Absicht - Ralph Leonhardt - E-Book

Absicht E-Book

Ralph Leonhardt

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Beschreibung

Ein Flugzeugabsturz in der ägyptischen Wüste, ein mysteriöser Mord an einem Schichtleiter der Flugzeugwartung am Flughafen in Mailand, ein verheerender Anschlag auf ein Hotel in Florida und 16 Tote durch Lebensmittelvergiftung in einem exklusiven Ferienresort in der Dominikanischen Republik: Der in Ungnade gefallene ehemalige Polizist Mario Sorese, der jetzt als freischaffender Journalist für eine Boulevardzeitung in Mailand tätig ist, wittert als Einziger die Zusammenhänge und reist, gemeinsam mit der jungen Praktikantin Teresa Bianchi, um die halbe Welt, um seinen Verdacht zu bestätigen. Unterstützt wird er dabei im Hintergrund von seinem Chefredaktor Bruno Tipo und von Giuseppe Monelli, einem befreundeten Polizeikommissar aus alten Tagen. Mit ihren Nachforschungen geraten Teresa und Mario immer tiefer ins Netz eines mächtigen internationalen Syndikats, das einen skrupellosen Plan verfolgt. Als sich auch noch ein äusserst gefährlicher und kaltblütiger Auftragskiller an ihre Fersen heftet, beginnt ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit mit einem ungewissen Ausgang ...

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Seitenzahl: 425

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhaltsverzeichnis

Mailand, 17. August, 14.00 Uhr

Kurz vor Hurghada, 17. August, 17.00 Uhr

Mailand, zwei Tage zuvor, 11.00 Uhr

Internationaler Flughafen Hurghada, 17. August, 17.05 Uhr

Hurghada, 17. August, vier Stunden später

Mailand, 18. August, 08.15 Uhr

Mailand, 19. August, 16.30 Uhr

Mailand, 19. August, eine Stunde später

Mailand, 19. August, 19.00 Uhr

Rom, 20. August, 15.15 Uhr

Pattaya, Thailand, 21. August

Mailand, 27. August, 16.00 Uhr

Mailand, 27. August, zwei Stunden später

Hurghada, 28. August, 08.00 Uhr

Mailand, 28. August, 21.00 Uhr

Everglades, Florida, 28. August, 16.15 Uhr

Mailand, 28. August, 23.10 Uhr

Mailand, 29. August

Santo Domingo, 30. August, 23.00 Uhr

Puerto Plata, 31. August, 15.30 Uhr

Mailand, 2. September, Vormittag

Puerto Plata, zwei Tage zuvor, 23.00 Uhr

Mailand, 2. September, mittags

Patras, Griechenland, 3. September, 5.15 Uhr früh

Auf See, 4. September, 00.45 Uhr

Ancona, 4. September, 07.15 Uhr.

Mailand, 4. September, 13.00 Uhr

Mailand, 5. September, 17.00 Uhr

Mailand, 5. September, 23.15 Uhr

Mailand, 6. September, 11.15 Uhr

Mailand, 6. September, ein paar Stunden später

Pattaya, Thailand, 6. September, 19.00 Uhr

Mailand, 6. September, 14.15 Uhr

Mailand, 6. September, 19.00 Uhr

Pattaya, 7. September, 11.45 Uhr

Mailand, 7. September, 08.30 Uhr

Hurghada, 9. September, 19.40 Uhr

Mailand, 9. September, etwa zur selben Zeit

Patras, 10. September, 10.30 Uhr

Paralia, Griechenland, vier Stunden später

Mailand, 10. September, 18.00 Uhr

Anderswo, 10. September, 18.15 Uhr

Mailand, 11. September, 04.30 Uhr

Patras, 11. September, 07.30 Uhr

Miami, 12. September, 17.30 Uhr

Puerto Plata, 13. September, 19.00 Uhr

Puerto Plata, 14. September, 10.00 Uhr

Puerto Plata, 14. September, 12.00 Uhr mittags

Puerto Plata, Polizeistation, 14. September, 16.00 Uhr

Puerto Plata, 14. September, 21.00 Uhr

Mailand, 15. September, 07.30 Uhr.

Puerto Plata, 15. September, in aller Herrgottsfrühe

Dubai, ein Tag zuvor, 09.50 Uhr

Dubai, 15. September, 19.30 Uhr

Puerto Plata, 15. September, 12.50 Uhr

Mailand, 15. September 17.30 Uhr

Sovicille, Toskana, 15. September, eine Stunde später

Mailand, 15. September, 19.00 Uhr

Sovicille, Toskana, 15. September, 19.30 Uhr

Paris, Flughafen Charles de Gaulle, 16. September, 11.20 Uhr

Mailand, Flughafen Malpensa, 14.45 Uhr

Pattaya, 17. September, 00.30 Uhr

Mailand, 16. September, 21.00 Uhr

Sovicille, Toskana, 16. September, zwei Stunden zuvor

Bangkok, 17. September, 17.30 Uhr

Pattaya, 17. September, 21.00 Uhr

Pattaya, 18. September, 02.30 Uhr

Pattaya, 17. September, 20.30 Uhr

Pattaya, 18. September, 05.20 Uhr

Pattaya, 18. September, 07.00 Uhr

Pattaya, 18. September, 07.15 Uhr

Pattaya, 18. September, etwa 45 Minuten zuvor

Pattaya, 18. September, 08.00 Uhr

Pattaya, 18. September, 09.30 Uhr

Bangkok, 18. September, 16.30 Uhr

Mailand, 18. September, 17.30 Uhr

Bangkok, 18. September, 23.30 Uhr

Bangkok, 19. September, 08.00 Uhr

Mailand, 19. September, städtisches Polizeipräsidium, 12.30 Uhr

Mailand, 20. September, Flughafen Malpensa, 07.20 Uhr

Bergamo, 20. September, 09.45 Uhr

Mailand, 20. September, 11.15 Uhr

Bergamo, 20. September, 19.20 Uhr

Bergamo, 20. September, zwei Stunden zuvor

Mailand, 20. September, 22.50 Uhr

Bergamo, 21. September, 02.00 Uhr

Bergamo, 21. September, 02.40 Uhr

Bergamo, 21. September, 08.30 Uhr

Mailand, 21. September, 10.30 Uhr

Mailand, 21. September, 14.50 Uhr

Bergamo, 21. September, 15.00 Uhr

Mailand, 21. September, einige Stunden zuvor

Bergamo, 21. September, 15.50 Uhr

Mailand, 21. September, 19.20 Uhr

Mailand, 21. September, 19.30 Uhr

Bergamo, 21. September 22.00 Uhr

Bergamo, 22. September, 01.15 Uhr

Mailand, 21. September, am Vorabend, 19.45 Uhr

Bergamo, 22. September, 01.45 Uhr

Mailand, 22. September, 07.00 Uhr früh

Macau, Hongkong, 24. September, 09.00

Mailand, fünf Monate später, 09.15 Uhr

Epilog

Mailand, 17. August, 14.00 Uhr

Sorese lümmelte in seinem Lieblingssessel, die Füsse auf einer umgestülpten Holzkiste. Träge tastete er nach seinem Glas, und nachdem er einen kräftigen Schluck getrunken hatte, verzog er angewidert das Gesicht. An das Dröhnen startender Flugzeuge und das laute Hupen auf der rege befahrenen Strasse vor dem Haus hatte er sich längst gewöhnt.

Ein Donnerstagnachmittag im August. Ferienzeit, auch für Familie Rosario, die im zweiten Stock über ihm wohnte. Rosarios waren heute abgereist, und glücklicherweise hatten sie ihre zwei pubertierenden Rotznasen, die elfjährige Sonja und den um zwei Jahre älteren Pietro, mitgenommen. Sorese mochte Kinder nicht besonders, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. In seinen zu kurzen und abgewetzten Jeans, seinen verwaschenen, viel zu grossen T-Shirts, mit denen er sein kleines Bierbäuchlein und die schmale, unbehaarte Brust zu kaschieren hoffte, sah er tatsächlich nicht aus wie der nette Nachbar von nebenan. Seit er sich seine Brötchen als freischaffender Journalist verdiente und sich mit seinen etwa 190 cm Grösse nicht mehr ständig in eine schlechtsitzende, steife Uniform zwängen musste, hatte er auch aufgehört, sich täglich zu rasieren. Antonia hatte einmal gesagt, sein Bart stelle eigentlich einen gelungenen Kontrast zu seiner immer schütterer werdenden Haarpracht dar. Antonia war es auch, die ihm immer wieder zu verstehen gab, dass er mit seinem Äusseren glatt als Alkoholiker durchgehen würde. Seine bleiche, bisweilen erschreckend blasse Haut trug wohl das ihre dazu bei. Der Fernseher in seiner Wohnung flimmerte geduldig. Ein gelangweilter Nachrichtensprecher berichtete über den Einbruch der Tourismusbranche in Asien, einen Auffahrunfall auf der Autobahn zwischen Parma und Bologna mit den üblichen Toten und Verletzten und dem entsprechenden Rückstau, über einen Finanzskandal einer unbedeutenden Bank in Turin – Sorese hörte schon gar nicht mehr zu. Er machte sich vielmehr Sorgen wegen der anstehenden Miete. Antonia, Besitzerin und zugleich nervtötende Vermieterin seiner renovationsbedürftigen Wohnung – eine Bezeichnung, die diese Bude eigentlich gar nicht verdiente – würde bald wieder auf seiner abgetretenen Fussmatte stehen und erst verschwinden, wenn sie die fälligen Euros kassiert und davongetragen hatte.

Antonia hatte sich für ihr Alter recht gut gehalten, einmal abgesehen von ihrem pastabedingten Übergewicht. Wenn sie Hunger hatte, konnte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, drei bis an den Rand gefüllte Teller Pasta mit viel Sauce in sich hineinschaufeln. Der tägliche Kampf gegen die grauen Strähnen im locker gewellten, schulterlangen Haar zermürbte sie jedoch zusehends, und bald würde sie wohl die Segel streichen und sich mit ihrem wahren Alter versöhnen müssen. Ihre Lesebrille, ein herrlich kitschiges Exemplar mit goldfarbenen Bügeln und je zwei bunten Glasdiamanten, verheimlichte sie gegenüber Bekannten und Verwandten zumindest vorläufig noch relativ erfolgreich. »Zum Glück sind die Rosarios ja zurzeit in Griechenland. Oder in Ägypten?«, frohlockte Sorese. Denn wenn er etwas nicht leiden konnte, dann waren es Sonjas und Pietros Angewohnheit, sich hämisch grinsend hinter Antonias fettem Hintern zu verstecken und seine Ausreden zur ausstehenden Miete, ganz im Gegensatz zu Antonia, sichtlich zu geniessen.

Kurz vor Hurghada, 17. August, 17.00 Uhr

In wenigen Minuten würde Flug AGL 102 der ägyptischen Chartergesellschaft Aegypt Aerolink auf dem Hurghada International Airport landen und, wie dreimal pro Woche üblich, eine buntgemischte Schar sonnenhungriger, erwartungsfroher Touristen auf der von der Wüstensonne aufgeheizten Betonpiste vor dem Terminal des Flughafens ausspucken. Elena Kotar, Maître de Cabine, kämpfte sich schon seit geraumer Zeit durch die viel zu eng geratenen Sitzreihen der Touristenklasse; ein geschäftsmässiges Lächeln auf den Lippen, das vertrauenswürdig auf diejenigen Fluggäste wirken sollte, deren Stirn trotz Klimaanlage mit Schweissperlen überzogen war und in deren Händen sich kontinuierlich kleine, kalte Pfützen bildeten. Ihre dunkelbraunen Haare hatte sie zu einem gepflegten Pferdeschwanz zusammengebunden, und das dezent aufgetragene Make-up brachte ihre tiefschwarzen Augen aufregend gut zur Geltung. »Bitte bringen Sie Ihre Rückenlehne in eine aufrechte Position und schnallen Sie sich an.« Schon mindestens vier Mal hatte sie sich mit dieser Ansage an die immer noch erstaunlich aktiven, aber scheinbar schwerhörigen Fluggäste gewandt. »Schade, dass wir gleich nach Kairo weiterfliegen werden«, stichelte Florina im Vorbeigehen, wohl wissend, dass Elena schon seit längerer Zeit ein Verhältnis mit Azmi Salah, dem Sicherheitschef der Flughafenpolizei in Hurghada hatte. Ihr Ehemann, ein angesehener ungarischer Diplomat in Kairo, würde sie wohl in Stücke reissen, sollte er jemals davon erfahren. »Da hast du wohl unseren neuen Einsatzplan verpasst«, erwiderte Elena mit einem breiten Grinsen, »denn sonst wüsstest du, dass die Crew in Hurghada ausnahmsweise ausgetauscht wird. Wir fliegen erst morgen früh weiter.« Florina wischte Elenas Bemerkung mit einem »träum weiter« beiseite und rollte ihre hübschen Augen. Obwohl: Ein paar Stunden Schlaf würden auch ihr gut tun.

Dino Flavio blickte fasziniert durch das kleine, ziemlich zerkratzte Fenster auf die unendliche Weite der Wüste, als Flugkapitän Amman seiner Crew via Bordlautsprecher das übliche »please prepare for landing in ten minutes« durchgab. Als er kurz zur Seite blickte, bemerkte er, dass seine Frau noch immer in ihr behämmertes Kreuzworträtsel vertieft war. Unmerklich schüttelte er den Kopf, denn wenn er etwas nicht verstehen konnte, dann war es das Desinteresse Silvyas an den Landschaften und Gepflogenheiten in den von ihnen bereisten Ländern. Wie schon im letzten Urlaub würde sie sich die meiste Zeit genüsslich in ihrem Liegestuhl am überfüllten Pool räkeln, belanglose Gespräche mit anderen Hotelgästen führen oder weitere Kreuzworträtsel knacken, während er schon frühmorgens am Strand unterwegs sein und die Morgenstimmung in sich aufsaugen würde. »Die besten Jahre unserer Ehe haben wir wohl endgültig hinter uns«, sinnierte Dino nicht ohne Wehmut, »auch wenn wir in unserem Umfeld noch immer als Vorzeigepaar gelten.« Nun waren sie nicht mehr weit vom Ende ihrer Beziehung entfernt, und obwohl er seit einigen Jahren mit immer teureren Geschenken und Ferienreisen dagegen anzukämpfen versuchte, wusste er, dass ihre Ehe im Grunde genommen nur noch auf dem Papier bestand. »Den Schein wahren«, pflegte seine Mutter in solchen Situationen immer zu sagen, und Dino hätte nicht im Traum daran gedacht, dass auch er einmal nicht den Mut dazu haben würde, die Seifenblase ihrer Illusion zerplatzen zu lassen.

Ein leichter Ruck deutete an, dass die Piloten das Fahrgestell ausgefahren hatten. Nun würde es nur noch wenige Augenblicke dauern bis zur Landung in Hurghada. Florina setzte sich auf ihren Sitz, zurrte sich fest und warf einen letzten Kontrollblick in die Kabine. Der ältere Herr auf Sitz 27A giftete sie immer noch an, denn sie hatte ihm auf Geheiss Elenas einen weiteren Drink verweigert. In den Gesichtern der zwei Teenager eine Sitzreihe weiter hinten spiegelte sich die Vorfreude auf den Urlaub. Bestimmt tanzten sie in Gedanken bereits in der Hoteldisco, die laut Prospekt »einzigartig« sein sollte. »Sonne, Sand, Meer, Liebe« – ein Lächeln huschte über Florinas Gesicht. Noch zwei Wochen, und dann würde sie mit ihrem eigenen Freund ein paar herrliche Tage in Tunesien verbringen.

Eine leichte Turbulenz erfasste die Maschine; nicht ungewöhnlich über der Wüste, da hier die Thermik besonders stark ist. Florina dachte an die bevorstehenden Arbeiten: Check der Kabine, nachdem die Passagiere das Flugzeug verlassen hatten. Der zwar kurze, aber mühsame Transfer ins Hotel der Airline. Eine intensive Schlacht am immer fast gleich aussehenden Buffet. Eine schnelle Dusche, fünf Stunden Schlaf, dann schon wieder zurück zum Flughafen und neue Passagiere in Empfang nehmen. Trotzdem war auch sie froh darüber, dass es erst am nächsten Morgen weitergehen würde. Da fiel ihr Blick auf die Tragfläche, und im ersten Moment dachte Florina, es sei die Abendsonne, die sich auf dem Metall spiegelte. Als sie ihren Irrtum bemerkte und sich erschrocken nach Elena umsah, schoss eine grosse Stichflamme aus dem Triebwerk. Auch Elena spürte jetzt das starke Rucken der Maschine, doch da sie nicht wie Florina direkt am Fenster sass, wunderte sie sich noch, was das wohl sein konnte. Vor den vor Schreck weit aufgerissenen Augen Florinas zerbarst die Tragfläche mit einem Knall. Teile des zerfetzten Flügels bohrten sich mit unsäglicher Gewalt in den Rumpf des Flugzeuges. Elena war schon tot, bevor die Maschine unter dem schrillen Aufheulen des verbliebenen Triebwerks auf die Seite kippte. Den erschrockenen Blick der Passagiere, die Gesichter, die durch die Angst zu grässlichen Fratzen wurden und dann, nach einem kurzen Moment gespenstischer Ruhe, in welchem nur das Kreischen der Turbine und das Schlagen des Wüstenwindes an der Aussenhaut der Kabine zu hören waren, die verzweifelten, panikerfüllten Schreie der Fluggäste; das alles nahm Elena nicht mehr wahr. Als Flug AGL 102 etwa zwölf Kilometer vor Hurghada mit der linken Tragfläche auf dem heissen Wüstenboden aufschlug, die Tanks augenblicklich explodierten und sich ein riesiger Feuerball gierig durch den Flugzeugrumpf frass und alles verschlang, was es zu verschlingen gab, als die Maschine dann hunderte Meter weiter von ein paar Felsbrocken buchstäblich auseinander gerissen wurde, waren sie alle tot: 93 Passagiere und acht Besatzungsmitglieder.

Mailand, zwei Tage zuvor, 11.00 Uhr

So, wie er durch den protzig mit einem verschnörkelten »D« gekennzeichneten Eingang des Albergo L’antico Duomo nahe der Piazza Rosario trat, wirkte er wie ein unbedeutender Prokurist einer Bank oder Versicherung: Von durchschnittlichem Körperbau, nicht gross, nicht klein, mit auf die Seite gescheitelten, kurzen, etwas angegrauten Haaren und einem gepflegten Schnurrbart; gewöhnlich eben. Mit seinem weissen Hemd, dem beigen, leicht zerknitterten Sakko, einer unauffälligen Krawatte und einer zeitlosen Brille unterstützte er absichtlich diesen Eindruck. Gleich rechts neben der Tür, hinter einer Blumenkiste mit allerlei Grünzeug, sassen zwei Damen gelangweilt in den bereits etwas abgewetzten roten Ledersesseln der Hotellobby. Sie gingen offensichtlich dem ältesten Gewerbe der Welt nach. »Immer wieder erstaunlich«, dachte er, »wie geschickt es Prostituierte doch anstellen, sich Männern gegenüber unmerklich und doch klar als solche zu erkennen zu geben«. Ob hier in Mailand oder in all den anderen Städten, in denen er auf seinen Geschäftsreisen ausschliesslich in möglichst grossen und gesichtslosen, gut besuchten und dadurch unübersichtlichen Touristenklassehotels zu logieren pflegte: Sie verstanden es ausgezeichnet, ihre körperlichen Reize durch eine um eine Spur zu gewagte Garderobe und etwas zu stark aufgetragene Schminke geschickt zur Schau zu stellen. Gekonnt schlug eine der Damen ihre langen, solariumgebräunten Beine übereinander und liess dadurch den grünen Rock um mehrere Zentimeter nach oben wandern. Während sie mit der rechten Hand mit einer blonden Haarlocke spielte und den neuen Gast dadurch einen kurzen Blick auf ihr schmales, leider nichtssagendes Gesicht erhaschen liess, taxierte sie ihn mit einem geschäftsmässigen Blick und kam wohl zu einem ähnlichen Urteil wie der schon etwas angegraute Portier, der ihn eben zur Rezeption schickte: »Durchschnittlicher Gast, schmale Geldbörse, nichts Besonderes eben«. Als sich Katia hinter der Rezeption vom Telefon löste und dem Neuankömmling zuwandte, hatte Ludmilla ihren Rock schon wieder zurechtgerückt. »Koon. Für mich wurde ein Zimmer reserviert. Vier Nächte.« Er sagte dies nicht unhöflich, aber doch so, dass Katia gar nie auf die Idee gekommen wäre, sich länger als nötig mit ihm zu unterhalten. Routiniert schob sie ihm Anmeldeformular und Kugelschreiber zu, und die Art, wie schnell und geschickt er es ausfüllte, verrieten Koon als Mann, der wohl öfter in Hotels übernachtete als bei sich zuhause. Seine schmalen Finger huschten über die Linien, und seine buschigen Augenbrauen zuckten kein einziges Mal, als er sich als Verkäufer aus Parma eintrug. Kaum hatte er den Zimmerschlüssel entgegengenommen, da war er auch schon mit dem kleinen, gewöhnlichen Koffer in der linken Hand und dem ebenso unauffälligen, braunen Mantel über dem rechten Arm im Aufzug verschwunden. Als nur einen Augenblick später eine kleine Reisegruppe das Hotel betrat, hatten Katia und Ludmilla den unscheinbaren Gast schon wieder vergessen.

Internationaler Flughafen Hurghada, 17. August, 17.05 Uhr

Planmässig hatte der Tower in Hurghada Flug AGL 102 von der Flugüberwachung Luxor übernommen. Azmi Salah stand gerade auf dem Rollfeld und überwachte den Ladevorgang an einer russischen Tupolev. Trotz der blutigen Anschläge von Fundamentalisten in Ägypten und anderen Ländern im Nahen Osten konnten sie eine steigende Zahl an Touristen verzeichnen, die hier zu fast jeder Jahreszeit von Fluggesellschaften aus aller Welt ausgespuckt und über die Strände verteilt wurden.

Salah war vor sieben Jahren zur Flughafenpolizei gestossen und vier Jahre später dank seinem unermüdlichen Einsatz, seinen organisatorischen Fähigkeiten und seinem Ehrgeiz zu deren Chef befördert worden. Schliesslich stand Azmi, sein Vorname, ja auch für »der Entschlossene«. Er führte seine Truppe mit natürlicher Autorität, und deshalb mochten ihn die Männer. Mit seinen 180 cm Grösse, seinem durchtrainierten Körper und den fast grasgrünen, grossen Augen, die in wildem Kontrast zu den pechschwarzen Haaren lebenslustig über seiner markanten Nase funkelten, kam er auch bei Frauen gut an. Sein Aussehen mochte wohl auch der Grund für Elenas Reaktion vor gut acht Monaten gewesen sein. Schon als sie unter der Tür zur Passkontrolle buchstäblich in ihn hineingerannt und statt einer Entschuldigung nur ein schelmisches Lächeln zustande gebracht hatte, fühlte er, dass sie füreinander geschaffen waren. Ein Wort ergab das andere, und schliesslich drückte sie ihm schon nach wenigen Minuten eine Karte mit dem Namen ihres Hotels in die Hand. Azmi wusste damals noch nicht, dass Elena einen Ehemann in Kairo hatte, und er hätte es auch nicht wissen wollen. Elena hatte noch vor zwei Wochen sein Glied fest in ihrer Scham getragen und sich lustvoll auf ihm auf- und nieder bewegt. Kleine Rinnsale feiner, nach anregendem Moschusöl duftende Schweissperlen bildeten sich zwischen ihren festen, wohlgeformten Brüsten und glitten im Mondlicht glitzernd über ihren goldbraunen, fast schon perfekten Körper. Da hatte Azmi, der aus wohlhabender Familie stammte, sich vorgenommen, bei Elenas Vater um ihre Hand anzuhalten. Um 17.05 Uhr kündigten die Lautsprecher die planmässige Ankunft von Flug AGL 102 aus Mailand an, und Azmi verspürte in seiner Vorfreude ein leichtes Beben in der Lendengegend. »Bald werde ich dich endlich wieder in meine Arme schliessen können«, freute er sich, und voller Erwartung marschierte er zielstrebig zu seinem kleinen Büro. Nachdem er die bereits schief in den Angeln hängende Tür aufgestossen und seinen Schreibtisch umrundet hatte, liess er sich in seinen Stuhl fallen und entnahm der Schublade eine kleine Schachtel mit einem goldenen Ring, in dessen Mitte ein kleiner Diamant funkelte.

»Flug AGL 102 meldet Schwierigkeiten«, riss ihn die Stimme Halefs am Funk aus seinen Gedanken, »komm sofort zu uns rüber. «

Als er, leicht ausser Atem, im Tower angekommen war, spiegelte sich auf den Gesichtern vor den Bildschirmen das blanke Entsetzen. »Sie ist weg«, schrie Halef, »sie ist, verdammt nochmal, einfach verschwunden!« »Wer?«, fragte Azmi, der bereits ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. »Die Maschine aus Mailand! Einfach weg! Verschwunden!« Fassungslos starrte Azmi Halef an. »Nehmt sofort mit Luxor Kontakt auf und erkundigt euch, ob sie AGL 102 noch auf ihren Schirmen haben!« Er fühlte die Panik in sich aufsteigen, sein Mund wurde augenblicklich trocken, die Knie weich. Bereits hatte sich ein feuchter Film auf seiner Stirn gebildet. »Na los, macht schon!«, setzte er nervös nach. »Luxor Tower von Hurghada Control: Bitte melden! Over.« »Hier Luxor. Over.« »Habt ihr Flug AGL 102 noch auf euren Schirmen? Over!« Das gleichförmige Rauschen aus dem Äther dehnte sich zu einer kaum auszuhaltenden Ewigkeit, und nur einige kurze, pfeifende Signale, die von den eigenen Computern herrührten, durchbrachen die Stille. »Hurghada control von Luxor Tower. Negativ. Flug AGL 102 wurde, Moment, exakt um 16.54 Uhr an euch übergeben. Over.« »Verstanden Luxor Tower. Please stand by …« Die Zeit schien für einen Moment still zu stehen. Halefs »Scheisse!« war kaum zu vernehmen, und erst jetzt wurde Azmi bewusst, dass sich im Turm eine bleierne Stille ausgebreitet hatte. »Und jetzt?« Seine Stimme kratzte, und er fühlte sich plötzlich so schwach, dass er sich mit beiden Händen an einer Tischkante aufstützen musste. »AGL 102 antwortet auf keinen unserer Rufe«. Assid, der zweite Mann am Radar, wählte seine Worte mit Bedacht, als er das aussprach, was im Raum schwebte, aber niemand so richtig wahrhaben wollte. »Vielleicht konnten die Piloten sie ja irgendwo landen …«

Als sie mit der Suche nach Flug AGL 102 begonnen hatten und mit ihren Jeeps an diejenige Stelle rasten gerast waren, an der sie den Kontakt zur vermissten Maschine verloren hatten, trug Azmi noch immer einen kleinen Funken Hoffnung in sich. Schon wenige Minuten später hatte das nächste aus Paris eintreffende Flugzeug problemlos auf der zweiten Piste aufgesetzt. Dann traf die erste Meldung ein, und sie hätte schlimmer nicht sein können. Ein militärischer Streckenposten, der die Strasse nach Norden der Angst vor terroristischen Anschlägen wegen überwachte, sprach von einer grösseren und nachfolgend mehreren kleineren Explosionen irgendwo in seiner Nähe. Zwei Mann seien bereits unterwegs, um nachzusehen. Wenige Minuten später wussten alle, dass die Maschine mit der Flugnummer AGL 102 nicht mehr existierte. Azmi fühlte nur noch eine lähmende Leere in sich; es war, als hätte ein einziger kleiner Schalter all seine Gefühle auf einen Schlag ausgelöscht.

Hurghada, 17. August, vier Stunden später

Salah irrte zum wiederholten Male wie in Trance durch die Trümmer dessen, was einmal Flug AGL 102 gewesen war. Immer wieder stellte er sich die Passagiere vor. Kinder und Erwachsene, voller Vorfreude auf das, wofür sie sich das ganze Jahr hindurch abgerackert und worauf sie sich so gefreut hatten. Es gelang ihm nicht, diese Bilder beiseite zu wischen so sehr er sich auch darum bemühte. Azmi mochte Touristen, auch wenn sie sich manchmal ganz und gar nicht gebührend aufführten. Nicht nur brachten sie dringend benötigte Devisen ins Land und bescherten dadurch unzähligen Landsleuten ein wenigstens einigermassen würdevolles Dasein – mit ihnen entstieg immer auch eine geballte Ladung an Lebensfreude den Flugzeugen. Die fröhliche Ausgelassenheit der Ferienhungrigen übertrug sich oft auch auf das Flughafenpersonal und sorgte dafür, dass ihm die Arbeit bisweilen leichter fiel als sie eigentlich war. Ein kleiner, angesengter Teddybär, über den er gestolpert war, riss ihn wieder aus seinen Gedanken. »Schrecklich«, hörte er seinen persönlichen Assistenten Jusuf murmeln. Die normalerweise trockene und nachts so frische Wüstenluft war geschwängert vom Gestank nach Kerosin, verbranntem Kunststoff und glühendem Metall. Noch grässlicher empfand er jedoch den leicht süsslichen Geruch von verbranntem Fleisch. Azmi hatte aufgehört zu zählen, wie oft er sich hatte übergeben müssen. Sein Hals brannte, und seine Kleidung war schon längst verdreckt. Trotzdem gab er sich einen Ruck: »Haben wir endlich die Passagierliste erhalten?«, wollte er per Funk von der Zentrale wissen. Seine Stimme klang deprimiert, und die momentane Leere darin war ihm auch über die zwölf Kilometer Entfernung hinweg anzumerken. »Ist unterwegs«, gab Ali Hammath aus der Zentrale zurück. »Habt noch ein wenig Geduld, bei uns ist der Teufel los,« fuhr er fort. »Weder für die wenigen Angehörigen, die ihre Verwandten am Abend am Flughafen abholen wollten, noch für die schockierten Reiseleiterinnen und Reiseleiter der umliegenden Hotels ist genügend Betreuungspersonal vor Ort. Ich melde mich wieder.« Die Situation im Flughafen mag zwar chaotisch sein, dachte Azmi, aber das hier übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen bei Weitem. Längst war er durch einen Hauptmann einer Sondereinheit aus Kairo, die vor wenigen Stunden hier eingetroffen war, in seiner Befehlsgewalt abgelöst worden, aber noch benötigten sie jede erdenkliche Hilfe vor Ort. Und das war auch gut so. So sehr sich Azmi dagegen sträubte, er musste immer und immer wieder an Elena denken: »Warum nur, verdammt? Warum nur?« Es war Halef, der ihm tröstend, aber bestimmt den Arm um die Schultern legte: »Komm, Azmi, hier gibt‘s jetzt nichts mehr für uns zu tun. Wir werden in der Zentrale gebraucht.« Wie ein Roboter liess sich Azmi zum Jeep führen, der hinter den gelben Bändern einer eiligst installierten Abschrankung auf sie wartete. Die Fahrt zurück zum Flughafen nahm er kaum wahr. Ab und zu wurde das Fahrzeug von den Steinen auf der Schotterpiste durchgerüttelt, so dass er sich bisweilen an den Haltegriffen festkrallen musste. Noch während sie stumm an den provisorisch unter dem Dach einer grünen Baracke ausgebreiteten, bis zur Unkenntlichkeit verbrannten menschlichen Überresten vorbeirollten und den ersten bereits eingetroffenen Reportern im Flughafengebäude auswichen, schwor sich Azmi, dass er nicht eher ruhen würde, bis die Ursachen für den Absturz des Flugzeugs restlos geklärt wären. Und als ihm Leutnant Khaled von der Sondereinheit zwei Stunden später endlich die Passagierliste ins Büro brachte und Elena Kotar bei den Besatzungsmitgliedern aufgeführt war, musste er sich wieder übergeben.

Mailand, 18. August, 08.15 Uhr

»Das darf doch einfach nicht wahr sein«, knurrte Sorese. Zuerst hatte er das Klingeln an seiner Wohnungstür, als es ihn endlich aus dem Tiefschlaf gerissen hatte, kaum wahrgenommen, und nach einem schläfrigen Blick auf den Wecker hatte er sich sofort wieder tief in sein Laken gegraben. Wer auch immer sich zu dieser unchristlichen Zeit die Füsse vor seiner Tür plattstehen mochte, es interessierte ihn nicht im Geringsten. Gestern war es wieder einmal spät geworden. Luigi hatte seinen 41. Geburtstag gefeiert, und da Luigi wie er selbst ein überzeugter Junggeselle war, waren Wein und Grappa in Strömen geflossen. Das kleine, gemütliche Restaurant, das zu seiner zweiten Heimat geworden war, seit er an die Via Carina 15 gezogen war, lag gleich um die Ecke. Nach Mitternacht war Petra, Luigis Tochter – die bleibende Erinnerung an ein leidenschaftliches Abenteuer – aufgetaucht. »Ciao, mein Bester«, hatte sie gegurrt, ihm frech einen flüchtigen Kuss auf die Wange gedrückt und ihn dann in einer Wolke aufregenden betörenden Parfums zurückgelassen, um ihrem Vater überschwänglich zum Geburtstag zu gratulieren.

Wie gesagt; es war spät geworden. Und während das Läuten an seiner Wohnungstür nicht aufhören wollte, tastete seine Hand suchend nach Petras warmem, weichem Körper. Als Sorese nicht fündig wurde und er merkte, dass Petra ihn, wie fast immer, schon ganz in der Früh verlassen hatte, sackte seine Laune auf dem Stimmungsbarometer endgültig unter den Gefrierpunkt. »Porca la …!« Schliesslich schälte er sich umständlich aus dem Bett, schlurfte im Halbschlaf zur Wohnungstür und öffnete. Er hatte sich vorgenommen, dem morgendlichen Störenfried den Garaus zu machen. Antonia hätte ihn um ein Haar auf den schmutzig grünen Läufer gewalzt, als sie an ihm vorbei in die Wohnung stürmte. So, wie sie jetzt vor ihm stand – die Haare standen ihr wirr vom Kopf und ihre Wimperntusche war von Tränen aufgelöst und über das ganze Gesicht verteilt – bot sie tatsächlich nicht den Anblick, den man sich frühmorgens wünschte. Sie schluchzte theatralisch in ein viel zu grosses, mit kitschigen Blumen besticktes Taschentuch und stammelte immer wieder »Mamma mia«. Nachdem er sich vom ersten Schreck erholt, Antonia aufs Sofa gepflanzt und sich rasch eine Trainerhose und ein Shirt übergezogen hatte – bei Antonia wusste man nie, welche Reaktionen bei ihr ein nackter Männeroberkörper auslösen würde – griff er zur Whiskyflasche, die er im Büchergestell hinter einem Buch über Venedig versteckt hatte, und goss zwei kleine Gläser voll. Nach dem dritten Glas entspannten sich Antonias Gesichtszüge endlich, und erst jetzt stellte er erschrocken fest, dass sie unter dem rosa Bademantel nur ein mit Rüschen besetztes Nachthemd trug. Eiligst warf er sich sicherheitshalber zusätzlich noch einen alten Pullover über und zurrte die Hose so stark zu, dass es weh tat. »Familie Rosario«, stammelte Antonia endlich, »Gott hab sie selig. Und die niedliche Sonja, und Pietro, dieser wohlerzogene Junge«. »Das muss wohl der Alkohol sein«, dachte Sorese, denn ehe Antonia diese zwei verzogenen Gören mit solch freundlichen Worten bedachte, würde es mitten im Sommer in Neapel schneien. Unmerklich achtete er auf ein Lallen in ihrer Stimme, doch Antonia sprach zwar ungewohnt leise und stockend, war aber bestimmt nicht betrunken. Dafür hatte sie ihre gewaltige Trinkfestigkeit schon zu oft unter Beweis gestellt. »Was ist mit den Rosarios?«, fragte er endlich, und als er sich ebenfalls setzte, achtete er sehr darauf, Antonia nicht zu nahe zu kommen. »Abgestürzt sind sie! Alle tot! Welch ein Drama! Welch Katastrophe!« Antonia schrie nun fast, und verzweifelt bemühte sie ihre Tränendrüsen, um ihrem Schluchzen noch mehr Nachdruck zu verleihen, und fuchtelte mit ihren kurzen, dicken Armen. »Jetzt steht schon wieder eine Wohnung leer! Wie soll ich die nun wieder loswerden?«, setzte sie dann gleich nach. »Aha!«, dachte Sorese und seufzte. Einen kurzen, schrecklichen Moment lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, ihr tröstend den Arm um die Schultern zu legen. »Wo?«, entgegnete er stattdessen. »Hast du es noch nicht gehört? Aber nein, wie könntest du auch! Heute früh haben sie es in den Nachrichten gebracht. Ein Flugzeug ist gestern Abend in Ägypten abgestürzt, in Horaga!« »Horaga? Nie davon gehört …« »Was weiss ich, irgendwo in Afrika, in Ägypten«. Antonia hatte mit ihrem Taschentuch die Wimperntusche mittlerweile im ganzen wabbligen Gesicht verteilt. Jetzt doch ein wenig betroffen murmelte Sorese: »Du meinst bestimmt Hurghada; ist ein Touristenzentrum am Roten Meer. Ursprünglich eine kleine Beduinensiedlung, jetzt Retortenstadt mit Hotels für zehntausende von Pauschaltouristen!« Antonia schien nun endgültig beschlossen zu haben, dass sie genug um die Rosarios getrauert hatte. »Und was mach ich jetzt mit der Wohnung?« warf sie schärfer ein, als sie wohl selber wollte, und sofort presste sie wieder ein paar Tränen aus ihren Augen.

In Sorese erwachte nun das allen Journalisten dieser Erde eigene berufliche Interesse, das jede Katastrophe hervorrief: »Vielleicht lohnenswert«, überlegte er, »eine rührselige Geschichte über eine glückliche Mailänder Familie, die in Ägypten einen herrlichen Urlaub verbringen wollte, aber durch ein fürchterliches Unglück aus dem Leben gerissen wird. Bestimmt lässt sich auch noch irgendeine Billigfluglinie genüsslich zerfleischen. Dazu noch ein Interview mit der Wohnungsvermieterin, welche die Rosarios ja gut gekannt und selbstverständlich nur das Beste zu berichten hat? Wer weiss, vielleicht würde sie mir dafür die nächste Monatsmiete erlassen?« Ein flüchtiger Blick auf Antonia, deren rechte Hand nun schon zum vierten Mal zu seiner Whiskyflasche wanderte, während sie ihren fetten Hintern mit der linken qualvoll aus dem Sofa stemmte, liess ihn aber seinen letzten Gedanken gleich wieder verwerfen. Die Story, so hoffte er, würde sich bestimmt auch ohne Antonias Gesülze vermarkten lassen. Als sich Antonia schliesslich, nun doch in bedenklicher Schräglage, der Tür zuwandte und ihn tatsächlich, als hätte sie seine Gedanken gelesen, an die anstehende Miete nächste Woche erinnerte, hatte er sich bereits dazu entschlossen, seine Kontaktperson bei der Gazzetta anzurufen. Doch zuerst wollte er sich noch einige Stunden aufs Ohr hauen. Obwohl er im Vorbeigehen einen ärgerlichen Blick auf die nun praktisch leere Whiskyflasche warf, war seine Laune schon wieder etwas besser.

Mailand, 19. August, 16.30 Uhr

In gut einer Stunde würde Emilio Tommaso so viel Geld wie noch nie in seinem verpfuschten Leben besitzen. Nach einer mehrjährigen Jugendstrafe, die er in einem schäbigen Gefängnis in Genua wegen eines misslungenen Raubüberfalls auf zwei Geschäftsleute abgesessen hatte, hatte er sich als Automechaniker in der Garage seines Onkels Cesario in La Spezia versucht. Nachdem dieser entdeckt hatte, dass Emilio einen stattlichen Betrag aus der Geschäftskasse hatte mitlaufen lassen, wandte sich auch die restliche Verwandtschaft endgültig von ihm ab. Er verliess La Spezia noch in derselben Nacht in Richtung Frankreich. Im Hafen von Toulouse sprach ihn ein schon etwas älterer Mann an und lud ihn zum Kaffee in einer schäbigen Kneipe ein. Schon zwei Stunden später unterschrieb Emilio bei der Fremdenlegion. Die Grundausbildung in einem Camp in der Nähe von Algier war überaus hart. Weil Emilio sich durch körperliche Härte und mechanisches Geschick auszeichnete, wurde er an die Grenze zu Libyen geschickt. Dort erwies er sich schon nach wenigen Monaten als überaus fähiger und ideenreicher Flugzeug- und Hubschraubermechaniker. Richtige Freunde fand er auch damals keine. Der etwas zu kleingeratene, dafür mit mächtigen, ehrgeizig antrainierten Muskelpaketen bestückte Emilio war schnell durch seine krankhafte Wettleidenschaft aufgefallen. Bald wollte ihm niemand mehr Geld leihen. Nachdem er deshalb etliche Prügeleien provoziert und zwei Kameraden die Nasen zu blutigen Klumpen geschlagen hatte, wollten selbst die abgebrühtesten Soldaten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Nach fünf Jahren wurde er aus der Legion entlassen, und der innerhalb der Legion als wortkarg und gefährlich aufbrausend bekannte Einzelgänger fand dank seinen Qualitäten als Mechaniker eine mehr schlecht als recht bezahlte Anstellung am Mailänder Flughafen Linate. Seine Wettleidenschaft hatte ihn auch jetzt noch nicht losgelassen, und so konnte er sich mit dem verbleibenden Rest seines mageren Gehalts gerade noch ein kleines Zimmer in einer schäbigen, lärmigen Überbauung in der Nähe des Flughafens leisten. Nun schien sich das Blatt für Emilio endlich zu wenden.

Vor drei Tagen hatte ihn auf dem Nachhauseweg ein ihm unbekannter, unscheinbar wirkender Mann angesprochen, ihn geködert mit der Aussicht auf viel Geld und ihn in ein kleines, schlecht besuchtes Restaurant eingeladen. Der unauffällig gekleidete Typ, hinter dessen klobiger Hornbrille auf einer etwas krummen Nase ihm einzig die buschigen Augenbrauen aufgefallen waren, hatte sich ihm gegenüber als Stephan ausgegeben und ihm einen Umschlag mit zehntausend Euro zugesteckt. »Das ist nur ein Zehntel dessen, was wir dir für eine kleine Gefälligkeit bezahlen.« Wir wissen, dass du am Flughafen für die Wartung einiger Flugzeuge verantwortlich bist. Könntest du ein Flugzeug so manipulieren, dass es noch während des Fluges in der Luft explodieren würde?« Während er dies fragte, nahm er seine Brille ab und blickte Emilio forschend ins Gesicht. »Kalte, leblose Augen«, dachte Emilio, und obwohl er bei der Legion allerhand erlebt und gesehen hatte, fröstelte er unmerklich. »Wäre so etwas möglich?«, wiederholte Stephan eindringlich, und die Finger seiner linken Hand umklammerten Emilios Unterarm wie ein Schraubstock. Noch während die Frage im Raum hing, hatte Emilio schon entschieden, dass es möglich sein würde. »Bei den meisten Flugzeugen werden die Triebwerke durch einen geschlossenen Wasserkreislauf gekühlt, etwa vergleichbar mit den Kühlsystemen in Autos«, begann er zu erklären. »Sollte sich ein Kühlschlauch lösen und das Flugzeug dadurch genug Wasser verlieren, würden die Düsen schon beim Start überhitzen. Die starke Beanspruchung bei der Landung schliesslich könnte dem Vogel den Rest geben. Allerdings müssten auch die Kontrolllampen im Cockpit ausfallen, da die Piloten sonst gewarnt wären …« Stephans Druck auf Emilios Arm liess nach. »Präg dir das, was ich dir jetzt sage, gut ein und schreib es auf keinen Fall auf. Flug AGL 102, von Mailand nach Hurghada, Start voraussichtlich um 14.20 Uhr, und wenn es klappt, dann wirst du von mir am 19. August um 17 Uhr im Albergo L’antico Duomo beim Bahnhof Milano Centrale das Zehnfache des im Umschlag befindlichen Betrages erhalten. Komm um genau 17 Uhr in die Eingangshalle und warte dort auf eine Nachricht.« Noch bevor Emilio etwas erwidern konnte, bohrten sich Stephans Finger noch einmal in seinen Arm, und zwar so kräftig, dass er die Luft anhalten musste. »Übrigens«, schob Stephan im Plauderton nach, »Versager sind keine mehr am Leben.« Sekunden später war er genau so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Als sich Emilio zügigen Schrittes dem Albergo L’antico Duomo näherte, konnte er die Aufregung und Vorfreude über das ihm bald zustehende kleine Vermögen kaum verbergen. An die Opfer verschwendete er keinen Gedanken. Wie sollte er auch, wo ihm selbst in seinem ganzen Leben nie wirklich echte Zuneigung zuteilgeworden war. In der protzigen Empfangshalle setzte er sich an einen kleinen, runden, etwas abseitsstehenden Tisch. Obwohl er in seinen besten Kleidern steckte, folgten ihm die abfälligen Blicke der wenigen anwesenden Gäste. Er hatte sie sehr wohl bemerkt. »Snobs«, grinste er in sich hinein und bestellte absichtlich den teuersten Cocktail, den er auf der in rotem Stoff eingefassten Getränkekarte entdeckt hatte. Cornelia nahm Emilios etwas ungehobelt formulierte Bestellung nur zögerlich auf. Bestimmt überlegte sie sich, wie sich ein so ungepflegt wirkender Mann das Geld für diesen Drink, immerhin stolze fünfzehn Euro, leisten konnte. Schliesslich siegte ihr Geschäftssinn, denn schon oft hatte sich ein vermeintlicher Habenichts bei der Bezahlung als grosszügig entpuppt, zumindest was das Trinkgeld anging.

Nur sehr vage würden sich Cornelia und die wenigen Hotelgäste später an den dezent und unscheinbar gekleideten Mann erinnern, der etwa zehn Minuten später das Hotel betrat, sich einen Augenblick lang unauffällig umsah und dann zielstrebig zu Emilio an den Tisch setzte. Mit einem Handzeichen gab er Cornelia zu verstehen, dass er keinen Wunsch habe, und sie wandte sich wieder den anderen Gästen zu. Emilio schlürfte laut an seinem Drink, während er seinen vermeintlichen Wohltäter erwartungsvoll angrinste. Vielleicht – nein, sicher – hatte sich Emilio noch überlegt, ob er nicht einen kleinen zusätzlichen Betrag, sozusagen als Bonus, würde herausschinden können, und genauso sicher erwartete er nun ein Lob für den Erfolg seiner kleinen, aber wirkungsvollen Manipulation. Während Stephan mit der linken Hand in der Tasche seines braunen Jackets nestelte und sicher war, dadurch die Aufmerksamkeit Emilios in diese Richtung zu lenken, stiess er ihm mit der Rechten blitzschnell eine kleine, starke Nadel durch die Hose hindurch in den Oberschenkel. Augenblicklich zuckte Emilio zusammen. Er wollte aufspringen, wollte Stephan seine kräftige Faust ins Gesicht rammen, wollte aufschreien. Doch sein Körper gehorchte ihm schon nicht mehr. Stephans eisiger Blick bohrte sich tief in sein Bewusstsein, und als urplötzlich ein Schmerz, so schrecklich, wie er ihn nie zuvor gespürt hatte, in seiner Brust explodierte und sich seine Muskeln schlagartig verkrampften, drückte ihn Stephan mit nur einem Arm so kräftig in den Sessel hinein, dass das unnatürliche Zucken seiner Gliedmassen zufälligen Beobachtern verborgen bleiben würde. Erst etwa zwanzig Minuten später hallte Cornelias spitzer, erschrockener Schrei durch die edle Empfangshalle des Hotels.

Mailand, 19. August, eine Stunde später

Commissario Giuseppe Monelli von der Mordkommission versuchte so unauffällig und diskret wie nur möglich vorzugehen, doch obwohl sie ohne Sirenen vor dem Albergo L’antico Duomo vorgefahren waren und zivile Kleidung trugen, hatten die neugierigen, aufgeregt plappernden Hotelgäste und Angestellten die Nachricht über den Toten in der Hotelhalle schon längst verbreitet. Die Blitzlichter des Polizeifotografen tauchten den Raum in grelles Licht. Und schon drängelten an der Absperrung Journalisten und Berichterstatter lokaler TV- und Radiostationen – sie waren wie Hyänen in die Lobby eingefallen.

Mailand, 19. August, 19.00 Uhr

Ferienzeit. Ein Grossteil der wohlhabenderen Mailänderinnen und Mailänder tummelte sich an den unzähligen Stränden Italiens und der ganzen Welt, so dass die Verkaufszahlen der Printmedien während der Monate August und September jeweils bedrohlich sanken. Wie auch andere Journalisten beherrschte Sorese die Kunst, eine völlig unwichtige Bagatelle zu einer reisserischen Geschichte mit fetten Schlagzeilen aufbauschen zu können, und dies war endlich wieder eine Gelegenheit dazu. Es war Ludmilla, die Sorese angerufen hatte und dafür selbstverständlich auch ein angemessenes Trinkgeld erhalten würde. Besonders als freischaffender Journalist, der auf lukrative Storys für Revolverblätter angewiesen war, musste man sich ein zuverlässiges Netz an Informanten aufbauen. Bisweilen pflegten Journalisten wie Sorese in den besseren Hotels einer Stadt herumzulungern, immer in der Hoffnung, einen kleinen Skandal oder die heimliche Liebschaft einer prominenten oder auch weniger prominenten Persönlichkeit entdecken und ausschlachten zu können. Etliche Geschäftsleute und Politiker, die vor lauter Vorfreude auf ein lustvolles Schäferstündchen mit einer meist um viele Jahre jüngeren Sekretärin ihre Vorsicht vergassen, hatten so bereits ihren guten Ruf und auf Grund der nachfolgenden, erbitterten Scheidungskriege oder Karriereeinbrüchen auch einen erklecklichen Teil ihrer Habe verloren. So hatte Sorese im Albergo L’antico Duomo auch Ludmilla kennen gelernt. Die Story, die sie ihm damals verkauft hatte, hatte einen involvierten Priester den Job gekostet. Dafür jedoch profitierte sie einen kurzen Augenblick lang von zwar zweifelhafter, dafür umso lukrativerer Publizität. Nachdem sie jedoch in einigen nicht jugendfreien Filmchen ihren niedlichen Po hergehalten und ein paar belanglose Interviews auf viertklassigen Fernsehkanälen gegeben hatte, trat bald wieder Ruhe ein. Ludmilla, die ihr Geld stets mit offenen Händen aus dem Fenster zu werfen pflegte, investierte ihr restliches Vermögen in eine neue, aufreizende Garderobe und trat einem exklusiven Callgirlring bei. Immerhin ein kleiner Fortschritt zu früher. Nebenbei allerdings lungerte sie auf der Suche nach zusätzlicher Kundschaft in den Lobbys verschiedener Hotels herum. Vom Hotelpersonal wurde das jeweils so lange akzeptiert, bis eine Beschwerde einging.

Sorese war bis heute standhaft geblieben: »Schlafe nie mit deinen Informantinnen, denn wenn es vorbei ist, hast du in der Regel nicht nur dein Spielzeug, sondern auch eine Einnahmequelle verloren«, hatte ihm vor Jahren Bruno Tipo, seines Zeichens Chefredaktor bei der Gazzetta, eingebläut.

Sorese steckte Ludmilla im Vorbeigehen geschickt einige Banknoten zu und sie liess diese nicht minder professionell in ihrer gefälschten Krokodillederhandtasche verschwinden, bevor sie schleunigst aus dem Hotel stöckelte. Dann wandte sich Sorese der eiligst angebrachten Abschrankung zu. Der Geschäftsführer hatte hierzu im Keller einige Meter an vornehmen Kordeln ausgegraben. »He, Sorese, auch mal wieder im Land?«, quäkte von der gegenüberliegenden Seite her Monellis Stimme. »Gottlob ist er noch einige Meter weit von mir entfernt,« frohlockte Sorese, als er an dessen feuchte Aussprache dachte. Mit seinen bescheidenen 164 cm Grösse, dem Gewicht von annähernd einem Zentner und seiner spitzen Nase, die wie ein Kirchturm aus seinem breiten Gesicht ragte, wirkte Monelli auf seine Umgebung bisweilen wie ein zu klein geratenes Nashorn. Seine tatsächlich aussergewöhnliche Erscheinung hatte ihm in seiner näheren Umgebung den Spitznamen »Rhino« eingetragen, an den er sich mittlerweile sogar gewöhnt hatte. Rhino watschelte erstaunlich flink auf Sorese zu, und dabei spiegelten sich die verspielten Kronleuchter der Lobby auf seiner Glatze.

Wenn Rhino nicht schon längst mit Anja verheiratet und mit ihr drei Kinder gezeugt hätte, die ihm glücklicherweise nicht glichen, hätte sich ihn wohl niemand an der Seite einer Frau vorstellen können. Doch hinter seinem Äusseren, das der hinterhältigen Feder eines Karikaturisten hätte entsprungen sein können, verbargen sich ein messerscharfer Verstand, eine untrügliche – wenn auch spitzige – Spürnase und ein Einfühlungsvermögen, das seinesgleichen zu suchen hatte. Mit seiner offenen, ehrlichen Art hatte er Sorese damals sehr geholfen, als dieser nach dem schrecklichen Unfalltod seiner Frau Catarina in eine tiefe Lebenskrise gestürzt war. Er war es auch, der Sorese nach seinem Rauswurf bei der Polizei von seinen journalistischen Fähigkeiten überzeugt, ihn mit Bruno Tipo bekannt gemacht und dadurch vor dem tiefen Fall in den Schlund der Sozialhilfe bewahrt hatte. Soreses Depressionen waren damals weit fortgeschritten, und sein Selbstmitleid hatte ihn fast vollständig zerfressen. Der persönliche Kontakt zu Monelli war ein besonderes Privileg, das er sich aus der Vergangenheit hatte hinüberretten können. »War das wieder mal ein Tipp von einer deiner ominösen, mit viel Charme bezirzten Informantinnen oder ausnahmsweise Zufall?«, fragte Rhino. »Zufall«, erwiderte Sorese, der unmerklich grinsen musste, als er feststellte, dass Rhino schon wieder einige Kilos zugelegt hatte. Rhino kannte Soreses Hartnäckigkeit, wenn es darum ging, sich Informationen zu beschaffen. »Mord?« »Sieht eher aus wie der Selbstmord eines Junkies«, antwortete der Commissario, »die Polizeiärztin hat ein ganzes Heer an Einstichen entdeckt, allerdings nicht an den Armen, sondern den Beinen. Hätten wir ihn unter einer Autobahnbrücke, in einer billigen Absteige oder am Bahnhof gefunden, dann sähe ich eigentlich keinen Anlass dazu, zu zweifeln. Aber die Lokalität für einen Selbstmord scheint mir dann doch etwas seltsam gewählt …« – »Das ist bestimmt noch nicht alles.« – »Nun, die junge Dame, die ihn bedient hat, übrigens ein aussergewöhnlich hübsches Kind...« – »Was kein Wunder ist in solch einem Nobelschuppen, hier bezahlen die Gäste auch für das Aussehen des Personals,« warf Sorese ein. »Tja, sie sagt, er habe den teuersten Cocktail bestellt und ganz und gar nicht so auf sie gewirkt, als wolle er seinem Leben ein Ende setzen. Und dann sind da noch ein paar andere Dinge...« Rhino war bekannt dafür, dass er es gerne spannend machte. »Erstens: In den Taschen des Toten haben wir einen Personalausweis gefunden. Emilio Tommaso, Schichtleiter in Linate, Flugzeugwartung. Verantwortungsvoller Job. Und das trotz Vorstrafen. Seltsam, eh? Zweitens: Er war nicht die ganze Zeit über alleine hier. Ein älteres Ehepaar schwört durch alle Böden hindurch, dass unser Toter einige Minuten in Gesellschaft eines unauffälligen Mannes verbracht habe. Beschreibung leider ziemlich vage; Brille, Schnurrbart. Ach ja, und er soll ein braunes Jacket getragen haben. Seltsam, eh? Bei dieser Hitze …« Während er die ersten Ergebnisse seiner Nachforschungen so sachlich wie gewohnt auflistete, knöpfte er die speckigen Ärmel seines Hemds auf und krempelte sie etwas unbeholfen hoch. Die Hitze hier drin war tatsächlich schier unerträglich. »Franco filzt gerade seine Wohnung, oder besser gesagt seine schäbige Absteige in der Nähe des Flughafens.«

Commissario Giuseppe Monelli wusste, dass er Sorese das alles erzählen konnte, ohne dass er Angst haben musste, dieser würde es der nächstbesten Zeitung verkaufen. Zwar würde er seine Story schreiben, und bestimmt würde sie auch reisserisch genug aufgemacht sein. Aber Sorese hatte ein vernünftiges Mass an Anstand und Diskretion aus seiner Zeit als Polizist hinübergerettet. Schon einige Male war es Sorese gewesen, der, vielleicht aus Dankbarkeit für seine Anteilnahme und Hilfe damals, das Netz seiner Informanten hatte spielen lassen und ihm dadurch wichtige Informationen geliefert hatte, die bei der Lösung eines Falles eine massgebliche Rolle spielten. Dafür erhielt Sorese für seine Artikel oft das eine entscheidende Quentchen Vorsprung gegenüber anderen. Und dieser Deal konnte, wenn es nach Monelli ging, noch lange so weiterlaufen.

Rom, 20. August, 15.15 Uhr

Gleich heute Abend würde sich Alicia Dolores von Massimo, ihrem Lieblingscoiffeur, die Haare schneiden lassen. »Was für eine Hitze«, ächzte auch Dario hinter einem Stapel Fernschreiben, die er soeben zu sortieren begonnen hatte. Das Internet hatte sich noch immer nicht vollständig bei ihnen durchgesetzt, und deshalb waren sie nach wie vor auf ihre schon fast antiquiert anmutenden, ratternden Fax-Geräte angewiesen. Seit dem Mittagessen, das Alicia in aller Eile, zum ersten und wohl auch zum letzten Mal, an der neuen, keine zweihundert Meter entfernten Imbissbude zu sich genommen hatte – einen pampigen, nach Karton schmeckenden Hamburger – kroch der Minutenzeiger der übergrossen Wanduhr im Büro der AP Presseagentur an der Via Cremola noch träger als sonst vor sich hin. »Die Uhr hat sich wohl ebenfalls von der Hitze kleinkriegen lassen«, maulte Dario, während er die seines Erachtens wichtigen Meldungen in ein speziell dafür vorgesehenes Fach warf. Alicia hatte beschlossen, sich heute nicht von der schlechten Laune Darios anstecken zu lassen. Gerade, als sie trotzig den einzigen und ebenso vergänglichen Hit einer neuen und wohl bald wieder vergessenen Boygroup anstimmen wollte, ratterte wieder ein Fernschreiber. Sie stand auf und stellte dabei fest, dass ihr luftiges Kleid am Sitzkissen festklebte. Während Dario mit einem breiten und leicht anzüglichen Grinsen hinter seinen Papieren hervorschielte – wohl in der Hoffnung, Alicia stünde bald in Unterhosen da – griff sie nach dem Fetzen Papier, das der Drucker ausgespuckt hatte, und begann zu lesen. Die neue Depesche versetzte zuerst Alicia und Dario, anschliessend die ganze Agentur in helle Aufregung. Die Hitze schien augenblicklich vergessen, und schon wenige Minuten später verbreiteten die Faxgeräte den von Alicia in Windeseile neu aufgesetzten Text an die der Agentur vertraglich angeschlossenen Zeitungen sowie Fernseh- und Radiostationen im ganzen Land.

»Überraschend ist in Rom vor wenigen Minuten ein anonymes Bekennerschreiben zum Absturz des Ägyptischen Verkehrsflugzeuges vor knapp drei Tagen in Hurghada eingegangen«, liessen die Nachrichtensprecher mit gewohnt geschäftsmässiger Stimme kurze Zeit danach in Radio und Fernsehen verlauten. »Tod den ungläubigen und kapitalistischen Touristen, die unser ruhmreiches Land mit Schande beflecken. Tod allen Proletariern der westlichen Welt, die unser Volk überrennen und dabei Kultur und Tradition von uns Kindern Allahs mit ihren unwürdigen Füssen treten. Tod den Passagieren von Flug AGL 102. Für ein neues, freies, und reines Ägypten. InTaka«.

Das Schreiben wurde von den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Polizei vor allem deshalb als echt beurteilt, weil es einige technische Details zum Anschlag enthielt, die nicht von der Presse veröffentlicht worden waren.

Pattaya, Thailand, 21. August

Noch immer waren die Buchungen in seinem Hotel gegenüber den letzten Jahren stark rückläufig. Unwirsch fegte er die neusten Zusammenstellungen aus der Buchhaltungsabteilung beiseite und griff nach dem Glas, das nur noch den lauwarmen Rest eines einstmals exquisiten Whiskeys enthielt. Die zwei Eiswürfel hatten ihren Kampf gegen die thailändische Hitze verloren und sich schon vor einer halben Stunde in Wasser aufgelöst. Die Einrichtung seines Büros war teuer, aber nicht protzig. Praktisch alle wichtigen Unterlagen bewahrte er in einem geschmackvollen Edelholzschrank neben der Tür auf, und wenn er es sich auf dem Ledersessel hinter dem auf Hochglanz polierten Schreibtisch bequem machte, schimmerte die Chinesische See tiefblau zu seinen Füssen. Die Klimaanlage surrte leise, als er sich, nachdem er den letzten Schluck hinuntergeschüttet hatte, nach vorne lehnte und sein Blick auf die aufgeschlagene Seite der Bangkok Post fiel. Die kleine Agenturmeldung im Auslandteil der Zeitung überflog er nun schon zum zweiten Mal. »Flughafenangestellter in Mailänder Hotel ermordet«. Wenige Fakten, viel aufgebauschte Vermutungen. »Typisch!«, dachte er, und trotzdem verengten sich seine braunen Augen hinter der teuren Designerbrille. »Wie eine bekannte italienische Abendzeitung berichtete …«. Nachdenklich las er die bewusst beifällig eingefügte Angabe zur Quelle des Artikels noch einmal durch. Er stellte das leere Glas zurück und fuhr, in Gedanken versunken, über sein volles, leicht angegrautes Haar. Dann griff er zum Telefon. Agnes, die schon seit dem Tod seiner Frau seine verlässlichste Privatsekretärin und ab und zu eine nicht weniger aufregende Bettgefährtin war, lauschte kurz und verband ihn augenblicklich mit der gewünschten Nummer in Mailand.

Mailand, 27. August, 16.00 Uhr

»Ciao Sorese, wie gehts? Gesund und munter? Ach, was für ein herrlicher Nachmittag …«, plapperte Antonia aufgekratzt. Ihre ungewohnt gute Laune kündigte an, was Sorese nicht für möglich gehalten und ihr auch niemals gegönnt hätte: Antonia hatte bereits wieder eine neue Mieterin für die Wohnung der Rosarios gefunden. Da die Wohnung vor wenigen Tagen von einer ganzen Schar von Verwandten geräumt – oder sollte man es eher geplündert nennen? – und leidlich gereinigt worden war, konnte die neue Mieterin auch schon einziehen. Bestimmt war es nur die Nähe zum Arbeitsplatz – was sonst hätte es auch sein können? – die diese Teresa dazu bewogen haben mochte, sich in solch einer Bruchbude einzunisten. Antonias gute Laune hatte wohl auch ihr Gedächtnis in Mitleidenschaft gezogen, denn sonst hätte sie niemals vergessen, seine Miete einzufordern. Dabei hatte er sich schon seit Tagen wie ein kleines Kind auf diesen Moment gefreut. »Selbstverständlich, hier hast du das Geld«, wollte er ihr ohne die üblichen Entschuldigungen und Rechtfertigungen verkünden, »und zudem möchte ich mich mit einem kleinen Bonus von fünfzig Euro erkenntlich zeigen für dein Verständnis und deine Grosszügigkeit der werten Mieterschaft gegenüber, wenn sie mal in finanziellen Schwierigkeiten steckt!« Antonias Kiefer würde bis mindestens zum vierten Doppelkinn nach unten klappen, und während sie noch nach Luft japsen würde, sollte ihr eine Rose, die er extra zu diesem Zweck erstanden hatte, den Rest geben. Schon alleine die Vorstellung von Antonias entgeistertem Blick wäre Genugtuung für all die Nächte, die er sich in letzter Zeit seiner ständigen Geldsorgen wegen mehr schlecht als recht um die Ohren geschlagen hatte. Die Story aus dem Albergo L’antico Duomo hatte sich gut verkaufen lassen, und für die Unverfrorenheit, mit welcher er in seinem Artikel über mögliche Zusammenhänge zur Mafia spekulierte, hatte er ein dickes Lob von Bruno Tipo eingeheimst. Selbstredend, dass er die Geschichte anschliessend auch noch für teures Geld an andere Zeitungen verschachert hatte. Monelli hatte sich schon gemeldet: »Sorese, mein Lieber«, hatte er in den Hörer gequäkt, »einfach toll, dein Geschwafel. Unübertrefflicher Unterhaltungswert. Leider haben wir selbst unsere Ermittlungen noch nicht abgeschlossen und immer noch viele Fragen zum tatsächlichen Sachverhalt. Präfekt Pozzo drängt schon jetzt, den Fall mit dem Vermerk »Tod durch Überdosis an Drogen« abzuschliessen. Das liess er zumindest am Telefon verlauten, aus seinem Urlaub. Ich melde mich, wenn ich etwas Neues habe. Ciao.«

Gerade als Sorese endlich den verfluchten Schlüssel aus seiner Tasche hervorgeklaubt hatte und die Tür aufschliessen wollte, vernahm er eine Etage tiefer das leise Knarren von Treppenstufen. »Das kann unmöglich Antonia sein, das tönt nach deutlich weniger Gewicht«, mutmasste Sorese. Flugs drehte er sich um und bemühte sich, zwischen dem abgegriffenen Holzgeländer hindurch einen Blick nach unten zu erhaschen. Vielleicht war es Schicksal, auf jeden Fall aber Zufall: Gerade in dem Moment, in welchem er sich nach vorne beugte, fiel die angefangene Packung Zigaretten samt Billigfeuerzeug aus seiner Hemdtasche und schlug in der zweiten Etage keine Handbreite neben der neuen Mieterin auf dem schmutzigen Boden auf. »Entschuldigung! Bitte entschuldigen Sie!« Sorese hatte die Entschuldigung so schnell hervorgebracht, dass der erschrockenen Teresa einfach keine Zeit zum Reagieren blieb. Er hatte sie schlicht überrumpelt. Sie war hübsch, keine ausgesprochene Schönheit zwar, aber die Lebensfreude und die Herzlichkeit, die ihre wachen, hellbraunen Augen über der niedlichen Stupsnase ausstrahlten, zogen einen augenblicklich in ihren Bann. Sie reichte Sorese gerade