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16 surreale Kurzgeschichten zwischen Horror, Krimi und Fantasy
Das E-Book Absonderliche Geschichten wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Horror,Fantasy,Thriller,Mystery,Satire
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Seitenzahl: 277
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Herzlich willkommen zu meinen hässlichen, blutigen und wahnsinnigen Alpträumen. Viel Spaß!
1. In der Mitte des Waldes
2. Verschwundibus
3. Die Kopf-Trilogie Teil 1: Die Kunst
4. Die Spinne, die Harfe spielen konnte
5. Die übliche Verfahrensweise
6. Das Mysterium der Farne
7. Der unheimliche Besucher
8. Eine ganz gewöhnliche Psychopathin
9. Ende des gewöhnlichen Hundelebens
10. Die Kopf-Trilogie Teil 2-Ein Experiment
11. Eine runde Sache
11.Chaoszone
12. Beamers Insel
13. Ein besonderes Haus
14. Die Kopf-Trilogie Teil 3-Eine Schlagzeile
15. Am Strand
16. Der lästige Gast
Von Grafenau zog Arnulf querfeldein ohne einen Zielpunkt. Einfach geradeaus. Irgendwo dort gab es Wölfe und er wollte sie fotografieren. Eine Schnapsidee. Er war kein Förster oder Jäger, sondern ein verschrobener Besserwisser und nicht gerade der Menschenfreund schlechthin und er liebte die absolute Ruhe, diese nur selten vorkommende Abgeschiedenheit, die es im tiefsten Wald gab. Je undurchdringlicher und dunkler, desto besser fühlte er sich. Niemand redete auf ihn ein und nervte ihn. Das hieß natürlich nicht, dass er komplett verschlossen war. Bei weitem nicht. Er war durchaus kommunikativ, aber das spannende Drauflos ohne Orientierung übte einen schwer zu beschreibenden Reiz auf ihn aus. Immer auf der Suche nach unbekannten und wunderschönen Plätzen mitten in der Natur, die natürlich nirgends mehr wirklich unberührt auf ihn wartete. Oft stieß er auf herumliegenden Müll. Auch war nie eine Ortschaft oder eine Straße oder ein Wanderweg weiter als wenige Kilometer entfernt. Das größte Tier , das er bis dato ablichtete, war ein Hirsch. Ein Bär wäre ihm lieber gewesen.
Aber den fand er bisher noch nicht und das war wohl auch besser für seine Gesundheit. Mit Machete und Kampfmesser fühlte er sich unbesiegbar.
Tagelanges Herumirren ohne Zivilisation wie in den großen Ländern der Erde gab es in Bayern ohnehin nicht und gefährlich wie in den Rocky Mountains war es daher kaum. Etwas sehr viel Seltsameres als eines dieser wilden Tiere wartete auf die Entdeckung durch ihn, die schon so manche Menschen vor ihm gemacht hatten. An jenem Tag, genau sein 11. Ausflug in die leidlich unbekannte Wildnis, zog eine dichte Wolkendecke auf und verdeckte Mond und Sonne, an denen er sich gewöhnlich spielend leicht orientieren konnte. Ein paar Wölfe huschten dann tatsächlich irgendwo durch das dichte Grün. Mit der Kamera war er nicht schnell genug. Lautlos hockte er da und drosselte seinen Atem. Absolute Stille breitete sich aus.
Als er sich wieder erhob, war er unschlüssig über die Richtung, in die er gehen sollte. Arnulfs Enthusiasmus verflog, als er weiterwanderte. Schon 5 Uhr nachmittags, stellte er mit dem obligatorischen Blick auf die Armbanduhr fest. Na klar, eine Stunde schnurstracks geradeaus und er landete wieder irgendwo an einer Straße oder einem Acker. Deutschland war überall dicht genug besiedelt, um Gefühle von Einsamkeit im Keim zu ersticken. Und er lief weiter, ließ Geäst knacken und immer wieder mussten seine Hände Zweige teilen und manchmal schlug er das Dickicht mit der Dschungelmachete entzwei. Hier ein Fuchs und dort ein Reh. Und dann blieb er stehen und sah etwas Unwirkliches inmitten des Grüns. Hektisch fingerte er das Opernglas hervor und konnte kaum glauben, was er sah. Ein paar Buden, eine Mischung aus Fachwerkhäusern und Holzbaracken, lagen in der Senke vor ihm. Es gab Gärten, verwachsene Wege und freie Plätze.
Ein Dorf mitten im dichten bayerischen Urwald. Ausgerechnet hier? Arnulf erinnerte sich an Gerüchte über vergessene Dörfer und Bauern, die sehr zurückgezogen lebten. Ihm fiel der kerzengerade Hauptweg auf, der sich konstant durch die Mitte bahnte und dessen Ende bergauf wegen des dichten Bewuchses verborgen war. Wie ein Späher beobachtete er aus einer Entfernung von höchstens fünfzig Metern die gesamte Fläche dieser eigenartigen Siedlung, wenn die Sicht nicht durch das Blattwerk überall wild herumgewachsener Bäume verdeckt war. Immer wieder schloss er die Augen und strengte sich erneut an, denn es sollte ihm nichts entgehen. Ein großer fetter Mann und eine kleine nicht minder füllige Frau mittleren Alters überquerten den Hauptweg und verschwanden dann irgendwo zwischen den kleinen Gebäuden. Dann legte er los und stapfte vorwärts.
Kurz vor Erreichen dieses eigenwilligen Stadtgebietes wurde er süßlichen Duftes gewahr. Schon wieder blieb er stehen und bewegte sich nicht. Eine reflexhafte Drehung um die eigene Achse half nicht dabei, einen Grund für dieses Aroma auf diesem Fleck festzustellen. Er atmete den Duft ein. Da war etwas von Erdbeeren, Kirschen, Lavendel, gemischt zu einem Parfüm, wie es Damen auftrugen und Männer liebten, wenn es sich nicht zu extrem ausbreitete. Arnulf gewöhnte sich rasch an dieses Odeur und inhalierte es bald ein und genoss es. Dazu wurde er hungrig. Er wusste sofort, dass diese Luft ihn zum Essen animierte, ja vielleicht war es die Absicht dahinter.
Wie eine große Schrebergartensiedlung mutete das Dörfchen an. Nichts erinnerte an die Welt außerhalb des Waldes. Fast spürte er ein vorherrschendes Mittelalter. Aber der Schein trügte, denn die Gartengeräte, die er an der Wand der vordersten Hütte angelehnt vorfand, waren zwar nicht gerade elektrisch, dennoch gut gepflegt und stammten aus professioneller Fertigung und nicht aus einer alten Schmiede.
Dann holte er Luft und musste einen kleinen Schreck verarbeiten.
Unbeweglich stand ein grinsender Kerl von 1,80 direkt neben der Werkzeugsammlung und betrachtete den Neuankömmling.
„Hallo mein Freund“, begrüßte ihn der vollbärtige Mann in seinem schlichten braunen Handwerkeranzug.
„Auch hallo“, grüßte der Waldwanderer zurück und fand den geräumigen Bierbauch, wenn er denn von gebrauter Brühe stammte, unappetitlich.
„Schön, dass mal wieder jemand den Weg zu uns findet.“
„Ja, sehr schön. Was ist das hier? Eine Aussteigersiedlung? Sind sie sowas wie die Amischen?“ fragte er und löste seine Augen endlich von dem hervorstechenden Wanst. Das Starren auf die Wampe war unhöflich, aber Arnulf hielt grundsätzlich nicht viel von guten Manieren, wenn ihm etwas suspekt war. Und das war es und nichts war eigenartiger, als dieses Dorf mitten im bajuwarischen Urwald.
„Amisch? Nie gehört. Aber seien sie willkommen. Ich freue mich, nein, wir alle hier freuen uns sehr, wenn uns jemand von draußen besucht. Wir sind keine Absteiger.“
„Aussteiger! Ich sagte Aussteiger.“
Arnulfs barscher Ton erzeugte keine mimische Reaktion des wohlgenährten Herrn.
„Wie auch immer, mein Freund. Wir leben hier schon sehr lange und, ja, wir sind etwas abseits. Vor ein paar hundert Jahren sind unsere Vorfahren aus ihrem Dorf geflohen. 1846 war es, als sie sich hier niedergelassen haben. Sie wollten nicht mehr für einen Hungerlohn arbeiten und haben sich hier etwas aufgebaut. Dass jemand herkommt, ist wirklich selten. Wir sind sehr gastfreundlich, kommen sie.“
„Haben sie hier überhaupt nichts Modernes? Leben sie wie im Mittelalter, ohne Strom und...?“
„Nein, das nicht. Wir haben einige neue Dinge. Kommen sie!
Entschuldigung, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Rüdiger, der Bürgermeister unseres kleinen Paradieses.“
„Arnulf Gräfe“, stellte sich auch der Besucher vor, der immer noch ein misstrauisches Gesicht machte und schüttelte dem Besitzer des Häuschens, in das er nun gebeten wurde, die Tatze.
Eine gemütliche und gepflegte Bauernstube hieß ihn willkommen.
„Wir haben Radio und elektrisches Licht durch einen Generator, der den ganzen Ort versorgt. Was in der Welt vor sich geht, wissen wir hier ganz genau...mit Ausnahmen natürlich, und es zeigt uns, dass wir mit unserer Abgeschiedenheit richtig liegen. Manchmal holen wir uns ein paar Sachen aus dem Dorf, das ein paar Kilometer im Süden liegt.“
„Sie haben extremes Übergewicht. Entschuldigung, ich möchte nicht unhöflich sein.“
Rüdiger nahm die Bemerkung betreffend seiner Körpermasse seinem Gast nicht übel und überhaupt war er enorm gut gelaunt und Arnulf konnte sich nicht erinnern, jemals einen freundlicheren Menschen getroffen zu haben.
In der Regel eckte der hünenhafte Recke bei den meisten Leuten an, denen er begegnete. Trotzdem schätzten viele auch seine Aufrichtigkeit, die Direktheit, denn Lügen gehörte eher selten zu seinem Smalltalkarsenal.
„Das Essen ist hier sehr gut. Man ist permanent hungrig. Den ganzen Tag könnte ich essen und niemals aufhören.“
„Ja, merke ich. Seit ich hier bin, habe ich auch Hunger.“
„Mein Freund, wir leben in einer Schatzkammer. Sie würden es nicht für möglich halten.“
Eigentlich wollte ihm Arnulf zu verstehen geben, dass er nicht sein Freund war, denn er hielt nichts von derartigen Floskeln. Aber diesmal war er ausnahmsweise zurückhaltend.
„Meine Frau kocht unglaublich gut.“
„Hier? Ohne Supermarkt?“
„Es gibt alles hier. Gemüse und Obst bauen wir an und halten Tiere, wir sammeln Pilze. Gestern haben wir noch Erdbeeren geerntet.“
Es knarrte verdächtig und in die alte Holzstiege gegenüber der Eckbank kam Bewegung. Eine Frau um die vierzig quälte sich die Treppe herunter.
Nur mit Mühe schaffte sie es ohne Sturz nach unten und stöhnte während des Abstiegs. Arnulfs Augen wurden glasig. Er hatte wieder etwas zum Anstarren gefunden, wurde ja auch Zeit. Sie hatte einen langen blonden Zopf und ein zwar nicht mehr ganz junges aber nichtsdestotrotz sehr schönes Antlitz. Arnulf war verzaubert. Auch ihre Oberweite versetzte ihn in Staunen. Da störte ihn nicht einmal mehr der Bauch, den sie vor sich herschob. Aber bei ihr machte das Übergewicht nichts. Mit offenem Mund fraß er sie förmlich auf und seine Augen tasteten jedes Detail ihrer Figur ab.
„Wir haben einen Gast.“
Der Bürgermeister schien plötzlich nicht mehr anwesend zu sein. Jener unverhoffte Besucher aus der anderen Zivilisatiion erhob sich blitzartig und streckte der Dame des Hauses seine Rechte entgegen. Arnulf verstand selbst nicht, was mit ihm geschah, denn wie von sinnen küsste er die Hand der First Lady des Dorfes und sah sie durchdringend an.
„Arnulf Gräfe, freut mich sehr, sie kennenzulernen.“
Sie bekam nur schwer Luft und pflanzte sich auf einen der Holzstühle, der verdächtig knarrte.
„Möchtest du ein Glas Wasser?“ fragte Rüdiger höflich.
Sie ignorierte ihn und wandte sich dem Touristen zu.
„Isolde. Ich bin Isolde.“
Der Bürgermeister konnte die Situation schwer einschätzen und kratzte sich am Doppelkinn.
„Ich habe keinen Durst.“
Sie schnaufte und atmete aus und ein wie eine Dampfmaschine.
„Entschuldigen sie. Ich kann nicht mehr. Ich bekomme sehr schwer Luft.“
„Das verstehe ich. Ich bin zufällig hierher gekommen. Ich war auf der Suche nach Wölfen. Die treiben sich irgendwo im Wald herum.“
„Um Gottes Willen. Warum suchen sie denn Wölfe? Wollen sie gefressen werden?“
Ihr Mann stellte einen Krug mit Wasser auf den Tisch und befüllte zwei Gläser. Isolde schob ihr Glas sofort weg. Ihr Mann war dennoch nicht taub.
„Danke. Ich mache nur eine Fotosafari. Für den Fall, dass ich angegriffen werde, habe ich ein Messer. Und eine Machete. Aber ich will ja niemandem den Garaus machen. Wölfe haben mehr Angst vor Menschen, als umgekehrt.“
„Das glaube ich nicht. Aber sie sind ja...wie groß sind sie?“ fragte Isolde und ihre Augen und jene des Gastes wurden magnetisch und nichts konnte sich zwischen sie stellen. Ihr Mann schien sie nicht mehr zu interessieren.
„1,95. Ich bin sehr sportlich. Durchtrainiert, wissen sie:“
„Ich muss nochmal in den Garten, kündigte der Bürgermeister an.
„Ja, Schatz, wir unterhalten uns hier.“
„Wunderbar“, antwortete ihr Ehemann, der nicht das geringste Anzeichen von Eifersucht zeigte. Warum auch, schließlich interessierte sich seine Frau ja auch nur besonders auffällig für einen wildfremden gutausshenden Mann, der sich ebenfalls ganz besonders zu ihr hingezogen fühlte. Arnulf sah den Herrn das Haus verlassen und dachte nur ganz kurz darüber nach, was dieser Kerl für ein hirnverbrannter Idiot sein musste.
Der nun gefällige Hüne hingegen spielte optisch in einer anderen Liga und wäre am liebsten über die Hausherrin hergefallen und ganz sicher sie auch über ihn. Sie fasste seine Hand und drückte sie.
„Ich will von hier weg. Können sie mich mitnehmen, wenn sie weiterziehen?“
Oh Gott, dachte Arnulf, das war genau das, was er hören wollte.
„Ich schaffe es alleine nicht. Ich bekomme kaum Luft und...ich bin zu schwer.“
„Sie haben Angst, dass sie...aber warum nehmen sie nicht einfach ab?“
In Gedanken sah er sie als schlanke Frau vor sich und sie musste unglaublich toll aussehen ohne diesen Bauch, diese Belastung, die sie womöglich schon bald umbringen konnte.
„Das schaffe ich nicht. Keiner schafft das hier. Es ist wie verhext. Wir fressen uns voll. Möchten sie etwas essen?“
„Ehrlich gesagt habe ich einen Bärenhunger.“
„Wir haben etwas vorbereitet. Das ist normal, ich meine, die Portionen sind normal für uns hier. Ich muss nur eben meinen Mann fragen, ob er schon Hunger hat. Aber...Unsinn...natürlich hat er.“
Arnulf hatte etwas nicht verstanden, dachte er und seine Stirn wurde faltig.
„Was heißt „keiner schafft das hier“?“
„Das ist hier so. Liegt an der Luft und am Boden. Die meisten sind hier glücklich. Wir sitzen abends am Lagerfeuer oder machen Spiele. Es ist ein hübscher Ort. Aber er ist winzig.“
Er hörte, wie es in ihrem Bauch rumorte.
„Entschuldigen sie. Das kommt vom Magen. Er braucht Nahrung.“
„Ja, der knurrt bei mir auch manchmal.“
Arnulf lächelte, aber er tat es verkrampft. Sein Humor musste sie beeindrucken, dachte er. Frauen liebten humorvolle Männer. Das hatte er gelesen.
„Bitte übernachten sie bei uns. Wir verschwinden im Morgengrauen. Mein Mann schläft immer bis zehn.“
Es rumorte in seinem Gehirn. Das ging rasant. Eben war er noch draußen zwischen den Büschen und teilte Gestrüpp, um vorwärts zu kommen. Es war eigenartig, alles war eigenartig, aber nicht schlimm, so fand er. Sein Denken kreiste um diesen Ort. Vielleicht wollte sie ihn nur benutzen, um Hilfe bei der Flucht zu haben.
„Haben sie mit ihrem Mann mal darüber gesprochen, dass sie von hier weg möchten?“
„Sicher haben wir das. Aber er bleibt lieber hier. Er sagt, wir hätten hier ein Paradies. Wenn ich etwas bräuchte, würde er es mir besorgen. Ich könnte ja gehen und er ist sicher, dass ich zurückkomme. Niemand muss hier bleiben, wenn er nicht will.“
„Sie haben diesen Ort noch nie verlassen?“
„Nein, ich meine ja, ich bin hier geboren. Die Welt draußen kenne ich aus Büchern.“
„Bücher? Gibt es eine Schule?“
„Einen Lehrer und es gibt noch vieles, was sie nicht vermuten würden. Ich werde jetzt das Essen vorbereiten und sie können sich ja in der Zeit hier umsehen.“
Arnulf starrte auf die Tischplatte und antwortete wie in Trance. Langsam hob er den Kopf wieder an und ihr schönes Gesicht geriet wieder in sein Blickfeld.
„Ja“ sagte er und wirkte geistesabwesend.
„Ist was mit ihnen?“fragte Isolde und näherte sich. Er konnte sie schmecken, ihren Duft, dieses süßliche Aroma und er befeuchtete seine Lippen. Verschlingen wollte er sie, egal wie schwer sie war. Wie ihm geheißen, begab er sich nach draußen. Sein Hunger wurde größer. Die Vorfreude auf das ganz sicher fantastische Abendessen wuchs ins Immense und verwischte den kurzen Wunsch, schnell zum nächsten Ort, der richtigen Zivilisation, weiterzuziehen.
Arnulf besichtigte wie von Isolde vorgeschlagen den gesamten sehr überschaubaren Ort. Es war nur eine Schrebergartensiedlung, so dachte er.
Ein breiter Weg zwischen zwei flachen Hecken erlaubte ihm ein paar idyllische Einblicke. Links spielten ein paar schlanke Kinder in einem Garten und rechts beackerte ein vollschlanker Mann in bäuerlicher altertümlicher Kleidung seinen Acker. Der gute Mann kniete beim Ausgraben seiner Kartoffeln, als bete er zu seinem Gott. Arnulf blieb stehen und sezierte mit den Augen die Qualen des stark Übergewichtigen. Der schwitzte und ächzte, kaum fähig war, seine überquellende Wampe zu bändigen. Intuitiv fasste sich der Besucher an seine Bauchmuskulatur. Was musste sein Anblick bei diesem Mann bewirken. In der Nähe muhte es.
Vieh gab es hier. Ein in sich abgeschlossenes System war dieser Ort und doch störten wohl die Gedanken mancher Leute. Einen Sinn und Zweck dahinter zu suchen, brachte Arnulf nichts. Es war das Idyll, die Ruhe und die Bescheidenheit, die ein Leben ohne Hektik ermöglichte. Die Kinder waren noch schlank. Arnulf fragte sich, ob es ein Krankenhaus oder nur eine Hebamme gab. Er schlenderte weiter und bog links ein. Dort arbeitete ein Mann an seinem Dach. Auch er hatte große Probleme mit der Atmung, schnaufte wie ein Wasserbüffel. Eine ungepflegte Wiese direkt neben dem mit einem flachen Holzzaun abgetrennten Grundstück war der Versammlungsplatz im Herzen der Ansiedlung. Eine Reihe von Bänken und ein paar runde Holztische dienten zum Verweilen und rechts thronte das noch prächtige, aber verwahrloste Rathaus. Es war etwas größer als die übrigen Gebäude und an den vielen kleinen Blumenornamenten und Verzierungen konnte man den besonderen Status des Gemäuers leicht erkennen. Mehrere Männer saßen davor und musterten den Neuankömmling. Keiner brachte zunächst ein Wort heraus, war der Anwesende doch für sie eine Art Außerirdischer, den man bestaunen musste. Die einzige anwesende Frau ergriff das Wort und erhob sich mühsam, denn auch sie war wie auch die anwesenden männlichen Ortsansässigen stark übergewichtig. Mit der Gattin des Bürgermeisters konnte sie in Arnulfs Augen nicht mithalten, aber ihre freundliche Ausstrahlung konnte Herzen zum Schmelzen bringen.
„Hallo, mein Freund!“
War das einstudiert? Begrüßte sie ihn tatsächlich mit dem selben Satz, wie dieser Rüdiger? Oder hatte er nicht richtig zugehört? Nein, keiner der Leute, die dort saßen, war sein Freund. Noch nicht oder vielleicht nie wollte er eine vertraute Verbindung zu diesen Menschen aufbauen. Sie tranken Bier und hielten die Humpen fest, als wolle man sie ihnen wegnehmen.
Brauten sie ihre bittere Brause selbst?
Ein sehr großer Mann im schlichten Bauernlook und einem muffigen Dunst erhob sich und breitete seinen Mundgeruch freundlich über Arnulf aus.
„Schön, mal wieder jemanden von draußen zu treffen. Was hat dich hierher verschlagen, mein Freund?“
Aus purer Höflichkeit schüttelte der Gast aus der anderen Welt die sich ihm entgegengestreckte Hand. Noch ein Freund.
„Ich bin Tierfotograf. Ihr Bürgermeister hat mich eingeladen, äh...“
„Setz dich zu uns. Wir haben selbstgebrautes Bier und frisches Brot. Der Schnaps ist auch von hier, selbstgebrannt.“
Widerwillig setzte sich Arnulf zu ihnen und bärtige grinsende Gesichter fielen über ihn her.
„Ja, der gute Rüdiger. Wie hast du uns gefunden?“ fragte jener Naturbursche, der ihn zuvor mit Handschlag begrüßt hatte.
„Gefunden? Nein, ich habe sie...euch nicht gefunden.“
Er sah sich um und noch weitere Ansässige kamen von allen Seiten auf den Tisch zu und schienen ihn zu umzingeln.
„Euer Dorf hat mich gefunden.“
„Dorf? Wir sind eine Stadt. Wir haben alles.“
„Tatsächlich? Habt ihr ein Gefängnis? Polizei? Feuerwehr? Ein Parkhaus?“
„Von alledem haben wir gehört, aber wir brauchen es nicht. Niemand ist so dumm, einen Brand zu verursachen. Das hätte fatale Folgen für uns und den ganzen Wald. Polizei haben wir nicht, aber wir haben ein Gefängnis. Willst du es mal sehen? Es ist etwas Besonderes.“
Arnulf war inzwischen von mehr als zwanzig Bewohnern unterschiedlichsten Alters umgeben. Zunehmend wurde ihm die Szenerie unheimlich. Aber dieses Gefängnis, oder was man sich hier darunter vorstellte, machte ihn neugierig.
„Ihr habt ein richtiges Gefängnis? Das würde ich mir gern ansehen.“
„Gut. Ich zeige es dir, wenn es dich interessiert. Ist gleich um die Ecke.
Ich bin übrigens Karl, der Fleischer. Und wie heißt du?“
„Arnulf.“
Er nahm sich vor, ab sofort auch ausnahmslos jeden zu duzen, der sich ihm hier vorstellte.
Keiner der anderen Stadtbewohner folgte ihnen und die angehäufte Masse aus unschlanken Leibern verteilte sich wieder, hatte offenbar ihre Neugier befriedigt. So etwas Außergewöhnliches war dieser Besucher aus der anderen weniger bekannten Zivilisation ja gar nicht.
Zwanzig Meter Weg weiter gelangten sie auf eine weitläufige Lichtung.
Der Klotz, der dort stand, wirkte nicht sehr einladend.
„Ich habe eine Frage.“
„Aber nur zu. Frage alles, was du willst.“
„Woran liegt es, dass hier alle Bewohner außer den Kindern so stark übergewichtig sind?“
„Es ist in der Luft. Wir leben in einem Paradies. Und das hat seinen Preis.
Dafür müssen wir mit diesen Bäuchen herumlaufen. Ich weiß nicht, wie es funktioniert, aber unsere Lebenserwartung ist darauf abgestimmt.“
„Aber wenn man so dick ist, wird man nicht sehr alt.“
„Unsere ältesten Bewohner sind um die siebzig. Das reicht doch.“
„Und Sport? Was ist damit?“
„Wie denn?“
Arnulf wusste keine Antwort auf diese Gegenfrage. Der sechs mal sechs Meter breite Klotz rückte näher. Ein Würfel mit einer Leiter an einer der vier gleichlangen Seiten. Die Höhe lag bei ungefähr 5 Metern, so schätzte Arnulf. Karl erklomm zuerst die Leiter.
Kurz darauf standen sie beide auf dem Dach des Quadrats, das weder aus Holz, noch aus Beton bestand. Das Material ließ sich nicht bestimmen.
Arnulf ging in die Hocke und befühlte die eiskalte Oberfläche.
„Was ist das?“
Er zog seine Hand sofort zurück. Ein Gefühl von Panik erfüllte ihn. Selten, vielleicht niemals zuvor, fühlte er sich derart unangenehm. Da war etwas in diesem festen Stoff, das er nicht beschreiben konnte. Karl deutete auf die Öffnung in der Mitte des Dachs.
„Das ist es.“
„Euer Gefängnis ist dieses Gebäude? Ich sehe keine Tür und kein Fenster.
Werft ihr die Leute hier nach unten?“
„Aber natürlich“, sagte Karl und verzog keine Miene.
„Es ist eine Strafe. Dort werfen wir den Schuldigen hinein und er bleibt dort. Einfach nur ein Gefängnis.“
„Und wie kommt man von dort wieder heraus?“ fragte Arnulf und beugte sich über die viereckige Öffnung.
„Ich verstehe nicht. Warum sollte jemand wieder zurückkommen?“
Arnulf konnte nichts erkennen und benutzte seine Stabtaschenlampe, um Licht in dieses düstere Loch zu bekommen. Was er sah, war abscheulich und für das gewohnte biedere Auge unvorstellbar. Es war ein vertrockneter Haufen, ein Brei aus menschlichen Überresten. Hände ragten heraus, Schädel starrten ins Leere und ein ekelhafter Gestank drang bis an die Öffnung „Der Tod ist eure einzige Strafe?“ fragte er den Fleischer vorwurfsvoll und sah ihn an, als wollte er ihn selbst zerfleischen.
„Es ist verboten, dort hineinzuleuchten. Du bist nicht von hier, deswegen werden wir dich nicht bestrafen. Aber du solltest uns besser jetzt verlassen.“
„Was?“
Arnulfs Augen begannen zu glühen. Er machte ein paar kleine Schritte, bis er sein gegenüber halb umrundet hatte und strahlte ihm mit der Leuchte in die Augen.
„Du bist wahnsinnig. Ihr alle hier seid wahnsinnig. Ich lasse mir nichts verbieten.“
Mit einer flüchtigen Bewegung wollte der mutmaßliche Metzgermeister ihm die Lampe aus der Hand schlagen. Geschickt ließ ihn Arnulf ins Leere laufen. Mit einem brutalen Angriff schleuderte er den stark Übergewichtigen in die Öffnung. Nun brauchte der sich nicht mehr über die Holzleiter nach unten zu quälen. Der Tourist aus der Ferne strahlte erneut in die Tiefe und erhellte den leichenverseuchten Grund. Karl röchelte und brüllte vor Zorn. Doch schon sehr bald, wohl als er die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkannte, wurde er ruhig. Arnulf beobachtete ihn.
„Nun? Wie ist es da unten?“
„Ich danke dir. Dies ist eine Erfahrung, die ich irgendwann machen wollte.
Jetzt ist es also so weit.“
Ausgerechnet in diesem Moment ahnte Arnulf, woraus dieser Bau bestand, welches schreckliche Material hier zum Einsatz gekommen war. Ein Monument aus menschlichen Knochen. Er konnte sich nicht vorstellen, wer es gebaut hatte. Und er wollte es nicht wissen. Plötzlich tauchte wieder der süße Hauch auf, der eigentlich nie ganz verschwunden war, sich aber nun verstärkte. und gleichzeitig rutschte das noch immer lebende Mitglied der seltsamen Gemeinde aus nicht ersichtlichem Grund ein Stück zur Seite. Er röchelte und ein paar grässliche Laute drangen an Arnulfs Ohr. Das Licht der Lampe konnte nichts einfangen außer den Beinen des Heruntergestoßenen. Ein kurzer Schrei folgte. Arnulf machte das Licht aus.
Gespielt entspannt machte er sich auf den Rückweg und vermied es, den Gesellschaftsplatz vor dem Rathaus ein weiteres Mal aufzusuchen.
Niemand lief ihm über den Weg. Der allgegenwärtige süßliche Duft wurde ihm unangenehmer. Und es wurde dunkel. Ihn interessierte nicht, ob jemand den verrückten Fleischer vermisste. Dieses Freilichtirrenhaus musste er verlassen und das schnellstens. Aber er wollte es nicht allein. Als er das Grundstück des Bürgermeisters erreichte, sah er sich ein weiteres Mal um.
Aus der Dunkeklheit tauchten überall die Lichter hervor wie unbewegliche Glühwürmchen. Es hatte etwas Unheimliches, aber auch etwas Gemütliches, Geborgenheit verheißendes an sich, dem man sich schwer entziehen konnte, wenn.man eine romantische Ader besaß. Immer klarer tauchte ein üppiges Essen vor seinem geistigen Auge auf.
Der Bürgermeister und seine Isolde empfingen ihn herzlich und Arnulf durfte am Kopfende des sehr schlichten Holztisches Platz nehmen.
Unverhofft knirschte die Eingangstür zur Seite und eine andere weibliche Person gesellte sich zum Abendessen hinzu.
„Hallo ihr Lieben.“
„Frieda! Sei willkommen!“ sprach Rüdiger und erhob sich. Rasch stellte er einen weiteren Stuhl für den weiblichen Gast an den Tisch. Die Dame, höchstens vierzig, ächzte unter ihrem Gewicht und atmete schwer, was Arnulf nicht überraschte. Ihre wilde knallrote Haarmähne lockerte die langweiligen Farbtöne in ihrer Umgebung auf und das war immer genau dort, wo sie sich gerade aufhielt. Selbst auf einem Friedhof wäre sie der Mittelpunkt gewesen und nicht der Sarg des Verblichenen.
„Hallo, ich bin Arnulf.“
Verschmitzt lächelnd sprang Arnulf wieder auf und reichte dem weiblichen Gast seine Hand.
„Sie ist meine Schwester,“ verriet Isolde.
Arnulf war auch von ihr, trotz der Leibesfülle, recht angetan. Er sah beide Frauen abwechselnd in regelmäßigen Abständen an, während sie sich den Bauch vollschlugen.
Es gab Schweinebraten mit Knödeln und einer Bratensoße. Selbst der Rotkohl, den Arnulf sonst eher mied, schmeckte wie vom Meisterkoch.
Das selbstgebraute Bier war ihm zu bitter. Er trank es dennoch.
„Woher kommst du denn genau?“ erkundigte sich die feuerrote Frieda und sah den Gast von Außerhalb mit staunenden Augen an, während ihre Zunge in Zeitlupe über die wulstige Unterlippe strich.
„Aus Nürnberg. Ich bin viel unterwegs.“
„Von dem Ort habe ich schon gehört. Eine Stadt, aber nicht so groß wie München. Ich habe auch ein Buch über eure Städte.“
„Eure? Wir sind doch im selben Land.“
Arnulf verbarg seine Verwirrung nicht. Diese Leute waren gewiss keine Außerirdischen und auch keine Vampire oder Sagengestalten.
„Ja. Aber wir leben doch ganz verschieden. Mein Mann ist abgehauen. Ja, abgehauen. Er wollte nicht mehr hier leben.“
„Und wo wohnt er jetzt?“
„Er ist tot. Ich habe ihn nach unseren Gesetzen bestraft.“
Arnulf verschluckte sich beinah und sah in die Runde. Das anwesende Ehepaar lachte.
„Das war ein Scherz. Natürlich habe ich ihn nicht getötet. Er ist einfach nicht mehr wiedergekommen.“
„Tut mir leid. Er hätte sich ja wenigstens mal melden können, denke ich.“
„Wie fanden sie meinen Scherz?“ hakte Frieda nach.
„Lustig. Sehr lustig. Sie haben einen...makabren Humor. Finde ich gut.“
„Hast du Lust, bei mir zu übernachten?“ fragte sie Arnulf.
Er holte tief Luft und das mitten beim Zerkauen eines großen Bissens.
Diesmal verschluckte er sich wirklich.
„Heute Nacht haben wir ihm schon Quartier angeboten. Morgen kann er bei dir bleiben,“ bestimmte Isolde.
Ihr Gatte pflichtete ihr bei und setzte ein gequältes Lachgesicht auf.
„Schade. Aber vielleicht will euer Gast ja lieber bei mir schlafen.“
Arnulf stand vor einer schwierigen Wahl. Beide Frauen hatten es anscheinend auf ihn abgesehen, aber aus unterschiedlichen Gründen. Eine wollte ihn als Trittbrett in die Freiheit nutzen und die andere war wohl eher auf Sex aus. Sollte er vielleicht noch eine Übernachtung dranhängen? In seiner Fantasie spielte sich eine wilde Szenerie ab.
„Ich bleibe gern wie vereinbart hier. Aber der morgige Tag gehört ihnen, ich meine dir.“
Er strahlte nun über beide Backen und hätte er mit sich selbst reflektiert, er hätte diesen Arnulf nicht wiedererkannt. Alles war anders. Mühsam würgte er eine beginnende Erektion ab, die sein durcheinandergewirbeltes Hirn konstruiert hatte und mit intensiven Signalen nach unten sendete. Es war ihm, als durchleuchtete Frieda mit ihren grünen Augen seine Seele. Ihr Name erinnerte ihn vom Klang zwar eher an eine tölpelige Bauernmagd aus dem 19. Jahrhundert, so seine Vorstellung, aber diese Frau war ganz anders gestrickt.
„Erzähl doch etwas von dort, wo du herkommst“, sagte Frieda.
„Mich würde eher interessieren, wie sie ...ihr hier lebrt. Zum Beispiel frage ich mich, wann die Kinder dick werden. Ihr seid doch alle ...schwer, meine ich und...“
„Mit 16 Jahren ungefähr,“ antwortete der Bürgermeister ruhig.
„Was macht ihr den ganzen Tag? Kein Fernsehen, kein Telefon, keine Computer und... was ist mit Sport oder...was weiß ich?“
„Wir haben genug zu tun. Arbeiten, essen, schlafen und körperliche Ergüsse.“
„Körperliche...Ergüsse?“
Arnulf wusste natürlich, was gemeint war. Lediglich der Begriff war ihm nicht geläufig.
„Ja, den Körper eines Anderen erleben als das, was er ist. Ein Erlebnis.
Pures Fleisch fühlen und spüren. Sowas gibt es bei euch wohl nicht mehr.“
Rüdigers Ton kühlte ab. Arnulf dagegen fand die Vorstellung befremdlich, dass sich ein stark übergewichtiges Paar auf dem Bett austobte. In seiner Vorstellung führte das mindestens zu zwei Herzinfarkten. Die beiden Frauen schwiegen und waren nur schwer fähig, den Appetit zu zügeln. Ihre schon leeren Teller füllte der Hausherr rasch nach. Arnulf kannte ein solches Tempo der Nahrungsaufnahme nicht, bemühte sich aber ebenfalls um einen kräftigen Nachschlag. Natürlich ging in diesem Dorf nicht alles, oder gar nichts, mit rechten Dingen zu. Trotzdem hinterfragte er nichts mehr. Nicht an diesem Abend. Er hoffte, Isolde würde ihm unterwegs vieles erklären, wenn sie wie geplant diesen Ort verließen Frieda verschwand sehr rasch nach dem fürstlichen Mahl und Isolde schleppte sich wieder die Treppe hoch. Arnulfs Kämmerchen war winzig.
Aber das Bett war herrlich weich. Sie zündete eine Kerze an und setzte sich schwerfällig an den Bettrand.
„Ich kann meine Uhr auf eine Zeit einstellen. Wie früh sollen wir aufbrechen?“
Sie stand auf, öffnete das Fenster, sah kurz hinaus und schloss es dann wieder. Arnulf verstand Sinn und Zweck dieser Handlung nicht.
„Um fünf Uhr brechen wir auf. Dann wird es hell. Ich danke dir.“
Rasch verschwand sie und der Gast zog lediglich Schuhe und Jacke aus, bevor er sich entspannend auf dem Bett ausbreitete. Die Kerze spendete wohlige Gefühle und Erinnerungen an gemütliche Zeiten. Spontan erhob er sich und trat vor das kleine Fenster. Er öffnete es. Der Duft, an den er sich schon gewöhnt hatte, kam von draußen, strömte ein und überall waren diese kleinen Lichter. Die Vögel verstummten allmählich und andere Töne kamen aus dem Dunkel. Zischende Laute wie aus dem exotischen Dschungel meldeten sich lautstark. Affen schienen zu kreischen. Arnulf erkannte ganz gut die Umrisse der Häuser, derer viel mehr waren, als es nach dem ersten Eindruck den Anschein gehabt hatte. Oder wurde das Dorf einfach nur nachts größer? Nach und nach verlöschten wenig später die Lichter. Der Ort fiel in den Schlaf, obwohl es noch nicht spät war. Aber die Verhältnisse waren hier anders.
Er legte sich auf das Bett zurück. Langsam wurden die Augenlider schwerer. Ganz leise wurde die Klinke der Tür heruntergedrückt und Isolde schlich zu ihm. Er hätte es nicht zu hoffen gewagt. Sie legte ihren Bademantel ab, unter dem sie splitternackt war. Arnulfs Atem beschleunigte sich. Schon fühlte er ihre warme Haut. Die Gelüste des Fleisches strapazierten das schlichte Bett, aber es hielt stand. Und es quietschte auch nicht.
„Schläft dein Mann fest genug?“
„Ja,“ sagte sie.
„Ich habe ihm die Kehle durchgeschnitten.“
„Was? Ihr seid also alle so witzig.“
„Ja. Nur ein Scherz. Ich muss auch mal einen machen. Er schläft wirklich nur. Keine Sorge.“
Ihr Flüstern hörte sich seltsam an.
„Du hast ja das Fenster geöffnet.“
„Na, und?“
Statt zu antworten, schritt sie langsam an die Öffnung für frische Luft.
Aufmerksam schaute sie nach draußen und Arnulf verstand nicht, wonach sie Ausschau hielt. Sie zögerte, schloss das Fenster dann aber doch.
„Da ist doch irgendetwas. Oder?“
„Ja, ich werde es dir später erklären.“
In ihrem Bauch gluckerte es.
Sanft wurde der Besucher des unheimlichen Dorfes geweckt. Isolde strich ihm beinah liebevoll über die Wange.
Verschlafen streckte Arnulf die Arme aus. Für ein paar Sekunden sortierte er seine Gedanken und war dann sofort bei der Sache.
„Ich ziehe mich schnell um und du wartest bitte draußen vor der Tür.“
„Ja, natürlich. Nur aufs Klo und weg. Eine Wasserspülung wäre auch schön, aber...“
Sie drehte sich zur Seite und war überraschend schnell auf den Beinen.
Es dauerte nur Sekunden und er war abmarschbereit. Vorsichtig passierte er die Treppe, die nicht knarrte. Es war neblig. Ein richtig trüber Morgen.
Feuchte Kälte empfing Arnulf und er zog den Kragen hoch, schlotterte ein wenig. Von der bald wohligen Tagestemperatur spürte man noch nichts. Er wartete erst vor dem Eingang und schlenderte dann bis zum Gartentürchen.
Endlich kam sie. Der Gang war schwerfällig, aber kontinuierlich kam sie vorwärts.“
„Ich kann nur langsam. Das stört dich doch nicht?“
„Nein, nein, überhaupt nicht.“
Er hakte sich bei ihr ein und konnte die Schrittfolge leicht beschleunigen.
Die Wege zwischen den Gärten und kleinen Plätzen wirkten zunächst unendlich. Nochmal links herum, dann wieder rechts und dann zehn Meter geradeaus. Voller Ungeduld erreichten sie schließlich die breite Allee, die zum Ende des Dorfes führte.
Es war ein arkadenartiger Zugang ohne Tür oder Tor der sich jederzeit passieren ließ. Schließlich standen sie vor dichtem Wald. Keine Straße führte zu diesem Ort. Das war auch so gewollt. Arnulf machte ihr den Weg frei. Er teilte Zweige und Geäst und in gemächlichem Tempo entfernten sie sich immer weiter von dem Zentrum des zweifelhaften Idylls.
Arnulfs Verständnis für das sehr sehr langsame Vorankommen war schier unendlich. Er bahnte das Gebüsch, wenn es mal schwieriger wurde und Isolde pustete und röchelte unter der Anstrengung. Schon nach zehn Minuten setzte sie sich auf einen Baumstamm.
„Kein Problem. Was ich übrigens fragen wollte...du hast doch nichts dagegen, wenn ich dich etwas frage, oder?“
Ihre Atem verlangsamte sich.
„Nein, habe ich nicht, aber ich weiß sowieso, was du wissen willst.“
Sie beugte sich zur Seite und übergab sich hinter dem Stumpf. Mehr als zwei Liter Wasser strömten durch ihren Rachen auf den weichen Boden..
Danach rülpste sie und es ging ihr schlagartig besser . Sie atmete auf und holte mehrmals hintereinander Luft. Sprachlos verfolgte Arnulf den Vorgang und wartete.
In ihrem Bauch gluckerte es wieder. Diesmal klang es anders als beim letzten Mal.
„Was will ich denn wissen? Du sagst, du kannst es dir denken. Oder habe ich das falsch verstanden?“