe Freizeit, um sie zu pflegen. Für eine Ausfahrt reichte seine Zeit meist nicht, da er sonntags für Toms Partyservice auslieferte.

Leonie gab nun seine Adresse ein und schrieb ihm eine kurze Nachricht. Sie hätte einen Notizzettel aus Versehen mitgenommen und sie schrieb ihn ab. Bringe ihn am Mittwoch wieder mit. Sorry. LG Leonie

Am liebsten hätte sie nach dieser Jessika gefragt, aber so vertraut war sie nicht mit ihm. Bei Tom hätte sie dies gewagt, denn sie beide verspürten von Anfang an die stimmige Chemie. Rasch waren sie per du und teilten denselben Humor. Manches Mal, aber wirklich nur manchmal, erzählte sie ihm Privates.

Mit Janus war es schwieriger. Sie duzten sich ebenfalls, aber ihr Umgang mit ihm war meist geschäftlich, bis auf die üblichen Themen wie das Wetter oder das Weltgeschehen. Oder eben sein Motorrad!

Als sie spät abends noch einmal die E-Mails abrief, traf sie fast der Schlag. Janus hatte geantwortet! Zum ersten Mal!

Kein Problem.

Das war noch keine fünf Minuten her. Vermutlich saß er noch am PC. Ohne zu überlegen schrieb sie ihm erneut.

Da bin ich ja froh! War wirklich keine Absicht. LG Leonie

Dann wartete sie mit klopfendem Herzen.

Das habe ich auch von dir nicht erwartet, dass du Zettel klaust.

Sie trank einen Schluck Wasser. Er war am PC, jetzt gerade und sie zerbrach sich den Kopf, wie sie weiter verfahren sollte. Eigentlich gab es nichts mehr zu sagen. Aber sie schrieb dennoch: Es ist elf Uhr, warum bist du noch wach?

Gehe selten vor Mitternacht schlafen, antwortete er. Du bist ja auch noch wach.

Sie lächelte. Ausnahmsweise. Montags aber gehe ich oft schon gegen zehn ins Bett, weil ich ja so früh aufstehen musste. Wegen der Metzgerei Vormann, die um halb sieben schon fertig mit schlachten ist!!!

Das Warten war das Schlimmste und als es schon viertel nach elf war, kam endlich noch eine Mail von ihm. Sie grinste breit.

Böse Vormanns! antwortete er. Was also tust du noch so spät am Computer?

Ach, ich schreibe mal wieder an meiner Doktorarbeit. Das war glatt gelogen. Und du?

Ich kucke Pornos.

Wie bitte!!!

Hahaha, schrieb er zurück, bist du jetzt geschockt?

Nein, antwortete sie knapp. Aber sie war es dennoch. Nahm er sie auf den Arm? Es war, als fiele die Krone des Märchenprinzen herunter und sie hörte es förmlich scheppern. Dann riss sie sich zusammen. Herrgott, Janus war nur ein Mann! Sie selbst hatte fünf Jahre mit einem das Bett geteilt und sie hörte ihn nachts furzen und schnarchen und sah ihn in verschiedenen Stadien der sexuellen Erregung. Glaubte sie wirklich, Janus wäre anders?

Die nächste E-Mail kam. Gib es zu, du bist geschockt! Leonie, das war ein Scherz! Ich lese gerade Nachrichten online, komme ja den ganzen Tag nicht dazu.

Wer´s glaubt? schrieb sie zurück. Gute Nacht! LG Leonie.

Es war besser das Ganze jetzt zu beenden, fand sie, besser als von ihm nichts mehr zu hören und noch die halbe Nacht zu warten. So setzte sie den Schlussstrich unter diese schriftliche Unterhaltung und kroch nach dem Zähneputzen müde, aber breit grinsend ins Bett.

Drei

Am nächsten Tag absolvierte sie ein paar Besuche bei Landwirten, um sich lebende Tiere anzusehen, die morgen geschlachtet wurden. Dies nannte man sinnigerweise die Lebendbeschau. Bei einem Metzger kontrollierte sie zudem die Schlachtkörper mehrerer Schafe, wobei sie ein paar Lungenflügel als genussuntauglich erklärte. Sie waren eitrig und wurden abgeschnitten, verworfen, und in einer speziellen Abfalltonne entsorgt. Sie stempelte die toten Tiere und schrieb ihr Protokoll.

Der Kahlgrund, ein Gebiet am nördlichen Spessart bezeichnete Leonie als ihr Revier und war es früher ein eher armer Landstrich gewesen, so galt es heute als das Schlafzimmer des Rhein-Main-Gebietes. Wohlhabende Leute, die vorwiegend in Frankfurt arbeiteten, nutzten die niedrigen Grundstückspreise, um ihre Häuser hier zu errichten. Über die Autobahn benötigte man gerade mal eine halbe Stunde bis zur hessischen Metropole. Bauern profitierten von den Zugezogenen in mehrerer Hinsicht. Sie kauften ihr Land und legten oft Wert auf hochwertige Nahrungsmittel, die im Kahlgrund noch häufig ab Hof oder in kleinen, mittelständischen Betrieben wie die Metzgerei Vormann, angeboten wurden. Hier schlachtete man größtenteils noch selbst und ersparte den Tieren lange Transportwege. Zudem verhalf die enge Anbindung an das Rhein-Main-Gebiet den Kindern der Alteingesessenen zu Lohn und Brot.

Leonie fuhr täglich auf ihrer Tour an die hundert Kilometer im Tal der Kahl, wobei Alzenau und Mömbris ihre Zentren waren. Im Prinzip fuhr sie um deren Kirchtürme, wie sie das immer ausdrückte. Eichen, Buchen, Kiefern und Fichten dominierten die Wälder und Getreide, Mais, Erdbeeren und Spargel die Felder. Reben säumten die Hügel unter anderem von Michelbach, Wasserlos und Hörstein, denn im milden und regenfeuchten Klima gediehen die Trauben für den trockenen Frankenwein, der vorzugsweise in Bocksbeutelflaschen abgefüllt war.

Der Hahnenkamm, die höchste Erhebung im Vorspessart, teilte ihr Revier. Karlstein war quasi davor und Dörnsteinbach dahinter. Dadurch unterschieden sich offensichtlich auch die Mentalitäten der Menschen, wie ein einheimischer Förster einmal schmunzelnd bemerkte. Vor dem Hahnenkamm Lebende würden ihn fragen, ob sie einen Baum fällen dürften, die hinter dem Hahnenkamm informierten ihn, wenn der Baum gefällt war. Leonie lächelte damals still vergnügt in sich hinein. Das konnte sie nachvollziehen. Die Kahlgründer waren ein wortkarges, querköpfiges Völkchen, aber hatte man ihre Schale mal geknackt, kam ihr herzliches Wesen bedingungslos zum Vorschein.

Die Gegend war wie für sie geschaffen. Viel Natur und ein Klientel, das aus Metzgern und Landwirten bestand, die hier aufgewachsen waren und hart arbeiteten. Dennoch waren es keine Hinterwäldler, denn Ungebildete schafften es heutzutage nirgends mehr ein florierendes Geschäft aufrecht zu halten. Aber die Menschen, die teilweise einen heftigen Dialekt sprachen, waren bodenständig, freundlich und fleißig. Sie respektierten die junge Tierärztin, die selbst aus einer großen Landwirtschaft stammte und sie nicht mit weinerlicher Pseudotierliebe belästigte. Man mästete das Schwein, um es zu schlachten und Bullen hielt man sich nicht zum Spaß. Sogar Pferde kamen hier in die Wurst und etwa alle vierzehn Tage schlachtete Janus eines.

Die Kahlgründer lehnten derartiges Fleisch ab, während diese Spezialität auf dem Offenbacher Markt sehr gut von den Kunden angenommen wurde. Ivos geschiedene Frau Gela betrieb dort einen Stand und verkaufte die exotischeren Produkte der Metzgerei Vormann wie beispielsweise Wild, Lamm, Ziege und Pferd. Aber Leonie hatte diese Frau nie gesehen, zu tief war wohl der Graben zwischen den einstigen Eheleuten. Sie wusste aber, dass ihre Tochter Katja oder einer der Söhne den Marktwagen von Donnerstag bis Samstag bestückte und Ivos Ex holte ihn in aller Herrgottsfrühe ab. Vor sechs Uhr konnte sie an diesen drei Tagen sicher sein, nicht auf Vormann zu treffen. Ebenso ungesehen stellte sie ihn spätabends wieder ab.

Leonie besaß also ein wenig Einblick in die Metzgerfamilie, aber er war zu gering, um sie wirklich beurteilen zu können. Sie selbst stammte aus einer großen badischen Landwirtdynastie, der sie sich zutiefst angehörig fühlte und die Vormanns waren ihr zwar sympathisch, aber nicht wirklich nahe. Sah man davon ab, dass sie für Janus schwärmte, was nicht schwer war. Ein attraktiver Mann war er, der schuftete wie ein Pferd, keinen Urlaub machen konnte und als Highlights seines Lebens das Motorrad putzte oder Ausflüge mit seinen Neffen unternahm. Katjas Söhne, elf und neun, mit denen er Volksfeste oder Vergnügungsparks besuchte. Solcherlei Infos erhielt sie von Tom oder Katja, allerdings eher beiläufig, auch diejenige, dass Janus neuerdings donnerstags einen freien Nachmittag hatte. Dazu zwang ihn Tom, nachdem er vor ein paar Wochen den Partyservice-Transporter gegen die Leitplanke setzte, weil er am Steuer einschlief.

Da Leonie gerne nach dem Motto handelte, der frühe Vogel fängt den Wurm, war sie meist zwischen elf und zwölf Uhr wieder zuhause. Sie frühstückte und machte sich sofort an ihre Doktorarbeit. Sie ächzte an diesem Dienstag unbewusst. Im Grunde war dies nur das Sahnehäubchen auf ein langes und hartes Studium. Aber nach all den Plagiatskandalen, die durch die Presse geisterten, fragte sie sich oft, wozu sie sich eine Promotion aufhalste? Zu einem Arzt gehörte einfach der Doktortitel, aber im Grunde brachte sie diese Arbeit kaum weiter. Ein paar Mal im Monat fuhr sie nach Gießen in die Abteilung für Innere Medizin der Veterinärmedizinischen Fakultät, um Blutproben bei herzkranken Hunden zu ziehen. Eine langwierige Methode war das, um Ergebnisse zu erhalten, aber zumindest konnte sie das Labor mitbenutzen und eine ehemalige Kommilitonin informierte sie, wenn ein passender Patient stationär aufgenommen wurde. In diesem Tempo konnte es noch Jahre dauern und unbewusst reifte in ihr der Entschluss das ganze Unternehmen vielleicht doch abzublasen und endlich in die Praxis zu gehen. Angebote, vor allem im Großtierbereich, gab es zuhauf. Die Frauenquote im Studium der Veterinärmedizin stieg beständig aber das Interesse an Ställen sank gleichermaßen. Rinder und Schweine zu verarzten, war anscheinend unattraktiv bei femininen Tierärzten, während Leonie nichts anderes tun wollte. Sie liebte Kühe so sehr, wie andere Mädchen vielleicht Pferde liebten. War sie zuhause auf dem familiären Bauernhof, hoffte sie jedes Mal Geburtshilfe bei einer der achtzig Kühe ihres Vaters leisten zu können.

Leonie ertappte sich nun dabei, dass sie aufgestanden war und aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Haus starrte. Es muss sich etwas ändern, dachte sie, während eine Frau die Fassade mit dem Staubsauger reinigte. Sie grinste schief. Ihre Nachbarin hatte vielleicht Einfälle! Erst gestern säuberte sie, auf einer wackligen Leiter stehend, die oberen Rollläden von außen.

Zeit mit dem Hund hinaus zu gehen, beschloss Leonie nun und nahm Wendeline, Wendy, an die Leine. Die Bobtailhündin besaß den Namen schon, als sie überraschend und unerwartet in ihr Leben trat. Auf eigentümliche Weise. Sie arbeitete vor sechs Jahren als Praktikantin in einer Tierarztpraxis und es war nach neunzehn Uhr. Die Sprechstunde war vorbei, als eine Frau mit dem schönen großen Hund an der Leine eintrat, während Leonie noch aufräumte. „Mein Mann ist allergisch gegen Hunde“, erklärte sie, „das kam ganz plötzlich. Ich schenke Ihnen Wendeline. Machen Sie mit ihr, was Sie wollen! Von mir aus schläfern Sie sie ein. Wenn nicht, sie mag Nudeln sehr gerne.“ Dann war sie fort und die Studentin stand mit einer Lederleine in der Hand verdattert da, an dessen Ende ein hüfthoher Bobtail stand. Eine Plastiktüte hatte die Fremde noch abgestellt. In der befanden sich zwei Näpfe, eine Bürste und einen Impfausweis, worin die Adresse des Besitzers entfernt wurde. Wendeline von der Länge hieß das Rassetier und war zwei Jahre alt. Leonie verliebte sich Hals über Kopf in die weiße Wendy mit den grauen Flecken und umgekehrt, und sie verstanden sich auf Anhieb. Die Lederleine benutzte Leonie nur, wenn sie im Ort unterwegs waren, denn die Hündin gehorchte aufs Wort, aber manche Menschen sahen es lieber, wenn solch ein großes Tier angeleint war.

Als sie nun den wunderschönen, schmalen Weg am Main entlang spazierte, klingelte ihr Handy. Der Hund mit dem üppigen, zottigen Fell sauste gerade an das Ufer des Flusses, um an einer zugänglichen Stelle zu saufen. „Bendrick?“

„Vormann Janus.“ Das sagte er immer auf diese Art und Weise. Nie, Janus Vormann oder nur Janus. Leonie verdrehte die Augen.

„Was gibt’s?“

„Ich bin gerade bei einem verletzten Pferd. Es stürzte, steht jetzt zwar wieder, aber da stimmt etwas nicht. Der Besitzer will es schlachten lassen. Kann ich das tun?“

Leonies Blick folgte ihrer Hündin. „Das muss ich mir selbst ansehen. Ich komme.“

Vormann erklärte, wo er sich befand und sie nickte. „Kenne ich. Brauche etwa eine dreiviertel Stunde.“

Vier

Der Unfallort war nicht sehr weit von der Metzgerei Vormann entfernt, aber dennoch erklärte Leonie, dass man den Schimmel nicht mehr transportieren konnte. Er hatte sich offensichtlich schwer am rechten Vorderbein verletzt, im Fesselgelenkbereich. Er trat nicht mehr auf und die Tierärztin führte ein kurzes Gespräch mit dem Besitzer Götzmann. Ein etwa dreizehnjähriges Mädchen stand währenddessen schluchzend, aber unversehrt, abseits. Sie hatte den Schimmel geritten, er war gestürzt und kam schrill wiehernd wieder auf drei Beine.

Leonie kannte Götzmann. Er unterhielt ein großes Reitgehöft hier in der Nähe. Sie mochte ihn, aber er musste eiskalt kalkulieren. Dieses Pferd tierärztlich versorgen zu lassen, lohnte sich offenbar nicht für ihn. Zudem schien es etwas Kompliziertes zu sein, was Leonie bestätigte. Sie konnte nicht um jedes Pferd weinen, auch wenn sie es gerne getan hätte. Obwohl sie Pferde an sich als Patienten nicht in ihrer Funktion als Tierärztin leiden konnte, so mochte sie die Tiere doch sehr. Aber ihr fehlte das, was man Pferdeverstand nannte und hielt sich, wenn möglich, von ihnen fern. Sollten das doch die pferdeverrückten Weiber tun! Pferde behandeln.

Janus stand währenddessen daneben und lauschte dem Gespräch. Zumindest tat er so, aber Leonie bemerkte, dass er die Zeit an diesem wunderbar warmen Augusttag hier auf dem Waldweg genoss, anstatt in der Metzgerei zu stehen. Bäume spendeten angenehmen Schatten und die Luft schien weich wie Seide. Ein schöner Tag zum Sterben!

Wendy lag ruhig neben dem Touran, wie ihr Leonie befahl und hatte den Kopf zwischen die Vorderpfoten gelegt. Sie wirkte entspannt, aber ihr Blick folgte unentwegt dem Frauchen. Ein Geländewagen und Vormanns alter Kombi standen schräg in einer Schneise. Der Frau Doktor in spe gestattete man es mitten auf dem Weg zu parken, was Leonie auch ausnutzte.

„Okay, wie geht das nun vor sich?“, fragte Herr Götzmann, der Besitzer.

„Wir schießen hier, entbluten es und fahren dann so schnell wie möglich in die Schlachthalle. Es ist eine Notschlachtung nach einem Unfall. Wenn ich den Pferdepass habe, können wir loslegen“, erklärte Leonie, der schon vor dem Papierkrieg graute, den sie noch vor sich hatte. Die uferlose Bürokratie hatte längst auch den Bereich Fleischbeschau erfasst und sie tippte, dass ein Drittel ihrer Arbeitszeit dafür draufging. Sie hatte den Schimmel ordnungsgemäß untersucht und sich auch Notizen gemacht. Bis auf die Fraktur war das Tier kerngesund und das würde sie schriftlich bestätigen müssen. Dafür existierte ein spezielles Formblatt, genannt Anlage 8.

„Meine Frau ist mit dem Pass unterwegs“, meinte der drahtig wirkende, nicht allzu große Pferdebesitzer.

Leonie nickte und Janus murmelte, dass er in ein paar Minuten wieder zurück sei, zückte sein Handy und eilte schon telefonierend zu seinem undefinierbar grünbraunen Kombi. Irgendein ausländisches Modell war das, von dem sich sein Vater nicht trennen konnte. Innen waren die Sitze verschlissen und es roch als hätte es einst einen Wasserschaden erlitten. Leonie saß schon mehrmals auf dem Beifahrersitz, in den man so tief einsank, dass man kaum mehr ohne Hilfe wieder herauskam. Ivo Vormann war leidenschaftlicher Jäger und transportierte mit diesem Auto Frettchen und Raubvögel, tote Wildschweine, den Hund und eben alles, was der passionierte Jäger so brauchte.

Für Leonie kam nun die Zeit emotionale Gespräche zu führen. Nachdem geklärt war, dass dieses Pferd nun seine letzte Reise antrat, redete der Besitzer über Wirtschaftlichkeit und schwere Entscheidungen. Leonie nickte nur. Es war völlig legal das frisch verletzte Pferd zu schlachten und sie kannte inzwischen schon all die Rechtfertigungen, die nur Pferdebesitzer hervorbrachten. Man tötete nicht gerne etwas, das einen Namen trug!

Es tue ihm leid, aber…

Die Tierärztin sah sich nach dem Mädchen um, neben dem der Sattel auf dem Waldboden lag. Sie trug einen schwarzen Helm, eine Schutzweste und Handschuhe. Komplett und perfekt ausgestattet war sie, während Leonie früher in Gummistiefeln ritt, in Jeans und ohne Helm. Die Gäule der Nachbarn. Auch sie litt in der Pubertät unter dieser immensen Pferdeliebe, aber erhielt kein Geld von ihren Eltern für Reitstunden. Sie lernte das Reiten nie wirklich, aber sie begriff, dass Pferde schlichtweg nicht ihr Ding waren. Nie taten sie das, was sie wollte. Nix Pferdeflüsterer. Bleib bei den Kühen!

Wieder trafen zwei Fahrzeuge ein. Götzmanns Frau, etwas außer Atem, streckte ihr den roten Pferdepass entgegen. Eine andere, blonde Frau entstieg einem schwarzen VW Tuareg und eilte zu der jungen Reiterin. Die Mutter wahrscheinlich, die von dem Mädchen mit dem Handy verständigt wurde. Während Leonie den Pass studierte, verscheuchte Götzmann seine Frau und die Tuaregfahrerin mitsamt der Tochter, was ihm bei Letzteren nicht auf Anhieb gelang. Tränen flossen, Stimmen wurden laut. Leonie ignorierte sie und fuhr ihren Wagen jetzt doch zur Seite.

Die Frage war doch immer die, ob man so einem Tier einen Gefallen tat, indem man sein zerschmettertes Gelenk operierte. Wochenlang würde es behandelt werden, stehen müssen, ein Tier, das doch laufen, galoppieren wollte.

Der Schimmel starb. Noch während er nach Janus gekonntem Bruststich schnell ausblutete, hievte man den schweren Körper an den Hinterbeinen mittels Ketten mit einem Traktor nach oben. Der Kopf baumelte sanft hin und her. Neben dem Besitzer waren nur noch Janus, sein Vater und der Fremde auf dem Traktor anwesend. Ivo Vormann hielt noch das metallene Bolzenschussgerät in der Rechten. Er nahm es Janus rasch ab, als der Wallach getroffen fiel und der junge Metzger den Schnitt setzte. Das Pferd war mit einem gezielten Schuss ins Gehirn betäubt worden und spürte das Messer nicht. Dennoch war es immer wieder bewegend einem Tier beim unmittelbaren Sterben zuzusehen. Für Leonie würde es nie Gewohnheit werden. Es waren Sekunden, die sie innehalten ließen, Mitleid empfinden, aber auch Erleichterung, wenn es das Tier offensichtlich geschafft hatte und sich entspannte. Bitte, dachte sie gelegentlich, lass es nicht nur Einbildung sein, dass dieser Tod nicht schmerzhaft ist!

Der Traktor mit der Hebevorrichtung legte nun den Körper des Schimmels sanft auf den PKW-Anhänger und Janus löste die Ketten an den Hinterbeinen. Dann bedeckte er ihn mit einer Plane, die sein Vater rasch mit Karabinerhaken befestigte. Er selbst schloss die Plastikwanne voller Blut mit einem Deckel und lud sie ein. Der stille, idyllische Ort im Wald wurde beinahe unbefleckt wieder verlassen. Vormann hatte das Restblut, das nicht in der Wanne aufgefangen werden konnte, mit Sägemehl bedeckt.

Janus winkte kurz dem Bekannten dankend zu, der den Traktor zur Verfügung stellte und verschwand mit Vater, Auto und Anhänger. Auch der Traktor tuckerte davon und Götzmann nickte ihr zu, das Halfter in der Linken. Offensichtlich wollte niemand mehr etwas sagen.

Leonie nickte zurück, den Pferdepass noch in der Hand, die Kahlgründer Schweigsamkeit gewohnt. Sie sah Götzmann zu, wie er seinen Geländewagen wendete und sich auch entfernte.

Nun ließ sie Wendy noch ein bisschen herum schnüffeln und pinkeln und erst dann folgte sie allen anderen.

Fünf

Wäre Siggi Hemberger nicht verheiratet und neunundsechzig Jahre alt, sondern wesentlich jünger und ledig, hätte sich Leonie ein Leben mit ihm vorstellen können. Dieser Gedanke schoss ihr vor einem Jahr plötzlich durch den Kopf. Der braungebrannte, knorrige Schäfer und sie pflegten eine Art von Beziehung, die man beinahe als intim bezeichnen konnte. Sie redeten manches Mal über sehr private Dinge, berührten sich, wenn auch nur zaghaft. Ein Streicheln über den Oberarm oder ein Klopfen auf die Schulter. Es war kein Vater-Tochter Verhältnis oder gar die eines Großvaters zu seiner Enkelin. Es waren zwei erwachsene Menschen, die gut miteinander auskamen. Seelenverwandte, denen der Altersunterschied nichts anhaben konnte.

So war es für Leonie an diesem Wochenende Ehrensache am jährlich stattfindenden Hoffest der Hembergers teilzunehmen. Sie stellte sich auch gerne für ein paar Stunden in die Küche, um Kaffeegeschirr zu spülen, da die Maschine diese Mengen alleine nicht bewältigte. Draußen herrschten hochsommerliche Temperaturen und da das Spülbecken an einem offenen Fenster stand, konnte Leonie das Treiben nebenbei beobachten. Diejenigen, die abtrocknen halfen, wechselten sich ab. Mal war es Siggis Enkelin, dann wieder seine Tochter und ab und zu erschien er selbst und sie plauderten, während Leonie frisches Wasser ins Becken einlaufen ließ oder die Spülmaschine neu bestückte.

Die Schäferfamilie lebte ein, in der heutigen Zeit, eher ungewöhnliches Leben. Vier Generationen waren unter einem Dach vereint. Die bettlägerige Neunzigjährige, deren Tochter Martha und ihr Mann Siggi, der Sohn Alex mit seiner Frau Sabine und deren fast erwachsene Kinder. Für den Kahlgrund war das vielleicht alltäglich, aber Leonie empfand solch ein Dasein als bewundernswert. Vielleicht sogar erstrebenswert. Natürlich kannte sie auch die Kehrseite der Medaille, wenn so viele blutsverwandte Menschen eng aufeinander hockten und auch noch zusammen arbeiteten. Aber die Hembergers zeigten dies nie nach außen, wenn auch Konflikte bestanden, wie ihr Siggi mehrmals schon gestand.

„Was gibt es denn da draußen zu sehen?“, fragte der alte Schäfer nun und nahm ein angebissenes Stück Kuchen von einem Teller. Er gehörte noch der Generation Nachkriegszeit an und vertilgte das übrig gebliebene Stück eher, als dass er es fortwarf.

„Hm?“

„Du siehst öfter aus dem Fenster, als auf deine Arbeit“, meinte er kauend. Siggi war etwas größer als sie und sicher war er früher noch größer gewesen. Aber das Alter stauchte ihn zusammen, so dass er etwas gekrümmt im Rücken wirkte. Wie immer trug er einen Hut. Auch in der Küche.

Sie wandte ihm erschrocken ihr plötzlich gerötetes Gesicht zu und er runzelte die Stirn. Dann sah er durchs Fenster. Ein Partyservice-Transporter mit einem leidlich ausgebesserten rechten Kotflügel, fuhr in Schrittgeschwindigkeit über den Hof. Die Gäste machten ihm nur schwerfällig Platz.

„Sieh an, der Vormann“, grinste Siggi. „Ivos Jüngster!“ Dann lachte er. „Guter Mann, Mädchen!“

Nun wurde sie knallrot und senkte den Kopf, starrte gebannt auf das Spülwasser.

„Aber schon vergeben!“, sagte jemand gnadenlos.

Hemberger, der den letzten Bissen Kuchen herunter schluckte, und Leonie fuhren herum. Sabine Hemberger stand hinter ihnen, die blonde, hübsche Frau von Siggis Sohn Alex. „Ja, der Janus war gestern schon hier, um alles für heute aufzubauen, da war eine junge Frau mit dabei. Jessika glaube ich, ist ihr Name. Sie bedient heute bei der Essensausgabe.“

Leonie atmete tief durch. Auch das war eine Kahlgründer Spezialität. Jemandem direkt den Dolch ins Herz zu rammen. Von vorne, nicht in den Rücken! Bruststich!

Sie bemerkte nicht, dass Siggi sich nach einem kurzen tröstenden Tätscheln auf ihren Rücken verzog. Dazu murmelte er das Wort: „Weiter.“ Auch Sabine eilte wieder davon.

Jessika, die Janus eine Mailadresse aufschrieb. Leonie hatte natürlich diese Adresse eingegeben und landete so auf einer Seite, worin Adoptivkinder ihre biologischen Eltern suchten. Sie las nur ein paar dieser Suchmeldungen. Kinder, inzwischen erwachsen, die nur Bruchstücke ihrer Herkunft kannten, manchmal kaum ihr Geburtsdatum. Sie suchten nach Mutter oder Vater, auch Geschwister, sofern denn ein Name bekannt war. Am meisten schockierte sie die Nachricht eines Mannes namens Christoph. Ausgesetzt 1971! Herrgott, ausgesetzt!

Leonie konnte sich keinen Reim darauf machen und vergaß die ganze Sache wieder. Sie gab Janus den Zettel zurück und bisher sprachen sie kaum miteinander. Kein Wort über ihre kleine Unterhaltung per Computer vom Montag. Man ging nur geschäftlich miteinander um und blieb wortkarg.

Leonie war erstaunt wie viele bekannte Gesichter sie an diesem Abend sah. Wohlwollend wurde sie von Leuten begrüßt, mit denen sie beruflich zu tun hatte. In den kalten Monaten wurden in dieser Gegend noch viele Hausschlachtungen durchgeführt. Manch einer besaß zu diesem Zweck noch ein paar Schweine, Schafe, Ziegen oder auch Rinder und nach der Schlachtung musste Leonie anrücken. Die Lebendbeschau bei Hausschlachtungen war im Zuge der EU-Reformen abgeschafft worden, was sie sehr bedauerte. Sie begutachtete die Tiere gerne lebend, um ihren Gesundheitszustand wirklich beurteilen zu können und eventuell die Körpertemperatur noch messen zu können. Die neuen EU-Bestimmungen sahen das anders und hoben die Pflicht zur Lebendbeschau auf. Nun beurteilte der Besitzer sein Tier selbst und Leonie kam des Öfteren dahinter, dass es sich um Krankschlachtungen handelte, die eigentlich verboten waren. Aber was soll’s, dachte sie dann grimmig, der Besitzer musste das Fleisch ja selbst essen.

Wegen der Hausschlachtungen war sie nun vielen Leuten bekannt und lernte an diesem Abend noch mehr kennen. Das war aber nicht unbedingt ihr Verdienst, sondern der Annikas, ihre Nachbarin. Die beiden Singleweibchen, die in Karlstein Tür an Tür wohnten, hatten sich hier für den Abend verabredet. Annika war Erzieherin im Kindergarten von Mömbris und sehr kommunikativ. Dazu war sie vollschlank und trug ihre blonden Haare in wilden langen Locken. Ihr Lachen war ansteckend und Leonie fand es zudem optimal, dass Annika Alkohol verabscheute und sie mitsamt Wendy nachher nach Hause fahren konnte.

Leonie verbarg ihren Liebeskummer und lächelte viel, auch trank sie nicht wenig trockenen Rotwein. Alex Hemberger hatte extra ein paar Flaschen für sie beschafft, denn hier tranken die Leute hauptsächlich Bier. Nun, ein paar Flaschen schaffte sie nicht alleine, wobei sie es wenigstens versuchen konnte, dachte sie grimmig. Sie fühlte sich bald wohl und geborgen. Die Nacht war längst hereingebrochen und es blieb erstaunlich warm. Man saß draußen im großen Hof, der von den verschiedenen Wirtschaftsgebäuden eingerahmt wurde, auf schlichten Biergarnituren. Orangebraune einfache Klapptische und ebensolche langen Bänke. Die Sonnenschirme waren längst zugeklappt worden. Kerzen flackerten in schönen Gestecken auf den Tischen. Witze und Anekdoten wurden erzählt, auch ein wenig geflirtet, hauptsächlich mit Annika, die es sehr genoss.

Leonie war nicht die Hässlichste, aber alle wussten, wer sie war und mit der Frau Doktor flirtete man einfach nicht. Frau Doktor in spe selber hätte nichts dagegen gehabt, aber sie forcierte es nicht. Immerhin wusste sie, dass Janus drüben in der Scheune am Buffet arbeitete und wenn es auch diese mysteriöse Jessika gab, so konnte sie ihre Sehnsucht nach ihm nicht plötzlich abstellen.

Da tauchte er kurz nach Mitternacht auf. Nachdem er zuvor hauptsächlich in weiß gekleidet war, schien er sich umgezogen zu haben. Er trug ein kurzärmliges Hemd, knielange Cargohosen und seine nackten Füße steckten in schwarzen Flip-Flops. Er hielt eine Bierflasche in der Hand, die schon fast leer war.

Inzwischen war es ruhiger geworden und die Gastgeber, die komplette Schäferei Hemberger, konnten sich endlich zu den Gästen setzen. Es gab ein großes Hallo, als Janus erschien, zusammen mit seinem Vater Ivo, dessen Frau Bettina, Tom und seine hübsche Freundin Paula.

Alle wirkten erschöpft, aber zufrieden. Der gemütliche Teil des Abends konnte beginnen. Tom war richtiggehend aufgedreht und sie stießen alle miteinander an. Als Janus mit Leonie anstieß, brachte sie kaum ein Lächeln über die Lippen. Hinter ihm erschien nämlich eine fremde, unglaublich attraktive Frau und er stellte sie allen als Jessika vor.

Siggi Hemberger rief sie zu sich, bot ihr einen Platz an und begann sie auszufragen. Leonie hörte nicht zu, denn Janus quetschte sich zwischen Annika und sie auf die Bierbank, wandte sich aber der Freundin zu. Er vergaß nicht, auch Wendy zu begrüßen, die unter dem Tisch lag.

Leonie schwieg und briet im eigenen Saft. Wenn sie diese Jessika aus den Augenwinkeln betrachtete, dann wunderte sie gar nichts mehr. Eine absolute Schönheit! Schlank, groß, blond, ein toller frecher Haarschnitt und ein kehliges Lachen. Purer Sex! Blendend weiße Zähne, gepflegte Fingernägel, mattweiß lackiert und zudem auch noch nett, wie es schien. Siggi jedenfalls amüsierte sich rasch mit ihr, der alte Gockel, dachte Leonie missmutig und ja, eifersüchtig!

Sie starrte in ihr Weinglas, wusste, dass sie schon etwas zuviel getrunken hatte, daher stand sie auf, um etwas Essbares zu suchen. Sie war der Meinung, dass man zuviel Flüssigkeit mit Brot ein wenig aufsaugen konnte und danach noch mehr vertrug. Also wankte sie zu dem Buffet in der Scheune, das ordentlich mit den Resten des Tages zurechtgemacht war. Dort fand sie auch Baguettescheiben und nahm sich zwei. Die aß sie auf, während sie die anderen Reste begutachtete. Diverse Salate gab es noch, eine gemischte Käseplatte, Wurstaufschnitt und nebenan Bleche voll mit Kuchen. Die Torten und das warme Essen waren abgetragen worden und niemand kassierte mehr. Eine Sparbüchse stand da, wo man einen Obolus freiwillig leisten konnte.

Alex Hemberger aber erklärte, dass sie, wie alle anderen Helfer auch, alles umsonst haben konnte. Trotzdem warf sie wahllos ein paar Münzen hinein. Leonie wollte nichts umsonst!

„Wie hat dir das Lamm geschmeckt?“

Janus!

Wie aus dem Boden gestampft, stand er plötzlich da.

„Gut!“, keuchte sie erschrocken.

„Willst du noch was trinken?“ Er zeigte auf ihr leeres Weinglas, das sie in den Händen hielt.

„Ja, gerne.“

Er präsentierte eine halbvolle Flasche. „Dachte ich mir.“ Großzügig schenkte er ein und stellte sie auf dem Buffettisch ab. Er selbst hatte eine geöffnete Bierflasche bei sich. Dieses Mal war sie wieder gefüllt. Er prostete ihr wortlos zu, indem er die Flasche anhob und trank dann einen großen Schluck. Leonie nippte nur. Dann stellte er sich neben sie, beide hockten ein wenig auf dem Rand des Tisches und starrten geradeaus. Essen und Getränke wurden in der Scheune verkauft, die sonst allerlei Gerät beherbergte. Leonie war überrascht, wie liebevoll die Hembergers alles umgestalteten. Man wähnte sich in einer exklusiveren Umgebung.

„Das war vielleicht ein Ding mit dem Schimmel“, begann Janus jetzt.

„Passiert aber glücklicherweise selten.“

Nun nickte er. „Gab ziemlichen Tratsch im Dorf.“

Ja, sie selbst wurde schon vorhin darauf angesprochen. Vormann habe in der Nassecke, einem Gebiet im Dörnsteinbacher Wald, einen Gaul abgestochen. Leonie verteidigte Janus. Zum einen war es eine Notschlachtung und von ihr genehmigt und zum anderen hatte der Metzger den Schimmel betäubt und ordnungsgemäß entblutet. „Ja, ich hörte davon.“

Nun nickte er, machte aber keine Anstalten nachzuhaken. Was hatte sie denn erwartet?

„Was macht Annika beruflich?“, war dann seine nächste Frage, schweigende fünf Minuten später.

„Erzieherin im Kindergarten. In Mömbris, also gleich bei dir um die Ecke.“

„Aha. Sie ist nett.“

Oh, mein Gott, dachte Leonie wütend, hau endlich ab zu deiner Jessika! „Ja, das ist sie und sie ist noch zu haben“, antwortete sie stattdessen.

Er sah sie von der Seite an. Ihr langes, rotblondes Haar hatte sich teilweise aus dem Zopf gelöst und so konnte er ihren Gesichtsausdruck nicht sehen. Zudem war sie kleiner und hielt den Kopf gesenkt. „Willst du mich verkuppeln?“

„Ist ja wohl nicht mehr nötig, oder?“, entgegnete Leonie ungewollt scharf.

Bevor Janus darauf erwidern konnte, hörten sie Schritte auf dem harten Betonboden, sahen auf und der Metzger stellte sich aufrechter hin und wirkte plötzlich angespannt. Leonies überraschter Blick irrte vom jungen Vormann zu einem Mann, der auf sie zu kam. Offensichtlich auch nicht mehr ganz nüchtern.

„Da ist er ja!“, rief der Mittvierziger. Im Kahlgrund, so erschien es Leonie des Öfteren, gab es viele sehr große Männer, wozu der Fremde zählte. Andererseits waren viele Leute nur etwa eins siebzig, so wie sie selbst und viele Frauen noch kleiner als sie. Vermutlich war das nichts Bemerkenswertes, aber Leonie registrierte es eben. Groß oder klein, dazwischen gab es offensichtlich nicht viel.

„Der Vormann!“ Der Betrunkene schnaubte verächtlich, „amüsiert sich schon wieder mit den Weibern, während mein Tobi im Grab vermodert!“

„Herr Jordan“, beschwichtigte Janus ihn leise. Es klang bittend. Währenddessen stellte er die Bierflasche auf den Tisch, ohne jedoch den Mann aus den Augen zu lassen. Der kam mit lässigen Schritten näher. „Er war so ein guter, fleißiger Junge. Warum zum Teufel ist das passiert?“ Jordans Stimme schwoll an und er verfiel nun in eine körperliche Angespanntheit. „Er hat niemandem etwas getan! Nie! Sag mir, was war da los? Wer hat ihn abgestochen! In deinem Schlachthaus, Vormann! Wo warst du an diesem Morgen?“

„Das habe ich Ihnen alles schon gesagt.“

„Weißt du, was ich denke?“ Er kam bedrohlich näher.

„Nein, das weiß ich nicht.“ Janus hob ein wenig das Kinn, als wollte er seine Größe noch betonen.

„Du hast etwas damit zu tun! Man hört da ja diverse Gerüchte. Du wärst gar nicht Ivos Sohn! Vielleicht ist dein wirklicher Erzeuger ein Krimineller und wie sagt man noch? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!“

„Es reicht jetzt, Marco!“, forderte der Schäfer und Hausherr Alex Hemberger nun laut hinter Jordan. Tom und Ivo Vormann eilten mit anderen herbei, mischten sich aber nicht ein.

Leonie atmete flacher und rührte sich nicht. Nur ihr Glas Wein hatte sie ebenfalls abgestellt. Sie traute ihren Ohren kaum.

Jordan lachte, wie es Besoffene tun. Hohe Tonlage, ein bisschen glucksend. „Sieh dich nur an!“, rief er unbeirrt „Du könntest glatt als Ausländer durchgehen! Der Sohn einer Hure!“

Janus erbleichte, ja erstarrte förmlich.

„Marco!“, brüllte jetzt der ebenfalls knappe eins neunzig Meter große Hemberger und packte ihn am Arm. Aber der riss sich los und verpasste Janus einen Faustschlag, der es in sich hatte. Jordan schien nicht halb so betrunken zu sein, wie er wirkte. Janus katapultierte es gegen den Tisch und er stürzte rücklings zwischen die Käse- und Wurstplatten. Glas splitterte. Leonie schrie und der Spuk hatte rasch ein Ende. Tom und ein anderer Mann eilten Alex zu Hilfe und Marco wurde weggeschleppt. Aber sie rechneten nicht mit Ivo Vormann, der alles hörte. Er baute sich vor dem widerstandslosen Jordan auf, dem bedauernswerten Vater von Tobias, ohne Zweifel.

„Marco, ich sage es nur einmal! Janus ist mein Sohn und wenn du etwas anderes behauptest, bin ich es, der das nächste Mal zuschlägt! Die Trauer um deinen toten Jungen rechtfertigt nicht solche schäbigen Unterstellungen! Hast du mich verstanden?“ Ivo Vormanns Stimme vibrierte vor Wut, während Marco aufschluchzte. „Er ist schuld, er ganz allein! Warum hat er Tobi alleine gelassen?“

„Janus konnte nichts dafür. Tobias kam oft viel früher, um noch einen Kaffee vor der Arbeit zu trinken. Er besaß die Schlüssel zu allen Räumen. Aber lassen wir das, man hat es dir schon unzählige Male erklärt. Du hast zuviel getrunken und Tom bringt dich jetzt nach Hause“, sagte Ivo versöhnlicher und wieder Herr seiner Gefühle. Er hätte mitweinen können, so sehr berührten ihn die Tränen des Vaters. Zusätzlich stieß ihm jedes Wort, das Marco gegen seinen Sohn ausspie, Dolche ins Herz. Er liebte seine vier Kinder und niemand beleidigte sie.

Die leichte, friedvolle Stimmung aller war zerstört. Leonie wurde von Annika gefragt, ob alles in Ordnung wäre und sie entgegnete nur, dass sie jetzt ins Bett wollte. Nachdem sie nach Wendy pfiff, drehte sie sich noch einmal um. Jessika war inzwischen bei Janus angelangt und strich ihm sanft mit dem Handrücken über die linke Gesichtshälfte, die Marco getroffen hatte. Mehr musste sie nicht mehr sehen.

Sechs

Die Herstellung tierischer Lebensmittel war ein hartes Geschäft und für eine junge Frau war es nicht immer einfach, sich gegenüber gestandenen erwachsenen Männern durchzusetzen. Neben der Tätigkeit als Fleischbeschauerin, kontrollierte Leonie Bendrick auch die hygienischen Zustände in diversen Betrieben. Ihre eigenen Läden, wie sie es nannte, die sie aufgrund wöchentlicher Schlachtungen ständig aufsuchte, hielt sie so stets in Schach. Sie forderte die Inhaber regelmäßig auf, Dinge abzustellen, die ihr missfielen. Immer wieder musste sie zu mehr Sauberkeit auffordern oder nicht funktionierende Waschbecken bemängeln, Tierschutzregelungen bekräftigen oder auch Standpauken halten. Sie berücksichtigte dabei stets, dass die Metzger rund um die Uhr schufteten, immer weniger verdienten und einfach manchmal keine Lust mehr hatten, abends noch klinisch rein zu putzen. Für all das hatte sie Verständnis, aber sie konnte hart sein, wenn ihr etwas wirklich gegen den Strich ging. Es lag in ihrer Verantwortung, dass diese Lebensmittel produzierenden Betriebe ihre Kunden mit einwandfreier Ware versorgten. Über ihr schwebte das Damoklesschwert des Veterinäramtes Aschaffenburg, das wiederum sie kontrollierte. So stand sie zwischen dem Lebensmittelhersteller und der Behörde und versuchte diesen Drahtseilakt nach bestem Wissen und Gewissen zu meistern.

Manchmal jedoch fühlte sie sich ziemlich einsam. Sie fuhr mit ihrem Touran und Wendy von Ort zu Ort, traf nicht selten auf massive Probleme und berechtigte Existenzängste und wenn sie nach Hause kam, war sie alleine. Annika, ihre blondgelockte Nachbarin, war zwar zu einer guten Freundin geworden, aber natürlich kein Ersatz für einen Partner. Die Erzieherin stammte hier aus dem Ort und kannte Gott und die Welt. Sie zog abends oft mit langjährigen Freundinnen um die Häuser und manchmal sah Leonie sie die ganze Woche nicht. Ein Stück weit lag es an der Tierärztin selbst, da sie sich meist verkroch und passiv blieb. Sie war nie Diejenige gewesen, die mit einem Lampenschirm auf dem Kopf auf einem Tisch tanzte. Sie fand schwer Zugang zu dem, was man Freundschaft nannte. Vielleicht verlangte sie auch zuviel?

Wenigstens war die Trauer um ihre lange Beziehung mit Mark vorbei und sie freute sich über die kribbelnden Gefühle, die Janus in ihr auslöste.

Okay, dachte sie, ich bin wieder im Rennen!

Mark schien überwunden und sie registrierte andere Männer. Nun, Janus zu registrieren war leicht, umso mehr erschütterte sie nun das Verlustgefühl. War das alles schon so tief gegangen, dass sie beinahe geschockt Jessikas Anspruch auf Janus zur Kenntnis nahm? Es hatte nie etwas bemerkenswert Privates zwischen Leonie und dem jüngsten Vormann gegeben und doch verfluchte sie jetzt eine fremde Frau, die es vielleicht schon lange in seinem Leben gab.

Sie hielt inne, als sie am Montag früh in Dörnsteinbach aus dem Auto stieg. Hatte Tom nicht vor einer Woche erst ganz etwas anderes gesagt? War es nicht so? Wo, verflixt noch mal, kam diese Jessika plötzlich her?

Sieben

Montagmorgen, halb sieben im sommerlichen Kahlgrund.

Leonie hatte schon diverse Lebendbeschauen hinter sich und nun stand sie auf dem Parkplatz der Vormann Metzgerei. Tief atmete sie durch und nahm ihre Siebensachen aus dem Kofferraum. Wendy hob nicht einmal den Kopf. Sie kannte die Tour. Nach diesem Stopp gönnte ihr Frauchen eine Viertelstunde zum Austoben, bevor sie zum nächsten Termin fuhren. Zudem stand Leonie um fünf Uhr auf, damit die Hündin noch einen kurzen Spaziergang erhielt, bevor es losging.

Leonie zog sich im kleinen Personalraum um, registrierte Stirn runzelnd ein Spinnennetz oben in der linken Ecke und nahm sich vor, deshalb zu meckern. Dann ging sie durch die sogenannte Hygieneschleuse, wo sie ihre Stiefelsohlen säubern konnte und sich danach die Hände am Waschbecken wusch. Erst jetzt trat sie durch eine primitive Schwingtüre, bog links um die Ecke und erreichte bald den Schlachtraum. Zwölf Schweine hatten heute daran glauben müssen und Ivo Vormann nahm gerade das Letzte noch aus. Man grüßte sich kurz und jeder arbeitete stumm, während Werner den Hochdruckreiniger anschmiss. Kein Wort wegen Marco Jordans Szene auf dem Hoffest.

Als Leonie mit der Fleischbeschau fertig war, nahm sie den üblichen Weg in den Produktionsraum, wo die Tiere später zerlegt wurden. Ein schmaler Gang führte sie dorthin und sie traf Janus wie immer in der Hektik eines Montags an. Die Tierärztin blieb kurz stehen. Ausländer, Hurensohn, schoss es ihr durch den Kopf. Jordan pfiff auf political correctness. Ausländer gleich kriminell! Primitiver ging es nicht!

Aber Janus Vormann sah doch nicht fremdländisch aus. Wie sah er denn aus, außer, dass er attraktiv war? Groß, schlank, muskulös. Im Sommer wie Winter kleidete er sich in weiße T-Shirts und präsentierte beeindruckende Oberarme. Er trug das dunkle Haar kurz im Nacken, während es oben auf dem Kopf etwas länger war. Das Stirnhaar stand meist frech nach oben, so wie es momentan Mode war. Katja, seine Schwester, war auch seine Friseurin. Sie nahm sich ihre Brüder monatlich vor, wie sie es nannte. Jetzt aber trug er eine weiße Baseballkappe.

Katja und Tom waren zugegebenermaßen beide etwas stämmiger, aber hübsch auf ihre Art. Tom war fast so groß wie Janus und Katja erreichte wie sie selbst, die eins siebzig. Sie hatte immer rote Backen, die leicht glänzten und auch sie lächelte viel. Vermutlich war es ein einstudiertes geschäftliches Lächeln von Kindern, die in einem Laden groß wurden, wo der Kunde noch König war. Vielleicht war es gar nicht echt, sondern wurde automatisch angeknipst.

Leonie verwarf den Gedanken. Diesen Leuten konnte man nichts vorwerfen. Sie waren herzlich und fleißig. Katja und Tom waren im Gegensatz zu Janus sehr gesprächig, wenn auch nicht viel Persönliches gesprochen wurde. Eher zufällig erfuhr Leonie, dass Katja seit einem halben Jahr geschieden war.

Ihr Blick hing immer noch an Janus!

Ja, er sah schon anders als seine Geschwister aus, war auch eher der ruhige Typ, aber diese Eigenschaften konnte er ja auch von der Mutter geerbt haben. Oder vom Großvater, einer Tante, eines anderen Vorfahren. Ein Gerücht, behauptete Marco Jordan.

Nie im Leben hätte Leonie angezweifelt, dass Janus nicht Toms und Katjas Bruder war. Wieso auch? Leonies eigene Geschwister sahen sich auch nur bedingt ähnlich. Ja, sie selbst ähnelte ihrem jüngsten Bruder Lukas, aber ihrer ältesten Schwester Loni überhaupt nicht. Die wiederum ähnelte ihrem anderen Bruder. Lars. Ja, die L-Familie! Manchmal kotzte dies Leonie an. Laurenz hieß ihr Vater und Luzia, ihre Mutter. Sei es drum. Einen Tick konnte man den besten Eltern der Welt verzeihen!

„Draußen steht der Schelling mit sieben Ziegenlämmern. Guckst du mal!“, rief plötzlich Janus und sie erschrak. Wie lange stand sie schon hier und glotzte ihn unbewusst an, um heraus zu finden, ob es stimmen mochte? Kein echter Vormann!

„Schläfst du noch? Leonie!“

Ihr Blick wurde wieder klar und er wandte sich rasch ab. Aber sie hatte den blauen Fleck auf seiner linken Wange gesehen. Oh mein Gott, jetzt sah er auch noch mitleiderregend verletzlich aus!

Sie setzte sich nun doch in Gang und eilte durch den großen Raum, in dem Arbeitstische, wuchtige Maschinen und der Brühkessel standen. Sie stieß die Fliegengittertüre auf und trat hinaus auf den Hof. Ein blauer Kombi stand dort neben dem weißen Metzgereigefährt geparkt und im Kofferraum standen sieben kleine, schwarz-braune Ziegen. „Morgen, Herr Schilling“, begann sie, „Sie wissen aber schon, dass man so keine Ziegen transportiert!“

Der kleine Mann, der sie immer an Herbert Feuerstein erinnerte, diesen älteren Komiker mit dem Krankenkassengestell, stob auf sie zu. Ein paar Sekunden lang wusste sie nicht wie ihr geschah. Ja, es war Montagmorgen, es war früh und sie wagte es einen mindestens Sechzigjährigen zu kritisieren, der schon vierzig Jahre lang Ziegen transportierte und noch nie deswegen…

Blablabla, dachte Leonie kühl und ließ seine beinahe Hass erfüllte Tirade über sich ergehen. „Dann zeigen Sie mich doch deswegen an!“, endete er brüllend.

„Das hatte ich nicht vor, ich wollte Sie nur freundlich darauf hinweisen.“

„Sie schikanieren mich, seit sie die Fleischbeschau übernommen haben und ich lasse mir das nicht mehr gefallen! Jeden verdammten Köter kann man so transportieren!“