ACAB - Carlo Bonini - E-Book

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Carlo Bonini

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Beschreibung

Rom: Hooligans, unbändiger Hass, Straßenschlachten – die Polizei im Kampf gegen einen Gegner außer Kontrolle. Nackte Gewalt gehört für eine eingeschworene Gruppe der "Celerini", der italienischen Bereitschaftspolizei, zur Tagesordnung. Als eingefleischte Anhänger Mussolinis verabscheuen sie den laschen Staat, sind ständigen Auseinandersetzungen mit Ultras und Nazi-Skins ausgesetzt und müssen sich zudem wegen illegaler Übergriffe nach dem G8-Gipfel verantworten. Bonini erzählt vom Irrsinn auf der Straße, einer verdrängten Realität: von äußerster Brutalität, von Überfällen auf Migranten, vom Sturm auf eine Polizeikaserne und von wöchentlichen Schlachten zwischen Hooligans vor Roms Stadien. Bis nach dem Tod eines Fußballfans alles eskaliert.

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Ähnliche


CARLO BONINI

THRILLER

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

Die Originalausgabe ist 2009 bei Einaudi, Turin, unter dem TitelACAB. All Cops Are Bastards erschienen.© 2009 Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino

© der deutschprachigen AusgabeFOLIO Verlag Wien • Bozen 2018Alle Rechte vorbehalten

Umschlagfoto: © Emanuela Scarpa

Grafische Gestaltung: Dall’O & FreundeDruckvorbereitung: Typoplus, FrangartPrinted in Europe

ISBN 978-3-85256-738-9

E-Book ISBN 978-3-99037-078-0

www.folioverlag.com

Meinen Söhnen

Michele, Pietro und Giacomo

Inhalt

Acab

Prolog – Nietengürtel

1. Michelangelos Schlachthaus

2. Drago

3. Sciatto

4. Chat

5. Auffangzentrum

6. Mentalität

7. Zwei Schneidezähne

8. Carletto

9. Mailat

10. Omer

11. Herren im eigenen Haus

12. Im Namen des italienischen Volkes

13. Die Nacht von Rom

14. Teste matte

Epilog

Für den deutschen Leser

Acab

Als ihr euch gestern in Valle Giulia geprügelt habt mit den Polizisten, hielt ich es mit den Polizisten! Weil die Polizisten Söhne von armen Leuten sind. Sie kommen aus Randzonen, ländlichen oder städtischen.

(…) Sie sind zwanzig, in eurem Alter, liebe Freunde und Freundinnen. Gegen die Institution der Polizei sind wir uns selbstverständlich einig. Aber legt euch einmal mit der Justiz an, und ihr werdet sehen! Die jungen Polizisten, die ihr aus heiligem Bandentum (in vornehmer Tradition des Risorgimento) als Vatersöhnchen verprügelt habt, gehören zur anderen Gesellschaftsklasse. In Valle Giulia hat es also gestern ein Stück Klassenkampf gegeben: und ihr, Freunde, (obwohl im Recht) wart die Reichen, während die Polizisten (im Unrecht) die Armen waren.

Pier Paolo Pasolini, Die KPI an die Jugend!!, erschienen in der Zeitschrift Nuovi Argomenti, Nr. 10, April – Juni 1968 (deutsche Übersetzung von Reimar Klein in: Pier Paolo Pasolini, Ketzererfahrungen – »Empirismo eretico«, Schriften zu Sprache, Literatur und Film, München: Hanser Verlag 1979, S. 187 ff.)

(…) Bedürfnis nach Arbeit, Bildung, Wohnung. Bedürfnis nach Nebenwohnsitz, Handy, Kaschmirpullover, Barbados, Kaviar, Nike. Bedürfnis nach sauberer Luft für unsere Kinder, nach etwas Zärtlichkeit, nach Idealen, nach Heiligem … Bedürfnis nach Hass. Allein wenn wir das „Bedürfnis nach Hass“ zur Kenntnis nehmen, das in jedem von uns köchelt, müssen wir endlich zur Kenntnis nehmen, dass nicht alle Bedürfnisse straflos befriedigt werden können.

Vittorio Sermonti, L’odio è un bisogno, ammettiamolo. E reprimiamolo, in „Corriere della Sera“, 2. Dezember 1992.

(…) Wenn mehrere Hundert Hooligans oder Autonome in einer Entfernung von fünfzig Metern vor dir stehen, mit Stangen, Ketten, Kirschbomben und Messern bewaffnet, halte ich es für richtig, ihnen so eine Angst einzujagen, dass sie glauben, sie könnten uns nicht angreifen, ohne draufzuzahlen. Italien ist kein Stiefel, sondern der Springerstiefel der Bereitschaftspolizei.

B., Bereitschaftspolizist aus Padua, Posting im Blog DoppiaVela, 2007.

An den Leser

Das ist eine wahre Geschichte. Aber keine endgültige Wahrheit. Die Geschichte beruht auf sorgfältiger Recherche, auf der Lektüre von Dokumenten und Prozessakten und auf Aussagen von Augenzeugen, die zur Zeit der Niederschrift zu Gesprächen bereit waren.

PrologNietengürtel

Autostrada del Sole, September 2007

He, Cipolla, kannst du nicht mehr aus der Rostlaube rausholen? Oder glaubst du, die im Stadio Olimpico warten auf uns?

Vielleicht hatte Cicoria recht. Cipolla trat zwar das Gaspedal durch und im Inneren des Fahrzeugs dröhnte es wie in einem Doppeldecker, doch der Fiat Multipla war am Limit. Der Zeiger des Tachometers steckte bei hundertzehn fest. Wie angeklebt. Es war noch nicht mal zehn Uhr vormittags. Bis zum Match Roma – Juve waren es noch fünf Stunden. Sie hatten gerade die Ausfahrt Frosinone passiert. Neunzig Kilometer, noch ungefähr eine Stunde Fahrzeit, dann würde das Stadio Olimpico sie empfangen wie jeden Sonntag.

Mit einem Blick in den Spiegel kontrollierte Cipolla zufrieden den Rücksitz. Die gelbrote Flagge war auf der Hutablage drapiert, die Schärpen lagen gefaltet auf den Sitzen. Die eben erst geöffnete Zigarettenstange steckte zwischen Handbremse und Fahrersitz. Beißender Nikotingeruch. Auf der Fahrt mussten gewisse Rituale eingehalten werden, an den stets gleichbleibenden Details erkannte man, wie groß der Aberglaube war.

Cicoria fummelte an der Stereoanlage herum, ohne ihr einen Ton zu entlocken.

– Himmel, nicht mal das Radio funktioniert in dieser alten Schüssel.

– Wozu? Was willst du hören? Onda verde? Verkehrsnachrichten? Ist sowieso niemand auf der Straße.

– Nein, ich will hören, wo die Scheißneapolitaner spielen.

– In Empoli, wieso?

– So halt.

Cicoria wurde ernst.

– Sag, warum dich das interessiert.

– So halt.

Das Lenkrad vibrierte jetzt wie ein Presslufthammer und Cipolla starrte auf den Tachometer. Der rechte Fuß klebte am Gaspedal. Ein grauer Opel Zafira schoss an ihm vorbei wie ein Peitschenhieb.

– Was zum Teufel war das? Was macht der Trottel?

Wie ein Blitz war er hinter ihm aufgetaucht. War nach links ausgeschert, hatte ihn überholt und sich dann wieder rechts eingereiht, was Cicoria zu einem jähen Bremsmanöver zwang. Jetzt war der Opel vor ihm. Direkt vor seiner Schnauze.

Cicoria schrie.

– Himmel, schau auf das Kennzeichen! Schau auf das verdammte Kennzeichen!

– Was stimmt nicht mit dem Kennzeichen?

– Neapel. Das stimmt nicht.

– Na und? Kennst du vielleicht einen Neapolitaner, der sich an die Regeln hält?

– Cipolla, spinnst du? Kapierst du nicht?

Der Opel war so nah, dass man ins Innere schauen konnte. Auf der Rückbank saßen mindestens drei Personen. Mit weißblauem Schal um den Hals. Rasierten Schädeln. Sie schauten in den Rückspiegel und feixten. Einer streckte die Zunge raus und bewegte sie schnell auf und ab. Ein anderer machte ausladende Gesten: als würde er ihn auffordern, ihm einen zu blasen. Der dritte hielt einen schrecklichen Nietengürtel mit einer riesigen Schnalle in der Hand.

– Ganz ruhig, Cicoria. Wir putzen sie gleich weg.

– Und wie? Willst sie überholen?

– Ich versuch’s.

Cipolla hatte das Steuer gerade mal um eine Handbreit gedreht, als ein Sog den Multipla aufs Neue nach rechts versetzte. Ein grüner BMW war jetzt links neben ihm, ganz dicht. Aber er hatte nicht vor zu überholen.

– Verdammt. Cipolla, wir sind erledigt.

Cipolla hatte nicht die Kraft hinzusehen. Sein Hals war wie versteinert. Er blickte auf den Mittelstreifen. Auf den Zwischenraum von nicht einmal einem Meter, der zwischen der Schnauze des Multipla und dem Opel davor lag. Auf den verdammten Zeiger, der bei hundertzehn feststeckte.

– Cicoria, wer sitzt in dem BMW? Wer?

– Na wer schon? Neapolitaner. Neapolitaner.

– Was machen sie?

– Schau du hin.

– Ich kann nicht, Cico’. Ich kann mich nicht hindrehen.

– Und ob du kannst. Schau hin.

Der Typ auf dem Beifahrersitz des BMW hatte das Fenster heruntergelassen, trotz der Geschwindigkeit streckte er den Kopf heraus. Sein riesiger Mund war zu einem Joker-Grinsen verzogen. Die vom Wind nach hinten gezogenen Backen machten es noch unheimlicher. Er schrie wie besessen. Seine Worte klangen wie Hundegekläff.

– Was zum Teufel sagt er?

– Lass das Fenster runter und hör hin.

Cipolla legte den Finger auf den Fensterheber, drückte aber nur kurz. Sodass zwischen der Bestie und ihm nur ein schmaler offener Spalt war.

Das Gekläff war nun klar verständlich.

– Du Arschloch, du Arschloch. Steig aus, du Arschloch. Steig aus, wenn du den Mumm dazu hast.

– Einen Scheißdreck tun wir. Ich steige nicht aus. Nicht wahr, Cico’? Nie im Leben bleiben wir stehen.

Cicoria zählte die Personen im Opel und im BMW: – Sechs im Zafira. Vier im BMW. Gegen zehn haben wir keine Chance.

– Fürs Erste müssen wir mal hier drinnen überleben.

Der BMW scherte nach rechts aus, drückte den Multipla auf den Pannenstreifen. Mittlerweile war auch die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite hinten heruntergelassen worden, noch ein rasierter Schädel war aufgetaucht. Cicoria traute seinen Augen nicht.

– Er kommt raus. Der Wahnsinnige kommt raus.

– Was?

– Verdammte Scheiße, ich hab’ gesagt, er kommt raus.

Mittlerweile reckte der Neapolitaner den ganzen Oberköper aus dem Auto. Mit der Hand hielt er sich am Fensterrahmen des BMW fest, um dem Fahrtwind standzuhalten. In der Rechten schwenkte er einen riesigen Gürtel.

– Was hast du vor? Was hast du vor?

Cipollas Schrei ging in Scheppern unter. Der Gürtel knallte auf das Dach des Multipla.

– Scheiße! Scheiße!

Cicoria war völlig außer sich. Ruckartig wetzte er auf dem Sitz hin und her wie eine Marionette. Der Gürtel knallte ein zweites und ein drittes Mal auf das Dach, die Heckscheibe des Multipla barst. Cipolla wusste, dass er nicht bremsen durfte. Bremsen bedeutete sterben. Der Tachometer zeigte nach wie vor hundertzehn an. Dann schaute er in den Rückspiegel.

– Cico’, sag mir, dass das nicht wahr ist. Sag mir, dass es nicht wahr ist …

Cicoria schnellte zu der zerbrochenen Heckscheibe herum. Ein metallicgrauer Alfa Romeo 156 hatte sich an ihr Heck geheftet.

– Nein. Neiiin. Neiiiin.

Er weinte nicht mal. Gab einen Ton von sich wie ein Schaf auf der Schlachtbank.

Der Gürtel der Bestie im BMW hielt nicht inne. Jeder Schlag war noch heftiger und präziser als der vorherige. Das Dach des Multipla schepperte wie eine alte Zielscheibe. Eine Hand wurde aus dem Alfa gestreckt, offenbar hielt sie eine Pistole.

– Sie haben ein Schießeisen, Cipolla. Sie haben ein Schießeisen.

Doch der gleich darauf folgende Knall war nicht der einer Automatischen.

Eine Signalpistole. Damit schossen sie also.

Cicoria duckte sich. Er kauerte sich in Embryostellung auf den Boden.

– Sie wollen uns abfackeln. Wenn sie eine Leuchtrakete herein schießen, verbrennen wir wie Ratten.

Die rechte Flanke des BMW war nun ganz dicht an der linken des Mulitpla. An Cipollas Fensterscheibe klebten Rotz und Schleim, den die Neapolitaner ausgespuckt hatten, sie hätten sie nahezu berühren können. Der Mann mit dem Gürtel, mit dem Rumpf im Freien, schlug nun mit der Faust auf das Dach des Autos.

Cipolla hätte nicht sagen können, wie lange die Attacke schon dauerte. Drei, fünf, zehn Minuten. Er wusste nur, dass er das Gaspedal nach wie vor durchtrat. Er wusste, dass die verdammte Autobahn so gut wie ausgestorben war. Er schloss die Augen. Dann schrie er: – Ich bring’ ihn um!

Der Multipla scherte nach links aus und traf die Flanke des BMW, während sich der Alfa und der Zafira aus irgendeinem Grund rechts einreihten und davonfuhren. Auch der BMW schoss davon.

Während er zusah, wie die mörderischen Autos am Ende der Geraden so klein wie Pünktchen wurden, begann Cipolla hysterisch zu lachen. Er hob den Fuß vom Gaspedal und hielt am Pannenstreifen an. Cicoria kotzte. Cipolla sank auf das Lenkrad.

So blieben sie eine Zeit lang sitzen. Nur das Kotzen und das Weinen unterbrachen die Stille. Dann fiel das Blaulicht eines Streifenwagens der Autobahnpolizei ins Wageninnere. Der Polizist führte eine Hand an den Schirm seiner Kappe, die andere hatte er am Halfter. Er streckte den Kopf ins Wageninnere und roch Angstschweiß.

Reglos hörte er sich an, was ihm die beiden erzählten. Als ob er mit dem Horror vertraut wäre. Und erst als Cipolla die letzte Silbe von sich gab, zeigte der Polizist auf das demolierte Autodach und ein kleines weißblaues Klebeband, das ihm gar nicht aufgefallen war. Wahrscheinlich hatte ihn die Bestie mit dem Gürtel hinterlassen, als er mit der Faust auf das Dach schlug.

Ein Clown mit diabolischem Grinsen. Eine Mischung aus Clockwork Orange und Pulcinella.

– Die Teste matte. Oder wahrscheinlicher die Niss, sagte der Polizist.

– Niss? Was ist das denn?

– „Niente incontri, solo scontri.“ Keine Begegnungen, nur Schlägereien. Das bedeutet Niss. Die Schlimmsten der A-Kurve im San-Paolo-Stadion. Wenn sie einen Römer, einen Romaoder Lazio-Fan sehen, drehen sie durch. Zuletzt haben sie auf der Autobahn Salerno – Reggio Calabria zwei Busse mit Lazio-Fans gerammt. Was Schlimmeres hätte euch nicht passieren können. Hass. Purer Hass.

All cops are bastards.The 4-Skins, Skinhead-Rockband, 1979

1. Michelangelos Schlachthaus

Um Himmels willen …

Blut, Gestank von Schweiß und Tod, Gebrüll in der Dunkelheit, wie von abgestochenen Schweinen. Und die vor Erregung geweiteten Pupillen seiner Kollegen, ein Hexensabbat, bei dem Knochen splitterten und Fleisch zerfetzt wurde.

Es war also wirklich geschehen. Und das blonde, aus den Ohren blutende Mädchen mit den Rastazöpfen war nicht das einzige Opfer. Zermalmt von den Springerstiefeln lag sie am Boden wie eine Stoffpuppe, er hatte geglaubt, sie sei tot. Wegen ihr hatte er geschrien:

„Es reicht! Es reicht!“

Der stellvertretende Polizeipräsident Michelangelo Fournier hätte am liebsten gekotzt. Staatsanwalt Enrico Zucca streckte brüsk die Hand über den Schreibtisch aus, damit die medizinischen Befunde der Unfallambulanz, die er aus einer Aktenmappe geholt hatte, Fourniers Übelkeit noch verstärkten. Aufnahmeblatt 026408, 09, 10, 11 … Krankenhaus Galliera, Mura delle Cappuccine 14, Genua; Blätter 137, 138, 139 … Notaufnahme Krankenhaus San Martino, Largo Benzi 10, Genua; Krankenblatt 015297, 298, 299 … Klinikum Villa Scasso. Corso Scasso I, Sampierdarena, Genua.

– Lesen Sie, Fournier. Ich bitte Sie, lesen Sie aufmerksam. Alles und bis zum Schluss. Und dann versuchen Sie sich daran zu erinnern, was am 21. Juli 2001, in der Nacht von Samstag auf Sonntag, in der Armando-Diaz-Schule geschehen ist. Sie haben die Tage des G8 nicht vergessen, oder?

Weiblich, dreiundzwanzig Jahre, Deutsche:

„Thoraxtrauma. Abdominaltrauma. Mehrfachfrakturen der Rippen mit Pneumothorax rechts. Mehrfachquetschung der Lunge. Nachwirkungen der Verletzungen: dreißigprozentige Einschränkung der Lungenfunktion. Einschränkung der Beweglichkeit von Armen und Hals, Folgeschäden nicht abzuschätzen.“

Weiblich, zweiundzwanzig Jahre, Deutsche:

„Abschürfung an der Oberlippe. Prellung des rechten Arms.“

Männlich, einundzwanzig Jahre, Deutscher:

„Schädeltrauma im Bereich der Augenhöhle rechts. Verletzung der Schulter rechts. Thoraxtrauma.“

Weiblich, siebenundzwanzig Jahre, Spanierin:

„Prellung der Schulter rechts, Hämatom.“

Weiblich, siebenundzwanzig Jahre, Deutsche:

„Rissquetschwunde an der Braue links. Trauma im Bereich des Gesichtsschädels. Seitenbandruptur links. Dislozierte Fraktur des Nasenbeins, Folgeschäden nicht abzuschätzen.“

Männlich, siebenundzwanzig Jahre, Deutscher:

„Prellung von Ellbogen und linkem Bein.“

Männlich, dreiundzwanzig Jahre, Amerikaner:

„Schädeltrauma mit Rissquetschwunde der Kopfhaut. Prellung des Hemithorax links. Mehrfachprellungen. Hodentrauma rechts.“

Was stand doch in dem verdammten Handbuch? Ja, dem dunkelrot-blauen, das sie zum internen Gebrauch in der Kaserne verteilt hatten? Seite 4:

Der Gummiknüppel ist nicht als Bestrafungsinstrument gedacht; allenfalls darf er gegen gewalttätige Elemente eingesetzt werden, zur Verteidigung und um ein Verbot deutlich zu machen; er muss entschieden, darf aber nie brutal geführt werden.

Und wie lauteten die fett gedruckten Zeilen? Die in Versalien gedruckten?

Mit dem Gummiknüppel darf nie auf Kopf, Gesicht oder Wirbelsäule gezielt werden.

Weiblich, dreiundzwanzig Jahre, Kanadierin:

„Schädeltrauma. Prellung des linken Beins. Mehrfache Hämatome am Schenkel, an der linken Hüfte und am linken Arm.“

Männlich, einundvierzig Jahre, Spanier:

„Schädeltrauma. Prellung des Hemithorax links mit großflächigem subkutanem Hämatom an der Hinterwand. Mehrfachprellungen. Fraktur der Rippenbögen VIII und IX rechts. Folgeschäden nicht abzuschätzen.“

Männlich, dreiundzwanzig Jahre, Deutscher:

„Schädeltrauma mit Rissquetschwunde. Wunde am Schienbein rechts. Hämatome an der rechten Körperhälfte.“

Männlich, dreiundzwanzig Jahre, Deutscher:

„Schädeltrauma mit Rissquetschwunde. Mehrfachprellungen.“

Männlich, fünfundzwanzig Jahre, Deutscher:

„Schädeltrauma. Rissquetschwunden im Bereich des Kopfes, des Rückens, der Gliedmaßen.“

Weiblich, sechsundzwanzig Jahre, Italienerin:

„Prellung des rechten Beins, Prellung im Bereich des Rückens und des rechten Vorderarms.“

Männlich, siebenunddreißig Jahre, Spanier:

„Prellungen und Abschürfungen im Bereich der unteren Gliedmaßen. Blutunterlaufene Prellung im Bereich des Hinterhauptbeins. Hämatom am rechten Arm und am Brustkorb rechts. Rissquetschwunde am Bein links im Bereich des Schienbeinkopfs.“

Männlich, fünfundzwanzig Jahre, Spanier:

„Prellung der Schulter und des Oberarmknochens rechts. Rissquetschwunde am linken Knie. Prellung des Brustkorbs.“

Männlich, neunzehn Jahre, Deutscher:

„Prellung im Bereich des hinteren Brustkorbs. Prellung im Bereich des Schulterblatts, der rechten Schulter und des Rückens.“

Der verwendete Gummiknüppel besteht aus Kunststoffpolymeren. Seine Form ist zylindrisch, der Griff besteht aus Querrippen. Er hat einen gummiummantelten Hohlkern und eine Länge von sechzig Zentimetern. Das Gesamtgewicht beträgt hundertfünfzig Gramm.

Männlich, einundzwanzig Jahre, Deutscher:

„Schädeltrauma. Rissquetschwunde an der Kopfhaut, am Rücken, an der Nase. Verletzung der Speiche, distal. Fraktur von Zeige- und Ringfinger der rechten Hand. Fraktur des Nasenbeins. Mehrfachprellungen des rechten Schulterblatts, des Rippenbogens rechts und des Schenkels rechts.“

Männlich, neunzehn Jahre, Italiener:

„Schädeltrauma. Verdacht auf Fraktur des Schienbeinkopfs. Verletzung des Gesichtsschädels. Rissquetschwunde des Stirnbeins, der Nasenscheidewand und der Ohrmuschel rechts. Mehrfachprellungen im Rückenbereich.“

Männlich, zweiundzwanzig Jahre, Italiener:

„Schädeltrauma. Mehrfache Rissquetschwunden der Kopfhaut. Mehrfache Abschürfungen der Gliedmaßen, am Rumpf und am Gesäßmuskel links. Fraktur des äußersten Glieds des kleinen Fingers rechts. Verstauchung des Handgelenks links.“

Männlich, fünfundzwanzig Jahre, Deutscher:

„Schädeltrauma. Fraktur Typ III, Elle rechts, distal. Prellung des Brustkorbs. Mehrfachprellungen. Rissquetschwunde der Kopfhaut und des rechten Beins.“

Weiblich, einundzwanzig Jahre, Italienerin:

„Prellung linker Schenkel.“

Männlich, dreiundzwanzig Jahre, Italiener:

„Schädeltrauma. Prellungen an der linken Schulter, am Hemithorax und am Oberarm links. Prellung der rechten Hand.“

Weiblich, einundzwanzig Jahre, Deutsche:

„Schädeltrauma. Prellung der linken Hand. Prellung des rechten Schenkels und im Bereich des Rückens rechts.“

Männlich, fünfundzwanzig Jahre, Deutscher:

„Prellung und Abschürfung der Achsel rechts und der Schulter rechts. Prellung und Abschürfung im Bereich des Rückens und der Schulter links. Prellung am unteren Halsansatz.“

Weiblich, zweiundzwanzig Jahre, Deutsche:

„Prellung im Kinnbereich. Dislozierte Fraktur Typ IV an der Elle links, distal. Abschürfungen am Kinn. Zervikale Myalgie.“

In Bezug auf die korrekte Handhabung werden folgende Empfehlungen gegeben: Das Instrument fest in die Hand nehmen, und zwar ausschließlich am Griff mit den Querrippen.

Weiblich, einundzwanzig Jahre, Schwedin:

„Prellungen im Rückenbereich.“

Männlich, sechsunddreißig Jahre, Spanier:

„Schädeltrauma. Verletzung des Wadenbeins. Mehrfache Prellungen am linken Vorderarm und Arm, an der Schulter, der Hüfte und am Knöchel links.

Männlich, einunddreißig Jahre, Deutscher:

„Prellung am Arm und an der Hüfte rechts.“

Männlich, zweiunddreißig Jahre, Brite:

„Schädeltrauma. Verletzung der Kopfhaut und am rechten Bein.“

Männlich, dreiundzwanzig Jahre, Deutscher:

„Rissquetschwunde am Kinn. Prellung im Bereich des Gesichtsschädels. Prellung der Schulter und des Beines rechts. Schäden nicht abzuschätzen.“

Männlich, zweiundzwanzig Jahre, Schweizer:

„Prellung im Bereich des rechten Schulterblatts.“

Mit dem Handgelenk wie dargestellt in die Schlaufe des Gummiknüppels schlüpfen, um sich im Fall des Falles – sollte er von Gewalttätern ergriffen werden – leicht zu entwinden.

Männlich, fünfundzwanzig Jahre, Spanier:

„Prellung der Schulter, des Unterarms und des Handgelenks links, mit kleiner Verschiebung des Ellenfortsatzes.“

Weiblich, einundzwanzig Jahre, Deutsche:

„Fraktur des vorderen Kiefers. Trauma im Bereich des Gesichtsschädels. Verlust der Zähne 13 und 21 infolge Traumas, Lockerung von 12 und 11. Rissquetschwunde der Ober- und Unterlippe. Ständige Beeinträchtigung des Kauapparats, Folgeschäden nicht abzuschätzen.

Männlich, einundzwanzig Jahre, Deutscher:

„Schädeltrauma. Rissquetschwunde im Stirnbereich und im Bereich der Nasenscheidewand. Trauma des Gesichtsschädels. Prellung der Schulter links. Rissquetschwunde der linken Lippe. Prellung und Abschürfung des Schienbeins.“

Unbedingt ist darauf hinzuweisen, dass der Gummiknüppel nur unter strenger Einhaltung der Gesetze und der geltenden Vorschriften eingesetzt werden darf und dass jeglicher Missbrauch strafbar ist.

Weiblich, einundzwanzig Jahre, Amerikanerin:

„Schädeltrauma. Trauma der Halswirbelsäule, außerdem Verletzungen an den Schultern, dem Hemithorax links, den Händen, den Handgelenken und dem rechten Knie. Fraktur des Mittelfingers rechts, erstes Glied, kleiner Finger. Fraktur der zehnten Rippe links. Blutunterlaufene Prellung im Lendenbereich, im Bereich des linken Gesäßmuskels, des linken Schenkels, des linken Beins und Fußes.“

Männlich, fünfunddreißig Jahre, Spanier:

„Schädeltrauma mit Rissquetschwunde im Bereich des Hinterhauptbeins.“

Männlich, fünfundzwanzig Jahre, Deutscher.

„Blutunterlaufene Prellung des Schenkels rechts. Fraktur der Elle links. Folgeschäden nicht abzuschätzen.“

Der optimale Gebrauch des Gummiknüppels besteht darin, den Gegner mit ausschließlich direkt und x-förmig ausgeführten Schlägen anzugreifen.

Die Bewegung des Arms, der den Gummiknüppel führt, soll von der Achse Schulter-Rumpf unterstützt werden, was zu höherer Schlagkraft führt. Es soll direkt zugeschlagen werden, ohne auszuholen.

Männlich, zweiundsechzig Jahre, Italiener:

„Dislozierter Bruch mit Knochenabsplitterung der Elle rechts, distal. Absplitterung des Griffelfortsatzes. Leicht dislozierte Fraktur des Wadenbein rechts, distal. Multiple Rippenbrüche rechts. Ständige Beeinträchtigung des Greif- und Bewegungsapparats.“

Weiblich, vierundzwanzig Jahre, Schwedin:

„Blutunterlaufene Prellung im Rückenbereich.“

Männlich, sechsunddreißig Jahre, Neuseeländer:

„Prellung oberhalb des linken Schläfenbeins mit Abschürfungen und Hämatom. Blutunterlaufene Prellung am linken Arm, an der linken Schulter und am linken Unterarm.

Weiblich, einundzwanzig Jahre, Italienerin:

„Schädeltrauma mit Rissquetschwunde. Prellung am rechten Schenkel.“

Männlich, neunzehn Jahre, Deutscher:

„Schädeltrauma im Gesichtsbereich mit Rissquetschwunde an der Nase. Verletzung des vorderen Schienbeins rechts mit Rissquetschwunde.“

Der Einsatz des Gummiknüppels muss jedoch augenblicklich abgebrochen werden, sobald das Ziel, sich zu verteidigen oder den Gegner von seinem Vorhaben abzubringen, erreicht ist. Gewalttätige Eskalationen müssen unbedingt vermieden werden.

Männlich, dreißig Jahre, Deutscher:

„Schädelbruch im Bereich des oberen Scheitelbeins. Hämatom an dessen oberen Ende. Innere Blutung. Posttraumatischer Schwindel. Mehrfache Prellungen mit teilweise großflächigem Verschluss und Hämatomen an allen Extremitäten, Rippen, Hüften, im Gesicht und auf dem Rücken. Vermutlich Fraktur des Oberschenkelknochens links.“

Weiblich, vierundzwanzig Jahre, Deutsche:

„Prellung des Nasenbeins. Prellung der linken Schulter. Prellung des Knies und des rechten Ellbogens. Hämatom des linken Schenkels.“

Männlich, zwanzig Jahre, Litauer:

„Prellung des Nasenbeins.“

Männlich, einundzwanzig Jahre, Deutscher:

„Epidurales Schädeltrauma. Mehrfache Rissquetschwunden im Bereich des Scheitelbeins und des Hinterhauptbeins links. Prellung des Hemithorax links. Kraniotomie des Stirnschädels links wurde durchgeführt.“

Fournier starrte Zucca an. Er spürte dessen Verachtung. Kalte Wut.

Sie verachteten einander. Sie bemühten sich nicht einmal, ihre Verachtung höflich zu verbergen. Fournier verspürte sogar einen ästhetischen Widerwillen. Vielleicht wegen dieses kragenlosen Zen-Hemdes, das seinen Gesprächspartner noch unterkühlter wirken ließ. Oder vielleicht auch wegen der Räucherstäbchen, die überall im Büro herumstanden. Oder vielleicht wegen des Bruce-Springsteen-Posters hinter dem Schreibtisch, die einzige Vorliebe übrigens, die sie teilten.

Was hätte er zu Zucca sagen sollen? Vor allem, was hätte er sagen sollen, was er sieben Tage nach der Nacht des 21. Juli nicht ohnehin schon dem Genueser Oberstaatsanwalt Francesco Lalla gesagt hatte?

– Ein Schlachthaus. Ja, wie in einem mexikanischen Schlachthaus.

War es für einen Rechten wie ihn nicht schon ein enormes Zugeständnis, dass er Ferrucci Parri zitierte und auf die Hinrichtung Mussolinis auf der Piazza Loreto anspielte? Und war der Ausgang des Prozesses gegen die Schuldigen nicht bereits besiegelt?

Doch sogar er wusste, dass das nicht genug war.

Wie hatte es so weit kommen können? Warum war das geschehen?

Er erinnerte sich, wie es begonnen hatte. Als ob sein ganzes bisheriges Leben im Grunde nichts anderes gewesen wäre als der Prolog zu dieser Nacht. Die Erziehung der Gefühle zu einer wiederkehrenden Desillusionierung, aus der zuerst Verachtung und dann Hass geworden war. Er dachte an seine Mutter, eine Dame aus gutem Hause und Kommunistin, drei Monate vor dem G8 war sie gestorben, gerade rechtzeitig, um nicht miterleben zu müssen, wie die Sache ausgegangen war, und sich für ihn, ihren einzigen Sohn, schämen zu müssen. Er dachte an Rom, seine Stadt. An die endlos langen, öden Nachmittage auf der Piazza Vescovio, der schwarzen Enklave, in der er als Kind Tempelhüpfen gespielt hatte. Ans San Leone Magno, das Gymnasium der Priester und der anständigen Leute, die – natürlich! – rechts standen. An die lächerlichen karierten Holzfällerhemden, die seinen Schrank füllten: Man steckte sie in die Röhrenjeans und dazu trug man Camperos oder Clarks. An die Bücher Kerouacs, an Blue Grass und Old Country, an die Ramones, an die Filme von Sam Peckinpah.

Er war erst achtunddreißig Jahre alt, fühlte sich aber schon als alter Mann.

Er hatte gehofft, der Mann, der ihn verhörte, würde ihm diese Frage stellen: „Warum sind Sie zur Polizei gegangen?“ Er hätte die Wahrheit gesagt. Um Ski zu laufen. 1986, mit dreiundzwanzig Jahren, war das das Einzige gewesen, was ihn wirklich interessierte. Gaddafi bombardierte Lampedusa. Michele Sindona starb im Gefängnis an einem mit Zyankali veredelten Kaffee, Papst Johannes Paul II. kniete in der römischen Synagoge nieder, Ministerpräsident Bettino Craxi bereitete per Regierungsdekret den Boden für das zukünftige Duopol Rai-Mediaset. Er hingegen träumte vom Terminillo, dem weißen Hügel hinter Rieti, hundert Kilometer von seinem Zuhause entfernt, und einer schönen Arbeit bei der „Schneepolizei“, wie die Bewohner des Apennin sie nannten.

Er hatte sich über die Skepsis und das Misstrauen seines Vaters, eines alten Liberalen und leitenden Beamten des staatlichen Arbeitsinstituts INAIL, hinweggesetzt. Er war in die Uniform geschlüpft und hatte die Aufnahmeprüfung für die Offiziersausbildung bestanden. Er wurde im alpinen Ausbildungszentrum in Moena im Trentino aufgenommen. Vielleicht auch dank der Unterstützung des Regierungspolitikers Amintore Fanfani, dessen Wohnung er in seiner Anfangszeit als Polizist bewacht hatte.

Er hätte in Moena bleiben sollen. Das war die Wahrheit. Seine Tochter war in den Dolomiten zur Welt gekommen. Dort hatte er wahre Freunde gefunden. Aber er hatte es nicht geschafft. Er war besessen von Rom. Das Vescovio-Viertel war sein Zuhause. Und wahrscheinlich hatte er damals herausgefunden, was er eigentlich war.

Ein Faschist? Ein Neo-Faschist? Oder weniger brutal ausgedrückt, ein Konservativer? Ein liberaler Rechter?

Er dachte, dafür müsse man sich nicht genieren. Es hatte sich wie von selbst ergeben, dass er zur Bereitschaftspolizei ging. Hier gehorchte er einem Gesetz, das ihn mit seinem Selbstbild versöhnte. Stählerne Muskeln, Frischluft, Ehre, Respekt, Ordnung, Mut. Sein Einzug in die Castro-Pretorio-Kaserne besiegelte die befreiende Aufnahme in einen Clan. In einen Klosterorden. In eine römische Legion, allerdings klang das Bild etwas bombastisch und kitschig.

Sollte er das Zucca erzählen? Hätte das etwas gebracht? Hätte es ihm geholfen, wenn Zucca erfahren hätte, dass die Jungs, die beim Begräbnis seiner Mutter den Sarg auf den Schultern trugen, dieselben waren wie die in der Nacht in der Diaz-Schule? Dass Drago, Ivo, Nico, Charlie, Fausto ein Teil seines Lebens waren und man sich von seinem Leben nicht einfach so trennen konnte? Hätte es etwas gebracht, wenn er erklärt hätte, warum die Leute in seiner Abteilung Spitznamen wie „Kobra“ trugen? Mit dem armen Kobra, dem Sohn eines Friedhofswächters in Prima Porta, verband ihn eine unzertrennliche Freundschaft. Die Brücke, die seine Schneidzähne ersetzte, war gebrochen, und da er nur das Gehalt eines Maresciallo bezog, hatte er beschlossen, dass die Eckzähne genügten. Sollten sie ihn ruhig Kobra nennen. Aber er hatte sich im Gegenzug dafür eingesetzt, dass seine Mutter eingeäschert werden konnte.

Fournier kämpfte noch immer gegen die Übelkeit. Allerdings wusste er nicht, ob sie von den ärztlichen Befunden oder vom Nikotinentzug herrührte. Zucca gewährte eine Pause. Ein Carabiniere führte ihn zu einem Gangfenster in der Staatsanwaltschaft. Er zündete sich eine Marlboro light an. Er schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern.

Schon im März kursierte das Gerücht, dass sich im Rahmen des G8 etwas „Neues“ und „Großes“ zusammenbraute. Zuerst verkündeten das nur die Buschtrommeln. In den Garderoben und unter den Duschen wurde getuschelt. Bis es offiziell wurde. Der Minister wollte versuchsweise eine neue Polizeitruppe zusammenstellen. Das Einsatzkommando VII. Siebzig Männer aus den Kerntruppen der römischen Bereitschaftspolizei. Im Fall des Falles, wenn es in Genua zu einem Aufruhr kam, würden sie eingreifen. Er hatte nie erfahren und sich auch nicht danach erkundigt, nach welchen Kriterien die besten Männer ausgewählt worden waren. Körperkraft? Psychische Eigenschaften? Die Punkteanzahl, die beim Minnesota-Verhaltens-Test erreicht wurde? Zugehörigkeitsgefühl? Deutliches Bekenntnis zur Rechten? Erst im Frühling erfuhr er, dass die Auserwählten zum Großteil seine Jungs waren. Dass er das Einsatzkommando VII kommandieren würde.

Zwei Monate lang bereiteten sie sich auf einen Krieg vor, der im Vorfeld nur aus Worten bestand, allerdings ahnte er, dass er unausweichlich war. Auch deshalb achtete er sehr darauf, die Dinge gut zu machen. Zum Zweck des Trainings waren ein Judomeister und ein Taekwondo-Olympia-Teilnehmer engagiert worden. Die Männer hatten gewaltige körperliche Anstrengungen auf sich nehmen müssen. Einige hatten aufgehört zu rauchen, andere hatten zehn Kilo abgenommen. Sie liefen, liefen, liefen bis zu eineinhalb Stunden pro Tag. Auf einem sorgfältig ausgewählten Gelände. Zwischen dem Hafenbecken und dem Leuchtturm von Fiumicino. Auf der einen Seite das hellblaue Meer. Auf der anderen Seite das Chaos und das peinliche Schauspiel einer Gemeinde, die kein Dorf mehr war und nie eine Stadt geworden war. Die vielleicht sogar vergessen hatte, eine Gemeinde zu sein. Die Männer fluchten und sie lachten über das außergewöhnliche Experiment. Dann war das neue Material in der Kaserne angekommen.

– Was zum Teufel soll das Zeug? Spinnen die im Ministerium? Oder haben sie den Verstand verloren?

Hin und wieder kündigt sich eine Katastrophe mit einem kleinen Detail an, und die Kisten mit den neuen Schlagstöcken, die Fournier vor sich hatte, versprachen nichts Gutes.

Tonfas. Man hatte beschlossen, dass das Einsatzkommando VII in Genua mit Tonfas ausgestattet werden sollte. Eine Waffe, hart wie Stahl, mit Quergriff, eine traditionelle Waffe, die bei chinesischen und japanischen Kampfsportarten zum Einsatz kam. Mit diesem Zeug, das die Carabinieri schon seit geraumer Zeit verwendeten, das die Polizei jedoch noch nie in die Hand genommen hatte, konnte man den Schenkelknochen eines Ochsen zertrümmern.

Fournier hatte mit dem Kommandanten Vincenzo Canterini gesprochen. Dessen sieben Caposquadre verehrten den korpulenten Mann, der vierzig Jahre Bereitschaftspolizei hinter sich hatte. Sie liebten seinen tierischen Instinkt, den Instinkt eines Rudelführers. Seinen schwarzen Humor und seine nasale Stimme, mit der er die Spannung auf der Straße überspielte. Sie nannten ihn Biancaneve, Schneewittchen, und er erwiderte ihre Zuneigung, indem er seine Zwerge auf seine Art benannte: Fettwanst, Furz, Dümmling, Hinterfotz …

Fournier hatte zu Biancaneve gesagt: – Sag mir bitte, wie ich jemandem, der immer ein weiches Kautschukding in der Hand gehabt hat, klarmachen soll, alles Gelernte zu vergessen? Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn einer der Unsrigen den Tonfa wie einen Hammer schwingt? Mit so etwas zertrümmert man Knochen.

Wie immer hatte Biancaneve zugehört, ohne mit der Wimper zu zucken. Und wie immer hatte er eine eindeutige, automatische Antwort gegeben. Wie immer, wenn er eine Unterhaltung für überflüssig hielt, flüchtete er sich in Zynismus.

– Und was zum Teufel soll ich tun? Treffe vielleicht ich die Entscheidungen?

Die Neapolitaner waren die Ersten, die die Tonfas zu spüren bekamen. Nein, nicht beim G8. Nein, nicht die Hooligans im San Paolo. Nicht die Disoccupati organizzati. Sondern die vom Einsatzkommando aus Neapel. Sie hatten ungefähr hundert herauf nach Rom geschickt, wegen eines Planspiels, oder zumindest hatte man beschlossen, es so zu nennen. Das Ganze hatte allerdings nichts Spielerisches. Ein Wahnsinnsschauspiel. Auf der einen Seite die siebzig Männer des Einsatzkommandos VII. Auf der anderen Seite die als Schwarzer Block verkleideten Kollegen aus Neapel. Dazwischen der trostlose Exerzierplatz des neuen Stefano-Gelsomini-Trainingszentrums auf der Via Portuense. Zuerst warfen sie Molotowcocktails. Echte Molotowcocktails, damit sie sich an die Explosion der Brandbomben auf dem Asphalt, an den schwarzen Rauch und an den Benzingestank, der Mund und Nase verklebte, gewöhnten. Dann Mann gegen Mann. Stöcke, Holzklötze und Pflastersteine gegen Tonfas. Ein schrecklicher Zusammenstoß, genauso schrecklich wie die freigesetzte Wut. Ein Schauspiel unermesslicher Gewalt. Das Einsatzkommando VII glich einer Doberman-Meute. Entfesselte Typen, als würden in Gefangenschaft gehaltene Tiere endlich von der Kette gelassen. Die Neapolitaner zogen den Kürzeren und landeten zu Dutzenden auf der Krankenstation.

Was würde später auf der Piazza passieren?

Fournier blickte sich auf dem leeren Gang der Staatsanwaltschaft um. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sich eine zweite Marlboro angezündet hatte. Er staunte über den Ausblick, den die Fenster des Justizpalastes boten. Er war wieder in Genua. Aber die Stadt, an die er sich erinnerte, war eine andere. Eine unwirklich schöne Stadt, die einen verließen sie gerade Hals über Kopf und die anderen bereiteten sich darauf vor, drei Tage lang hier eingesperrt zu sein. Am 17. Juli, als sie mit der Wagenkolonne aus Rom kamen, war der Himmel kobaltblau. Sie überwanden eine künstliche Barriere aus Gitterzäunen, Betonhürden, Kontrollposten und schnupperten Meeresluft. In der Reede des alten Hafens wimmelte es von Polizei- und Carabinieri-Uniformen, Material war tonnenweise herangeschafft worden. Hunderte Kisten mit dem neuen Tränengas, CS-Gas, allein bei seinem Anblick bekam man es mit der Angst zu tun. Außerdem Schilde, Helme, Granatenwerfer. Die Einsatzkommandos waren alle da. Turin, Mailand, Padua, Genua, Bologna, Florenz, Senigallia, Palermo und natürlich sie, Rom, das Einsatzkommando VII. Ein lautes Durcheinander von Dialekten, ein erstes sich Beschnüffeln, um alte Hierarchien wiederherzustellen. Die Römer, die sich niemandem unterwarfen. Die Paduaner, gleich an zweiter Stelle hinter den Römern, angespannt wie die Saiten einer Geige. Die Neapolitaner, wie immer fröhlich und schlampig. Gegenüber, hinter dem von Tauchern aufgewühlten Wasserspiegel, das Schauspiel der vor Anker liegenden Kreuzfahrtschiffe, die zu Mannschaftsquartieren umfunktioniert worden waren.

Er hatte sich nicht erklären können, warum es an Bord so kalt war. Und auch nicht, warum an Deck, in den Kantinen, in der Mensa rumänische Mädchen beschäftigt waren. Vielleicht, damit die Männer geil wurden? Und noch weniger hatte er verstanden, warum man im Messepalast einen riesigen Fitnessraum und Fußballplätze eingerichtet hatte. Irgendjemand machte sich also Gedanken über den Testosteronspiegel der bereits aufgeheizten Truppe.

Das Gedächtnis ist eine merkwürdige Vorrichtung, dachte Fournier. Es bewahrt einzelne Bilder einer Sequenz, löst aber die Zusammenhänge auf. Ihm war, als hätte er seit diesen Tagen im Juli das U-Boot