Abschiednehmen - Hartmut Zwahr - E-Book

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Hartmut Zwahr

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Beschreibung

Wer auf diesen Wegen im "Lausitzroman" entlang geht, wird vielleicht selbst eine Familiengeschichte zu erzählen haben, die eigne, die andere, von der man weiß, gehört hat, und sich wiederfinden. Das kann die Literatur. "Abschiednehmen" - das sind Geschichten von Verlust, Schmerz, Bitternis, Verirrung, wie sie die Zeit der beiden großen Kriege hervorbrachte, als massenhafte Vernichtung und Beschädigung von Leben. Ein Junge, Johannes, wartet auf den Heimkehrer, den Vater. Da ist längst wieder Schule, und die neue Zeit, so heißt sie, hat angefangen. An einem Tag im März '45, als die Jungs in der Mühle ankamen, die bald nicht mehr HJ-ler heißen werden, inmitten von Soldaten, Nachbarn, Geflüchteten und Vertriebenen, den "Umsiedlern", beginnt das Buch. Es gibt keinen Ich­Erzähler. Es fängt an.

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Hartmut Zwahr

Abschiednehmen · Lausitzroman

Alle Ähnlichkeiten in Ort und Zeit, auch Namensgleichheit mit Lebenden und Toten sind zufällig und dem Umstand geschuldet, dass Figuren und Strukturen unter bestimmten Bedingungen einander entsprechen.

Umschlagbild: SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Fotografie Oscar Meister, um 1900 »Oberlausitz. Spreetal und Singwitz gegen Bautzen. Blick vom Nordhang des Mönchswalder Berges (Nachträgliche Bearbeitung Sax-Verlag)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN (Print) 978-3-86729-229-0

ISBN (EPUB) 978-3-86729-561-1

ISBN (PDF) 978-3-86729-562-8

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© Sax-Verlag, Beucha · Markkleeberg, 2019

Umschlaggestaltung: Sax-Verlag, Markkleeberg

www.sax-verlag.de

Hartmut Zwahr

Abschiednehmen

Lausitzroman

Sax-Verlag

Nur wenn unsere Geschichten erzählt werden, können wir erfahren, dass unsere Geschichten zu Ende sind, sonst würden wir weiterleben, als ob wir etwas fortsetzten (beispielsweise unsere Geschichte), das heißt, also, im Irrtum leben.

Imre Kertesz, 2003

Prolog

1995

Er sah, dass er zu spät gekommen war. Ein Ausdruck von Zufriedenheit lag auf ihrem Gesicht. Deine Studenten wollen in die Ferien, hatte sie gesagt. Die pralle Julisonne draußen. Der steckengelassene Schlüssel. Die Wolldecke mit den grünen Karos in der Tür. Er wartete. Die Zivis waren die ersten, die Hallo sagten, sie sagte das auch: Hal-loo! Bist du’s, mein Junge? So verscheuchte sie sein banges Gefühl, sie so hilflos wiederzusehn. Das Fenster stand offen. Im Bett das Spankörbchen und der geschenkte Teddy, den sie ertrug, in seinen giftgrünen Hosen mit rotem Halstuch, den hatte die Sozialstation mitgebracht. Das Flurlicht war an, die Schwester hatte vielleicht in den Spiegel geguckt. Den Blick über die Wiesen liebte sie, bis sie diesen Himmel nicht mehr sehen wollte, die Wiesen nicht, das Dorf, die Piepmätze, die aufs Fensterbrett geflogen kamen.

Ein Fahrrad klingelte. Das wird Ronny sein, der Nachbarjunge, der sie manchmal besuchte. Er sah die Blässe, die ihr Gesicht erfasste. Wenn er klopft, steht der Ronny schon in der Türe. Der klopft, wenn du da bist. Vor dir hat er Dampf. Die Freude des Augenblicks war über ihr Gesicht gehuscht, als sie das sagte, nicht lange, meist verfiel sie in Schweigen, als befände sie sich in einem Tal, in das sie immer tiefer hineingeriet. Wenn sie aufblickte, war ein Stück Himmel da. Das Leben waren die Wiesen, sie wartete auf das Sterben, wollte lieber zur Tür sehen. Diese Lichtfülle, die sich auf sie warf, wenn es hell wurde. Das Grün an den Bäumen lockte, das ockerfarbene Bahnhofsgebäude, das Dorf, Ronny.

Den hört man gar nicht, so leise kommt er herein. Der kommt sich sein Bongsel holen, der Racker, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen, der weiß genau, wo die Bongsel liegen. Ob er sich mal eins genommen hat? Ich glaubs nicht, der hat sich kein Bongsel genommen, der weiß doch, dass er immer was von mir bekommt, der ist ehrlich, und wie sie das sagte, war sie aus dem Gespräch herausgesprungen. Mutter ist tot. Er fing an, zu begreifen, was passiert war.

Mit leisem Hallo war die Schwester eingetreten und verstummte. Sie drückte Johannes die Hand. Ihre Mutter war tapfer, ich freue mich, dass Sie kommen konnten. Sie band der Toten die Armbanduhr ab, nahm den Leuchter von der Kredenz, zündete eine von den Kerzen an.

Die mähen, sagte sie. An der Straße stand ihr Auto. Er sah den Traktor wenden. Ich ziehe die Gardine nicht zu.

Die Wiesen lagen in voller Sonne, weit draußen reckte sich die Eiche, deren Schatten nicht gebraucht wurde. Es gab die Heu­wenderinnen nicht mehr. Auf dem Ausziehtisch die weiße Decke zurückgeschlagen, Sommerblumen, die Schnabeltasse halb gefüllt, daneben Waschlappen, Medizin, das Kerzenlicht. Auf dem Fernseher sprangen Mutters Blumenkinder in den Frühling hinein, so lange das Jahr dauerte; ein Schneeglöckchen weiß wie Schnee, ein Himmelschlüsselchen, das Vergissmeinnicht, dem die Blütensternchen fehlten. Die Figürchen hatten sie begleitet, und schließlich waren die Blumenkinder in der Schlafstube auf der Kredenz gelandet.

Das Fenster am besten offen halten, sagte Schwester Konstanze: Lehrer Heinrich ist auch gestorben, Freitag vor Pfingsten, den werden Sie gekannt haben. »Du darfst Manfred zu mir sagen«, erinnerte sich Johannes, da war ich Junger Pionier, er im Blauhemd, vielleicht Anfang zwanzig, als er das auf dem Schulhof sagte, Mutter einundvierzig. Wie lange der Mensch lebt. Die Kriege! Die Zeit danach. Die Schwester räumte das Geschirr in die Küche. Die Einheit! Die Kiwis, damals. Dass sie davon gesprochen hatte, fiel ihm ein.

Du stellst dich gerade vors Licht. Ich will nicht mehr. Hat sie das wirklich gesagt? Das war die letzte Tour, ich will nicht mehr gucken, ich will wieder heim. Rolf, der Cousin, war zu Besuch gekommen. Du, als Brigadier, hatte sie ihm geschmeichelt. Er: Schon lange nimmi (nicht mehr), itze tu’ch verreisen. Von der Traudel der Junge hoat sich scheidn loassn, war bei jedem Feste mit der Frau dabei, die hatten nich mal Zeit zum Stehenbleiben, und nimmt sich ne andre. Traudel is drüber krank geworn.

Oh je, hörte er Mutter sagen.

Den Kopp hätt se sich nich machen solln, sagte Rolf, als er ging. Die Bunten sind ja voll von solchen Geschichten. In dem blauen Tonkrug standen noch seine Blumen.

Dass ihr euch immer versteht, ihr beiden. Sie meinte uns, mich.

Die Schwester faltete einen Plastebeutel auf, sammelte die Tabletten ein. Es war gut, dass Ihre Mutter nicht ins Heim gekommen ist, die hat sich auch nachts nicht gefürchtet. Die viele Medizin, die ich schlucke, brauch ich nicht mehr, hätte sie gesagt.

Ein Auto fuhr an. Er erinnerte sich, dass der Ingenieur von nebenan mit der Familie in den Urlaub gefahren war, und ich war losgefahren, Prüfungen abnehmen. Er stand am Zaun und guckte hinterher, wie ich zum Bahnhof ging. Er hatte für sein Bienengrundstück jemand gefunden, während ich dachte, er stößt die Bienen ab, seit er mit Nippes handelt, auch die Garage bleibt, der Mercedes mit dem Hänger für den Nippeskram stand davor; das ist geklärt, seit mit der Einheit alles zu haben ist. Die nutzen jetzt den Garten gemeinsam, dafür macht der Nachbar das Gras ab. Bloß das Haus von der Jojo verfällt immer mehr. Wenn Marielouises Mutter nicht mehr ist, sagte er, fallen Reparaturen an. Bloß gut, dass das Dach auf Ihrer Seite noch dicht ist, er meinte mich, und ich sagte, nein, bei Mutter läufts rein. Den Tag kam die Sozialstation. Er fragte: Wie geht’s ihr denn? Mal besser, mal schlechter, und die Schwester nickte, als ich sie zum Auto begleitete. Sie legte den Finger an den Mund. Die müssen nicht alles wissen. Im Unterbewusstsein war Ihre Mutter hellwach, sagte die Schwester, die Papierwindeln in den Plastebeutel stopfte. Sie versprach, die Heimbürgin zu benachrichtigen, Frau Grube, die werden Sie kennen, den Mann auch. Ich versteh’s, wenn Sie nicht im Zimmer bleiben wollen. Sie verabschiedete sich.

Ich muss im Haus Bescheid sagen. Er ging telefonieren. Der Fahrdienstleiter, die rote Mütze auf dem Schreibtisch, winkte ihn herein. Man kannte sich. Die Kollegin am Schalter stellte keine Fragen, hinter der Glasscheibe zählte sie die Minuten. So lief das Telefonieren ab, wenn ich für Mutter anrief. Als sie noch laufen konnte, hatte ihr die Gemeinde versprochen, am Bahnhof eine Öffentliche einzurichten, nichts passierte, weder zur Volkswahl, als ihr das zum ersten Male versprochen wurde, noch beim zweiten Mal, mit einem Mal war die DDR zu Ende.

Heute zählte die Weichenstellerin hinter der Glasscheibe die Minuten, die zu bezahlen waren. Hoffentlich treffe ich Eichler nicht. Er wird fragen, wenn er mich auf der Treppe sieht, wie’s Mutter geht. Ist gereizt, seit sie ihn entlassen haben. Aber niemand war zu sehn.

Diese Gespräche an den Pfingsttagen. Eichler, den blauen Sturzhelm in der Hand, voller Widerspruch. In der Baude am Gondelteich hatte die Besitzerin gewechselt, seit die D-Mark galt. Wer sich zwee Häuser baut, er meinte die Vorgängerin, hat genug abgesahnt. Wen interessiert noch, was der andre macht, ob der an der Straße sitzt? Sie etwa?

So hätte’s nicht weiter gehen können, sagte ich, am Ende hätten wir ganze Städte abgerissen.

Bestreite ich doch gar nicht, aber die Industrie ist weg.

Die Führung war zu alt, die musste weg, das wars doch.

Die Führung haben wir ertragen. Oder? Eichler zog die Augenbrauen hoch, hatte das Gespräch satt. Was wir in den Betrieb für Maschinen reingebaut haben, bei uns in der Gerberei, wir hätten den Dogmatismus weghaben müssen, da mussten Reformen her.

In einer geschlossenen Gesellschaft funktioniert das nicht, Herr Eichler. Darauf er: Hätten Sie doch was gesagt. Und ich: Sie wissen doch gar nicht, was ich gesagt habe. Mit dem Gesichtsausdruck, das kann jeder behaupten, wollte Eichler das Gespräch abbrechen.

Leipzig hat die Sache beendet.

Ach, hörn Se doch off, war doch alles gesteuert mit den Demos.

Wollen Sie behaupten, dass der »Gegner« das den Leuten eingeredet hat, die auf die Straße gegangen sind, zwanzigtausend am zweiten Oktober, Montag drauf siebzigtausend?

Ach, lassen Sie mich. Er hatte mich stehen lassen und war ins Haus gegangen.

Pfingstdienstag. Ich hänge Mutters Nachthemden auf die Leine, und Eichler rollt das Moped aus dem Schuppen. Ich sage, ich wollt Sie nicht ärgern. Das könn Se ooch gar nich, und schwang sich aufs Moped, die Hand an der Bremse. Sagen Sie bloß, der BND ist besser als die Stasi? Behelmt saß er da. Lassen Se mich ausrädn, ich weiß Bescheid. Er erwähnte eine Auslandskaderschulung: S’ war eener dabei, von drüben. Der wollte zweemal seine Mutter anrufen, den hat der BND gleich erfasst. Die hatten an der Grenze ooch ihre Stationen.

Die Leute sind auf die Straße gegangen, nicht der »Gegner«. Diesmal widersprach er nicht. Machte die Beine breit, dass die Maschine nicht kippte: Arbeiter warn dabei. Stimmt, sagte er. Wie sie die Fischwirtschaft kaputt gemacht ham, und bei uns im Betrieb, wo kam der Sanierer her? Aus Hamburg. Von der Konkurrenz.

Wir sind im Kapitalverhältnis angekommen, in der Eigentümergesellschaft.

Sagen Se’s doch gleich, sagte er, der Parteisekretär gewesen war, die hätten die Inflation, wenn die Einheit nicht gekommen wäre. Die haben die Inflation mit uns bewältigt.

Aber ...

Lassn Se mich rädn. Bei uns in der Lederfabrik warn solche Liquidatoren. Da ist mal ein Guter dabei, was vernünftige Leute sind, zehn Prozent, die andern hat die Konkurrenz geschickt. Der eene, an den ich mich erinnern tu, lief im Betrieb gleich mit dem Computer rum. Wollte mich ausfragen. Von mir erfahrn Se gar nichts, sagen Se mir erst mal, wo Sie gearbeitet haben. Dort und dort. Warum sind Sie nicht dort geblieben? Pleite hatten die gemacht. Den Betrieb gabs nicht mehr, aber uns. Das schaffen Sie erst mal aus der Welt. Die haben uns ausgenommen. Lachte bitter. Solche Leute sind zu Massen rübergekommen. Wer das bestreitet, den kann ich nicht für voll nehmen.

Meinen Sie mich?

Ja. Die Bremse loslassend, rollte er zur Straße. In der Haustür Frau Eichler, wie ich mich erinnere, in schwarzen Strumpfhosen, Pantoffeln: Es fängt meist harmlos an, hatte sie gesagt. Regentropfen fielen. Die Frisur mit der Hand schützend, war sie ins Haus gehuscht. Eichler sieht sich als Verlierer der Einheit, mich als Gewinner.

Johannes hatte den Vorhang mit den Karos vorgelegt. Jojo muss ichs zuerst sagen, dass Mutter verstorben ist; sie hatte dem Wohnungsamt seinerzeit klar gemacht, dass Mutter einzieht. Auch Vater war erlöst, als die Teilhauptmiete aufhörte. Wir richten Ihrem Bruder den Todesfall aus. Mein Beileid, hatte die Frau auf der Post in Bautzen gesagt.

Warum bin ich nicht bei Mutter geblieben, statt Prüfungen abzunehmen. Immer hatte Mutter Wege gefunden, seine Wünsche zu erfüllen, selbst diesen letzten, und der Zufall stellte das Signal auf Rot, als habe sie den Zug angehalten. Er hatte aus dem Fenster geguckt, als würde Mutter noch dort stehen, wo früher ihre Wohnung war, gegenüber die Bahnlinie, davor die Valtenmühle, das Haus, von wo sie weggezogen war, dank ihrer Freundin, die auf dem West-Bahnhof arbeitete. Er hatte aufs Weiterfahren gewartet. Wie würde er Mutter antreffen? Er sah die Wiese, wo der Teich gewesen war. Stattliche Blaufichten ersetzten die Erlen. Das Haus steht zum Verkauf, hatte Mutter gesagt. Pappeln standen auf Rönischs Koppel, und jemand behauptete, die Spitzen würden vertrocknen.

Eine Zeit Zwischen den Untergängen hatte Andreas Reimann seine Gedichtsammlung genannt, das war ihm eingefallen. Auf dem Gleis hatten Verwundetenzüge gestanden, und wenn er mit dem Schulranzen heimkam, hatte das Haus, die Villa, denselben gelblichen Anstrich wie damals. Er stand auf der Treppe, spürte zwischen den Beinen die Katze, die schwarze mit Halsband, an dem ein silbernes Glöckchen bimmelte, und ging leise in die Wohnung. Marielouise saß hinter der Tür. Ihre Mutter, Jojo genannt, solange er zurückdenken konnte; der Mann verstorben, irgendwo im Lazarett, sie Eisenbahnerin, nie um eine Antwort verlegen. Mit der gutmütigen und, wie Mutter sich ausdrückte, ewig unadretten Tochter, lebte sie in einem ziemlichen Durcheinander von schönstem Meißner Porzellan, zerrissenen Strümpfen, allerlei Mitbringseln und Kram, den andere wegwarfen, sie aber aufsammelte. Marielouise liebte Blumen, Rosen, Tulpen, Nelken, Zinnien, Akelei, Gerbera, Dahlien. Hingebungsvoll säte sie, vereinzelte, was vom Samen aufgegangen war, umsorgte ihr Gärtchen, die Blumen, ihre Katzen. Sie war zwei Jahre länger ohne Arbeit als Annemarie Eichler. Als »Fortschritt« keine Mähdrescher mehr baute, gabs für sie keine Verwendung mehr. Manches, was sie seither in die Hände nahm, als sie die Männer mit Werkzeugen, Stäben, Blechen versorgt hatte, zerbrach beim Aufwaschen, wie die seltene Meißner Tasse, und Marie­louises Mutter schrie auf, was in der Wohnung drüber sogar Mutter hörte, sie brüllten sich an, hemmungslos, die eine mit schriller, durch Schwerhörigkeit unkontrollierter Altersstimme, die andere in einem den Männern abgelauschten fürchterlichen Schnauzton, der aus der flachen breiten Brust herausfuhr wie ein Unwetter. Bevor sie nicht erschöpft waren, hörten sie nicht auf. Wie Menschen sich das antun können?

Schrie Jojo die Tochter an, weil sie ahnte, dass sie die nächste sein würde, die zum Liegen kommt, und Marielouise, das vierte Jahr ohne Arbeit, die Mutter?

Die Sperlinge in den Fliederbüschen störte das nicht; sie nahmen das Futter von beiden. Was die sich zanken und haben doch nur sich. Auf halber Treppe dröhnte jetzt Musik. Er zog die Tür zu.

Eichlers Wohnung hatte Telefonanschluss, wegen der Partei, und Jojo auch, wegen dem Zugverkehr, deshalb hatte er auf dem Bahnhof telefoniert. Die erfahren es noch früh genug. Für mich ist der Bahnhof die Öffentliche, war Mutters Rede, als sie die Treppe noch steigen konnte, die sind zu mir am Schalter immer gefällig, dort bin ich unabhängig. Frau Eichler fuhr nicht mehr auf Arbeit, Herr Eichler auch nicht, seit die Gerberei zugemacht hatte.

Johannes blieb in der Küche, stand am Fenster und wartete auf Grubes und den Bruder. Frau Adolph kam ihm in den Sinn, Horst, mit dem er die Olympiadejournale durchgeblättert hatte, da war der Krieg aus. Benesch und die Schmidten redeten ihr bihmsches Deitsch. Rönisch hörte er reden, den Schlesier, Eimer klapperten, Frau Rönisch tränkte die Pferde. Hinterm Teich fing der Klötzerplan an, wo Langholz lag, solange was da war zum Sägen. Regen prasselt in den Teich, der nicht mehr da ist. Verwundete sitzen in Waggontüren, langsam fährt der Zug vorbei. Eins von zwei Gleisen hat die Demontage kassiert. In seiner schwarzen Wattejacke der Heimkehrer. Großvater setzt die mit Schlamm beladene Karre ab und geht auf ihn zu, was nicht sein kann, weil Gustav tot ist. Jungs springen vom Lastwagen, tragen Kisten ins Sägewerk. Jungs mit Schulterriemen, Hedwigs Sperlinge. Ich stehe schüchtern am Schiebetor. Immer habe ich an sie denken müssen, und trotzdem fing das Vergessen an.

Er hörte das Motorrad tuckern. Eichler stellte den Motor ab. Der Rhododendron hatte seine Blüten alle auf einmal geöffnet. Mutter hat es nicht mehr gesehn. Dieses Lila mit unbeschreiblichem Glanz, der Rhododendron eine einzige Blüte. Wie bestellt, sagte Mutter, wenn sie, als sie noch laufen konnte, zur Pfingstzeit am Küchenfenster stand. Ich weiß die Geburtstage nicht mehr, sagte sie dieses Pfingsten, der rutscht ooch rein, ins Grab. Sie hatte vergessen zu sagen, wen sie meinte.

Er sah Eichler ins Haus gehen. Wolken zogen sich zusammen, und über die Wiese fiel ein großer Schatten. Vogelstimmen, jetzt aufgeregter. Der Graukopf, der im Erdgeschoss wohnte, stieg aus dem Auto. Wenn es lange hell blieb, abends, rauchte er eine, später rauchte er eine zweite, nicht heute, das war, als Mutter noch lebte, und seine Frau, schon im Nachthemd, die Verkäuferin, fuhrwerkte mit den Armen in einem Strauch herum, man sah den dicken Hintern. Katzenjunge, Zuge­laufne, sagte der Graukopf, dem das erklärungsbedürftig schien.

Na, gute Nacht. Kein Licht machen, sagte Mutter, als Dunkelheit ihr Elend einhüllte. Der gute Junge ist inzwischen auch fort, damit er was hat von Pfingsten, sie meinte den Enkel. Zum Abschied drückte er sie. Weinte auf der Treppe und war still zum Bahnhof gegangen, der Student, der große Junge. Du weißt, dass er sich bewaffnet hat, hatte Mutter gesagt, er wusste das von Jürgen, dem Postler, auf den er wartete. Überall lauert Gewalt. Wer mich aufklatschen will, den steche ich ab, soll er gesagt haben. Wo der Hass nur herkommt, hat Mutter gefragt? Den Russen, als sie abzogen, wollte er eine Makarow abkaufen, aber zu kriegen war keine mehr. Geh zum Pfingstkonzert, mein Junge, und wenn du heimkommst, essen wir. Ich möchte, dass du mit draußen bist, wo die Musik spielt, musst denken, dass ich auch draußen bin, die sagen sonst, die Edith, das war vielleicht eine Suse. Sie redete wie über jemanden, den es schon nicht mehr gibt, bis sie aus langem Schweigen, aus dem sie plötzlich auftauchte, sagte: S’ ganze Mädel is k. o. Geh schon. Da lebte Mutter noch.

Eichlers machen vielleicht Mittag. Bei ihnen verging jetzt ein Tag wie der andre. Wie werde ichs dem Ronny sagen, wenn er unten steht und sein Fahrrad putzt. Vielleicht wird’s ihm Frau Eichler sagen, dass Mutter gestorben ist. Ich kann nicht an den Tod denken, schiebe das weg, denke an alles und jedes, ich warte, dass Jürgen kommt.

Ronnys Fahrrad war zu hören. Dass Frau Eichler übers Schwimmenlernen redete, kam ihm in den Sinn, wegen Ronny, sie frisch frisiert. Fährst wohl schwimmen nach Schmölln? Marielouise hatte sich dazu gestellt, ein Katzenjunges auf dem Arm, und Frau Eichler sagte, bei mir führte der Bademeister die Angel, ich hing am Schwimmgurt. Ich wäre in meiner Klasse der einzige gewesen, der schwimmen konnte, als Stadtmensch, sagte ich ihr. Die wenigen Badegelegenheiten. Anscheinend konnte Marielouise nicht schwimmen. Sie erinnerte sich an den Jungen, der im Hardtteich ertrunken ist, da war ich in der ersten Klasse. Hängen geblieben ist der. Nein, Herzschlag, ist erhitzt reingesprungen, statt sich abzukühlen, sagte Frau Eichler, sind dem Fußball nachgerannt.

Haben Sie auch im Steinbruch gebadet, wie die Frau – mir fällt der Name nicht ein? Die stieg die Holzleiter runter und glitt seufzend ins Wasser. Ich weiß, wer das ist, sagte Marielouise, dort baden, war gefährlich, und Waffen lagen auch drin. Das ganze Valtental steckte im Busche, fragen Sie meinen Mann, der kann Ihnen das genau erzählen, sagte Frau Eichler. Das war, als die Russen die Putzscher Brücken gesprengt ham. Nicht die Russen, Marielouise, die Wehrmacht, widersprach Eichler, der sich dazu gestellt hatte. Wer behauptet so was? Sie etwa? Unsre waren das, sagte er gallig. Marielouise räumte ein, sie hätte das aus der Zeitung. Ich dacht schon, Sie hätten den Quatsch erzählt. Der Russe stand am alten Steinbruch, die Brücken hat er nicht gesprengt.

Die Polen waren am Steinbruch.

Streiten Sie nicht, der Russe, hatte Eichler Johannes abgefertigt. Wer weiß da drüber überhaupt noch was? Weiß der Ronny was davon? Das weeßt nich mal du, sagte Eichler mit strengem Blick auf Marielouise. Zuerst kam Schörner. Sie wissen vielleicht, wer das war. Der kam mit seiner Blase zurück, und mein Bruder hatte das Kabel abgezwickt. Erschossen hätten die uns wegen bissel Klingeldraht. Eine Neunzigjährige haben die Leute auf dem Tafelwagen in den Busch gefahren, die Hühner gleich mit, erzählte Frau Eichler. Der Raffel war nich dabei. Der Name sagt Ihnen doch was? Gestapo, sagte Johannes. Sicherheitsdienst, korrigierte Eichler, den hatte ich als Lehrer, und mit einer kusshandähnlichen Bewegung: Moalen kunnte der, bei dem hoatten wir Zeichnen. Die Tochter war mal da, nach der Wende, die kriegten das Haus zurückübertragen. Wenn Rafeld einschlief, taten wir den wecken. Raffel moalte seine Frau nackch. Strümpe stoppen kunnt se nich. Der hatte Listen, sagte Eichler, die droff standen, die hätten sie abgeholt.

Marielouise, die gepünktelte Schürze über den Schenkeln, amüsierte sich, wie die Katze am Band nach Faltern haschte. Katzen sind Jäger, meinte Eichler. Nehmse den Hocker! Sie müssen ni stehn. Die Erinnerung, einmal angestoßen, rollte wie eine Kugel. Schölzel Emil, kanntn Se den? Der war SA, handelte mit Blumen. Mit Kunstblumen, ergänzte Frau Eichler und sah zu, wie Marielouise am Band die Katze heranholte. Die vielen Autos heute! Manchmal, an der Straße, ließ er mich strammstehn. So: Eichler sprang auf, legte die Hand an die schwarzlila Freizeithose. Weil’ch nich grissen wullt, bin’ch nüber auf die andre Seite. Am Tag droff schoss der Rafeld auf mich zu. Kannst nicht grüßen!? Ritsch, ratsch, hoatt’ch zwee Fautzen drinne sitzen.

Der Lehrer hat sich in Uniform in der Kirche trauen lassen. Du verwechselst das, Louise, Mendrock hat sich in Uniform trauen lassen, der später Betriebsleiter war. Der Sohn, widersprach Marielouise. Ich weiß das von ihr, sie zeigte mit der Hand nach oben zu Jojo. Herr Poike lief auch in Uniform rum. Der war bei der Wehrmacht, der hat den Volkssturm verabschiedet, sagte Eichler, er wird zweiundneunzig, und jetzt ist ihm die Frau gestorben, sagte sie. Nicht in SA-Uniform? Ist geklärt, Marielouise.

Sie kamen wieder aufs Schwimmen zu sprechen. Die Schwimmhalle hat »Fortschritt« gebaut, das Fortschritt-Werk, die bauten Mähdrescher. Die Halle ist noch zu unsrer Zeit eingeweiht worden, aber Marielouise, die das Thema aufgebracht hatte, hörte schon nicht mehr zu, weil unter dem grünen Schleier, mit dem die Erdbeeren abgedeckt waren, die gelbe Katze saß. Eichler guckte weg, als Marielouise den Hintern heraussteckte. Sie gingen ja alle in Strumpfhosen. Marielouise gab Leine. Die erwürgt sich sonst noch, die Katze. Eichler brachte das Russengespräch wieder in Gang. Polen waren das, sagte Johannes. Eichler, Russen. Woher wollen Sie wissen, dass auf dem Lämmerberg Polen waren? Und haben geschossen, am Steinhübel hoatten se de weiße Foahne bissel zu zeitch nausgehangn. Dann eben der Russe, hatte Johannes gesagt und war zur Mutter hochgegangen.

Er wartete auf die Heimbürgin und auf den Bruder. Die Reibe­reien mit Eichler sind unnütz. Ob ich im Haus Bescheid sagen gehe? Wenn das schwarze Auto vorm Haus steht, wird Zeit genug sein, sich auf den Tod einzustellen.

Jürgen ist gekommen. Du brauchst dich nicht fürchten.

Sie saßen in der Küche, redeten über Mutter, weil das von der Traurigkeit ablenkte. Ronny war unten, ich hab nichts gesagt.

Ronny erfährts zeitig genug.

Wenn Grube das Sterbegeld hat, nimmt er alles in die Hand, den Vertrag bringt er mit.

Die Grubes sind in Ordnung, mir hat sie das Wäschepaket für Mutter immer gegeben, wenn ich vom Zug kam und die Wäscherei geschlossen war.

Mutter war in letzter Zeit ziemlich durcheinander, sagte Jürgen, bei mir war Besuch, sagte sie, noch gar nicht lange her, die Frieda kennst du, und Fritz, ihren Bruder, da warst du Kind, den kannst du nicht kennen. Einer aus der Schule hat den Lehrer erschossen. Wie sie das sagte, hat sie die Hand auf den Mund gelegt. Er lebt angeblich drüben, und jetzt besucht er mich, hat sie noch gesagt.

Kann sein, Mutter war verwirrt, wie neulich, als sie sagte: Jetzt geh mer rein, es wird was kühler. Ich will Ruhe haben, ach, was will ich noch auf der Welt, das war Pfingsten.

Der hat den Lehrer erschossen? Jürgen sagte es leise. Das hat sie nicht bloß so hingesagt. Mutter wollte was loswerden. Schlaf ein bissel, hab ich zu ihr gesagt, und wie sie in meiner Hand das Wischtuch sieht, sagt sie: Immer gleich aufwaschen, wegstellen, das Wischtuch zusammenfalten.

Vielleicht gibt’s wirklich was, was wir nicht wissen.

Die Ella, die bei uns wohnte, hat mal was angedeutet, gegenüber Vater. Da wird viel erzählt, und Mutter war verschwiegen.

Mit der Zeit macht alles Platz für andres, sagte Johannes. Grubes könnten schon da sein.

Wir sollen zwei Hemden rauslegen, keine gestopften, was Schönes, hatte Grubes Frau dazwischen geredet, wie ich von Bautzen aus anrief.

Sie gingen in die Schlafstube. Findest du dich zurecht?

Jürgen nahm Hemden aus dem Wäscheschrank und legte sie auf die Frisierkommode. Der eine Seitenflügel hatte diesen dicken Sprung, man sah sich zerteilt, seit die Russen eingerückt waren. Winterhemden, sagte er, dünne müssen auch da sein.

Die dünnen lagen für sich, fein gemusterte, Jürgen suchte was Zartblaues aus. Mutter hat die meisten Hemden nie angehabt, denke ich. Er hatte sich hingekniet, machte mit dem Einsortieren auf einmal nicht weiter.

Du kommst nie drauf, was bei Mutter lag.

Zeig her. Johannes sah es. Mutter war verschwiegen, sagte er. Vielleicht dachte sie, dass er eines Tages vor der Tür steht.

Du meinst, der nach der Sägemühle gefragt hat?

Jürgen setzte sich auf die Frisierkommode.

Pass auf, der Spiegel kippt.

Vielleicht gut, dass es so gekommen ist, sagte Jürgen, Mutter wollte nicht mehr.

Ach, Mutter, du machst Sachen, sagte Johannes, und sie liegt nebenan.

Jürgen kniete am Schrank. Grubes müssten längst da sein. Sie warteten.

Der nach der Mühle gefragt hat, sagte Jürgen eine Weile später, hatte so ein großes Parteiabzeichen, an den kann ich mich gut erinnern, er war mit irgendwelchen Offiziersschülern unterwegs, wie die Russenpanzer rüber sind zu den Tschechen, der hatte solche Knopfaugen. Er hielt sich ein Nachthemd an. Soll ich das blaue rauslegen? Ich denke, das dünne blaue nehmen wir.

Mag das Frau Grube entscheiden.

Der, sagte Jürgen, der war das! Wer denn sonst? Wenn er nach der Valtenmühle gefragt hat.

Sie lassen uns warten.

Die haben nicht nur das.

Wenn ich sagte, ich als Gemeindebote, sagte Jürgen, schimpfte der Bürgermeister, Sie sind Zusteller!

Das ergab keinen Sinn. Mutter ist gestorben. Unabänderlich, alles. Er dachte schon, Grubes wären vor der Tür. Der mal nachgefragt hat, vielleicht wars der wirklich, Manfred, von der HJ der. Mutter hat das Ding beiseite getan, was richtig war, schon wegen der Schule.

Du hörst gar nicht zu. Jürgen legte ein durchbrochenes Hemd mit Krägelchen hin. Da hat Frau Grube was zur Auswahl. Ich denke, die sollten das nicht finden, was er dir geschenkt hat. Jürgens Gesicht nahm einen Ausdruck von Erleuchtung an.

Meinst du die Sozialstation?

Unter den Nachthemden hätte niemand gesucht. So schlau war Mutter.

Vielleicht wars der wirklich.

Vielleicht.

Es klopfte, das runde Gesicht von Frau Grube erschien. Unser aufrichtigstes Beileid zum Verlust Ihrer Mutter. Fester Händedruck, Schweigen, aber nicht lange. Ein schönes Alter hat die Mutter gehabt, nun hat sie Frieden. Herr Grube zog Papiere aus der Umhängetasche. Da Grubes stehn blieben, blieben sie auch stehen. Wir machen es, wie Sie vorschlagen. Er nahm in Mutters Schlafstube Platz, füllte den Vertrag aus. Erst geh ich zu ihr. Frau Grube nannte Mutter beim Zunamen. Ob die Hemden bereit lägen. Die sind gut, sie hatte die Nachthemden auf der Frisiertoilette entdeckt, er konnte so schnell gar nicht zufassen.

Sie sah ihren Mann an. Zeigte was.

Na, so was.

Hatte ich auch, sagte Herr Grube.

Lag im Wäscheschrank, mehr weiß ich nicht, sagte Jürgen.

Sie legte die Hemden wieder hin. Damit das seine Ordnung hat. Ihre Mutter können wir nicht mehr fragen. Sie sind jünger als mein Mann, sagte sie zu Johannes, Sie waren zu jung dafür. Sie nahm ein Barchenthemd mit eingewebtem Muster.

Aus Damast das gefiel Jürgen besser.

Sollen die Kinder entscheiden. Sie hielt sich’s an.

Das tät der Mutter gefallen. Jürgen wollte mit rübergehn.

Wir machen das schon. Johannes brachte das angewärmte Wasser, Waschlappen, Seife, das Handtuch. Die Tür schloss sich. Grube füllte aus. Wie ich ihr die Wäsche brachte, saß sie noch im Sessel. Seine Stimme kam wie von weit. Dieses Abschiednehmen war endgültig.

Die Bläser sollten zweihundert kosten. Dass die Firma die Bläser stellte, redete Johannes Grube aus. Der Sohn vom Bäcker sollte das Waldhorn blasen, solo, wie zu Vaters Begräbnis. Zu ihrem Fünfundachtzigsten hatte unterm Fenster der Posaunenchor geblasen: Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre. Bei Jojo und Marielouise ging das Fenster auf. Bloß Eichlers, die nichts zu tun haben wollen mit der Kirche, hatten ihrs schnell zugemacht.

Beim Eichler werden die Lippen auch immer dünner. Wie sich die Mundwinkel senkten, seit sie dem Parteisekretär fristlos gekündigt hatten; gallebitter, ohne Hoffnung war er.

Zum Schluss waren die Bläser die Treppen hochgestiegen, auf einen Schnaps. Ich ganz alleine mit den Männern, sagte Mutter. Nach dem Schnaps, den sich die Bläser nicht entgehen ließen, sollte sie sich noch ein Lied wünschen. Was habt Ihr denn zu bieten, Ihr Bläser? Ob sie nicht so ein Liedel hätten, was Schönes. Der Sohn vom Bäcker hatte Choräle vorgezählt. Ihr kommt nie drauf, was ich mir gewünscht hab, wie die abmarschiert sind, die drei Treppen runter, und ich ans Fenster gehumpelt mit meinen Stöcken. Die Gedanken si-ind frei, wer kann sie erraten? Wie schön ich singen konnte. Hatte die Hand bewegt, als dirigiere sie. Drum bleibt es da-a-bei: Die Geda-anken sind frei! Das kam vom Herzen, das Liedel. Wunderbar. Ich hab an euch gedacht, wie ihr an den Montagen marschiert seid. Die Gedanken sind frei, das spielten sie, bevor sie in ihre Autos stiegen. Welche fuhren noch Trabant, andre schon was Bessres, einer war aufs Fahrrad gestiegen.

Grube meinte, der Bäcker käme nicht billiger. Ich muss an meine Männer denken, die Buden haben doch alle dicht gemacht. Also gut. Ohne die Bläser.

Aus meiner Klasse sind die meisten in Vorruhe, der Arzt nicht, der Bäcker nicht, ich.

Vergessen Sie den Töpper nicht, der Töpfer kauft die Lederfabrik, die Gerberei, die von Lehmann, vom VEB.

Grube gab Johannes das Formular samt der Ledertasche, auf der es lag, zur Unterschrift, sie saßen auf dem Bettrand.

Der? Die Lederfabrik? Hör ich zum ersten Mal, sagte Jürgen.

Der vergrößert sich, der Töpper, ich gönn’s ihm ja. Die haben drei Söhne, Töpper, bloß der Jüngste nicht, bringts genauso, vielleicht noch besser. Das steckt bei denen so drinne, wenn du mit dem Scherbelzeug groß wirst. Die sind ihm manchmal böse, weil er den Einheimischen nichts abgelassen hat, als die Ware knapp war, aber ehrlich, wer hat das nicht gemacht? Staatsbewirtschaftet das meiste. Die sind von Berlin gekommen, haben im Auto geschlafen, gezeltet, bloß für ein Service, Kaffee, Tee, egal, wegen Wandtellern, geschwämmelten Vasen, Schüsseln, den kleinen Krügen. Bloß die Puppenstuben sterben aus. Wenn die um Achte früh aufmachten, Mittag war alles raus. Die Gerberei, denke ich, hat er für ne Mark gekriegt. Von der Treuhand. Als erstes haben sie den Speisesaal hergerichtet, in dem stehn die Trockenbretter. Zuerst muss das Tonzeug trocknen, dann wird bemalt, zum Schluss gebrannt.

In meinem Beruf hört man viel, meinte Grube.

Seine Frau erschien in der Tür. Ich hab vom Töpper erzählt. Da weiß ich noch was, sagte sie. Als der Lehmann die Fabrik baute, hat der einen Häusler nach dem andern aufgekauft, bloß zweie nicht, an die ist er nicht ran gekommen, nicht für gutes Geld, nicht für gute Worte. Das vom Töpper und vom Steinmetz, das lag auf der andern Seite vom Wasser, dazwischen die Wesenitz, die Grundstücke sind geblieben, die hat nicht mal der Sozialismus weggekriegt, da war der Töpper wichtig für den Export. Mit einem Gesicht, das zu ihrem traurigen Geschäft passte, ging sie wieder hinein.

Grube setzte die Unterhaltung fort. Den Gerber Lehmann hat der Umsturz enteignet, der hat für die Wehrmacht produziert. Jetzt keeft der Töpper für ne Mark den VEB von der Treuhand. Ist die Welt nicht verrückt? Das Wasser war vom Gerbersalz fast schwarz. Seit die Gerberlake reinlief, kein Schwänzel Fisch, bis sie die SED rausgeschmissen und die Bude dicht gemacht haben. S’ Wasser wird wieder reene.

Und die Maschinen?

Grube verdrängte sein Lachen. Sind längst fort, über die Grenze. Die Polen haben die Gerberei ausgeräumt, die Maschinen abgebaut, in Polen wieder zusammengesetzt. Die arbeiten mit diesen Maschinen. Von der Gerberei einer hat das beaufsichtigt. Die werden uns Konkurrenz machen, warten Sie ab, das hat schon angefangen.

Haben Sie einen Plastesack?

Was Mutter am Leibe hatte, lag vermutlich in dem Betttuch, das Bündel, das Frau Grube in den Sack stopfte, den Jürgen aufhielt. Nehm ich mit. Sie ging in die Küche. Sie können reingehn. Sie hörten Wasser laufen.

Es war Mutter, und es war sie auch nicht. Sie brächten in vielleicht einer Stunde den Sarg und den Wagen.

Im Sarg-Album zeigte Grube das Angebot.

Tränen in den Augen, wählte Jürgen aus. Sie begleiteten Grubes zur Straße, als Eichler kam, den Helm abnahm und vom Moped stieg. Mein herzliches Beileid, unser Beileid. Wie blass Eichler aussieht. Falten hatten sich ins Gesicht gegraben. Johannes konnte nicht weggucken. Ich komm vom Haareschneiden, sagte Eichler, ergraut, der Blick schmerzlich. So gingen sie auseinander. Er hätte Mutter lieber im Altenheim gesehn, als sie noch laufen konnte. Wegen seiner nicht unbegründeten Sorge, dass was passieren könnte, mit dem Gas, wenn sie allein war oder in der Adventszeit lichtelte. Seit Mutter zum Liegen gekommen war, hatte sich das erledigt.

Als Grube vorfuhr, dunkelbraunes Auto, kein so rabenschwarzes, fragte er, ob Kinder im Hause wären. Ronny, Mutters kleiner Freund, war auf einer Geburtstagsfeier. Dann bleiben Sie in der hinteren Stube. Grubes waren die Treppe heraufgekommen. Er begriff, sie trugen Mutter im Betttuch über die Treppe. Johannes erblickte sich im Spiegel. Das dunkelblaue Jeanshemd stand offen. Er entdeckte Augenringe. Im zersprungenen Seitenspiegel, dem aus der Russenzeit, sah er die Haare dünner werden. Bist auch alt geworden, mein Junge, hätte Mutter gesagt. Weihnachten hatten sie gemeinsam die Gans gebraten. Wie ist ihr Leben dahingeeilt. Hatte ihm über die Schulter gesehn, wie er die Gans füllte, den Beifuß abgemessen hat.

Grube klopfte und öffnete, ohne einzutreten. Es ist soweit. Der Ernst war nicht aufgesetzt, er stellte sich ein. Man hat sich ja gut gekannt, mal geplaudert, wenn Johannes Wäsche abholte.

Wärme strömte ins Treppenhaus. Er sah die aufgereihten Holzschuppen, Mutters rote Holzbank unter der Eiche, den in die Wiese getretenen Weg zum Bahnhof. Sie gingen an dem gelben Medaillon an der Tür vorbei, auf dem ein gelockter Knabe saß, das hatten die Eltern Ronny geschenkt.

Die Bahre stand an der Haustür. Mehr Platz war nicht. Mutters Füße waren draußen, der Sarg offen. Später erinnerte er sich, dass Frau Grube vom letzten Gesicht gesprochen hatte, das man festhalte. Er erblickte die gefalteten Hände, auf weißem Grund Röschen, auf einem Deckblatt rote Blüten, angesteckt mit Nadeln. Johannes und Jürgen stellten sich draußen auf, Grubes seitlich mit deutlichem Abstand. Johannes wollte sich zu dem Gesicht beugen. Die Heimbürgin mit einem Ausfallschritt hielt ihn zurück. So standen sie in einer Stille, die keine war, denn um sie herum und über ihnen war alles laut und belebt, die Vögel zwitscherten, Flügelschlag war in der Luft, am Bahnhof fuhr ein Zug ein.

Kann ich zumachen?

Jürgen sah Johannes an, Tränen in den Augen.

Ja, zumachen.

ERSTES BUCH: EIN ANDENKEN

Dieses Buch berichtet von Abschiednehmen. Vom Krieg. Was er mit uns anstellte, mit Gustav, der eine Sägemühle mit Haus, Teich, Garten, Wiese, Feld verwaltet, mit Hedwig, den anderen. Da steht ein Junge vor uns, Johannes, behütet von den Großeltern. Unser Held, nennen wir ihn so, erlebt, bevor der Krieg ganz aus ist, wie HJ-ler die Mühle besetzen. Er findet Freunde. »Diese Jugend opfert sich für Deutschland.« Übrig bleibt das Andenken, ein Dolch, den Johannes in den Händen hält. Ein Schwein wird abgestochen, auch das gehört zu dieser Geschichte. Wellfleisch wird gekocht, als Edith ankommt, die Mutter von Johannes. Der »Russe« hat die Neiße überschritten. Bautzen wird geräumt. Christiane (Christel), das ist die Mutter von Georg, Soldat; Edith ist seine Frau. Die andere Oma überlebt den Brand in der Altstadt. Die »Russen«, wer das auch war, bleiben. Die abgeschossenen Panzer am Bahnhofsvorplatz erinnern, was war. Johannes glaubt fest daran, dass sein Vater lebt. Irgendwo aus Russland, viel später, kommt Nachricht. Da ist längst wieder Schule. Die neue Zeit (so heißt sie) hat angefangen.

Die Flucht mit den Verwandten auf dem grünen Dreirad – mit Adele, Erwin, Siegfried, der Siggi gerufen wird – war nicht vergessen. Polnische Truppen besetzten Sebnitz, nicht die »Amerikaner«. Zahllos die Flüchtlinge. In Gegenrichtung Autokolonnen der Sieger auf dem Weg nach Prag. Hedwig war der Tochter in der Nacht gefolgt. Auf dem Rückweg hatten die Verwandten sie im Stich gelassen. Muttel hat sich auf der Flucht den Tod geholt, sagt Edith. Sie muss die Wohnung in Bautzen aufgeben und mit den Kindern zu Gustav ziehen.

Mit den Alten beginnt das Abschiednehmen. Bei Barthel Martin, der aus Gefangenschaft heimkehrt, wandern Granatsplitter durch den Körper. Zertrümmerte Familien. Lebt Georg? Langsam fahren Züge über Brücken aus Holz.

An einem Tag im März, als die Jungs ankamen, die in der neuen Zeit nicht mehr HJ-ler heißen werden, beginnt dieses Buch. Es gibt keinen Ich­erzähler. Es fängt an.

1

Ach, hätte Mutter gesagt, du konntest nicht einschlafen. Weil du selten zu Besuch kommst

Obwohl kühle Luft aus den niedern Wiesen durchs Fenster strömte, das er geöffnet hatte, konnte Johannes nicht einschlafen. Neben der Liege auf Vaters Bett stapelten sich Inlets, dunkelblaue, blassblaue, mit Wasserflecken welche und dunkelrote. Niemand brauchte diesen Bettenberg, der sich angesammelt hatte, wie alte Post. Mutter hatte Federn reinigen lassen. Die hellblauen Inlets, erzählte sie, waren noch aus der Mühle, die ihnen gehört hatte, Betten, die Muttel, ihre Mutter, gestopft, Federn, die sie an Winterabenden geschlissen hatte. Von den Gänsen wurden nur die feinen Daunenfedern genommen; Betten, die Mutter in die Ehe mitbekommen hatte. Die ziegelroten Inlets stammten von Vaters Cousine und vom Minchen, Gretes Köchin aus dem Kindergarten. Länger als ein halbes Leben hatten sie gemeinsam zugebracht und sich mit diesen Betten zugedeckt. Die langbeinige Grete stand dem evangelischen Kindergarten auf der Bahnhofstraße vor, bis sie Anfang der sechziger Jahre herausgedrängt wurde. Die Stadt hatte im Kronensaal den Volkszorn über sie ausgegossen. Auch Minchen, die an den großen emaillierten Kochtöpfen stand, schied aus, als die Kirchenoberen das Problem, dass in der kirchlichen Dienstwohnung zwei Frauen in einem Zimmer schliefen, und vielleicht in ein und demselben Bett, aus der Welt schafften.

Die Deckbetten waren schwer. Vater lehnte es ab, sich mit diesen Ziegeln aus Gretes Erbe zuzudecken. Außerdem war da noch das Zudeckbett seiner Mutter, das er benutzte, wenn die Betten zum Sommern über der Leine hingen. Die Federbetten von Bartsches, die kinderlos geblieben waren, gab es auch noch. Als Sache von Wert hatte Mutter die Zudecken aufgesammelt. Betten wurden in der Familie weitergegeben. So war es bei ihren Eltern gewesen, und so setzte sie es fort. Arthur Bartsch, früher Lehrer in Meißen am Gymnasium, hatte seinem Cousin auch Tafelsilber hinterlassen, dekorative Meißner Teller, dreißigtausend Mark Bargeld, das mit der Einheit zwei zu eins umgetauscht wurde, wo dem Enkel, der es in Aktien anlegte, ein schöner Rest blieb.

Später, im Leipziger Neubau­block, mit zweieinhalb Zimmern war für Mutters Betten kein Platz, Jürgen kam damit auch nicht zurecht, weil er das Altstadthaus auf der Messergasse mit dem hohen spitzen Giebel, das er von seiner Patentante, von Grete, geerbt hatte, aufgab; der Sturm hatte Dachziegel heruntergeweht, die er nicht beschaffen konnte, während Grete, solange sie lebte, ihre Kindergartenkinder von früher, die Handwerker waren, für Reparaturen eingespannt hatte. So war der Bettenberg am Ende bei Mutter liegengeblieben.

Unterm Bett fand er Werkzeuge, die keiner mehr angefasst hatte, seit Großvater tot war, Zangen, ausrangierte Messinghähne, alles nur Mögliche. Den Brieföffner mit Geweihgriff, ein Hochzeitsgeschenk, werde ich mitnehmen. Vater, damals, hatte den Karton geöffnet, sich bedankt und die Schreibgarnitur nie mehr angefasst, die den Krieg überstand, die Umzüge, seinen Tod, ihren. Mutter erwähnte den Geweihschmuck nie. Unpassende Geschenke werden totgeschwiegen.

Auch in der hinteren Stube standen die Fenster offen. Wo der Regen anschlug, am Rahmen, war das Holz verbraucht, ausgewaschen. Über Mutters Nähmaschine das Foto. Auf einer großen Wiese pflückte sie Margeriten. Johannes fand keinen Schlafanzug, bloß Nachthemden, zog eins an und legte den Dolch unter den Hemden wieder auf die Frisierkommode.

Ein Zug. Der Wald warf die Schienenstöße zurück. Es gab Zeiten, da hatte er diese Geräusche nicht mehr gehört, dieses Rauschen, das die in ziemlicher Geschwindigkeit durchrollenden Waggons erzeugten, es war immer da, wenn Züge durchfuhren, der Wind um den Bahnhof fauchte, ein Güterzug bremste, die Wagen aufeinanderstießen und die Puffer krachten. Ach, hätte Mutter gesagt, du konntest nicht einschlafen. Weil du selten zu Besuch kommst. So war er in Gedanken wieder bei ihr.

2

Trittbretter fuhren vorbei, Beine, an denen Stiefel steckten. Gib mir Bratkartoffeln, sagte der Junge

Ein Zug kam zum Stehen, fuhr wieder an. Die Geräusche enteilten und mischten sich neu mit denen der Nacht, die längst begonnen hatte. Wieder Züge, die in seinem Kopf herumfuhren, bis er in einen einstieg, nachdem er auf dem Bahnsteig lange gestanden und gewartet hatte, dass sein Zug käme. Ein Gefühl von Schwerelosigkeit erfasste ihn, weder stand noch saß er. Ein Schmerz, der sich zusammenzog, je nachdem, nach welcher Seite des Bettes er sich drehte, war zu spüren.

Wie oft hatte er auf Züge gewartet. Der Zug, der ohne zu halten durchfuhr, hatte keine Fenster zum Herunterlassen, draußen der Wald. Trittbretter fuhren vorbei. Beine, an denen Stiefel steckten, Männer, die rauchten, aber weder ein Gesicht hatten noch Augen. Er sah keine Nasen, die müssen da sein, denn die Männer rauchten, nur er entdeckte die rauchenden Männer nicht, als hielte er die Augen geschlossen, das war aber nicht so. Ich hab die Augen aufgerissen, was ich sehe, erschreckt mich, die eingewickelten Köpfe, verkrustete Verbände, eingetrocknetes Blut. Kein Halten. Weder auf Bahnhöfen, die er kannte, noch auf freier Strecke. Das gelbe Haus, in dem Mutter wohnte, das sich in der Sonne gespiegelt hatte, die Villa unter dem roten Walmdach, verschwand. Entengrütze legte sich auf den Teich vor dem Bahndamm. Ein immerwährendes Durchfahren hatte begonnen, nicht so eins wie gestern, als er ankam, das Signal klappte, der Zug hielt, als die Valtenmühle durchs Fenster guckte, bis der Zug einen Pfiff ausstieß, dieses fast lautlose langsame Anfahren, bei dem sich die Puffer zentimeterweise ausein­anderzogen, bis die Räder zu rollen anfingen. Er sah Männer herumsitzen, andere stehen, winken oder fast unbeweglich verharren, sah sie ihre Taschen umdrehen, ihm Seifenstücke zuwerfen, Drops, und entfernt davon, was das Kind nicht sah, Stahlspitzen, die sie wegwarfen, als hätten sie für ihn ein Zuwerfgeschenk gesucht und keins gefunden. Patronen, einzelne oder im Rahmen liegen auf einem Kuchenbrett. Das gelbe Haus mit dem Walmdach wie einen Sehnsuchtspunkt vor Augen, vor Eichen, die allen Winden standhielten, wartete er auf ein Ziel.

Ihm träumt, dass er in einem von diesen wurmlangen Zügen sitzt, die von einem Bahnhof zum andern fahren, als lagere an dieser Strecke überall Wehrmacht. Das Herz, das ihm gegen die Brust schlug, schmerzte. So nahe fuhr man aneinander vorbei, dass man sich hätte die Hände geben können. Da hätte er umsteigen können, vorausgesetzt die Schiebetüren standen offen. Doch niemand öffnete. Jetzt sah er auf Bremsschuhen Kanonen, unter geschecktem Grün und Grauplanen.

Im letzten Wagen tippte ihm jemand auf die Schulter.

Zwei Jungs, Riemen über der Brust, die Gesichter wie zugeklebt, so sehr er die Augen auch aufriss, sie blieben unsichtbar, obwohl es taghell war und er sich am helllichten Nachmittag hergesetzt hatte, um zu warten. Was Essbares? Der Kleinere, als halte er sich am Türrahmen fest, mit erhobenen Armen, aber da war keine Tür. Brot? Gib mir Bratkartoffeln, sagte der Junge, welche mit Speck, von deinem Teller. Mir auch. Der Größere hob die Schultern, als wolle er drohen. Wo soll ich Bratkartoffeln mit Speck hernehmen? Durchgeriebene, richtige Reibekartoffeln? Mit ausgebratenem Speck? Johannes durchwühlte die schweinslederne Aktentasche, mit der er auf Arbeit fuhr. Gib her, Kamerad, wir teilen, was du auf dem Teller hast. Wie heißt du?, fragte der Kleine. Du hast doch einen Namen. Jeder hat einen. Dietrich, das bin ich, Manfred, sagte der andere, du darfst auch Manne zu mir sagen. Beim Auspacken entdeckte Johannes die Monatskarte der Deutschen Reichsbahn, seine Fahrkarte, die nach dem Siebzehnten Juni aber ihren Preis behielt, hin und zurück acht Mark fünfzig. Was sie kosten sollte, hatte er vergessen. Die Brotbüchse flog in die Ecke. Der Kleine pfiff zwischen den Zähnen, sah das Barchentnachthemd aus der schweinsledernen Tasche gucken, riss dran. Gucke an, sagte der Größere, was Spitziges, während der Kleine durch die Zahnlücke pfiff. Manne, mein Dolch! Er warf, und zack, das Stahlding steckte. Es hatte sich in eine Wandzeitung gespießt, die auf dem Bahnhof West hing, von der Arbeitsgemeinschaft Lokomotive was, abgekürzt Lok, und an der Wandzeitung klebten Artikel der SED-Parteigruppe. Mein Dolch, sagte Johannes. Ein Personenzug fuhr ein. An den Fenstern Jungs, keine Mädchen, sie lehnten, sie hingen aus den Fenstern, lauter Jungs mit Haartolle, die Ohren freigeschnitten. Die neue Gemeinschaft war eingestiegen. Kein Rauskommen. Der Wald flog vorbei. Unter der langgestreckten Brücke die Wesenitz. Bloß reden hörte er nicht. Vollgestopfte Abteile. Viele Köpfe. Kurz geschnittenes Haar, Seitenscheitel. Die Gesichter weg, nicht auffindbar. Wie radiert. Ich vergesse die Namen. Sehe den Himmel so klar, wie ich ihn mir zum Geburtstag wünsche. Die Wesenitz klar, seit sie die Lederfabrik zugemacht haben. Die Produktion ist eingestellt. Das kann nicht sein. Leibriemen werden gebraucht, Koppel, damit die Uniformhose hält, Kommandotaschen, das ganze Lederzeug, das sie herumschleppen, wird gebraucht bei diesem Tross von Pferden, Kanonen, Tarnbezügen, den Taschen, die an die Kräder geschnallt sind. Nein, bei Gerbers ist Hochbetrieb. Rrräder müssen rrrrollen für den Sieg, und plötzlich ist Plansilvester angesagt, Leute, das Planjahr geht zu Ende, bloß der Plan ist nicht erfülllt. Ich muss raus, die Tür springt nicht auf. Die Klinke sehe ich, nicht die Tür. Ich sehe die Klinke, nicht die Tür. Als rage die Klinke aus der Wand. Er sieht Mutter Margeriten pflücken. Sie fahren ein auf dem Bahnhof, den er von allen Bahnhöfen am besten kennt. Die Maße wie mit dem Lineal gezogen. Bahnhofsmaße. Das Blechdach auf gusseisernen Säulen. Ich schlage an die Scheibe. Nicht abfahren. Ich habe die Tasche vergessen. Da reißen mich die Jungs hoch, ziehn mich durchs Fenster. Der Zug nimmt Fahrt auf. Mutter winkt. Im weiß blühenden Wiesenschaumkraut steht sie und schwenkt lang­stielige Margeriten, entschwindet. Wo ist die Tasche? Ich steige über Jungsbeine, dränge mich durch, stoße an Kochgeschirre, werde das Ziehen in der Herzgegend nicht los. Sitzen die Bratkartoffelesser, die ich suche, im allerletzten Wagen? Wie lang die Züge sind, die an die Front fahren, von der Front kommen. Türen krachen. Der Blick umgreift Gesichter. Wir stehn uns gegenüber. Ich muss den Dolch einwickeln. Sie aber, als wären sie nicht im Zug, tun so, als könnte sie keiner ertappen mit so einem Dolch, den keiner mehr haben darf. Sie lassen die Klinge fliegen. Zack, sagt der Kleinere und wirft. Zwischen Brust und Oberarm fährt die Klinge ins Holz. Mensch, das saß! Der mit den Kulleraugen reißt die Klinge heraus, und, zack, saust der Stahl zurück, bleibt stecken. Gebt die Tasche her! Der Zug bremst. Das Herz schmerzt. Die Lok stößt einen Pfiff aus, und der Kleine holt schon wieder aus, wirft, sieht, wie der Dolch dem Kameraden in die Brust fährt. Wo warst du die ganze Zeit, fragt mich der Kleine. Hättest mitspielen können, sagt der Getroffene. Schluss, Manfred, wir hören auf. Sprachlos sieht er zu, wie sich der Junge das Messer aus der Brust reißt. Das tut doch weh, Dietrich. An verschlossenen Türen vorbeilaufend, sucht er die Tür. Findet sie nicht, wacht auf.

Am Bahnhof West bleibt der Zug stehen.

3

Der bei den Großeltern auf Krücken in die Küche hopste, Heil Hitler sagte und die Tür nicht zubrachte. Ihm rutschte ein Messer heraus

In kurzen Hosen und Kniestrümpfen, die zur Uniform gehörten, war Dietrich hereingekommen, den Arm bandagiert. Viel zu kalt für diese Jahreszeit der März, sagte Mutter später, die nicht dabei war. Vielleicht gehörten solche Hosen zu diesem Vorfrühlingstag. Ein Hauch von gebratenem Speck zog durch den Flur.

An der Bodentreppe stand die Blechbadewanne.

Ist noch Zeit?

Setz dich. Gustav rückte den eisernen Topf zur Seite. Tropfen zischten.

Magdeburg wird bombardiert.

In Magdeburg bin ich über die Elbe geschwommen, lange her.

Die Strümpfe kratzen.

Lass sie kratzen, Johannes.

Herein!

Der auf Krücken in die Küche hopste und Heil Hitler sagte, brachte die Tür nicht zu. Ihm rutschte ein Messer heraus.

Gustav war schneller.

Sie waren sich nicht einig, was passiert war, als der Dolch auf dem Tisch lag.

Sind wir Kameraden?

Du lässt das liegen, Johannes!

Der gehört mir.

Freunde seid ihr nicht, dachte Hedwig.

Dietrich war Melder. Der Aufhänger ist durchgerissen, sagte der andere, der Manfred hieß, haben Sie was zum Annähen?

Esst, dann sehen wir weiter.

Nun saßen drei Jungs am Tisch, von denen zwei erzählten, wie das ist, wenn Phosphor auf der Straße brennt. Johannes lauschte. Hedwig hatte die restlichen Reibekartoffeln ausgeteilt.

Den sie Dieter nannten, ließ den Dolch nicht aus den Augen.

Was zum Umbringen.

Mir gefällt eure Unterhaltung nicht, und jetzt verschwindet, da ging das Licht aus.

Gustav suchte Streichhölzer.

Endlich.

Ihre Finger, fragte Manfred, haben Sie die Finger im Krieg eingebüßt.

Das Auge, die Finger mit der Motorsäge.

Was gehen diesen Jungen deine Finger an. Nichts passt mehr zusammen, fand Hedwig, und dann lag noch dieses spitze Ding auf dem Fußboden. Bei so viel Unglück. Martha war tot, verbrannt, das konnten sie nicht wissen, als sich Hedwigs Geburtstagsrunde versammelte, am dreizehnten, Blumen hatten sie gebracht, Bernhard das Alpenveilchen, wie jedes Jahr, Anna und der Eichen-Alfred waren mit einer großen Azalee gekommen, Adele mit was Süßem, bloß Selma sagte, meins hab ich bei Adele dazu getan. Stimmung war nicht aufgekommen, das lag am Krieg, der schon ganz nahe war. Vor dem Dunkelwerden war der Himmel überzogen mit einem schwachen Licht auf Dresden zu, das nicht hingehörte am Himmel, das stärker wurde. Ich glaube, Dresden brennt, sagte Gustav, und Hedwig fing gleich an zu weinen. Ihr müsst ni glei ans Schlimmste denken, sagte der Stein-Erwin, der so hieß, weil er einen Steinbruch bewirtschaftete. Dann standen sie auf dem Dachboden. Das muss schlimm sein, dort, der Himmel ist so ganz anders ausgeleuchtet. Gustav hatte Johannes ans Bodenfenster gehoben, damit er das auch sah.

Die Jungs blinzelten ins Kerzenlicht, waren mit sich beschäftigt.

Wie Wasser verlief sich die Zeit. Der gehört mir, den hat mir der Vati geschenkt, hatte Dietrich gesagt. Der war doch noch ein halbes Kind, dachte Hedwig. Wer verschenkt so was.

Ja, wenn der Schwager, Alfred, nicht gekommen wäre, sie hätten in Ediths Wohnung vom Wehrbezirk welche reingesetzt. Das konnte Alfred abwenden. Hedwig hatte die Tochter vor Augen, vielleicht hatte sie am Klavier gesessen und dem Untermieter die Capri-Fischer vorgespielt.

Das Licht ging an.

Nu aber raus, eh ich euch fortscheuche, rief Hedwig.

Die Kerze war fast runtergebrannt. Gustav brachte die Blechwanne. Johannes machte den Anfang, schlief schnell ein. Gustav streckte sich in der Wanne aus, genoss die Wärme. So gefällts mir, sagte er, und blies in den Seifenschaum über seiner Brust.

Sie drehte am Radio. Irgendwas in den Nachrichten kam.

Den Weg zur Front, den gibt’s nicht mehr, sagte Gustav, Herr Adolph, als der fiel, das war schon nicht mehr in Russland.

Seit sie in den schwarzen Sachen steckt, möcht ich am liebsten weggucken, sagte Hedwig und stellte das Radio ab. Anfang zwanzig war Frau Adolph, als sie eingezogen sind, und eher schwanger als Edith.

Ja, sagte er, tot, der Lehrer Adolph, so ist der Krieg, und immer in Trauer.

Du bist dran. Gustav wechselte das Wasser. Die Verliebtheit von dem jungen Weib, wenn sie im Nachthemd über die Treppe huschte, und ich war beim Kohleholen auf der Treppe. Er legte sich aufs Sofa.

Hedwig saß in der Wanne. Gustav, denkst du noch manchmal an das schöne Kaffeetrinken mit Adolphs, mit allen, die dabei waren und nicht mehr da sind? Aber Gustav war eingeschlafen. Er kann vergessen, ich kanns nicht. Der Zeit, die er im Ersten Krieg verloren hatte, war er nachgejagt, als ob die jemand zurückbringen könnte. Die Mühle hab ich schuldenfrei gemacht, da bist du aus England gekommen, aus der Gefangenschaft mit so einem Bart, dass Edith erschrocken ist, dem dicken Bart, als du aus England gekommen bist. Dir hat das nicht genügt, hast verbessert, wieder das Neuste ausprobiert, die Pferde abgeschafft, das Mehl mit dem Auto transportiert, und über Nacht kam die Krise.

Ach, Gustav, du kannst vergessen. Gustav, hat Minna gesagt, so ist mein Bruder. Die Mühle ist weg, von der Krise verschluckt, und Vater denkt, er kann dem Weickersdorfer Richter die Sägemühle abkaufen, das große Grundstück, auf seine alten Tage. Für wen? Für Georg, wenn er heimkommt, aus dem Krieg? Manches ging ihr durch den Kopf. Frau Adolph, die ohne Ernährer war, die von Unterstützung lebte. Dass sich Adolphs zur Olympiade ein Kindermädchen anschafften, fiel ihr ein. Sogar den Namen weiß ich noch, da streifte Hedwig schon das Nachthemd über. Bin fertig, rief sie. Er leerte die Wanne.

Gustav, erinnerst du dich, dass sich Adolphs zur Olympiade ein Kindermädchen anschafften, Helene Gröbe.

Helene, ja, sie hat sich was suchen müssen, seit Herr Adolph tot ist.

Ich muss an die Jungs denken, sagte Hedwig, an die denk ich oft.

In der Ritze vom Doppelbett schlief Johannes, und so legten sie sich, um den Jungen nicht zu wecken, jeder von seiner Seite aus ins Bett.

Immer muss ich an die Jungs denken, sagte sie, die werden abfahren. Dass sie auf Abruf leben, brachte Gustav vor ihr nicht über die Lippen, aber es war so.

So warteten sie auf den Schlaf.

4

Im Gedächtnis blieb Johannes der Pfiff auf der Trillerpfeife. Großmutters Sperlinge begleiteten ihn, seit das Schicksal die Jungen fortwehte

Der Trupp hatte sich wie ein Sperlingsschwarm, Hedwigs Worte waren das, in ihre Beete gesetzt, Zeltbahnen, Decken und Rucksäcke am Sägewerk abgeladen. Die Fahne, die sie mitbrachten, ging hoch. In schwarzem Kleid und Strickjacke Frau Adolph. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie lief ins Haus. In Teplitz hatte sie mit angesehen, dass Walter mit einer immer jüngeren Truppe ausrückte. Sie waren beim Halma, da brachte die Postfrau das Telegramm. Die Figürchen blieben stehen. Hedwig hatte es nicht fertiggebracht, das Spiel einzureißen. Ich komme wieder, da schreckte die Todesmeldung das Valtental auf.

Der Tag begann mit dem Wecken, die Jungs kamen unter den Decken hervor, und das Waschen fing an. Wem’s im Waschhaus zu eng war, spuckte in den Teich. Johannes lauerte am Fenster im Nachthemd. Verpflegung wurde gebracht. Beim Stacheldrahtziehen verletzte sich Dietrich. Im Gedächtnis blieb Johannes der Pfiff aus der Trillerpfeife. Hatte damit der Appell begonnen? In welcher Reihenfolge lief der Tag ab? Großmutters Sperlinge begleiteten ihn, seit das Schicksal die Jungs fortwehte.

Johannes war dabei, wenn sie ausrückten, der Wald den Gesang verschluckte oder das Singen am Berg widerhallte, am Gusshübel und wo sie überall hinkamen, als wären sie Tausende. Sie übten Entfernung schätzen, Geländebeschreibung, sich tarnen, anschleichen, Karte lesen. Briefmarken waren plötzlich langweilig, die hatte er auf dem Boden ausgeschnitten, den Ebert, den Hindenburg, die Germania, was sonst noch in dem Papierhaufen lag, welcher von Mierisch, dem das Sägewerk gehörte, bis er pleiteging, übrig geblieben war.

Wir kämpfen und kämpfen, / wir siegen und siegen, /

wir sind zum Sterben stets bereit – / wenn nur die Fahne,

unsere Fahne, / mitmarschiert in die Ewigkeit.

Sie heizten das Waschhaus, das Kontor, das sie Führerzimmer nannten, marschierten ins Dorf zur Jugendfilmstunde in die Schule. Jungvolkjungen sind hart, sagte Dietrich. Der Führer hinkte. Züge fuhren durch ihre Träume. Manfred hatte sich den Knöchel gebrochen. Er nähte Dietrich die rote Litze auf. Kriegsfreiwillige waren sie alle. Seit Dietrich Rottenführer war, glänzte neben der roten die silberne Litze. Untersturmführer Rüger führte den Trupp. Panzer mit zerfranstem Rohr fuhren vorbei, lange Züge. Die Jungs stürmten den Bahndamm. Johannes sah zu. Schneeflocken flogen vorbei. Steige hoch, du roter Adler ... und Von den Bergen rauscht ein Wa-a-sser ... Das waren ihre Lieder. Sie redeten von Einschlägen, dass die Wand wackelte. Zur ersten Kinderlandverschickung war Manfred in Klasse Sechs, und der Studienrat später redete sie mit Sie an. Du kannst Fritz zu mir sagen, sagte der Sturmbannführer. Sie hatten Jungvolkabende erarbeitet, feindliche Flugblätter eingesammelt. Typen, die sich lange Haare wachsen ließen und jazzten, hielten nicht lange durch. In Dresden bekam Dietrich die Armbinde als Luftschutzhelfer. Manfred war Kurier bei der Kreisleitung der NSDAP. Beide wollten sie zur SS, waren vorgemeldet. Im Trommlerzug marschierte Dietrich über die Elbebrücke.

Eines Früh waren sie vom Lastwagen geklettert, blaugefroren, und sahen Johannes in seinen Strickhosen dastehn, halb angezogen. Es kamen wärmere Tage. Welche rauchten, Manfred auch, der beschaffte Zigaretten, sobald die Soldatenzüge anhielten. Manche legten die Wintermützen ab, bloß das Husten hörte nicht auf. Wer gab von den Kameraden schon zu, dass jemand fror. Der Wind überschüttete sie mit Frühlingsregen.

Um ein Haar hätte ich euch vergessen, sagte der Einarmige in Uniform, der aus dem Beiwagen stieg, Listenführer für die Napola, die Nationalpolitische Erziehungsanstalt. Sie standen am Sägewerk, und Dietrich sagte: Ich bin Freiwilliger, habe mein Wort gegeben für die SS, Manfred, der daneben stand, auch.

Von der Napola kommst du auch zur SS, sagte der Leutnant, euch hätte ich fast vergessen. Ich bin vorgemerkt, zur SS, Dietrich wiederholte sich. Die Napola, das sind andere Anforderungen. Ich weiß nicht, ob ich die Aufnahme in Leibesübung und Latein schaffe.

Schaffst du, musst keine Leuchte sein.

Viel Sport, klar, sagte Dietrich.

SS oder Napola, Manfred war das egal.

Die Napola guckt als erstes auf den Charakter, sagte der Leutnant, Abitur kannst du dort auch machen, die Erzieher helfen.

Mensch, Dietrich, sag ja, nach dem Sieg braucht Deutschland Männer, die was können.

Der Leutnant, dünn, Brille, während er sich erhob: Deine Mutter muss sowieso erst zustimmen, Du musst ihr schreiben.

Dietrich hatte noch eine letzte Frage, was es kostet.

Der Einarmige wollte längst fort sein mit den Unterschriften. Nichts. Wird alles gestellt. Also, ja? Sie nickten, nahmen Haltung an. Kannst die Kreisleitung anrufen, der Leutnant saß schon hinter dem Fahrer.

Rüger als Untersturmbannführer bestätigte, dass am Bodensee, wenn der Kriegsverlauf es erlaubt, Napola-Schulen eingerichtet werden.

Du stehst vor der Entscheidung, HJ-Führer zu werden, schreib ihr das, drängte Manfred, dass du in der Entscheidung stehst.

Dietrich schüttete den Tornister aus, konnte die Tintentablette nicht finden. Gustav brachte Tintenstift und Blaupapier.

»Mutti, liebe Mutti, Du brauchst Dir keinerlei Sorgen zu machen, denn Latein fällt in einem großen Teil der Anstalten weg. Wohin wir kommen, weiß ich noch nicht sicher. Soviel ich gehört habe, werden in der Bodenseegegend neue Anstalten errichtet. Wir freuen uns schon riesig auf die NPEA und das pfundige Leben dort. So schnell als irgend möglich bitte ich Dich, das beigefügte Formular ausgefüllt und mit Deiner Unterschrift zurückzusenden, damit ich rechtzeitig zur Prüfung einberufen werde.«

Hedwig nähte. Dass Edith nicht ankam, was versprochen war, beunruhigte sie. Meine Mutti unterschreibt, hoffte Dietrich. Dass seine Mutter unterschreiben wird, davon war Manfred, Manne, überzeugt: Deutschland braucht Männer, hättest du noch schreiben können. Sie wird schon unterschreiben, sagte Hedwig.

Ostern sollen wir eintreten.

Wenn der Brief ankommt.

Gustav sah, wie Hedwig die Augen schloss. Nicht weiterreden hieß das, du kannst nicht helfen.

Das wird dir kein zweites Mal geboten, hat der Leutnant gesagt, Dietrich wiederholte das, oder willst du, dass ich immer nur mit kleinen Posten und Pöstchen zufrieden sein soll? – das schreibe ich noch hin, und wenn sie sagt, dass erst Vati einwilligen muss, sage ich ihr, sie darf in seinem Namen auch unterschreiben.

Noch geht die Post, sagte die Postfrau, als sie die Briefe mitnahm.

Hedwig wollte das bisschen Hoffnung nicht zerstören. Wenn’s so ein Lager am Bodensee gibt, wird’s schon klappen.

Sollen sie die Jungs hinbringen, sagte Gustav, als sie allein waren, vielleicht bleiben sie da am Leben.

Sag nicht so was!

Post kam, die allerletzte vielleicht überhaupt, die bei ihnen ankam. Die Briefträgerin winkte. Post, rief sie über die Wiese. Gustav war beim Grabenräumen, damit die Wiese nicht versauerte.

Dietrich hatte den Umschlag zwischen den Lippen. Manfred öffnete den Brief. Sie unterschreibt nicht, nicht ohne Vati. Dietrich fluchte: Die sollen mir den Verband abnehmen, damit ich kämpfen kann.

Schreib, dass ihr ausgebombt seid, sagte Gustav, um überhaupt was zu sagen, er sah, wie der Junge schluckte.

Fritz musst du anrufen, wenn einer helfen kann, dann er, sagte Manfred. Fritz Rüger brachte den Anruf zustande. Die Verbindung zur Kreisleitung stand, aber der Leutnant war abkommandiert.