Ach Gott, die Kirche! - Martin Urban - E-Book

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Martin Urban

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Beschreibung

Eine hochaktuelle Streitschrift zu 500 Jahren Reformation Der Kirche laufen die Menschen davon. Und daran, so Urban, ist die evangelische Kirche auch selbst schuld: Sie hat vergessen, dass sie eine Kirche der Aufklärung ist, stattdessen wird sie immer konservativer und fundamentalistischer. Immer mehr Intellektuelle kehren ihr den Rücken, womit jeglicher intelligente Dialog verloren geht. Urban rechnet mit den Kirchenoberen der beiden großen Konfessionen in Deutschland ab. Er entlarvt die Rückwärtsgewandten und die Evangelikalen weltweit und beschreibt deren Einfluss bis in die höchsten Kreise der Politik.

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Martin Urban

ACH GOTT, DIE KIRCHE!

Protestantischer Fundamentalismus und 500 Jahre Reformation

Deutscher Taschenbuch Verlag

Vorwort von Gerhard RothRoth, Gerhard

Der islamistische FundamentalismusFundamentalismus verbreitet seit einiger Zeit im vermeintlichen Namen Allahs, »des einen Gottes«, überall auf der Welt Schrecken und Tod. Oft vergessen wir dabei, dass der Fundamentalismus, also die fanatische Überzeugung, im Besitz der Wahrheit über das Wesen und den Willen Gottes zu sein und deshalb radikale Herrschaft ausüben zu dürfen, bereits im Christentum zu finden ist: Über zwei Jahrtausende fand sie ihren Niederschlag in furchtbaren Glaubenskriegen, Unterdrückung und im missionarischen Kolonialismus.

 

Wie Martin Urban, von Hause aus Physiker, im vorliegenden Buch mit großer theologischer Sachkenntnis und in aller Deutlichkeit darstellt, ist auch dieser christliche FundamentalismusFundamentalismus keineswegs tot, sondern in allen Gegenden der Welt populär und strebt auch innerhalb des deutschen Protestantismus und Katholizismus weiter nach politischem und kulturellem Einfluss. Warum aber begeben sich so viele Menschen in unserer scheinbar so aufgeklärten Gegenwart in eine derartige geistige und psychische Abhängigkeit?

 

Wir Menschen bestehen aus widerstrebenden Tendenzen. Hierzu gehören unter anderem Aufregung und Ruhe, Bindung und Selbstbestätigung, Unterwerfung und Kontrolle, Versorgung und Autarkie, Harmonie und Kritik. Von frühester Kindheit an gehört es zu den Herausforderungen der Persönlichkeitsentwicklung, zwischen diesen polaren Tendenzen ein »leb-bares«, wenngleich immer bedrohtes Gleichgewicht zu finden. Wird dieses Gleichgewicht gefunden, so sprechen wir von einem »in sich ruhenden« und toleranten Menschen. Das sind aber offenbar nicht viele. Die Mehrzahl der Menschen strebt nach Ruhe, Bindung Unterwerfung, Versorgung und Harmonie.

 

Religionen waren stets darauf ausgerichtet, dieses Streben zu bedienen. In einer unübersichtlichen und beunruhigenden, ja verängstigenden Welt liefern sie einfache Erklärungen, Sinndeutung, verlässliche Verhaltensregeln, Bindung und vor allem Trost und Zuversicht für die größte Bedrohung in unserem Leben, nämlich das Sterben und den Tod. Sie sind deshalb bis heute so erfolgreich, weil sie damit das vermitteln, was bereits das Kleinkind am nötigsten braucht: Schutz, Bindung und Tröstung. Damit begeben sich Kleinkind und Erwachsener in eine tiefe geistige und psychische Abhängigkeit. Aus dieser Abhängigkeit führt nur der Prozess der Erziehung zur Mündigkeit, d.h. der AufklärungAufklärung, wie es der Philosoph Immanuel KantKant, Immanuel thematisierte.

 

Martin Urban zeigt, wie notwendig und zugleich schwer es ist, einen solchen Weg zur Mündigkeit zu gehen. Er akzeptiert auf der einen Seite die Aussagen des historischen Jesus, indem diese das »Reich Gottes« zum Gegenstand haben. Zum anderen aber wehrt er sich in sehr kompetenter Weise vehement gegen alle Umdeutungen und Verfälschungen, die das jesuanische Evangelium in den Händen der christlichen Kirchen erfahren hat. Dies betrifft so ziemlich alles, was auch heute noch als »Kern« der christlichen Lehre verstanden wird, nämlich das vermeintliche Doppelwesen JesuJesus von Nazareth als Mensch und Sohn Gottes, sein OpfertodOpfer und seine AuferstehungAuferstehung, die zur Grundlage der zentralen Verheißung wird: »Wer an mich glaubt, der wird ewig leben« (Johannes 6:47). Die historisch-kritische Bibelforschung hat nachweisen können, wie wenig vom kodifizierten »Neuen Testament« als halbwegs gesichert übrig bleibt. Wie Urban darstellt, gelten die Bemühungen der Evangelisten (von denen niemand Jesus selbst erlebt hat) dem Ziel, Jesus ChristusJesus Christus als Erfüller alttestamentarischer »Weissagungen« darzustellen, um ihn den damaligen Juden akzeptabel zu machen. Das ging nur mithilfe von Fehlinterpretationen und Fehlübersetzungen. Berühmtestes Beispiel ist die von Jesaia (7:14) angeblich vorausgesagte Jungfrauengeburt JesuJesus von Nazareth durch Maria. Zugleich erhielt der neutestamentarische Ursprungstext eine tiefgreifende Umdeutung durch PaulusPaulus in Hinblick auf eine Steigerung der Akzeptanz des Evangeliums durch Nichtjuden – von noch späteren Zusätzen und Umdeutungen, welche vornehmlich die Macht der Kirche festigen sollten, ganz zu schweigen, wie etwa die »Felsenzusage« nach Mt 16:18, die auf einem nur im Griechischen verständlichen Wortspiel beruht (Jesus sprach sicherlich nicht griechisch zu seinen Jüngern!).

 

Ebenso schwer wiegt für Urban die Tatsache, dass die offizielle Lehre beider großen christlichen Konfessionen durchsetzt ist von geistigen Zumutungen schlimmster Art. Schon im Mittelalter beklagten Theologen und Philosophen, dass in der christlichen Lehre viele Dinge enthalten seien, die der ansonsten hochgepriesenen Logik eindeutig widersprechen, so die Annahme, dass Gott gleichzeitig allmächtig, allgütig und allwissend ist, und das damit verbundene Theodizee-Problem (warum lässt Gott das Böse bzw. die SündeSünde der Menschen zu, wenn er alles weiß und alles lenkt?), die Dreifaltigkeitslehre und vieles mehr. Die damalige Kirche beeilte sich natürlich, derartige Bedenken als Irrlehre zu brandmarken und festzustellen, dass Gott eben nicht der menschlichen Logik unterliege.

 

Mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften wurden die Zweifel erneut lauter, diesmal in Form der Frage, ob Gott gegen die NaturgesetzeNaturgesetz handeln könne, die er ja selbst »erlassen« habe. Das Evangelium ist voll von Berichten über Geschehnisse, die eklatant dem heutigen naturwissenschaftlichen Verständnis widersprechen. Die bereits erwähnte und für das Christentum zentrale Jungfrauengeburt JesuJesus von Nazareth durch Maria und insbesondere die AuferstehungAuferstehung und Himmelfahrt JesuJesus von Nazareth sind für jeden vernünftig denkenden Menschen inakzeptabel – ganz abgesehen von der Güte der textlichen Überlieferung.

 

Die Antwort der Kirche findet sich bereits bei PaulusPaulus im 1. Korintherbrief: »Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen.« Es gibt eine »höhere« Wahrheit, gegen welche die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, aber auch das vernünftige Alltagsdenken nichts auszurichten vermögen. Das ist Lehrmeinung beider christlichen Konfessionen. Im Klartext: Wenn gesicherte Aussagen der Naturwissenschaften im Widerspruch zur Lehre der Kirche stehen, dann muss der Geltungsbereich der Naturwissenschaften auf das »Irdische« eingeschränkt werden. Wie aber die Lehre von den zwei Wahrheiten im Kopf eines gläubigen Christen funktionieren soll, hat man bisher nicht herausgefunden, und so bleibt einer solchen Person eben nur das OpferOpfer des Verstandes, das »Sacrificium intellectus«, das sogar ein ansonsten aufgeklärter protestantischer TheologieTheologie wie Dietrich BonhoefferBonhoeffer, Dietrich befürwortete.

 

Für Martin Urban ist dies im Rahmen sowohl seines jesuanischen Glaubens als auch seiner naturwissenschaftlichen Grundüberzeugung kein gangbarer Weg. Wir können nun einmal nicht im Hörsaal die physiologischen Eigenschaften des Lebens und des Sterbens als von unbezweifelbaren NaturgesetzenNaturgesetz bestimmt vertreten und dann am Sonntag gläubig akzeptieren, dass dies bei der Geburt und AuferstehungAuferstehungJesuJesus von Nazareth nicht zutraf.

 

Von manchen zeitgenössischen Theologen und Philosophen wird in diesem Zusammenhang schnell argumentiert, es handle sich bei den Naturwissenschaften nur um vorübergehende Meinungen, die deshalb nicht geeignet seien, die Wahrheit des Evangeliums zu erschüttern. Dass es sich bei den Erkenntnissen der Naturwissenschaften nicht um absolute Wahrheiten handelt, ist korrekt, aber es geht im Falle naturgesetzlicher Ereignisse um Erkenntnisse, die im höchsten Maße empirisch bestätigt und – zumindest in den meisten Fällen – in einen logisch-mathematischen Zusammenhang gebracht wurden. Das unterscheidet sie grundlegend von vielen Aussagen des Evangeliums, die Dinge berichten, die niemand je erfahren hat. Im täglichen Leben würde ein denkender Mensch solchen »frohen Botschaften« niemals Glauben schenken – es sei denn, er ist zum OpferOpfer des Verstandes bereit, um Frieden, Bindung, Sicherheit und Trost zu finden und die Angst vor dem Tod auszuhalten.

 

Urban hält uns an, dieses OpferOpfer nicht zu bringen. Zugleich aber hält er an der Zuversicht fest, dass JesusJesus von Nazareth – obwohl selbst nur irrender Mensch und eines natürlichen Todes gestorben – Dinge verkündet hat, die vor ihm niemand verkündete und die zur Grundlage eines humanistisch-demokratischen Weltbildes wurden, dem wir (hoffentlich) anhängen. Für mich als einen kritischen Naturwissenschaftler und Philosophen stellt sich dabei die Frage, ob wir zu einem solchen Weltbild die Verkündigungen des historischen Jesus benötigen. Dabei weiß ich, dass unser wissenschaftliches Denken und Tun notwendigerweise begrenzt ist und dass auch der klügste Theologe und Philosoph nicht darüber hinausgehen kann. Aber hinter all diesen Grenzen mag die HoffnungHoffnung auf ein besseres zukünftiges Leben stehen. Hoffnung entsteht im GehirnGehirn ebenso wie die Sehnsucht nach Schönheit, aber die Grenzen der Naturwissenschaften sind nicht die Grenzen der Hoffnung und der Sehnsucht.

 

Martin Urban führt uns in klarer und mutiger Weise die immer noch – und vielleicht mehr denn je – vorhandene Gefahr des christlichen FundamentalismusFundamentalismus vor Augen, der wie jeder Fundamentalismus zur politischen und geistigen Entmündigung letztendlich führen muss. Zu schnell wird diese Gefahr im Rahmen eines falsch verstandenen Respekts vor den Glaubensüberzeugungen Anderer übersehen. FundamentalistenFundamentalismus haben einen solchen Respekt nicht. Es ist daher dringend nötig, unsere Aufmerksamkeit auch auf den christlichen Fundamentalismus zu lenken. Urban hat im vorliegenden Buch hierzu einen unverzichtbaren Beitrag geleistet.

Einleitung

Ich will mit diesem Buch Unruhe stiften und begründen. Unruhe unter den Menschen, die über Gott und die Welt nachdenken. Die jedoch unglücklich oder sogar zornig sind über das, was die Kirchen nach alter Weise verkünden.

Den Kirchen verdanken wir zwar die weltweite Verbreitung der Botschaft des JesusJesus von Nazareth von Nazareth. Sie sind aber auch verantwortlich dafür, was sie daraus gemacht haben. Und dass dies heute kaum jemanden mehr interessiert. Denn sie selbst interessieren sich nicht für ihre eigenen Lehren. Die Fundamente sind längst brüchig. Das gemeinsame Glaubensbekenntnis aller Kirchen ist zur Litanei geworden. Kein Satz davon ist theologisch unumstritten. Aber daran wird nicht gerührt. Dabei ist die gefühlte Mächtigkeit der Institutionen als moralischeMoral Instanz geblieben. Nach wie vor dürfen die Kirchen in Deutschland überall mitreden, und sie tun es, selbst dort, wo sie von der Sache nichts verstehen. Nur über ihre eigenen Lehren denken sie nicht nach.

Ich beschreibe und erkläre, warum das so geworden und meiner Meinung nach ein Unglück ist. Wie, im Lichte der Wissenschaften gesehen, aus Glauben AberglaubeAberglaube entstanden ist und nicht nur in der orthodoxen und der römisch-katholischen, sondern auch in der protestantischen Kirche. Meine eigene, die Evangelische Kirche in Deutschland, könnte, ja sie müsste ein Bollwerk gegen den FundamentalismusFundamentalismus sein, denn der immer gewalttätiger werdende Fundamentalismus ist das Übel unserer Zeit geworden. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Die protestantische Kirche hat vergessen, dass sie auch die Kirche der AufklärungAufklärung ist. Deshalb wird sie mehr und mehr zur Kirche der Ahnungslosen. Die Institution wird konservativer, ihre FundamentalistenFundamentalismus werden lauter. Sie alle haben Angst vor den Erkenntnissen der Wissenschaften und dem, was sie ZeitgeistZeitgeist nennen. Darum gibt es keine moderne DeutungDeutung alter Bilder. Und deshalb keinen Dialog mit den Intellektuellen über ein für unsere Zeit angemessenes Weltbild. Es gibt keine IdeologieIdeologie-Selbstkritik. Sie wäre Voraussetzung für eine Kirche, die der Welt auch noch 500 Jahre nach der ReformationReformation etwas zu sagen haben könnte.

Ich vergleiche in diesem Buch die Erkenntnisse der Wissenschaften mit dem, was die Kirche lehrt. Das Ergebnis ist immer wieder ein So nicht! So kann man das heute nicht mehr sagen. Das Wie dann? zu klären, wäre Sache der Kirche. Aber dazu müsste sie wieder disputfähig werden, was sie heute nicht ist.

Dieses Buch soll die Gebildeten unter den Kirchensteuerzahlern motivieren, den Mund aufzumachen. Besonders jene, die zwar allenfalls noch am Heiligen Abend einen Gottesdienst besuchen, denen aber die Kirche dennoch nicht gleichgültig ist. Sie könnten die Profanierung der Institution zum bloßen Sozialverein verhindern.

Als gelernter Naturwissenschaftler begeistert mich immer wieder, wenn aus einer Theorie sich zwingend ergebende Konsequenzen, und seien sie auch unvorstellbar, tatsächlich experimentell nachgewiesen werden. Eine Sonnenfinsternis am 29. März 1919 ermöglichte es zum Beispiel, die von Albert EinsteinEinstein, Albert in seiner Allgemeinen RelativitätstheorieRelativitätstheorie1915 vorhergesagte Ablenkung eines Lichtstrahls durch die Schwerkraft direkt zu messen. Astronomen hatten die Positionen von Sternen genau bestimmt, bevor später die Sonne an diesen vorbeizog. Während der Sonnenfinsternis wurden jene Sterne sichtbar, aber an anderer Stelle als erwartet. Denn die Sternen-Lichtstrahlen wurden durch die Schwerkraft der vorbeiziehenden Sonne leicht gebeugt. Albert EinsteinEinstein, Albert hatte das richtig vorhergesagt. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als ohnedies alles in der Welt relativ zu sein schien, sprach der Name »Relativitätstheorie« die Menschen sofort an.

Ich stelle mir vor, Theologen könnten melden: Erster Nachweis der im KonzilKonzil zu Nicäa vorhergesagten TrinitätTrinität Gottes gelungen. Freilich ein leider absurder Gedanke. Denn wenn ich die Theologen und Bischöfe meiner Evangelischen Kirche frage: Woher wisst ihr das?, dann geht es ihnen um das »BezeugenGlaubenszeugen« von »Glaubenswahrheiten«, also die DeutungDeutung bestenfalls von Sachverhalten, oder auch nur um die Deutung von DeutungenDeutung, die eben auch Fehldeutungen sein können – und im Lichte heutigen Wissens sogar sein müssen. Doch anscheinend regt das keinen der Oberhirten auf. Würden sie den heutigen Stand des Wissens tatsächlich bedenken, dann dürften sie nicht mehr predigenPredigt. Sie werden es alsbald auch nicht mehr tun, weil niemand mehr hingeht oder gar hinhört. Und die Konsequenz zeigt sich bereits bei der Befragung des Kirchenvolks: Der Glaube wird zur Privatsache.

Theologisch auf der »Suche« ist kaum ein evangelischer Christ in Deutschland. Wichtig ist, vor allem für die Alten, kirchlich bestattet zu werden. Und zornig auf die evangelische Kirche ist mittlerweile wohl eine Mehrheit in Deutschland, nämlich die der Konfessionslosen, die der Kirche bereits den Rücken gekehrt haben. Auch ich bin zornig, doch die Evangelische Kirche bleibt die meine, weil ich immer noch hoffe, dass sie sich wieder daran erinnert, einst Kirche der AufklärungAufklärung gewesen zu sein. Um dazu beizutragen, versuche ich selbst Aufklärung zu treiben, auch mit diesem Buch.

I. Eine hoffentlich falsche Prognose

Am 31. Oktober 2017 werden sich die evangelischen Kirchen nach 500 Jahren feierlich vom Protestantismus als einer entscheidenden Kraft der AufklärungAufklärung verabschieden. Das wird natürlich nicht ausgesprochen, aber der Weg ist vorgezeichnet.

Schon seit Langem zeigt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKDEKD) kein Selbstbewusstsein mehr gegenüber der Katholischen KircheKatholische Kirche. Im Gegenteil, sie buhlt um deren Anerkennung, obwohl der Vatikan das Gegenteil anno 2000 lehramtlich beschlossen und verkündet hat, und wünscht nichts mehr als die Beteiligung möglichst sogar des Papstes am ReformationsjubiläumReformation.

Das ist nur deshalb möglich, weil die AufklärungAufklärung für die Protestanten mittlerweile keine Rolle mehr spielt. Heute haben die LutherLuther, Martin-Konservatoren das Sagen, obwohl sie den Menschen nichts zu sagen haben. Nichts ist geblieben von der allgemeinen Aufbruchsstimmung, die den Humanisten Ulrich von HuttenHutten, Ulrich von Ende 1518 zu dem Ausruf veranlasste: »Oh Jahrhundert! Die Studien blühen, die Geister erwachen: es ist eine Lust zu leben.«[1] Heute werden die Kirchenfunktionäre von Angst vor den Ergebnissen blühender wissenschaftlicher Studien beherrscht, die irgendwelche unbeherrschbaren Lebensgeister der Erkenntnis erwachen lassen könnten.

Es geht in der evangelische Kirche längst nicht mehr um die Suche nach Wahrheit, wie sie Martin LutherLuther, Martin einst als Theologieprofessor an der Universität Wittenberg mit seinen 95 Thesen initiierte. Man erhofft sich vom Jubiläum vor allem einen PR-Effekt. Der neu gewählte Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKDEKD), Heinrich Bedford-StrohmBedford-Strohm, Heinrich, zugleich lutherischer Landesbischof in Bayern, rühmte beim ersten amtlichen Auftritt vor der EKD-Synode am 2. Mai 2015 als seine Großtat Nummer eins: »In Zusammenarbeit mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern« habe das Tourismusbüro Nürnberg eine Playmobil-Figur von Martin LutherLuther, Martin, produzieren lassen, »die auf ein sensationell großes Interesse gestoßen ist«: »LutherLuther, Martin ist auf dem Weg dazu, die (sic!) erfolgreichste deutsche Playmobil zu werden, die es je gegeben hat.« Für den Bischof ist das ein Indiz dafür, »welche Dynamik dieses Jubiläum zu entfalten vermag.« Die »Botschafterin« für das ReformationsjubiläumReformation, Margot KäßmannKäßmann, Margot, begründete das auch noch theologisch: »LutherLuther, Martin hat ja gesagt, das Evangelium könne nur mit Humor gepredigt werden.« Und so nimmt die reisefreudige »Botschafterin« als Gastgeschenke gerne »mehrere Playmobil-LutherLuther, Martin mit, die sind inzwischen eine begehrte Rarität«.[2] So geht es dahin mit der Evangelischen Kirche. Jeder 20. Deutsche glaubt heute, am Reformationstag, dem 31. Oktober, werde der Tag gefeiert, an dem der damalige Bundeskanzler Gerhard SchröderSchröder, Gerhard seine »Agenda 2010« veröffentlicht habe. Für 12 Prozent der Deutschen ist der Reformationstag einfach der Tag der Reformen.[3]

Begonnen hat alles einmal ganz anders, nämlich damit, dass Martin LutherLuther, Martin die Christen aufforderte, nicht alles zu glauben, was der Papst oder die Priester verkündeten. Sie müssten lesen lernen und die Bibel selbst zu verstehen suchen. Am Ende des finsteren Mittelalters entstand so eine Kirche der AufklärungAufklärung, von außen bedroht durch die »allein selig machende« Mutterkirche, aber auch intern stets angefochten von den frommen SchwärmernSchwärmer oder Schwarmgeistern, wie LutherLuther, Martin sie nannte.

Die Nachkommen dieser Spiritualisten in aller Welt, vor allem in den USA, verbreiten mit anderen christlichen FundamentalistenFundamentalismus ihren Hass auf die Aufklärer, die ihnen ihr schlichtes Weltbild entzaubern. In der Alten Welt verdammten »bibeltreue« protestantische Theologen nach dem Ersten Weltkrieg ihre Kollegen, die die Bibel nach wissenschaftlichen Methoden kritisch studierten. Ihre katholischen Amtsbrüder hatten bereits seit 1910 einen 1907 von Papst Pius X.Pius X. (Papst) verordneten »Antimodernisteneid« gegen die AufklärungAufklärung schwören müssen.

Differenziert heißt im überkonfessionell gültigen fundamentalistischenFundamentalismus Jargon relativistischRelativismus. Und Erkenntnis nennen die Ewig-Gestrigen zeitgeistigZeitgeist. Die heutigen Rattenfänger von Hameln unter den Christen nennen sich, wie die Verfasser der Evangelien des Neuen Testaments, »Evangelisten«. Der weltweit prominenteste Evangelist seit vielen Jahrzehnten ist der amerikanische Baptistenprediger Billy GrahamGraham, Billy. Er war (zusammen mit seinem Sohn FranklinGraham, Franklin) der spirituelle Anführer von George W. BushBush, George W. bei dessen Einmarsch in den Irak, in die infolgedessen weitgehend zerstörte Wiege der abendländischen Kultur. Für seinen deutschen Follower Ulrich ParzanyParzany, Ulrich ist Billy GrahamGraham, Billy der »PaulusPaulus des 20. Jahrhunderts«.[4] Dem überzeugten Atheisten Woody AllenAllen, Woody sagte GrahamGraham, Billy einmal: »Na gut, Mr. Allen, selbst wenn Sie recht haben und es keinen Gott gibt, werde ich trotzdem das bessere Leben gehabt haben, weil ich glücklicher mit meinem Glauben war.«[5] Für mich bestätigt der »Evangelist« damit: Der FundamentalismusFundamentalismus (Karl MarxMarx, Karl schrieb 1844: »Die Religion« …) »ist das Opium des Volks«.

Zwischen den aufgeklärten »Liberalen« in der EKDEKD und den christlichen FundamentalistenFundamentalismus innerhalb und außerhalb der Amtskirchen herrscht mittlerweile ein heimlicher Kampf um die Vormacht. Der Spiegel-Redakteur Peter WensierskiWensierski, Peter sah bereits anno 2008 »eine schleichende Machtübernahme durch die EvangelikalenEvangelikal … die in immer mehr Gremien der EKD zu finden sind«.[6] Diese Entwicklung setzt sich seither fort. Am 31. Mai 2015 wurde (mit einer Stimme Mehrheit) der erzkonservative Pfarrer Carsten RentzingRentzing, Carsten zum neuen Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens gewählt. Die EvangelikalenEvangelikal jubelten. Für den Vorsitzenden der Konferenz Bekennender Gemeinschaften, Ulrich RüßRüß, Ulrich, ist das »ein Zeichen der HoffnungHoffnung für eine dem ZeitgeistZeitgeist ausgelieferte Kirche«.[7] Mittlerweile haben in Württemberg, in Bayern und in Sachsen kirchenamtlich die Konservativen das Sagen.

Während die Fundis über ihr Zentralorgan »idea e.V. – Evangelische Nachrichtenagentur«, aber auch mit Hilfe gleichgesinnter Katholiken und deren Medien, gegen die »(Zeit)Geisterfahrer innerhalb der EKDEKD«[8] polemisieren, reagiert die EKD meist mit betretenem Schweigen – und subventioniert weiterhin ihre erklärten Feinde. Denen wird die Zukunft gehören, denn sie ziehen die niemals aussterbenden frommen Dummköpfe auf ihre Seite. Die intellektuellen Christen dagegen scheinen eine aussterbende Art zu sein.

Diese durchaus zornige Prognose will ich im Folgenden begründen.

II. Wir sind alle IdeologenIdeologie – und wir sind alle von gestern

Um den Zustand der Kirche zu verstehen, um zu begreifen, warum der Mensch glaubt,[9] beginne ich mit der Haupt-Sache, indem ich erkläre, wie der menschliche Kopf arbeitet. Glauben und Denken, Religion und Wissenschaft haben dieselbe Ursache: Der Mensch muss sich Bilder von der Welt machen. Dies im weitesten Sinn: Auch die Wörter, die wir für Beschreibungen und Erklärungen verwenden, sind Bilder, sind Ausdruck von Weltanschauungen. Das heißt, der Mensch ist ein Bilderlehren-Produzent, ein Ideologe, der sich obendrein von fremden Ideologien leicht verführen lässt. Homo sapiens muss sich die Welt deuten. Er muss nach dem Warum fragen. Denn so funktioniert sein GehirnGehirn. Unser Kopf lässt uns nämlich nicht etwa wahrnehmen, was die Augen sehen oder die Ohren hören. Vielmehr werden die Sinneseindrücke zunächst – dem Menschen unbewusst – in unserem Gehirn bearbeitet. Das erklärt zum Beispiel, warum wir optischen Täuschungen erliegen und warum wir die komprimierte Musik einer Compact Disc oder die Folge von Einzelbildern eines Films als kontinuierlich fortlaufendes Geschehen wahrnehmen.

Zehn Prozent Beobachtung, neunzig Prozent DeutungDeutung

Mittlerweile wissen wir – sofern wir die Forschungsergebnisse der NeurowissenschaftlerNeurowissenschaft zur Kenntnis nehmen –, dass unser GehirnGehirn viel mehr mit dem Deuten als mit dem Beobachten der Welt beschäftigt ist. Denn das Einzige, zu dem unser Kopf unmittelbaren Zugang hat, sind seine eigenen inneren Zustände. Gut 90 Prozent der Impulse, die ins Sehzentrum des GehirnsGehirn, den primären visuellen Cortex, einlaufen, stammen nicht etwa aus der Sehbahn, sind also nicht einlaufende Nachrichten dessen, was wir sehen, sondern stammen aus anderen, übergeordneten Bereichen der Großhirnrinde.[10] Dabei werden die eingehenden mit erwarteten Signalen verglichen. Allgemeiner formuliert es der NeurowissenschaftlerNeurowissenschaft Wolf SingerSinger, Wolf so: Die Neurobiologie zeige, dass unsere Sinnesorgane uns nur einen winzigen Ausschnitt der Welt direkt wahrnehmen lassen. »… Unsere Hirnarchitekturen wurden also von der EvolutionEvolution nicht daraufhin optimiert, die sich hinter den Erscheinungen verbergende hypothetische ›wahre‹ Natur der Dinge zu erkennen, sondern pragmatische Interpretationen für typische Konstellationen zu liefern.«[11]

Das erspart unserem Kopf viel Mühe: »Ein GehirnGehirn, das auf Voraussagen gestützt arbeitet, kann viel schneller reagieren als eines, das immer erst sämtliche einlaufenden Informationen abwarten und analysieren muss.«[12]

Sich ein Bild zu machen und Voraussagen blitzschnell treffen zu können, war bereits für unsere Ahnen lebenswichtig: Sie mussten etwa zwei Lichtblitze im Gebüsch richtig als die das Sonnenlicht spiegelnden Augen eines Raubtiers deuten und flüchten, ehe sie gefressen werden konnten. Vom Eintreffen eines physikalischen Sinnenreizes bis zur bewussten Wahrnehmung vergehen etwa 80 bis 100 Millisekunden. Und dann ist es unter Umständen zu spät, um noch richtig reagieren zu können. Die Fähigkeit, jeweils die allernächste Zukunft voraussagen zu können, ist auch heute unter Umständen lebensrettend, etwa beim Autofahren, oder spielentscheidend, etwa beim Fußball. Zauberkünstler nutzen das aus, indem sie mit bestimmten Erwartungen ihres Publikums rechnen und die Zuschauer so austricksen. »Unsere Erwartungen formen, was wir wahrnehmen. GedächtnisGedächtnis und Wahrnehmung sind untrennbar verknüpft.«[13]

Gefangen im Weltbild der Vorfahren

Wir sind nicht nur alle IdeologenIdeologie, wir sind auch (fast) alle von gestern. Weniger die Gegenwart bestimmt uns und unsere Weltsicht als vielmehr die Vergangenheit. Denn wir schleppen nicht nur unsere eigene Geschichte mit uns, sondern auch die Weltbilder unserer Eltern und Großeltern sowie der Gesellschaften, in denen diese bereits vor uns lebten. Manche dieser Bilder reichen zurück bis in die Steinzeit. Nur wenige Menschen bestimmen die Weltbilder der Zukunft, etwa durch fundamentale Entdeckungen oder Erkenntnisse: zum Beispiel Nikolaus Kopernikus oder Charles DarwinDarwin, Charles oder Albert EinsteinEinstein, Albert – oder JesusJesus von Nazareth von Nazareth. Nicht nur die Menschen, sondern auch ihre Institutionen sind von gestern. Natürlich auch die Kirchen.

Normalerweise ist unser Blick auf die Welt bestimmt von unserer individuellen (und gesellschaftlichen) Vorgeschichte. Wenn diese nicht im Lichte besseren Wissens bedacht wird, hat das schlimme Konsequenzen: »Wer nichts weiß, muß alles glauben.« Das schrieb bereits 1893 die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-EschenbachEbner-Eschenbach, Marie von. Deshalb frage ich die Repräsentanten der Kirchen wie die Theologen: Woher wisst ihr das, warum glaubt ihr das? Und bekomme keine befriedigende Antwort. »Alles« zu glauben, ist eine Weltsicht, welche die Intellektuellen, die eben nicht alles glauben, aus den Kirchen vertreiben muss.

Glaubensstarke Zeugnisse von Unwissenheit

Im normalen Leben gilt Leichtgläubigkeit als dumm, im Gegensatz zu Gutgläubigkeit. Nur die Kirchen verkünden Leichtgläubigkeit als Tugend, indem sie daraus Glaubensstärke machen. Der bayerische Landesbischof und seit dem 11.11.2014EKDEKD-RatsvorsitzendeRatsvorsitzender Heinrich Bedford-StrohmBedford-Strohm, Heinrich redet gar (auf der Landessynode in Bayreuth am 1.4.14) von Glaubenslust. So entstehen mit Hilfe einzelner Wörter Ideologien. Die christlichen Kirchen haben nämlich ihre eigene Begrifflichkeit entwickelt, die offenkundig nicht mehr reflektiert wird.

Da gibt es zum Beispiel den GlaubenszeugenGlaubenszeugen. Er bezeugt seinen Glauben. Was heißt das? Zeugnis geben gemeinhin Augen- oder Ohrenzeugen eines Sachverhalts, den sie damit bekunden oder bestätigen. Den Begriff »Zeugnis« mit dem Begriff »Glauben« zu verbinden, soll der Glaubens-Aussage Gewicht geben. Der Glaubenszeuge kann jedoch auch beliebigen Unsinn glauben und bezeugen. So ist zum Beispiel Martin LutherLuther, Martin Zeuge des Wirkens von allerlei Teufeln in der Welt gewesen; etwa des Satans, der, so glaubte der Reformator tatsächlich, Ursache seiner chronischen Darm-Verstopfungen gewesen sei. Proktologen sehen das heute natürlich anders und benötigen dafür keinen Teufel.

Um die Zusammenhänge zu verstehen und zu reflektieren, sind weitere Erkenntnisse der NeurowissenschaftlerNeurowissenschaft wichtig. Wir wissen heute nämlich nicht nur, dass die Bilder, die wir uns von der Welt machen, nicht die Welt abbilden, sondern auch, warum das so ist: Wahrnehmung bildet die Welt nicht ab, sondern stellt sich, so der Gehirnforscher Wolf SingerSinger, Wolf, als »hypothesengesteuerter Interpretationsprozess dar, der das Wirrwarr der Sinnessignale nach ganz bestimmten Gesetzen ordnet und auf diese Weise die Objekte der Wahrnehmung definiert«.[14]

Denken ist anstrengend

Denken, die Voraussetzung auch für das Zweifeln, ist anders als Glauben eine anstrengende Angelegenheit. Pro Gewichtseinheit setzt die Hirnmasse 16-mal so viel Energie um wie das Muskelgewebe. Natürlicherweise beschränkt sich unser Denken deshalb auf das Allernotwendigste. Denn das dafür zuständige sogenannte Arbeitsgedächtnis ist in seiner Kapazität beschränkt. Wo immer es geht, arbeitet der Kopf deshalb energiesparend und automatisch. Das, was immer schon so war, genauer: so angesehen wurde, anzuzweifeln, ist unüblich. Auch deshalb schleppen wir die Weltbilder unserer Ahnen von Generation zu Generation. Unser Kopf versucht auf diese Weise, sich und uns das Leben zu vereinfachen.

Das GehirnGehirn arbeitet nach »erzkonservativen Prinzipien«, wie der deutsche Philosoph Matthias JungJung, Matthias die Beobachtungen der NeurowissenschaftlerNeurowissenschaft zusammenfasst: »Neues nervt, es erzeugt Unmut und Missstimmung, eingeschliffene Wahrnehmungen und Denkformen revidieren zu müssen.«[15] Wir neigen dazu, einmal erfundene Denkmuster und Rituale im Wesentlichen zu erhalten. Wäre da nicht die offenkundig von Anfang an zum Menschsein gehörende spielerische Neugierde, gäbe es keine kulturelle Entwicklung, keinen technischen Fortschritt.

Diese Neigung, sich auf Althergebrachtes zu verlassen, wird ergänzt um eine weitere problematische Eigenschaft unseres GehirnsGehirn: »Wenn wir nach langem Suchen und peinlicher Ungewissheit uns endlich einen bestimmten Sachverhalt erklären zu können glauben, kann unser darin investierter emotionaler Einsatz so groß sein, daß wir es vorziehen, unleugbare Tatsachen, die unserer Erklärung widersprechen, für unwahr oder unwirklich zu erklären, statt unsere Erklärung diesen Tatsachen anzupassen.« So beschrieb es 1976 Paul WatzlawickWatzlawick, Paul.[16] »Selbst-abdichtend« nannte der Wiener Psychoanalytiker die so von ihm beschriebene Verfahrensweise in seinem Bestseller Wie wirklich ist die WirklichkeitWirklichkeit. Bereits 1963 erklärte es der Psychoanalytiker Alexander MitscherlichMitscherlich, Alexander so: »Die psychische Organisation vermittelt zwischen äußerem und innerem Zwang zugunsten der Bestrebungen des Lustprinzips; sie erspart Unlust, indem sie auf einer Wahrnehmungs- oder Erfahrungsstufe, die unterhalb des Bewußtseins liegt, abwehrt und dort diese Abwehr organisiert. Kontroverse Impulse aus der Triebsphäre wie kontroverse Nachrichten von außen werden in der einen oder anderen Form verleugnet. Dazu gehört ein gereinigtes Perzeptionsfeld (Wahrnehmungsfeld), das widerspruchsfreier als die Realität selbst ist, wenn wir als ›Realität‹ das verstehen, was uns bewußte und unbewußte Wahrnehmung mitteilt. Die Lücken, die durch die Zurückweisung von Wahrnehmung entstehen, werden durch Pseudologik verdeckt. Ihre täuschenden Aussagen sind durch eine hohe affektive Besetzung geschützt; an sie zu rühren, weckt Mißbehagen und oft Angst in einer Stärke, der das kritische Ich nicht gewachsen ist.«[17]

Im Jahr 2006 formulierten NeurowissenschaftlerNeurowissenschaft diesen Sachverhalt so: »Da unser GehirnGehirn auf Kohärenz erpicht ist, versucht es unentwegt, aus den aufgenommenen Informationen sinnvolle Zusammenhänge zu konstruieren. Passt etwas nicht in den erwarteten Ablauf oder hat es nicht mit der gerade zu lösenden Aufgabe zu tun, tilgen unsere grauen Zellen diese Fakten aus dem Bewusstsein. Egal, wie offensichtlich sie sein mögen.«[18] Und einen anderen Trick unseres GehirnsGehirn, nicht umlernen zu müssen, formulierte Dietrich Dörner so: »Ein hervorragendes Mittel, Hypothesen ad infinitum aufrechtzuerhalten, ist die ›hypothesengerechte‹ Informationsauswahl. Informationen, die nicht der jeweiligen Hypothese entsprechen, werden einfach nicht zur Kenntnis genommen.«[19] Im letzten halben Jahrhundert ist, wie alle diese Zitate zeigen, kontinuierlich das Verständnis dafür gewachsen, wie unser Kopf arbeitet und warum das so ist. Diese Einsichten werden uns helfen, zu verstehen, warum die Kirchen und ihr Personal auf uralten DeutungenDeutung beharren.

Die Freude an der Mühsal

Es kommt der Arbeitsweise unseres GehirnsGehirn sehr entgegen, wenn es auf alles bereits möglichst klare Antworten weiß, ohne sich diese jeweils neu erarbeiten zu müssen. Deshalb sind die schlichten Weltbilder aller fundamentalistischenFundamentalismus Religionen attraktiv, und sie zu akzeptieren ist kraftsparend.

Mit kraftsparend meine ich natürlich primär die intellektuellen Kräfte. Der Kopf hat so viel zu bewältigen, dass er, wie gesagt, kraftsparend arbeiten muss. Überdies, und das ist besonders problematisch, gilt für jedermann, so der Hirnforscher Wolf SingerSinger, Wolf: »Sie haben keinen Einfluss darauf, welche Informationen Ihr GehirnGehirn Ihrem Bewusstsein als Entscheidungsgrundlage bereitstellt.«[20] Das war natürlich bei den Verfassern der biblischen Schriften auch schon so. Der israelisch-US-amerikanische Wissenschaftler Daniel Kahneman, der einen Nobelpreis für psychologische Forschung, erhielt, formuliert es so: »Sie werden gewissermaßen regiert von einem Fremden, ohne dass Sie es merken.«[21] Damit meint er die Intuition, das System, welches »unermüdlich Absichten, Eindrücke und Gefühle« erzeugt.

Zu praktizieren ist ein Glaube freilich desto schwerer, je mehr Vorschriften dabei einzuhalten sind. Religiosität hilft auch nicht immer bei der Lebensbewältigung. Es gibt sogar »Überzeugungskrankheiten«. Der Religionswissenschaftler Sebastian MurkenMurken, Sebastian aus Trier weist darauf hin, dass religiös begründete Schuldgefühle eine enorme Belastung sein können.[22] Und der Psychotherapeut Mario GmürGmür, Mario verweist auf die Möglichkeit, dass eine »Überzeugung zur Krankheit wird wie zum Beispiel bei einer Sektenabhängigkeit«, und umgekehrt, dass eine »Krankheit zur Überzeugung führt, wie beispielsweise bei der Schizophrenie.«[23] Offenkundig aber haben jene fundamentalen Religionsgemeinschaften am meisten Zulauf, die ihren Gläubigen zwar intellektuell wenig, ansonsten aber besonders viel zumuten. Wie passt das alles zusammen?

Das Pfauenrad des Frommen

»Religion ist ein Produkt der biokulturellen EvolutionEvolution, sie hat biologische Grundlagen und kulturelle Ausprägungen.« So der Religionswissenschaftler Michael Blume aus Filderstadt in Württemberg. Er hat festgestellt, dass Religion und Fruchtbarkeit überall in der Welt deutlich korrelieren: Je frommer die Menschen in Deutschland sind, desto mehr Kinder haben sie. In Israel ist das besonders offensichtlich: Die meisten Kinder zeugen die ultraorthodoxen Juden. Der Wissenschaftsjournalist Christian WeberWeber, Christian wies in einem Beitrag[24] darauf hin, sowie auch auf Beobachtungen des Anthropologen Richard SosisSosis, Richard der Universität von Connecticut. Die Zumutungen der Religion seien danach analog zu verstehen, wie die Zumutungen der vermeintlich unnützen Attribute mancher Tiere: Die Pracht des Pfauenrades koste seinen Besitzer zwar viel Kraft und behindere ihn. Zugleich demonstriere er damit als Sexualpartner seine physischen Qualitäten. In ähnlicher Weise sende auch der fromme Mensch große Anstrengungen demonstrierende Signale aus, mit denen er auf seine Stärke verweise.

Dumm nur, dass der Zölibat die legale Vermehrung der katholischen Priester verbietet. Deshalb ist hier ein künstliches Pfauenrad, das der »vermeidlich unnützen Attribute« in Form von Prachtgewand und »Prada«-Schuhen nötig. Die Treter von Papst BenediktBenedikt XVI., Papst XVI. stammten allerdings nicht, wie oft vermutet, von Prada, sondern von dem italienischen Schuster Adriano StefanelliStefanelli, Adriano, der das Modell speziell für ihn entworfen und angefertigt hatte.[25] Mitte März 2012 wurde bekannt, dass die Herstellerin Silvana CasoliCasoli, Silvana dem Papst ein eigenes, nicht verkäufliches Parfüm entwickelt habe, mit den Zutaten Linde, Gras und dem giftigen Eisenkraut. Der Berliner Parfumeur Lutz LehmannLehmann, Lutz kommentierte gegenüber sueddeutsche.de,[26] dass Eisenhut in Deutschland nicht in Parfums enthalten sein dürfe sowie dass »Linde ein sehr süßer Duft ist. Den würde ich eigentlich eher einer Dame empfehlen und nicht einem Herrn.« So viel zum Pfauenrad des ehemaligen »Stellvertreters«.

JesusJesus von Nazareth selbst hat, so berichtet der Evangelist Lukas, den Frommen mit dem Pfauenrad beschrieben, wenn auch nicht so genannt. Dieser geht in den Tempel und betet so: »Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute …« (Lk 18,11).

Der andere Blick

Offenkundig braucht man einen anderen Blick, um das Besondere des Frommen zu erkennen und seine Zeichensprache zu verstehen. Einen anderen Blick der Weltbetrachtung, welcher Konventionen in Frage stellt, versuchen nicht nur Wissenschaftler, sondern zum Beispiel auch Künstler zu provozieren. Nicht immer mit Erfolg: In einem Dortmunder Museum säuberte im Oktober 2011 eine Reinigungskraft eine Gummiwanne. Leider gehörte der schmutzige Trog zu einer so gewollten Installation des Künstlers Martin KippenbergerKippenberger, Martin. Das Kunstwerk ist mit der Aktivität der Putzfrau unwiederbringlich verloren, 800000 Euro weg mit einem Wisch.[27] Ähnliches passierte 1973 und 1986 mit Kunstwerken von Joseph Beuys. In allen diesen Fällen wird deutlich, dass es für manche Künstler nicht mehr um das Kunst-Werk an sich geht, sondern darum, welche Bilder bei ihrem Anblick im menschlichen Kopf produziert werden.

Der Blick einer Reinigungskraft steht gewissermaßen für den normalen Blick des Menschen in die Welt aufgrund der jeweils eigenen Lebenserfahrungen. Die Putzfrau schaut naturgemäß, was es zu putzen gibt. Nun mag man sich fragen, was denn der normale Blick etwa eines Pfarrers, Bischofs oder gar eines Papstes sei? Auch hier ist oft ein Ritual, an das man sich halten kann, das Erste und Letzte. Ein Witz drückt das so aus: In Afrika wird ein Missionar plötzlich von einem Rudel Löwen umkreist. Er fällt auf die Knie und bittet Gott um Schutz: »Befiel den Löwen, sich wie fromme Christen zu verhalten.« Als er wieder aufblickt, sitzen die Löwen im Kreis um ihn herum, haben die Pfoten gefaltet und beten: »Komm Herr JesusJesus von Nazareth, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.«

Fragend und ohne Vor-Urteil in die Welt zu blicken und daraus gar Erkenntnisse zu gewinnen, ist eher unüblich. Als die Pest im 17. Jahrhundert London erreichte, zog sich der junge Gelehrte Isaac NewtonNewton, Isaac auf den Bauernhof seiner Mutter zurück. Dort gab ihm eine eher beiläufige Beobachtung zu denken. Er sah nämlich, wie ein Apfel vom Baum fiel, und überlegte – so hat er berichtet –, ob dieselbe Kraft, die den Apfel nach unten zieht, auch den Mond in seiner Bahn hält. Damals glaubte man nämlich noch dem antiken griechischen Philosophen Aristoteles, wonach die irdischen und die himmlischen Dinge verschiedenen NaturgesetzenNaturgesetz gehorchten, insbesondere was ihre Bewegungen betrifft. NewtonNewton, Isaac jedenfalls entdeckte die das Fallobst lenkenden und ebenfalls auch die Mondbahn bestimmenden klassischen Gesetze der Gravitation. Er konnte vorurteilsfrei Fragen stellen und bedenken.

Unseren Kinderglauben zweifelnd zu bedenken, ist im Allgemeinen alles andere als lustvoll – passiert also nicht automatisch mit dem Älterwerden. So wusste bereits der Dichter Gotthold Ephraim LessingLessing, Gotthold Ephraim (»Nathan der Weise«) im 18. Jahrhundert: »Der Aberglaub’, in dem wir aufgewachsen, verliert, auch wenn wir ihn erkennen, darum doch seine Macht nicht über uns.« Von der Macht des Aberglaubens wird in diesem Buch noch viel die Rede sein.

Unser Bild von anderen Menschen ändert sich fortwährend, ohne dass diese sich ändern müssen. Das beginnt schon in frühester Jugend. Für das Kleinkind sind die Mutter und der Vater allmächtig, sozusagen Götter: Sie wissen alles, entscheiden alles, umsorgen und beschützen das Kind. Die Pubertät dient auch der Emanzipation von diesem Elternbild. Die »Wahrnehmungsgestalt« (Viktor von WeizsäckerWeizsäcker, Viktor von) seiner Mutter und seines Vaters verändert sich für das Kind mit dem Heranreifen. Die Wahrnehmungsgestalt einer prominenten Person für die Bevölkerung, also deren »Bild« in der Öffentlichkeit, ändert sich heute unter Umständen sogar sehr rasch, Beispiel Karl-Theodor zu GuttenbergGuttenberg, Karl-Theodor zu, einst promovierter Bundesminister der Verteidigung. Manchmal geschieht das auch posthum. So ist das Ansehen des Diktators Josef StalinStalin, Josef in Russland bei vielen Nachgeborenen gestiegen, während umgekehrt ein Adolf HitlerHitler, Adolf zunächst von Repräsentanten der Kirchen in Deutschland als ein von Gott Gesandter – »ein Werkzeug der göttlichen Vorsehung«, so zum Beispiel das Evangelische Sonntagsblatt aus Bayern im April 1933 – angesehen wurde.

Die Bilder unserer Ahnen

Der Begriff IdeologieIdeologie (Bilderlehre) klingt negativ. Jedoch ist die damit verbundene Fähigkeit bewunderungswürdig. Und sie ist vor unvorstellbar langer Zeit entwickelt worden. Meine Überlegungen beschäftigen sich mit Zeiträumen von wenigen tausend Jahren. Doch die Menschheitsgeschichte ist bekanntlich sehr viel älter.

Am Rande des Thüringer Beckens, nahe der Ortschaft Bilzingsleben im Kreis Sömmerda, lebte einst eine kleine Gruppe unserer Ahnen, deren Überreste von einem Forscher der Universität Jena, Dietrich ManiaMania, Dietrich, entdeckt und während mehrerer Jahrzehnte ausgegraben wurden. »Einst«, das heißt vor rund 370000 Jahren! Es waren Ahnen von Homo sapiens, die selbst zur Urmenschengruppe Homo erectus gehörten. Und diese Frühmenschen waren bereits fähig, sich ein Weltbild zu machen, was sich indirekt erschließen lässt. Sie ritzten zum Beispiel bereits Strichmuster in einen Knochen eines damals in Thüringen heimischen Elefanten. »Es handelt sich um das älteste uns bekannte kulturelle Objekt dieser Art. Da sich abstrakte Gedankengänge nur mit Wortsymbolen mitteilen lassen, liefern die eingravierten Strichmuster auch einen Hinweis darauf, dass diese Menschen eine Sprache hatten«, so Ausgräber Dietrich Mania.Mania, Dietrich[28] Man entdeckte außerdem einen von den Frühmenschen angelegten kreisförmigen Platz von neun Metern Durchmesser mit Bruchstücken von menschlichen Schädelknochen. Das bedeutet, so ManiaMania, Dietrich, »dass sich der Frühmensch eine eigene künstliche Umwelt schuf. Wer aber dazu fähig ist, der hat auch schon ein einfaches Weltbild.« Auf diesem Platz wurde, so vermutet ManiaMania, Dietrich, ein postmortaler Schädelkult an verstorbenen Gruppenmitgliedern ausgeübt.

Anscheinend hat man verschiedenen Räumen eine unterschiedliche Qualität zugeordnet. Das heißt, man unterschied damals vermutlich bereits zwischen heilig und profan, eine Unterscheidung, die sich durch die ganze Religionsgeschichte zieht.

Vorstellungen täuschen die Erinnerung

Die Verfasser der »heiligen« biblischen Schriften berufen sich immer wieder auf »Zeugen« und »Zeugnisse« für ihre Aussagen. Wer nur einen Verkehrsunfall im Nachhinein beschreiben soll, weiß, wie unsicher menschliche Erinnerung ist, gerade auch, wenn sie immer wieder reflektiert wird. Elisabeth LoftusLoftus, Elisabeth (University of Washington) resümiert ihre experimentellen Erfahrungen als Erforscherin des menschlichen Erinnerungsvermögens: »Um unser GedächtnisGedächtnis zu täuschen, genügt es in vielen Fällen, sich ein einziges Mal ein Ereignis vorzustellen, das niemals stattgefunden hat. Unser Gedächtnis ist formbar wie Knetmasse.«[29]

Inzwischen gibt es weitere Erkenntnisse. Die deutsch-kanadische Psychologin Julia ShawShaw, Julia von der englischen Universität Bedfordshire und ihr Kollege Stephen Porter von der kanadischen Universität von British Columbia haben entsprechende Experimente gemacht. Sie erkundigten sich zunächst bei den Eltern ihrer Probanden über Begebenheiten aus der Jugendzeit der Versuchsteilnehmer. Diesen wurde gesagt, es gehe darum, verschüttete Erinnerungen auszugraben. Tatsächlich wurden die Probanden nach und nach mit einer aus den echten Vorkommnissen komponierten Verbrechensgeschichte konfrontiert. Ergebnis, so Julia ShawShaw, Julia: »Nach der dritten Sitzung glaubten 70 Prozent der Probanden, sie wären tatsächlich in ein Verbrechen verwickelt gewesen und hätten es nur verdrängt. Sie schmückten die untergeschobenen Erinnerungen sogar mit eigenen Details aus. … Die Erinnerung ist chronisch unzuverlässig. Wenn wir uns Vergangenes vor Augen rufen, müssen wir es jedes Mal neu konstruieren.«[30]

Das alles erklärt auch, weshalb es so unendlich mühsam ist, Menschen von ihrem Aberglauben abzubringen. »Sobald Menschen mit Fehlinformationen in Berührung kommen, ist es sehr schwer, sie wieder davon zu befreien.« So die Forscher John CookCook, John und Stephan Lewandowsky.Lewandowsky, Stephan[31] Bereits die bloße Erwähnung eines Irrtums könne diesen bei Gesprächspartnern festigen. Mit diesem Wissen gilt es auch die »Zeugen« der Bibel und ihre »Zeugnisse« zu bedenken.

Der Gehirnforscher Wolf SingerSinger, Wolf hat auf dem 43. Deutschen Historikertag im September 2000 den Geschichtswissenschaftlern Hinweise darauf gegeben, was sie aufgrund der Erkenntnisse seiner Wissenschaft bei ihrer Arbeit beachten müssten. Zum Beispiel: Unser GehirnGehirn trachtet immer danach, »stimmige, in sich geschlossene und in allen Aspekten kohärente Interpretationen zu liefern und für alles, was ist, Ursachen und nachvollziehbare Begründungen zu suchen«. Solche Erkenntnisse werden in diesem Buch eine wesentliche Rolle spielen, wenn es um die Inhalte kirchlicher Lehren und deren »Verkündigung« geht.

Das Christentum versteht sich wie das Judentum sowie der IslamIslam als »Offenbarungsreligion«. Verursacher ist der »Geist Gottes«, der »Heilige Geist«. Deshalb muss als eine weitere Voraussetzung für die später folgenden Erklärungen vom Geist die Rede sein.

III. Wie der Geist im Kopf entsteht

Der Philosoph Hans JonasJonas, Hans versuchte auf einem Kongress 1988 in Hannover die Frage zu beantworten, wie der Geist in die Welt gekommen ist. Jonas sagte damals: »Das Mindeste, was wir der sich aus dem UrknallUrknall entwickelnden Materie im Hinblick auf das schließlich und spät Hervortretende zusprechen müssen, ist eine ursprüngliche Begabung …« Nämlich die, dass in der Natur »die Fähigkeit zur Ermöglichung des Geistes« angelegt sei. Das ist zunächst eine Binsenweisheit, denn verwirklichen kann sich selbstverständlich immer nur das, was möglich ist. Und wenn es tatsächlich, wie manche Kosmologen spekulieren, ein Multiversum mit unendlich vielen Universen gäbe, wäre alles, was möglich ist, irgendwann und irgendwo auch wirklich. Aber Hans JonasJonas, Hans überlegt weiter: »Wer (oder was) hat die Materie so ›begabt‹? und: Welchen Anteil hat die ›Begabung‹ am Gang der Weltereignisse?« Immerhin verdanke der Mensch der Materie und »dem bisschen davon, das gerade in seinem GehirnGehirn versammelt ist«, dass er existiere und denken könne. Also müsse er doch der Materie zu all den Eigenschaften, die ihn die Physik lehre, auch noch die Fähigkeit zur Ermöglichung des Geistes zuerkennen. »… wenn wir jetzt mit wohl erlaubter Metapher sagen, dass die Materie von Anbeginn schlafender Geist sei, so müssen wir hinzufügen, dass die wirklich erste, die schöpferische Ursache von schlafendem Geist nur wacher Geist sein kann, von potentiellem Geist nur aktueller …«, so führe uns »die Selbsterfahrung des Geistes und zumal seines denkenden Ausgreifens ins Transzendente, als Teil des kosmischen Befundes, zum Postulat eines Geisthaften, Denkenden, Transzendenten am Ursprung der Dinge: als erste Ursache, wenn es nur eine gibt; als Mitursache, wenn es mehr als eine gibt.« Jonas nennt dies die ihm selbst »einleuchtendste der hier der VernunftVernunft erlaubten Vermutungen.«