Abhauen! - Jana Beňová - E-Book

Abhauen! E-Book

Jana Beňová

2,2

Beschreibung

Jana Benovás "Abhauen!" ist ein schneller, wunderbar rebellischer Text, ein Roman, in dem sich lyrische Momente und unerwartete Wendungen abwechseln. Rosa , das Mädchen vom Hauptbahnhof, aufgewachsen im Plattenbau hinter den Geleisen, weiß: Sie muss abhauen, den Alltag hinter sich und Träume wahr werden lassen, aufbrechen ins Unbekannte, unterwegs sein, egal wohin. Auch die erwachsene Rosa, nunmehr verheiratet mit dem Dichter Son, flieht vor einem Alltag aus Ehe, Arbeit, Sex, Cellulitis und politischer Theorie. Sie geht mit dem Marionettenspieler Corman auf eine atemlose Reise voller Verheißungen, vielleicht ans Meer, vielleicht nach Paris.

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ABHAUEN!

Jana Beňová

Roman

Aus dem Slowakischen übersetztvon Andrea Koch-Reynolds

Residenz Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2015 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN eBook:978-3-7017-4498-5

ISBN Printausgabe:978-3-7017-1644-9

Alle Figuren dieses Buches sind frei erfundenund keine ähnelt einer lebenden Person. Die einzigen,die als real betrachtet werden können, sind Gerda,Kay und das Rentier aus H.Ch. Andersens Märchen»Die Schneekönigin«.

Das Motto auf S. 7 folgt Roger Caillois’ Nacherzählung derursprünglichen Quelle bei Plinius in: Roger Caillois: Steine,übersetzt aus dem Französischen von Gerd Henninger,München – Wien, Hanser Verlag 1983.

ABHAUEN!

»Im Prytaneion zu Kyzikos wurde jenerflüchtende Stein aufbewahrt,der den Argonauten als Anker gedient hatte.Er war so oft entwichen, dass man ihn schliesslichin Blei eingießen musste.«

Der kleine Junge, er heißt Son – wie die Nachsilbe nordischer Familiennamen – mag weder fremde Haushalte noch größere Gesellschaften. Und am meisten graut es ihn vor größeren Gesellschaften in fremden Haushalten. Da bleibt er an der Türschwelle stehen, macht auf der Stelle kehrt, entwischt durch die Beine seiner Eltern.

»Abhauen!«, ruft er und drückt deren Knie auseinander.

Rosa ist ein Kind vom Hauptbahnhof. Direkt hinter dem Zaun des Hauses, in dem sie geboren wurde, beginnt die Chinesische Mauer der Eisenbahn. Die Bahnschwellen pulsieren, die Gleise galoppieren davon. Regelmäßiges Aufprallen. Die Betten in allen Schlafwagen zeigen gen Norden.

Da war einmal jene Begebenheit, von der ein Prager Fürstensohn berichtet hat. Er und seine kleine Schwester waren als Kinder gemeinsam in einem deutschen Pensionat erzogen worden und hatten die Fürstin von Thurn und Taxis besucht. Als die Fürstin die Kinder fragte, was sie sich wünschten, hatte seine kleine Schwester geantwortet, sie würde es ihr ja gerne sagen, doch es sei unanständig. Sehr unschön. Es beginne mit A.

Die Fürstin drängte.

Das Mädchen: Abhauen!

Rosa, das Kind vom Hauptbahnhof, ist vierzig Jahre alt. All die Jahre, auf dem Weg zur Schule und dann zur Arbeit, hat sie tagtäglich die Gleisanlagen überquert. Noch heute kommt sie auf dem Weg zu den Stadtbussen immer an den Zügen vorbei. Alle Arten von Verkehr und alle Wege in die Stadt beginnen jenseits des Tunnels. Die Züge stehen an den Bahnsteigen gleich hinter dem Haus. Man muss nur losrennen: uuuuuund / aufspringen.

Die Städte, die Masken wechseln. Städte wie Masken wechseln.

Sich die Entfernungen aussuchen, Orte der Erreichbarkeit.

Wege und Kneipen.

Rosa. Im Stadtzentrum gibt es ein Display, auf dem blinken Datum, Uhrzeit und aktuelle Temperatur. Wenn ich darunter stehe, verkürzt sich unauffällig mein Leben. Es läuft davon. Dies ist eine Warnuhr: der Zeitmesser vergeudeter Tage, Monate, Wärmegrade.

Die Grundlage des kreativen Lebens ist das Schwänzen. Ein Abenteuer. Rosa erinnert sich, dass ihr als Kind das Schule Schwänzen völlig unverständlich erschien. Sie ging gern in die Schule, die Schule war ihr erstes Podium, dort hatte sie Freunde. Sie hing an ihren Lehrerinnen.

Die Grundschule war in der Stadt, das Gymnasium dann an der Peripherie – so kam Rosa an den Stadtrand, in ein deprimierendes Viertel mit großen, breiten Verkehrsadern, bei denen man als Fußgänger nie wusste, wie man auf die andere Straßenseite gelangen sollte. Ein Viertel für Maschinen und Autos, Autobusse, schwarzen Schnee und Staub, für eine schnelle Fahrt ohne Hindernisse und ohne Fußgänger. Ohne wirkliches Leben. Nur durchrasen. Wind. Abhauen! Durch leeres, nichtssagendes Gelände ohne Natur, ohne Menschen, ohne Architektur. Hier waren auch die Mitschüler ganz anders. Während die Grundschule vor allem von Kindern aus der Stadt besucht wurde, traf sich auf dem Gymnasium die pure Provinz.

Die Provinz und Lapa. Das schlimmste Stadtviertel.

Die Provinzkinder sahen keinen Unterschied zwischen sich und den Erwachsenen. Als Rosa das Abitur machte, sah es ihre Mitschülerin, die heute Kriminalbeamtin ist, als ihren größten Triumph an, auf dem Schulgelände zu rauchen, während dort die Lehrerin herumlief. Für Rosa war das gar nicht verlockend. Sie rauchte am liebsten abends, wenn sie durch die leere Stadt schlenderte.

(Fräulein, rauchen Sie doch nicht beim Herummarschieren, nicht auf der Straße wie eine verlotterte Ungarin, zünden Sie sich doch lieber schön eine drinnen beim Sitzen an, beim Kaffee, meinte einmal ein alter Herr zu ihr.) Die Lehrer waren im gleichen Alter wie Rosas Eltern, so ordnete Rosa sie auch der gleichen Schicht zu  – der Kaste der Entrechteten. Schon allein deswegen, weil sie erwachsen waren. Das war zu viel für die. Sie brauchten Respekt. Schutz.

In den ersten Tagen am Gymnasium weinte Rosa oft. Es überkam sie vor allem im Speisesaal der Schulküche. Schon als kleines Mädchen konnte sie kollektives Essen nicht ausstehen. Die Räume, die Geräusche und die Gerüche im Speisesaal deprimierten sie. Dass man sogar nach Unterrichtsende, beim Essen, das ja schon zum Privatbereich gehört, noch im Schülerkollektiv, von Lehrern angetrieben, vorgeschriebenes Essen in vorgeschriebener Menge verzehren musste. Dass sogar nach Unterrichtsende Überwachung und Disziplin noch nicht vorbei waren. Beim Essen sehnte sie sich danach, ein freier Mensch zu sein, mit Niveau – undkeine Schülerin. Sie wollte ein Teil der großen Welt sein, nicht des Kollektivs.

Rosa. Hier irgendwo begann meine Sehnsucht nach Unabhängigkeit, nach der Abgrenzung meiner selbst: Statt zur Schulspeisung ging ich ins Kaufhaus Prior, kaufte russische Eier & Coca-Cola. (Freiheit & Anarchie!) Es gab dort einen kleinen Selbstbedienungsimbiss, gleich neben der Spielwarenabteilung. Dort waren alle Essenden unabhängig und erwachsen. Freiheit & Gleichheit & Brüderlichkeit.

Das Schwänzen begann im zweiten Jahr am Gymnasium. Im Jahre neunzehnhundertneunzig. (Falls Sie wissen, wovon ich rede!) Nachdem sie Son getroffen hatte. Sie saßen jeden Abend im Café und unterhielten sich. Sie lachten und sie waren traurig. Rosa begann zu rauchen. Höchste Zeit – mit sechzehn!

Rosa. Rotwein liebte ich schon seit geraumer Zeit. Nach solchen Abenden konnte man morgens nicht ins Gymnasium gehen. Man konnte nicht in den Bus steigen und Richtung Peripherie rasen. Die Stadt & sich selbst verlassen. Ich erinnere mich, wie ich abends am Bahnhof drei Stückchen Gebäck kaufte, einen Becher Glühwein dazu, meinen Walkman einschaltete und langsam, damit der Becher nicht überschwappte, Richtung Stadt lief. Die Flüssigkeitsoberfläche im Becher, Atem und Schritt aufeinander abgestimmt. Die Allee beim Hauptbahnhof, die Baumkronen verflochten sich über meinem Kopf, der Zigarettenrauch, der Nelkenduft – kurz gesagt, Paris.

Am nächsten Morgen packte ich meine Tasche und ging zur gleichen Zeit aus dem Haus wie immer. Abhauen! Ich dachte daran, wie ich als Kind krank gewesen und allein zu Hause geblieben war, wie überrascht ich da über das Haus war. Es war auf einmal so ganz anders – ohne meinen Bruder und meine Eltern in den Zimmern, geheimnisvoll und gespenstisch – es stand mir ganz allein zur Verfügung.

Als ich sechzehn war, empfand ich die Welt ähnlich, in einem abgeschlossenen Raum drehte sich ab acht Uhr morgens die Unfreiheit, weit entfernt von mir. Ich lief währenddessen leichten Schrittes in die entgegengesetzte Richtung, dorthin, wo es keine Busse gab, wo nur Straßenbahnen bimmelten und Trolleybusse ihre Netze spannten. Mit einem Buch in der Hand ging ich die Stadtmauern entlang, lief durch die Gassen der Altstadt und von Café zu Café. Kafkas Schloss las ich beinahe zur Gänze unterhalb der Burg. Wie pompös … So ist die Pubertät.

Oder Paris. Wo Sie sich entweder wie sechzehn fühlen – aus dem Nichts heraus, von einem Tag auf den anderen, besonders gegen Abend –, als wäre es Ihre eigene Stadt, oder Paris ist auf immer für Sie verloren.

Für immer aus der Welt verschwunden. Irgendwann, so um die achtzehn, ist es dann wie vom Erdboden verschluckt, futsch, bums, aus.

Dann können Sie sich von Paris verabschieden, es sich für immer aus dem Kopf schlagen.

Rosas Vorteil war, dass sie berechenbare Eltern hatte – sie wusste, wo sie arbeiteten und welche Wege sie nahmen, um nach Hause und zur Arbeit, gegebenenfalls zum Einkaufen zu gehen. Bratislava ist auch heute noch eine Stadt, in der bestimmte Viertel wie verschiedene Kontinente unabhängig voneinander existieren. In Lapa trifft Rosa niemanden aus ihrer Familie oder ihrer Arbeit. Im Zentrum bewegen sich schon seit Jahren dieselben Leute, leicht alternd, in den Cafés ihrer Kindheit.

Rosa. Trotz dieser Sicherheit war mir klar, dass man in der Schule und auch zu Hause meinem Schwänzen irgendwann auf die Schliche kommen würde. Das allerdings verlieh der geschwänzten Zeit noch einen besonderen Reiz. Den Reiz eines Schatzes. Gestohlene Zeit, die man genießen musste: Ich habe da gewiss angefangen, Gedichte zu schreiben.

Heute wäre sie beinahe nicht in der Arbeit angekommen. Wie einst nicht im Gymnasium. Sie war früh aufgestanden, hatte das Haus verlassen, und dann war sie an jenem unangenehmen Gebäude, in dem sie ihr kleines Tischchen hatte und den Monitor vor der Nase, lediglich vorbeigegangen. Ohne mit der Wimper zu zucken, war sie weiter durch die vom Januar gezeichnete Stadt gegangen und hatte im Laden eine Packung Orangen, dazu noch Brötchen, Käse und Paprika in den Einkaufskorb gelegt – wie für einen Ausflug. Ein Mensch, der einmal gewisse Grenzen überschritten hat (Drogen, Alkohol, Essen, Lügen, Schule Schwänzen, Untreue), fängt bei einem Rückfall in diese schlechten Gewohnheiten gleich wieder auf deren Höhepunkt an – und landet dann ganz unten. Am entblößten Nerv, der Wärme abgibt. Wie ein Nachtfalter, ein Nachtmahr.

Es regnet und schneit abwechselnd und ihr scheint, als habe sie noch nie solch einen Hüzün* verspürt. Doch das stimmt nicht, letztes Jahr im Januar hatte sie den gleichen. Jedes Jahr im Januar. Nur die Begegnung mit Klaus Kapitola brachte sie wieder zu sich. Der alte Schriftsteller saß mitten in einem Café voller Leute und strahlte. Er lachte, erzählte, seine Augen glänzten – ein Feuerwerk voller Energie. Für sie fühlte es sich an, als hätte er einen Mantel oder eine Jacke über sie geworfen – eine Decke voller Glühwürmchen. Nichts Ätherisches, sondern eine schwere und rauhe Decke – oder seinen eigenen physischen Körper. Den eines starken, alten Mannes. Ein Körper voller Licht, Freude, Energie. Voll sprudelnden Lebens!

Rosa. Mein zerkratzter Kopf tut mir weh, an den Wunden schuppt es. Gestern habe ich Son geschrieben, dass ich in der Mittagspause von der Arbeit verschwinden werde, um dreizehn Uhr macht die Nachtbar auf, und ich werde trinken, werde eine Margarita nach der anderen hinunterspülen.

Sie entdeckte Tequila.

So könnte man das sagen.

So, wie ein Bildhauer einen Schädel entdeckte, ihn unter den Arm klemmte und ein Jahr lang sein Atelier nicht verließ.