Abhängigkeit - Tove Ditlevsen - E-Book
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Тове Дитлевсен

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Beschreibung

„Von atemberaubender Intensität und Schönheit. Aus dem Staub ihres Lebens leuchtet dieses Werk.“ Elke Heidenreich, Spiegel Online.

In „Abhängigkeit“ schreibt Tove Ditlevsen offen und absolut gegenwärtig über ihr Leben als Frau, Schriftstellerin und Mutter, über Liebe, Freundschaft und die Verlockungen der Sucht. Die Geschichte einer Befreiung, und das eindringliche Porträt einer Frau – verletzlich, souverän, eigenständig.

„Unmittelbar und ergreifend.“ The Guardian.

„Hart und zärtlich, von grandioser Schönheit.“ The Spectator.

„Das Porträt einer Frau, die ihr Leben entschieden zu ihrem eigenen macht. Ein Leben, so frei und ungestüm, ich bin versunken in Tove Ditlevsens Büchern.“ Nina Hoss.

„Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie, so viel steht jetzt schon fest, ist eines der großen literarischen Ereignisse des Jahres." Süddeutsche Zeitung.

„Drei schmale Bände, eine monumentale Autorin.“ Patti Smith.

„Großartig, von hypnotischer Qualität." The New York Times.

„Was Autorinnen wie Annie Ernaux, Rachel Cusk und Deborah Levy heute tun, hat Tove Ditlevsen schon vor über 50 Jahren getan. Autobiographisches Schreiben, vor dem man sich verneigen möchte. Endlich, endlich ist Ditlevsens Trilogie auf Deutsch zu lesen!” Emilia von Senger, She said.


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Seitenzahl: 228

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Über das Buch

In »Abhängigkeit« schreibt Tove Ditlevsen offen und absolut gegenwärtig über ihr Leben als Frau, Schriftstellerin und Mutter, über Liebe, Freundschaft und die Verlockungen der Sucht. Die Geschichte einer Befreiung, und das eindringliche Porträt einer Frau – verletzlich, souverän, eigenständig.

»Unmittelbar und ergreifend.« The Guardian.

»Hart und zärtlich, von grandioser Schönheit.« The Spectator.

»Das Porträt einer Frau, die ihr Leben entschieden zu ihrem eigenen macht. Ein Leben, so frei und ungestüm, ich bin versunken in Tove Ditlevsens Büchern.« Nina Hoss.

»Drei schmale Bände, eine monumentale Autorin.« Patti Smith.

Über Tove Ditlevsen

Tove Ditlevsen (1917–1976), geboren in Kopenhagen, galt lange Zeit als Schriftstellerin, die nicht in die literarischen Kreise ihrer Zeit passte. Sie stammte aus der Arbeiterklasse und schrieb offen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Heute gilt sie als eine der großen literarischen Stimmen Dänemarks und Vorläuferin von Autorinnen wie Annie Ernaux und Rachel Cusk. Die »Kopenhagen-Trilogie« mit den drei Bänden »Kindheit«, »Jugend« und »Abhängigkeit« ist ihr zentrales Werk, in dem sie das Porträt einer Frau schafft, die entschieden darauf besteht, ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu leben. Die »Kopenhagen-Trilogie« wird derzeit in sechzehn Sprachen übersetzt.

Ursel Allenstein, 1978 geboren, studierte Skandinavistik und Germanistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen von u.a. Christina Hesselholdt, Sara Stridsberg und Johan Harstad. Für ihre Übersetzungen wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung.

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Tove Ditlevsen

Abhängigkeit

Dritter Teilder Kopenhagen-Trilogie

Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Erster Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Zweiter Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Impressum

Erster Teil

Eins

Alles im Wohnzimmer ist grün, die Wände, die Teppiche, die Gardine, und ich befinde mich immer darin, wie in einem Bild. Jeden Morgen wache ich gegen fünf Uhr auf und beginne auf der Bettkante sitzend zu schreiben, während ich frierend die Zehen anziehe, denn da wir Mitte Mai haben, wurde die Heizung schon ausgestellt. Ich schlafe allein im Wohnzimmer, weil Viggo F. so lange allein war, dass er sich nicht daran gewöhnen kann, plötzlich mit einem anderen Menschen im Bett zu liegen. Das kann ich verstehen, und es passt mir gut, weil ich diese frühen Morgenstunden so ganz für mich allein habe. Ich schreibe an meinem ersten Roman, aber Viggo F. weiß nichts davon. Ich habe das Gefühl, wenn er es wüsste, würde er darin herumkorrigieren und mir Ratschläge erteilen, wie er es auch bei den anderen jungen Menschen tut, die in Wilder Weizen schreiben, und das würde die Sätze bremsen, die mir den ganzen Tag im Kopf herumschwirren. Ich schreibe mit der Hand auf gelbem Konzeptpapier, denn wenn ich auf seiner lärmenden Schreibmaschine tippe, die so alt ist, dass sie im Nationalmuseum stehen könnte, wird er davon wach. Er schläft in dem Zimmer, das auf den Hof hinausgeht, und ich darf ihn erst um acht wecken. Dann steht er auf in seinem weißen Nachthemd mit rotem Saum und schlurft mit verdrießlichem Gesicht ins Badezimmer. Derweil koche ich uns Kaffee und schmiere uns vier Scheiben Weißbrot, seine beiden mit extra viel Butter, weil er alles liebt, was fett ist. Ich tue, was ich kann, um ihm zu behagen, weil ich ihm immer noch dankbar bin, dass er mich geheiratet hat. Trotzdem ist irgendetwas im Argen, aber ich vermeide es sorgfältig, näher darüber nachzudenken. Viggo F. hat mich aus unerfindlichen Gründen noch nie in die Arme genommen, und das plagt mich ein wenig, ungefähr so, wie ein Stein im Schuh. Es plagt mich, weil ich glaube, dass etwas mit mir nicht stimmt und ich auf irgendeine Weise doch nicht seinen Erwartungen entspreche. Wenn wir einander gegenübersitzen und Kaffee trinken, liest er Zeitung, und ich darf ihn nicht ansprechen. Währenddessen fällt meine Stimmung wie der Sand in einem Stundenglas, ich weiß nicht, warum. Ich starre auf sein Doppelkinn, das über den Eckkragen quillt und immer leicht vibriert. Ich starre auf seine kleinen, schmächtigen Hände, die sich nervös und ruckhaft bewegen; auf seine kräftigen grauen Haare, die einer Perücke gleichen, weil dieses rotwangige, faltenfreie Gesicht besser zu einem Glatzkopf passen würde. Wenn wir dann endlich miteinander sprechen, geht es um nebensächliche Dinge, was er zu Mittag essen möchte oder was wir gegen den Spalt in der Verdunkelungsgardine unternehmen könnten. Ich bin froh, wenn er etwas Aufmunterndes in der Zeitung findet, wie beispielsweise die Nachricht, dass man wieder Alkohol kaufen kann, nachdem es die Besatzungsmacht eine Woche lang verboten hatte. Ich bin jedes Mal froh, wenn er mich mit seinem letzten Zahn anlächelt, mir die Hand tätschelt, sich verabschiedet und geht. Ein Gebiss lehnt er mit der Begründung ab, dass alle Männer in seiner Familie mit 56 Jahren gestorben sind, und das sei schon in drei Jahren, wozu also diese Geldverschwendung? Es lässt sich nicht verleugnen, dass er geizig ist und es mit der von meiner Mutter so gepriesenen Versorgung nicht weit her ist. Er hat mir noch nie etwas zum Anziehen gekauft, und wenn wir abends ausgehen, um irgendeine Berühmtheit zu besuchen, fährt er mit der Straßenbahn, während ich in atemberaubendem Tempo mit dem Rad nebenherstrampeln muss, um ihm winken zu können, wann immer es ihm gefällt. Ich soll ein Haushaltsbuch führen, und wenn er einen Blick hineinwirft, findet er alles zu teuer. Stimmt die Kasse nicht, notiere ich einen Posten namens »Diverses«, aber auch darüber meckert er, weshalb ich sehr darauf achte, nie eine Ausgabe zu vergessen. Er beschwert sich auch, dass wir vormittags eine Haushaltshilfe brauchen, wo ich doch ohnehin zu Hause wäre und nichts zu tun hätte. Aber ich kann weder putzen, noch will ich es, weshalb er sich damit abfinden muss. Ich bin glücklich, wenn ich ihn quer über den grünen Rasen zur Straßenbahn davongehen sehe, die direkt vor dem Polizeirevier hält. Dann winke ich ihm nach, und kaum habe ich mich vom Fenster abgewandt, vergesse ich ihn voll und ganz, bis er wieder auftaucht. Ich gehe unter die Dusche, betrachte mich im Spiegel und denke darüber nach, dass ich erst zwanzig Jahre alt bin und es mir so vorkommt, als wäre ich schon ein ganzes Menschenleben verheiratet. Ich bin erst zwanzig Jahre alt, aber ich habe das Gefühl, außerhalb dieser grünen Zimmer würden die Tage für alle anderen Menschen wie von Pauken und Trompeten begleitet davonrauschen, während sie auf mich so unmerklich herabsinken wie Staub; einer genau wie der andere.

Wenn ich mich angezogen habe, bespreche ich mit Frau Jensen das Mittagessen und schreibe eine Einkaufsliste. Frau Jensen ist wortkarg und in sich gekehrt und ein bisschen beleidigt darüber, dass sie sich nicht mehr allein in der Wohnung aufhalten kann, wie sie es gewohnt war. »Verrückt«, murmelt sie, »dass ein Mann in seinem Alter ein so junges Mädchen heiratet.« Sie sagt es nicht laut genug, als dass ich darauf eingehen müsste, und ich habe auch keine Lust, ihrem Gerede Beachtung zu schenken. Ich denke die ganze Zeit an meinen Roman, dessen Titel schon feststeht, obwohl ich noch nicht weiß, wovon er handeln soll. Ich schreibe einfach nur, vielleicht kommt etwas Gutes dabei heraus, vielleicht nicht. Das Wichtigste ist, dass ich mich beim Schreiben glücklich fühle, so, wie es immer schon war. Ich fühle mich glücklich und vergesse alles um mich herum, bis ich meine braune Schultertasche nehmen und einkaufen gehen muss. Dann werde ich erneut von der gleichen dunklen Missstimmung ergriffen wie am Morgen, denn auf der Straße sehe ich nichts als verliebte Paare, die Hand in Hand gehen und sich tief in die Augen sehen. Ihr Anblick ist beinahe unerträglich für mich. Ich denke daran, dass ich noch nie verliebt gewesen bin, wenn man von dem kurzen Augenblick vor zwei Jahren absieht, als ich vom Olympia nach Hause ging und von Kurt begleitet wurde, der tags darauf nach Spanien reisen wollte, um im Bürgerkrieg zu kämpfen. Vielleicht ist er jetzt tot, vielleicht ist er zurückgekehrt und hat ein anderes Mädchen gefunden. Vielleicht wäre es gar nicht nötig gewesen, Viggo F. zu heiraten, um im Leben weiterzukommen. Vielleicht habe ich es nur getan, weil meine Mutter es sich so sehr wünschte. Ich drücke mit dem Finger in das Fleisch, um zu fühlen, ob es zart ist. Das hat mir meine Mutter beigebracht. Dann notiere ich auf meinem Zettel, was es kostet, weil ich es mir sonst nicht merken kann. Wenn ich die Einkäufe hinter mich gebracht habe und Frau Jensen gegangen ist, vergesse ich erneut alles um mich herum und klappere auf der Maschine, solange ich niemanden damit störe.

Meine Mutter kommt oft zu Besuch, und dann können wir sehr albern werden. Einige Tage nach meiner Hochzeit öffnete sie unseren Kleiderschrank und untersuchte Viggo F.s Sachen. Sie nennt ihn »Viggomann«, weil sie ihn genauso wenig wie alle anderen Viggo nennen darf. Ich nenne ihn auch nicht so, weil dieser Name etwas Lächerliches an sich hat, außer für ein Kind. Sie hielt all seine grüne Kleidung ins Licht und fand einen Anzug, der ihrer Meinung nach so mottenzerfressen war, dass er ihn nicht mehr tragen könne. »Daraus kann Frau Brun mir ein neues Kleid nähen«, entschied sie. Es war schon immer aussichtslos gewesen, meiner Mutter etwas entgegenzusetzen, wenn sie auf solche Ideen kam, deshalb ließ ich sie widerstandslos mit den Sachen ziehen und hoffte, Viggo F. würde nicht danach fragen. Einige Zeit danach besuchten wir meine Eltern. Das kommt nicht oft vor, weil ich seine Art, mit ihnen zu sprechen, nur schwer ertragen kann. Er redet so laut und langsam, als wären sie zurückgebliebene Kinder, und wählt sorgfältig Themen aus, von denen er glaubt, sie würden auch meine Eltern interessieren. Wir besuchten sie also, und plötzlich stieß er mich vertraulich mit dem Ellbogen an. »Das ist ja drollig«, sagte er und zwirbelte seinen Schnurrbart zwischen Daumen und Zeigefinger, »ist dir aufgefallen, dass das Kleid deiner Mutter fast genauso aussieht wie einer der Anzüge, die ich zu Hause im Schrank hängen habe?« Daraufhin stürzten meine Mutter und ich in die Küche und brachen in Gelächter aus.

In dieser Zeit mag ich meine Mutter, weil ich keine tiefen oder schmerzlichen Gefühle für sie hege. Sie ist zwei Jahre jünger als ihr Schwiegersohn, und die beiden sprechen immer nur darüber, wie ich als Kind war. Ich erkenne mich selbst nicht wieder, wenn meine Mutter ihre Eindrücke von mir wiedergibt, es ist, als würde sie über ein ganz anderes Kind sprechen. Kommt sie mich besuchen, verstaue ich meinen Roman in meiner abschließbaren Schublade in Viggo F.s Schreibtisch, koche uns Kaffee und trinke ihn mit ihr, während wir gemütlich plaudern. Wir sprechen darüber, wie gut es ist, dass mein Vater inzwischen eine feste Arbeit im Ørstedswerk hat, über Edvins Husten und über all die alarmierenden Symptome aus den inneren Organen, die meine Mutter seit Tante Rosalias Tod plagen. Ich finde meine Mutter immer noch schön und junggeblieben. Sie ist klein und schlank und hat genau wie Viggo F. kaum eine Falte im Gesicht. Ihr dauergewelltes Haar ist dicht wie das einer Puppe, und sie sitzt immer auf der Stuhlkante, mit sehr geradem Rücken, die Hände an den Griffen ihrer Tasche. Sie sitzt da wie Tante Rosalia, wenn sie vorhatte, »nur auf einen Sprung« vorbeizuschauen und erst ein paar Stunden später wieder aufbrach. Meine Mutter geht, ehe Viggo F. von seiner Arbeit bei der Brandversicherung zurückkehrt, denn dann hat er gern einmal schlechte Laune und stört sich daran, wenn jemand zu Besuch ist. Er hasst die Büroarbeit und die Menschen, die ihn täglich umgeben. Ich glaube, er hat etwas gegen alle Menschen, die keine Künstler sind.

Nachdem wir gegessen haben und die Haushaltskasse überprüft haben, fragt er mich gern, wie weit ich mit Die Französische Revolution vorangekommen bin, die ja den Grundstein für meine Bildung legen soll, weshalb ich meistens dafür sorge, ein paar neue Seiten darin gelesen zu haben. Wenn ich die Teller abgeräumt habe, legt er sich auf den Diwan und döst ein wenig vor sich hin, und ich sehe für einen Moment hinüber zu dem blauen Globus vor dem Polizeirevier, der den menschenleeren Platz mit einem gläsernen Schein erleuchtet. Dann ziehe ich das Rollo herunter und lese ein paar Seiten Carlyle, bis Viggo F. aufwacht und nach Kaffee verlangt. Während wir ihn trinken, und falls er anschließend nicht zu irgendeiner Berühmtheit aufbrechen muss, breitet sich eine merkwürdige Stille zwischen uns aus. Es ist, als hätten wir alles, was wir einander zu sagen hatten, schon vor der Hochzeit gesagt, und in einem rasenden Tempo alle Wörter aufgebraucht, die für die nächsten fünfundzwanzig Jahre ausreichen sollten, denn ich glaube nicht daran, dass er in drei Jahren stirbt. Das einzige, was mich erfüllt, ist mein Roman, und wenn ich nicht darüber reden kann, fällt mir nichts anderes ein. Vor einem Monat, kurz nach der Besatzung, war Viggo F. sehr alarmiert und dachte, die Deutschen würden ihn verhaften, weil er im Social-Demokraten einen Artikel über die Konzentrationslager veröffentlicht hatte. Damals sprachen wir viel über dieses Risiko, und abends kamen seine ebenso verunsicherten Freunde, die alle ein ähnlich schlechtes Gefühl hatten. Jetzt scheinen sie diese Gefahr bereits vergessen zu haben und leben fast so weiter, als wäre nichts geschehen. Jeden Tag fürchte ich mich davor, dass er mich fragen könnte, ob ich das Manuskript zu einem neuen Roman gelesen hätte, das er an Gyldendal schicken will. Es liegt in seinem Schreibtisch, und ich habe versucht, es zu lesen, aber es ist so langweilig und ausschweifend und voller umständlicher, verquerer Sätze, dass ich wohl nie durchkommen werde. Auch das trägt zu der angespannten Stimmung zwischen uns bei; dass ich seine Bücher nicht mag. Ich habe es nie gesagt, sie aber auch nie gelobt. Ich habe nur gesagt, ich hätte keine Ahnung von Literatur.

Obwohl unsere Abende zu Hause traurig und eintönig sind, ziehe ich sie den Abenden mit den Berühmtheiten vor. In ihrer Anwesenheit werde ich sofort von Schüchternheit und Ungeschick befallen, und es ist, als hätte ich den Mund voller Sägespäne, so unmöglich scheint es mir, auf ihre munteren Bemerkungen einzugehen. Sie sprechen über ihre Gemälde, ihre Ausstellungen oder Bücher, und sie lesen sich Gedichte vor, die sie gerade geschrieben haben. Für mich ist das Schreiben wie in der Kindheit weiterhin etwas Heimliches, Verbotenes; etwas, wofür man sich in eine Ecke zurückzieht und was man nur tut, wenn es niemand sieht. Sie fragen mich, was ich zurzeit schreibe, und ich antworte: »Nichts«. Viggo F. springt mir bei. »Zunächst einmal liest sie«, erklärt er. »Man muss einiges gelesen haben, bevor man Prosa schreiben kann, und das sollte ja als nächstes folgen.« Er spricht über mich, als wäre ich gar nicht anwesend, und ich bin immer froh, wenn wir wieder aufbrechen. Zusammen mit den Berühmtheiten ist Viggo F. ein anderer Mensch, selbstsicher, witzig, so, wie er in der ersten Zeit auch mir gegenüber war.

Eines Tages, als wir beim Zeichner Arne Ungermann zu Gast sind, kommen sie darauf zu sprechen, dass man all die unbekannten jungen Menschen zusammenbringen müsste, die in Wilder Weizen schreiben, weil sie sicher überall in der Stadt verstreut säßen und sehr einsam seien. Sie hätten bestimmt Freude daran, einander kennenzulernen. »Dann könnte Tove ja den Vorsitz dieses Vereins übernehmen«, sagt er und lächelt mich freundlich an. Die Vorstellung macht mich glücklich, weil ich junge Menschen sonst nur zu Gesicht bekomme, wenn sie allein mit ihren Werken zu uns kommen und es kaum wagen, mich anzusehen, weil ich mit diesem wichtigen Mann verheiratet bin. Meine Freude führt dazu, dass ich plötzlich einen Satz über die Lippen bringe. »Der Verein könnte ›Club der jungen Künstler‹ heißen«, sage ich, und die Idee stößt auf allgemeine Zustimmung.

Am nächsten Tag suche ich alle Adressen aus Viggo F.s Notizbuch zusammen und schreibe einen formellen Brief, in dem ich mit ein paar kurzen Sätzen ein abendliches Treffen bei uns zu Hause vorschlage. Als ich die Briefe in den Briefkasten neben dem Polizeirevier werfe, stelle ich mir vor, wie sehr sie sich freuen werden, denn ich glaube, sie sind genauso arm und einsam wie auch ich noch vor Kurzem und sitzen überall in der Stadt in eiskalten Zimmern. Ich denke, dass Viggo F. doch einiges über mich weiß. Er weiß, dass ich es leid bin, immer nur Zeit mit alten Menschen zu verbringen. Er weiß, dass mich das Leben in seinen grünen Gemächern oft bedrückt und dass ich nicht meine ganze Jugend damit verbringen kann, die Französische Revolution zu studieren.

Zwei

Dann ist »Der Club der jungen Künstler« Realität geworden, und das Leben hat wieder an Farbe und Fülle gewonnen. Wir sind ein knappes Dutzend junger Menschen, das sich jeden Donnerstagabend in einem Raum unter dem »Haus der Frauen« trifft, über den wir verfügen dürfen, wenn jeder von uns eine Tasse Kaffee trinkt. Sie kostet eine Krone ohne Gebäck, und wer kein Geld hat, leiht sich etwas von denen, die welches haben. Das Treffen wird stets mit dem Vortrag eines »großen Fischs« eingeleitet, einer älteren Berühmtheit, die Viggo F. damit einen Freundschaftsdienst erweist. Ich bekomme kein Wort von diesen Vorträgen mit, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, dass ich anschließend aufstehen und ein paar Dankesworte sprechen muss. Ich sage immer dasselbe: »Ich möchte Ihnen ganz herzlich für diesen ausgezeichneten Vortrag danken. Es war sehr freundlich von Ihnen, zu kommen.« Zu unserer Erleichterung schlägt der große Fisch dann in der Regel unsere höfliche Einladung aus, noch auf einen Kaffee zu bleiben. Anschließend plaudern wir nett und unbeschwert über alles Mögliche, erwähnen aber nur selten, was uns zusammengeführt hat. Mich fragt allenfalls einmal jemand beiläufig: »Weißt du zufällig, was Møller von den beiden Gedichten hält, die ich ihm neulich geschickt habe?« Alle nennen ihn Møller und sprechen voller Hochachtung von ihm. Dank ihm sind sie nicht anonym, dank ihm können sie ihren Namen ab und zu in einer Besprechung von Wilder Weizen finden, denn die Zeitschrift genießt seit jeher großes Ansehen in der Presse. Wir sind nur drei Mädchen im Club, Sonja Hauberg, Ester Nagel und ich. Sie sind beide hübsch und ernst, dunkelhaarig und schwarzäugig und stammen aus guten Verhältnissen. Sonja studiert Literatur, Ester arbeitet in einer Apotheke. Wir sind alle um die zwanzig, mit Ausnahme von Piet Hein, der auch als einziger keinen besonders großen Respekt vor Viggo F. zu haben scheint. Er mokiert sich darüber, dass ich vor elf zu Hause sein muss und nie mit ihm ins Ungarische Weinhaus gehen kann. Doch ich halte mich immer an die Absprache, denn Viggo F. bleibt zu Hause wach, um zu erfahren, wie der Abend verlaufen ist. Er wartet mit einem Kaffee oder einem Glas Wein auf mich, und ich betrachtete ihn mit den Augen meiner Freunde und bin oft kurz davor, ihm meinen halben Roman zu zeigen, kann mich dann aber doch nie dazu durchringen. Piet Hein hat ein kugelrundes Gesicht und eine scharfe Zunge, vor der ich mich ein wenig fürchte. Wenn er mich abends durch die dunkle, mondbeschienene Stadt begleitet, bleibt er an einem Kanal oder vor der Börse mit dem kupfergrünen, leuchtenden Dach stehen, öffnet meine Hände wie ein Buch und küsst mich lange und leidenschaftlich. Er fragt mich, warum ich diesen alten Kauz geheiratet hätte, wo ich doch so hübsch sei, dass ich jeden haben könne. Ich antworte ausweichend, weil ich es nicht mag, wenn jemand Viggo lächerlich macht. Ich denke, dass Piet Hein nicht weiß, was es bedeutet, arm zu sein und fast seine ganze Zeit verkaufen zu müssen, nur um ein Auskommen zu haben. Ich hege viel mehr Sympathie für Halfdan Rasmussen, der klein, dünn und schlecht gekleidet ist und von Sozialhilfe lebt. Wir entstammen demselben Milieu und sprechen dieselbe Sprache. Doch Halfdan ist in Ester verliebt, Morten Nielsen in Sonja und Piet Hein in mich. Das hat sich schon nach wenigen Donnerstagen herauskristallisiert. Ob ich in Piet Hein verliebt bin, kann ich nicht genau sagen. Es lässt mich nicht kalt, wenn er mich küsst, aber gleichzeitig verunsichert er mich auch, weil er einen Haufen Sachen auf einmal von mir will: heiraten, Kinder kriegen und mir ein anderes interessantes Mädchen vorstellen, das er kennt, weil er findet, ich bräuchte eine Freundin. Wenn er mich in die Arme nimmt, nennt er mich Mädchentier.

Eines Abends bringt er die andere mit in den Club. Sie heißt Nadja und ist ganz offensichtlich in ihn verliebt. Nadja ist dünn, größer als ich und ein bisschen gebeugt. Sie hat unregelmäßige, verschwommene Gesichtszüge, als würde sie so sehr für andere leben, dass sie nie zu sich selbst vordringt. Ich finde sie außerordentlich sympathisch. Sie ist Gärtnerin und die Tochter eines Russen. Die Eltern haben sich getrennt, seither lebt sie beim Vater. Sie lädt mich zu sich ein, und eines Tages besuche ich sie, nachdem ich Viggo F. von ihr erzählt habe. Die Wohnung ist groß und herrschaftlich. Während wir Tee trinken, unterhält mich Nadja mit Geschichten über Piet Hein. Sie sagt, er hätte am liebsten zwei Freundinnen auf einmal. Als sie ihn kennenlernte, war er verheiratet und sorgte dafür, dass sie sich mit seiner Frau anfreundete, ehe er sie verließ. Mittlerweile ist der Kontakt abgebrochen. »Das ist so eine fixe Idee von ihm«, erklärt Nadja ruhig. Sie befragt mich zu meinem Leben und schlägt vor, ich solle mich von Viggo F. scheiden lassen. Das ist eine Möglichkeit, die mir gerade erst ganz entfernt in den Sinn gekommen ist. Ich erzähle ihr von unserem nicht vorhandenen Eheleben, und sie sagt, es sei eine Sünde und Schande, dass er mich auf diese Weise zur Kinderlosigkeit verdamme. »Du solltest dich in dieser Angelegenheit mit Piet beratschlagen«, sagt sie, »solange er etwas von dir will, wird er alles für dich tun.«

Eines Abends folge ich ihrem Rat, als wir still am Kanal stehen, während das Wasser mit einem sanften, trägen Geräusch gegen die Mauer schwappt. Ich frage Piet, was man tun müsse, um sich scheiden zu lassen, und er sagt, er werde sich um die praktischen Angelegenheiten kümmern, solange ich es Viggo F. mitteile. Er sagt, er werde für mich aufkommen, damit ich in eine Pension ziehen könne, und er würde besser für mich sorgen als Viggo F. »Vielleicht«, sage ich, »kann ich sogar selbst für mich aufkommen. Ich schreibe an einem Roman.« Ich sage es so beiläufig, als hätte ich schon zwanzig Romane geschrieben, und dies wäre bloß der einundzwanzigste. Piet fragt, ob er ihn lesen könne, aber ich erkläre ihm, dass ihn niemand zu sehen bekäme, bevor er fertig sei. Dann fragt er mich, ob er mich nicht einmal abends zu sich zum Essen einladen dürfe. Er lebt in der St. Kongensgade in einer kleinen Wohnung, in der er sich nach seiner Scheidung eingerichtet hat. Ich nehme die Einladung an und sage Viggo F., ich würde zu meinen Eltern gehen. Es ist das erste Mal, dass ich ihn anlüge, und ich schäme mich, als er mir glaubt. Er sitzt an seinem Schreibtisch über dem Umbruch von Wilder Weizen, schneidet Zeichnungen, Kurzgeschichten und Gedichte aus dem Korrekturbogen aus und klebt alles auf die Seiten einer alten Ausgabe. Er arbeitet mit einer solchen Behutsamkeit, und seine gesamte Erscheinung mit dem großen, gebeugten Kopf unter der grünen Lampe strahlt etwas aus, das an Glück erinnert, denn er liebt diese Zeitschrift so wie andere Menschen ihre Familie. Ich küsse ihn auf den weichen, feuchten Mund, und plötzlich steigen mir die Tränen in die Augen. Wir haben etwas geteilt; nicht viel, aber immerhin etwas, und jetzt habe ich angefangen, es zu zerstören. Ich empfinde eine Trauer darüber, dass mein Leben allmählich so kompliziert wird wie nie zuvor. Aber ich denke auch darüber nach, wie seltsam es ist, dass ich noch nie etwas gegen den Willen eines anderen Menschen getan habe, nicht ernsthaft. »Es könnte ein bisschen später werden«, sage ich, »weil es meiner Mutter nicht so gut geht. Du brauchst nicht wachzubleiben und auf mich zu warten.«

*

»Na«, fragt Piet fröhlich, »hat es dir gefallen?«

»Ja«, sage ich glücklich. Seit dem Debakel mit Aksel hatte ich immer den Verdacht, mit mir würde in dieser Hinsicht etwas nicht stimmen, aber so ist es also doch nicht. Wir haben etwas gegessen und getrunken, und ich bin ein bisschen angeheitert. Wir liegen in einem breiten Himmelbett, das Piet von seiner Mutter geschenkt bekommen hat, einer Augenärztin. Im Wohnzimmer gibt es lauter ausgefallene Lampen und moderne Möbel, auf dem Boden liegen Eisbärfelle. In einer Vase neben dem Bett steht eine Rose, die bereits ihre Blätter verliert. Piet hat sie mir geschenkt. Außerdem hat er mir ein Kleid aus blauem Samt geschenkt, das ich bis auf Weiteres in seinem Schrank hängen lassen muss, weil ich es schwerlich mit nach Hause bringen kann. Ich nehme die welke Rose und rieche daran. »Jetzt glaubt sie wohl nicht mehr an die Blüte der Jugend,« sage ich lachend. »Da kann ich was draus machen!«, ruft Piet begeistert und springt splitterfasernackt aus dem Bett. Er setzt sich an den Schreibtisch, greift Stift und Papier und kritzelt etwas nieder. Als er fertig ist, zeigt er es mir. Es ist ein sogenannter »Gruk«, ein vierzeiliger Vers mit einer bissigen oder witzigen Pointe, wie er ihn jeden Tag in Politiken veröffentlicht. Dort steht:

Heute wollt ich der Liebsten ein Blümchen hinstellen,

eine errötende Rose, deren Knospen anschwellen.

Doch sie verlor ihre Blätter, ihr Kopf wurde schwer

– an die Blüte der Jugend glaubt sie nicht mehr.

Ich lobe ihn dafür, und er sagt, ich müsste die Hälfte seines Honorars bekommen. Für Piet ist das Schreiben nichts Heimliches, mit Scham verbundenes. Es scheint für ihn so natürlich zu sein wie das Atmen.

»Das wird ein schwerer Schlag für Møller«, sagt er zufrieden. »Als ihr geheiratet habt, sind all seine Freunde eine Wette eingegangen, wie lange die Ehe halten würde, mehr oder weniger als ein Jahr. An über ein Jahr glaubte niemand. Und dann hat Robert Mikkelsen dafür gesorgt, dass ihr eine Gütertrennung vereinbart, weil sie fürchteten, du würdest mit der Hälfte seines Hausrats durchbrennen.«

»Wie bösartig und durchtrieben du bist«, sage ich erstaunt.

»Nein«, erwidert Piet, »ich kann ihn nur nicht ausstehen. Er schmarotzt an der Kunst, ohne selbst Künstler zu sein. Er hat überhaupt kein Talent zum Schreiben.«

»Dafür kann er doch nichts«, sage ich unangenehm berührt. »Ich mag es nicht, wenn du so über ihn sprichst.« Meine Stimmung verschlechtert sich. Ich frage, wie viel Uhr es ist, und mein kurzes Glücksgefühl klingt langsam ab. Eine feuchte,