Ach, mein Kosovo! - Mechthild Henneke - E-Book

Ach, mein Kosovo! E-Book

Mechthild Henneke

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Beschreibung

Der Held des Romans "Ach, mein Kosovo" schließt sich 1998 der Kosovo Befreiungsarmee an, tauscht dann aber das Gewehr gegen ein Stethoskop, denn er ist angehender Mediziner. Bevor Taras Galani in den Krieg zieht, hat er mehrere Jahre in Deutschland gelebt. Aber nichts kann ihn halten, als die Situation in seiner Heimat eskaliert. Der Roman von Mechthild Henneke beruht auf wahren Begebenheiten und greift Themen unserer Zeit auf: Krieg, Flucht und das Leben zwischen zwei Kulturen. Die Autorin treibt die Frage um: Wofür lohnt es sich zu kämpfen? und mehr noch: Was macht das mit einem? Taras wächst als Sanitäter und Feldarzt über sich hinaus, wirft sich in Abenteuer und beginnt, an seiner Mission zu zweifeln. Der Roman endet mit dem Abzug der Serben, doch ein Sieg ist das für Taras nicht.

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Seitenzahl: 462

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Mechthild Henneke

Ach, mein Kosovo!

Roman

ISBN: 978-3-96258-126-8 (E-Book)

ISBN: 978-3-96258-096-4 (Print)

Zweite Auflage 2021, PalmArtPress, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 PalmArtPress

Umschlagabb.: Mechthild Henneke, Acryl a. L. 2009,

nach der Skulptur Hjia (Schatten) von Ismet Jonuzi, Prishtina, Kosovo

Design/Layout: NicelyMedia

Lektorat: Barbara Herrmann, Janine Walle

Hergestellt in Deutschland

PalmArtPress

Verlegerin Catharine J. Nicely

Pfalzburger Str. 69, 10719 Berlin

www.palmartpress.com

Für Naim und Marianne.

VORWORT

Mein Kosovokrieg

Der Krieg im Kosovo liegt mittlerweile mehr als zwanzig Jahre zurück – und doch scheint er mir immer noch sehr nah. Das Buch von Mechthild Henneke bringt viele Erinnerungen zurück. Das ist oft schmerzhaft und macht bewusst, welchen Schrecken mein Land bis zur Befreiung im Juni 1999 durchlebt hat.

Der Kampf für unsere Freiheit hat eine jahrhundertelange Tradition und die Eskalation durch den serbischen Diktator Milošević im Kosovo ab 1998 war eine logische Konsequenz aus den Balkankriegen, die 1991 in Slowenien begannen.

Ich bin 1971 geboren und stamme aus einer Familie, die seit Generationen aufbegehrt, weil sie nicht akzeptieren will, dass wir Albaner im Kosovo nicht selbst über uns bestimmen dürfen.

Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in ständiger Angst, weil einer meiner Brüder als politischer Feind inhaftiert wurde, als ich 10 Jahre alt war. Das machte auch mich in den Augen der serbischen Polizei zum potenziellen Untergrundkämpfer. Da die Polizei in den neunziger Jahren willkürlich Menschen verhaftete und wegen angeblicher politischer Aktivitäten ins Gefängnis warf, stellte jede Fahrt zur Schule, jeder Spaziergang durch Prishtina eine Gefahr dar.

Mein Vater entschied deshalb, mich Anfang der neunziger Jahre nach Deutschland zu schicken – vor allem, um mich dem Militärdienst in der jugoslawischen Armee zu entziehen. Diese stellte Wehrdienstleistende aus dem Kosovo im Krieg gegen Bosnien und Kroatien häufig in die ersten Reihen, sodass viele von ihnen starben.

In Deutschland fand ich in Bad Neuenahr-Ahrweiler ein neues Zuhause, lernte die Sprache und konnte meine Leidenschaft für die Medizin entwickeln: Ich begann ein Studium der Humanmedizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Auch privat fasste ich Fuß. Ich integrierte mich in die Gesellschaft, fand Freunde und pflegte viele Hobbys.

Das Leben verlief in ruhigen Bahnen – so schien es nach außen. Hinter der Fassade sah es anders aus. Die Kriege auf dem Balkan beschäftigten die albanischen Freunde und mich ständig. Um unsere Eltern, Geschwister, Verwandten und Freunde in der Heimat sorgten wir uns Tag für Tag.

Milošević hatte im Kosovo ein Apartheid-System geschaffen, das die serbische Minderheit in allen politischen und gesellschaftlichen Sphären über die kosovo-albanische Bevölkerungsmehrheit stellte. Die Albaner waren aus dem öffentlichen Leben verdrängt, die Kinder aus den Schulen, die Studenten aus der Universität. Jeden Tag gab es Verhaftungen, Menschen verschwanden auf offener Straße. In den Gerichten wurde knallhart geurteilt. Schon der Verdacht, gegen das Herrschaftsregime zu sein, führte zu langjährigen Haftstrafen. Folter war an der Tagesordnung.

Kein Wunder, dass das Auftauchen der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK uns junge Männer in der Ferne euphorisierte. Endlich zeigten wir dem Feind die Zähne. Wenn es auch nur kleine Aktionen ohne großen Effekt waren, die die UÇK unternahm, so stärkten sie uns doch den Rücken und gaben uns Selbstbewusstsein. Unser Anführer Adem Jashari war der unbestrittene Held. Er war nicht nur der Mutigste von allen, er war auch klug und wollte ein gerechteres Land schaffen.

Im März 1998 griffen das serbische Militär und die serbische Polizei das Anwesen der Jasharis in Prekaz, unweit von meinem Heimatdorf, an und beschossen zwei Tage lang die beiden Häuser, in denen sich zu dieser Zeit Adem, seine Frau, Kinder, Eltern, viele weitere Verwandte mit Kindern und Nachbarn befanden. Mehr als 60 Personen starben in dem Kugelhagel. Aber nicht nur das: Auch unsere Hoffnung auf ein besseres Leben starb – zumindest im ersten Moment. Nach Tagen der Trauer wuchs jedoch die Wut und der Wunsch, sich auch auf den Weg zu machen, um mit der Waffe in der Hand für die Unabhängigkeit Kosovos zu kämpfen.

Die Entscheidung, alles in Deutschland hinter mir zu lassen, fiel mir leichter, als Außenstehende vermuteten. Ich war jung, 27 Jahre alt, und wollte mein Land schützen, wollte es nicht länger den serbischen Panzern und Polizisten überlassen. Mein Medizinstudium, die Freundschaften und Beziehungen konnten warten. Sie würde ich später wieder aufnehmen – so dachte ich damals.

Ich ging nicht allein. Mein bester Freund und zwei weitere Freunde, sie heißen Nezir, Afrim und Ekrem, gingen gemeinsam mit mir aus Deutschland in den Krieg. Im Ausbildungslager schlossen sich uns weitere junge Männer an, die so wie wir in Deutschland gelebt hatten und nun dem Ruf des Vaterlands folgten.

Insofern gibt es zwischen dem Roman „Ach, mein Kosovo!“ und meiner eigenen Geschichte Ähnlichkeiten. Das ist kein Zufall. Mechthild Henneke und ich haben uns 2003 kennengelernt, als sie in der Pressestelle der Verwaltungsmission der Vereinten Nationen, UNMIK, tätig war und ich als stellvertretender Kommandeur im Sanitätsbataillon des Kosovo Schutzcorps (Trupat e Mbrojtjës së Kosovës – Batalioni 40 i mjekësisë) diente.

Von Anfang an war Mechthild aufgeschlossen für die Erfahrungen, die die Menschen im Kosovo im Krieg gemacht hatten. Lange Abende hörte sie sich die Berichte an und konnte oft nicht glauben, was meine Freunde und ich, genauso wie viele andere Soldaten, in dem einen Jahr bei der UÇK erlebt hatten.

Ich möchte aber an dieser Stelle betonen, dass es sich bei „Ach, mein Kosovo!“ um einen Roman handelt. Es ist keine Biografie meines Lebens. Zwar gibt es Parallelen, doch hat Mechthild auch viele literarische Entscheidungen getroffen, die dazu führten, dass es Abweichungen von meiner Geschichte gibt.

Für einen Tatsachenbericht wäre es viel zu früh gewesen. Die Wunden sind noch zu frisch, die Fakten noch zu umstritten, als dass man sie in einem Buch festhalten könnte.

Es gibt noch einen weiteren Grund: Schriebe ich meine Erlebnisse auf, so gäbe es viel mehr Tote, Verwundete, vom Krieg Versehrte. Was ich im Krieg erlebt habe, war brutaler und erbarmungsloser als die Erlebnisse von Taras Galani.

Eine wichtige Übereinstimmung gibt es allerdings: Wie der Romanheld setzte auch ich meine Kenntnisse als ausgebildeter Krankenpfleger in der Notaufnahme sowie als Medizinstudent auf dem Weg zum Arzt im Kosovokrieg ein, um Menschen zu helfen.

Das brachte mich, meine Helfer und vor allem die Verwundeten mit ihren Kriegsverletzungen oft an ihre Grenzen. Es fehlte ständig an Medikamenten, Instrumenten, sterilen Tüchern, räumlichen Möglichkeiten, um Verwundete oder Kranke zu behandeln. Schlimmer als die medizinischen Herausforderungen war häufig die Ohnmacht, nichts tun zu können, weil ich einfach nicht das Material oder die fachliche Kompetenz hatte – oder weil die Umstände die erforderliche medizinische Behandlung nicht zuließen.

Mancher wird sich fragen, wie es überhaupt dazu kam, dass ich als Medizinstudent die Aufgaben eines Feldarztes übernahm. Die Antwort ist einfach: weil es keine Ärzte gab. Das passierte meistens, wenn serbische Truppen uns eingekesselt hatten und die Menschen nicht herauskamen.

Viele Ärzte flohen ins Ausland; die wenigen, die blieben, kamen aus anderen Fachgebieten und hatten nicht die Kenntnisse in der Wundversorgung wie ich. Ich hatte in Deutschland mehrere Jahre in der Notaufnahme eines Krankenhauses gearbeitet. Verkehrsunfälle, Haushaltsunfälle, Verbrennungen – ich wusste viel über die Versorgung von Verletzungen.

Und in der Tat begann ich schon nach dem ersten Gefecht, die Wunden der Soldaten zu versorgen und mich mehr fürs Leben als fürs Sterben zu interessieren.

Das ist so geblieben. Ich möchte, dass die Menschen im Kosovo ein besseres Leben führen. Ich möchte, dass sie ähnliche Möglichkeiten haben, eine medizinische Behandlung zu erhalten wie in Deutschland, zumindest wie in den Ländern der Region.

Deshalb habe ich nach dem Krieg mein Medizinstudium im Kosovo beendet und bin Facharzt der Onkologie geworden. Bald schon trat ich in die Dienste des Gesundheitsministeriums. Ich glaube daran, dass wir im Kosovo eine tiefgreifende Gesundheitsreform brauchen.

Die drei Freunde, mit denen ich die Kriegszeit erlebte, haben alle ein neues Leben angefangen: Einer arbeitet am Flughafen im Kosovo, einer ist zurück nach Deutschland gegangen, wo er wieder in der Baubranche tätig ist, einer lebt in Kanada. Wir haben uns schon lange nicht mehr getroffen.

Kosovo ist seit dem Ende des NATO-Einsatzes einen steinigen Weg gegangen. Erst 2008 erklärte das Land seine Unabhängigkeit. Diese wurde jedoch von einigen Ländern der Region, allen voran Serbien, aber auch von manchen EU-Ländern (Spanien, Slowakei, Rumänien, Griechenland, Zypern) nicht anerkannt. Wir sind immer noch dabei, uns unseren Platz in Europa zu erkämpfen.

Doch wir sind weiter als je zuvor in unserer Geschichte. Insofern war es richtig, nicht mehr still zu halten. Und es war richtig, dass die NATO eingegriffen hat, denn sonst wäre es Kosovo so ergangen wie Bosnien, das drei Jahre lang einen schrecklichen Krieg mit Massakern wie in Srebrenica erleben musste. Deshalb bin ich für das NATO-Engagement und den Ländern, die sich daran beteiligt haben, dankbar.

Mechthild Henneke wünsche ich mit ihrem Roman viel Erfolg. Er begleitet vier junge Männer durch den Krieg, die genauso idealistisch und überzeugt von ihrer Mission sind, wie meine Freunde und ich es waren. Er zeigt, wie schwer es ist, im Angesicht des Kriegs diesen Glauben aufrechtzuerhalten, wie wichtig Kameradschaft ist und wie viele positive Momente es im Krieg trotz allen Grauens geben kann.

Menschlichkeit ist das, was im Krieg am meisten in Gefahr ist. Taras Galani schafft es, sich seine Menschlichkeit im Kosovokrieg zu bewahren. Für mich bedeutet es, dass er trotz der vielen Wunden, die der Krieg ihm zufügt, gewonnen hat.

– Naim Bardiqi

Staatssekretär im Gesundheitsministerium, Kosovo

Up here we sacrifice our children

To feed the worn-out dreams of yesterday

And teach them dying will lead us into glory.

Paul Brady, The Island

PERSONEN DES ROMANS

TARAS

TOP, EDI UND AFRIM – Taras' Freunde

KARLA – Taras' deutsche Freundin

MELINA UND LINDA – Krankenschwestern bei der UÇK

PITT – ein UÇK-Soldat, der sich dem Freundeskreis anschließt

Kate – Mitarbeiterin der Kosovo Verification Mission der OSZE

GENERAL ADEM JASHARI – Mitgründer der UÇK, der 1998 getötet wurde

GENERAL KOKA – Anführer des Bataillons, zu dem Taras' Einheit gehört

TRIM – Kommandant, der den UÇK-Trupp nach Kosovo führt

GURI – Kommandant von Taras' Einheit

SOKOL SHKODRA – Anführer der UÇK

KOMMANDANT AHMED – UÇK-Anführer im Westen des Kosovo

TED TALKER – Leiter der Kosovo Verification Mission der OSZE

INHALT

VORWORT

PROLOG

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV

GESCHICHTE DES KOSOVO-KONFLIKTS

PERSÖNLICHE NOTE UND DANK

PROLOG

Taras sank in seinen Sitz zurück. Zum ersten Mal seit Wochen tat er nichts. Eine kurze Rast, bevor die wichtigste Zeit seines Lebens begann.

Der Zug ruckelte, am Fenster zogen Bäume und Häuser vorbei. Jetzt hielt er. Menschen stiegen aus. In der Scheibe blieben ihre Gesichter unscharf. Es war Taras egal. Sie gehörten zu der Welt, die er gerade verließ.

Sein nächster Halt war der Krieg. Er war grün wie die Wälder seiner Heimat in diesem Frühling, grün wie die Uniform der Serben. Aber grün war auch seine Uniform in der Tasche zu seinen Füßen. Ein rotes Abzeichen darauf, mit goldenen Buchstaben. Er würde sie tragen, wenn er den Serben gegenüberlag. Am liebsten hätte er es laut gesagt: „Ich, Taras Galani, 26 Jahre alt, gehe in den Krieg. Ich kämpfe für mein Vaterland. Für Kosovo* – in der UÇK!“

Er konnte es kaum erwarten. Zu lange hatten sie gezögert. Er konnte die Sprüche nicht mehr hören, dieses „Ruhig, bleib ruhig, bleib zu Hause, Junge“. Nein, er blieb nicht zu Hause und sie würden sehen, wer dieser Junge war, dieser Taras.

Sein Vater hatte ihn als erster so genannt. Taras war nur ein Rufname, doch es war ein Name mit Charakter. Enver Hoxha, der frühere Präsident Albaniens, hatte ihn für sich als Decknamen gewählt. Er hatte ihn genutzt, als er im Zweiten Weltkrieg für die Freiheit der Albaner kämpfte. Und nun zog Taras in den Krieg und trug den gleichen Namen.

Taras' Herz klopfte so stark, seine Beine fanden keine Ruhe. Am liebsten hätte er gejubelt. Endlich! Wie viele Nächte hatten sie diskutiert, dass sie sich wehren müssten. Hunderte Male hatten sie vom Ruf der Heimat gesprochen. Doch es war nur Getöse gewesen, gehüllt in Rauchschwaden. Am nächsten Morgen ging jeder seiner Arbeit nach, auf der Baustelle, in der Baumschule, in der Küche eines Restaurants.

Nur Top und er waren anders. Sie waren Freunde, seit er denken konnte, und saßen gemeinsam in diesem Zug. Taras freute sich auf die Gewehrschüsse, auf das Rasseln der Panzer. Er schüttelte innerlich den Kopf, wenn er daran dachte, wie ungläubig alle reagiert hatten, als sie davon erfuhren. „Du? Das gibt es doch nicht. Als angehender Arzt?“, sagten sie. Es stimmte, er war Krankenpfleger und Medizinstudent. Sechs Jahre hatte er in der Notaufnahme in Bad Neuenahr gearbeitet. Doch das war vorbei, seit heute war es Vergangenheit.

Der Zug hielt. Taras wünschte, er würde schon weiterfahren. Sein Zeigefinger krümmte und streckte sich, eine Fingerübung fürs erste Gefecht. Bald würde er Soldat sein.

Vor mehr als zehn Jahren hatte Slobodan Milošević den Albanern den Krieg erklärt. Der Schlächter und Menschenverächter, Sohn eines Selbstmörders und einer Selbstmörderin. Milošević wollte den Albanern Haus und Hof nehmen, alles vernichten, was sie geschaffen hatten. Er wollte sie töten und die Welt ließ es zu. Wie konnte er, Taras, da zusehen?

Ja, er wollte Arzt werden, doch er würde keine Skrupel haben, Leben zu nehmen. Er würde kämpfen, um sein Volk zu retten, sein Land. Aj, Kosova, nena ime, klang das Volkslied in seinem Kopf, Oh, Kosovo, meine Mutter. Kosovo, Mutterland, Vaterland.

Deine Familie, das sind deine Wurzeln, das bist du. So wurden sie erzogen. Rot-schwarze Fahne, Doppeladler und Fürst Skanderbeg hoch zu Pferd. Jugoslawien war ihnen aufgezwungen worden. Es war nicht ihre Heimat.

Wer konnte das verstehen? Erst hatten die vielen Völker so bequem in ein Land gepasst und jetzt wollten sie nur noch voneinander weg. Niemand verstand es, der nicht um seine Eltern oder sein Stück Land gefürchtet hatte.

Auf einmal erschien ihm die Zeit in Deutschland kurz. Sechs Jahre, die so schnell vergangen waren: 1992 war er gemeinsam mit Top nach Deutschland gekommen, damals war er gerade zwanzig Jahre alt. Sein Vater hatte ihn fortgeschickt, damit er nicht zum Wehrdienst in der Jugoslawischen Volksarmee eingezogen wurde. Sie war ja in Wirklichkeit die Armee der Serben. Die Offiziere benutzten die Rekruten aus Kosovo als Kanonenfutter in den Kriegen gegen Kroaten und Bosnier.

So kam Taras ins Rheinland – erst Asylbewerber, dann Altenpfleger, später Krankenpfleger, OP-Pfleger, Gerichtsdolmetscher und zuletzt Medizinstudent an der Universität Gießen. Außerdem fester Freund einer Deutschen, beinahe Schwiegersohn einer angesehenen Familie aus dem Ahrtal.

Immer wieder klopften ihm Menschen auf die Schulter, weil er sich so gut entwickelt hatte. Hier im Zug fühlte er die vielen Stufen nicht mehr. Doch, das war ich, dachte er. Und ließ alles hinter sich. Er würde nach Tirana fliegen und eintreten in ein Jetzt, das kein Gestern duldete.

Er nahm sich eine Zigarette aus dem Päckchen auf der Ablage und lehnte sich zurück. Unter ihm ratterte das Fahrwerk. Gegenüber saß Top und schlief. Der Zug lief wieder in einen Bahnhof ein und Taras schloss die Augen.

Die Lautsprecheransage verschwamm zu einem Sprechgesang, die Ankündigung der nächsten Züge war nur noch ein Bellen. Diese Melodie hatte er schon einmal gehört. Damals war er gerade in Deutschland angekommen und fuhr im Zug zur Aufnahmestelle für Asylbewerber.

Jetzt kehrte er Deutschland den Rücken. Würde er es wiedersehen? Die Frage kam unerwartet. Taras schob sie weg. Sie passte nicht und auch nicht das Ziehen in seiner Brust. Gern hätte er ein Bier gehabt, um auf sich selbst zu trinken, auf Deutschland oder Kosovo. Er schlug die Arme unter. Als er die Augen schloss, zog ihn bleierne Müdigkeit in den Schlaf.

* Ich verwende Kosovo im Roman in der Form ohne Artikel, außer in der wörtlichen Rede, wo die Form mit Artikel gängiger ist.

I.

Künstliches Licht durchflutete den Raum. Die Wände leuchteten gelb. Taras schreckte hoch. Verdammte Laterne. Wieso gab es hier keine Vorhänge? Er war müde und hellwach zugleich. Sein Herz hämmerte. In wenigen Stunden würde er in Kosovo sein.

In der Stube roch es nach Bohnerwachs und Aktenstaub. Seine Augen wanderten durch den Raum. Sein Rucksack lehnte an der Wand wie ein Gnom. In einer Ecke stand ein Stuhl; auf dem lagen seine Bundeswehrhose, sein khaki-farbenes T-Shirt und das Unterhemd. Auf einem zweiten Feldbett schlief Top.

Als Taras aufstand, zeichnete sich sein Schatten an der Wand ab. Obwohl er groß und sportlich war, schien ihm seine Silhouette nicht männlich genug. Er hätte noch mehr trainieren müssen. Seit er die Haare kurz geschnitten hatte, war sein Schädel ungewohnt kantig. Ein fremder Schatten.

Tops Schnarchen ließ ihn zusammenfahren. Er betrachtete den Freund. Wie Pech und Schwefel hielten sie zusammen. Als Taras Top sagte, dass er sich der UÇK anschließen wolle, nickte Top und sagte: „Hast recht. Ist Zeit.“

Er ist viel stärker als ich und weiß es nicht, dachte Taras. Während er sich in Träumen verlor, dachte Top ans nächste Fußballspiel. Taras studierte in der Notaufnahme Medizinbücher, Top legte im Hinterzimmer einer Pizzeria Frauen flach.

Top war robust, ein richtiger Bauernjunge. Passend dazu hatte er einen kompakten, muskulösen Körper. Beim Fußball war er Verteidiger, einer, an dem kein Stürmer vorbeikam. Der Ball war seiner, deshalb hieß er auch Top – Albanisch für Ball.

Rasch zog Taras sich seine Hose an und ging nach unten.

Vorm Haus saß Edi und rauchte. Noch ein Schlafloser. „Mann, die haben hier alles verkommen lassen“, sagte er zu Taras, als der einen Plastikschemel nahm. Edi zeigte auf den großen Platz vor ihnen. Dort rosteten Schaufelbagger vor sich hin und die Garagentore standen offen.

„Du weißt doch, Albanien war isoliert. Es gab seit den Siebzigern kein Geld mehr für die Industrie“, antwortete Taras und Edi sah ihn zweifelnd an.

Die Fabrik war seit Jahren stillgelegt. Hier, hoch im Norden, hatte die Regierung keine Kontrolle übers Land. Genau der richtige Ort für die „Kosovo-Befreiungsarmee“, die „Ushtria Çlirimtare e Kosovës“, die viel beschworene UÇK.

Anfang der neunziger Jahre hatte eine Handvoll Männer sie zunächst als Guerillatruppe gegründet. Sie verübten Anschläge gegen serbische Polizeistationen und stifteten Unruhe, wo sie konnten.

Mit den Jahren war eine Armee entstanden. Die UÇK hatte Einheiten, Kompanien, Divisionen. Es gab alle Ränge bis zum General. Taras liebte das flammend rote Abzeichen mit den goldgelben Buchstaben U-Ç-K und dem schwarzen Doppeladler in der Mitte.

Das Aufmarschgebiet der Truppe war in Nordalbanien. Hier wurden junge Rekruten ausgebildet, hier waren die Waffenlager und die Sammelpunkte. Auch die Fabrik, wo Taras und Edi saßen, war so ein Ort. Schon am nächsten Tag sollte ein Zug der UÇK kommen und sie über die Grenze nach Kosovo bringen.

In Gedanken stellte Taras sich vor, in einem Trupp zu marschieren, eine Waffe über der Schulter. Würden sie singen? Es gab so viele patriotische Lieder.

„Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen“, sagte Edi mitten in Taras' Überlegungen.

„Nach Hause kommst du nicht“, antwortete der und Edi seufzte.

„Was, wenn die uns abknallen, bevor wir die Eltern gesehen haben?“, fragte Edi.

„Passiert nicht“, antwortete Taras.

Edi zog mit seinem rechten Fuß Streifen in den Kies. Das knirschte. „Hat es dir was ausgemacht, aus Bonn wegzugehen?“

Taras blickte ihn an. „Aus Ahrweiler, genau genommen: Bad Neuenahr-Ahrweiler.“

„Komischer Name.“

„Zwei Städtchen, die ineinander übergehen. In einem habe ich gearbeitet, im anderen gewohnt. Klingt groß, ist aber viel kleiner als Prishtina. Nein, hat mir nichts ausgemacht wegzugehen. Das andere war wichtiger.“

An einem einzigen Tag hatte er entschieden, dass der Moment gekommen war, sich der UÇK anzuschließen. Danach gab es kein Zurück. Taras spuckte aus. Er wollte nicht darüber sprechen. „Und ihr, Afrim und du? Wieso seid ihr losgefahren?“

Edi überlegte. „Wir wollten zur UÇK. Das wollen doch viele. Und ich hatte sowieso Sehnsucht nach zu Hause.“

Taras verkniff sich einen Kommentar. Sehnsucht nach zu Hause. Sie waren doch hier, weil sie es den Serben zeigen wollten.

Erst vor wenigen Tagen hatten Top und er Edi und Afrim kennengelernt und trotzdem bildeten sie ein richtiges Quartett.

Sie waren im gleichen Alter und hatten eine ähnliche Geschichte: Flüchtlinge vor Milošević und seinen Kriegen, die in Deutschland ein neues Zuhause, Arbeit und Freunde gefunden hatten. Das gaben sie auf, um für Kosovos Freiheit zu kämpfen.

Mit demselben Flugzeug waren sie von Amsterdam nach Tirana geflogen. Jeder wusste, dass sie zusammenhalten würden, was immer in den nächsten Monaten passieren würde.

In Ahrweiler kannte Taras viele Albaner, aber keiner stand ihm so nahe wie Edi und Afrim nach den wenigen Tagen. In Tirana hatten sie zusammen in einer geheimen Wohnung der UÇK darauf gewartet, in den Norden zu kommen.

Tagsüber hatten sie sich die Hauptstadt des Lands angesehen, das für sie seit jeher ein großes Vorbild war – ein Staat der Albaner. Und sie hatten darüber geschwiegen, dass Tirana eine Enttäuschung war. Die Häuser waren schäbig, die Menschen arm. Die Mafia beherrschte angeblich die Stadt. „Wie schön es hier ist“, hatte Afrim voll beißender Ironie gesagt und sie hatten stumm genickt. Abends sangen sie albanische Heldenlieder und traurige Balladen über das Leben in der Diaspora. So wurde es genannt, wenn jemand in Deutschland lebte.

Als der Fahrer gekommen war, um sie zu holen, waren sie froh gewesen. Der hatte nicht viel geredet, obwohl Taras ihm unzählige Fragen gestellt hatte: wo er sie hinbrachte, wie oft er den Weg Richtung Norden nahm, ob es viele waren, die aus Deutschland kamen. Der Fahrer schimpfte stattdessen ununterbrochen über die Schlaglöcher auf den Serpentinen.

Die Landstraße war wie Tirana, kaputt und gefährlich. Erst als die Berge auftauchten, kam Leben ins Gesicht des Fahrers. „Da müsst ihr rüber – zu Fuß“, sagte er. In seiner Stimme schwang Respekt.

„Ist wohl ein etwas längerer Fußmarsch“, sagte Afrim. „Gut, dass ich meine Doc Martens eingepackt habe.“ Der Fahrer blickte ihn verständnislos an.

Das war drei Tage her. Seitdem saßen sie in der Fabrik herum. Die Zeit wollte nicht vergehen. Aber irgendwann musste der Führer mit den anderen Rekruten ja kommen. Bestimmt, wenn wir überhaupt nicht mit ihm rechnen, dachte Taras.

„Vielleicht taucht unser Zug morgen früh auf. Lass uns schlafen gehen“, sagte er zu Edi. Der nickte und ging ins Haus.

Taras wollte ihm folgen, doch er blieb sitzen.

„Lass uns schlafen gehen.“ Diesen Satz hatte er erst vor wenigen Tagen zu Karla gesagt.

Jetzt sah er sie vor sich: einen halben Kopf kleiner als er, das dunkelblonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden, in verwaschenen Jeans und einem roten Fruit of the Loom-T-Shirt. Er sah, wie sie an ihrem letzten gemeinsamen Abend ihr Camel-Päckchen aus der Hosentasche fummelte und sich eine Zigarette ansteckte; die Hände fahrig, den Blick auf die Zigarette gerichtet, um seinem auszuweichen. Dann ein Augenaufschlag voller Vorwürfe.

Taras griff sich an die linke Schulter. Dorthin hatte sie „Ich liebe dich“ geflüstert, als er in den Zug gestiegen war, der ihn zum Flughafen Maastricht brachte. Er spürte ein Kribbeln auf seiner Haut. Ein „Ich liebe dich“ für einen Krieg.

Sie waren wie verheiratet gewesen: sie, die Studentin der Betriebswirtschaft, und er, der Medizinstudent. Ihre Eltern hatten ihn ins Herz geschlossen. Sie hatten den beiden eine Wohnung geschenkt. Karla und er verstanden sich gut, sie studierten, jobbten und hatten keine Sorgen. Und dann war er Soldat geworden.

Das hatte er nicht geplant. Adems Tod hatte ihn überwältigt. Auf Adem hatte er gezählt. Er war alles für ihn gewesen. Adem Jashari hatte Mut besessen wie kein anderer Albaner. Er war als einer der Ersten in den Untergrund gegangen und hatte mit der Waffe in der Hand gegen die Serben gekämpft. Hatte sie provoziert, ihnen empfindlichen Schaden zugefügt und sie spüren lassen: Dieses Land war kein sicherer Boden für sie, denn einer wie Adem war da, ein Held.

Doch Adem hatte nicht genug Unterstützer. Seine Brüder und noch einige Männer waren an seiner Seite gewesen. Aber viel zu wenige gegen die Übermacht aus Panzern und Einheiten, die Milošević ins Land schickte.

Die Serben hatten zurückgeschlagen. Im März hatten sie den Hof der Jasharis mit Panzern umzingelt. Drei Tage lang hatten sie unablässig Granaten auf die Häuser abgefeuert, bis sich darin nichts mehr regte. Sie töteten mehr als sechzig Menschen: Adem, seine Brüder, ihre Frauen, die Kinder, die Alten, die Nachbarn. Sie ließen keinen am Leben. Und Taras saß in Ahrweiler.

Er war immer so stolz auf Adem gewesen. Doch seine Rebellion konnte nicht gut gehen. Adem war zu viel und zu wenig zugleich.

An dem Tag, als Taras von seinem Tod erfuhr, hatte er Adems Porträt an der Wohnzimmerwand stundenlang angestarrt – gestern ein Heldenfoto, jetzt ein Totenbild.

Das Foto des untersetzten Manns in Armeeuniform mit dem braunen Ledermantel über den Schultern trieb ihm die Tränen in die Augen. Stolz und fest stand er in einem Feld, einen Munitionsriemen über der Brust, ein Gewehr in der Hand und blickte gerade in die Kamera.

Jetzt war er tot. Nie würde Taras ihm begegnen. Niemals neben ihm kämpfen. Die Serben hatten ein Massaker angerichtet. Mit ihrer Übermacht hatten sie die Familie Jashari zerquetscht. David gegen Goliath war ein Witz dagegen. Panzer gegen wehrlose Menschen, die eingepfercht in einem Haus saßen. Gab es noch mehr Hass und Verachtung?

Die Gedanken hatten in seinem Kopf gekreist, so schnell; er lief durchs Zimmer, sprach laut, fluchte, trat so lange gegen einen Stuhl, bis er zerbrach. Seine Hände zitterten, er schaffte es nicht, sich eine Zigarette anzuzünden. Dann wurde es in ihm still. Ruhe breitete sich in ihm aus und er legte einen Eid ab: Adem sollte nicht umsonst gefallen sein. Er, Taras, würde in die UÇK eintreten und zur Waffe greifen. Er würde Adems Kampf fortsetzen. Das fühlte sich richtig an. Taras bekam wieder Luft. Er atmete durch.

In dem Moment war Karla nach Hause gekommen. Er erinnerte sich, wie sie ihn hielt, als er erschöpft auf dem Sofa hing. Er erzählte ihr, dass Adem tot war. Sie wiegte ihn hin und her, streichelte über seinen Kopf und sagte: „Sch, sch, alles in Ordnung, alles okay.“ Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Nichts war in Ordnung, nur sie wusste es nicht.

Karla dachte, er würde sich fangen. Sie ahnte nicht, dass das Ende seiner Zeit in Deutschland angebrochen war. Nicht mal in ihren Armen zweifelte er daran.

Karlas Nähe hatte ihn nur noch mehr wünschen lassen, die Hände seiner Mutter auf seinen Schultern zu spüren. Ihren Blick auf sich ruhen zu fühlen und sie dann nicken zu sehen. Er sehnte sich so sehr danach, dass sie guthieß, was er tat.

Taras stutzte. Jetzt klang er schon wie Edi, der ständig von seinen Eltern sprach. Unsicher blickte er um sich. Er war allein. Nur ein streunender Hund lief über den Hof. Er nahm einen Kiesel und warf ihn dem Hund hinterher.

Es war das erste Mal, dass er so etwas machte, seit er Kosovo vor sechs Jahren verlassen hatte. Im Kurort Bad Neuenahr-Ahrweiler gab es keine streunenden Köter. Und wenn, käme sofort der Tierschutzverein.

Plötzlich wollte er nicht mehr vorm Haus sitzen. Taras stand auf, streckte sich und ging hinein. Viel Zeit zum Schlafen blieb nicht.

Dumpfe Schläge gegen die Tür weckten ihn. „Raus, ihr Faulpelze!“, rief Afrim, „es ist nach acht.“ Taras fuhr hoch. Keine soldatische Zeit. „Top, verdammt, wach auf!“ Er rüttelte den Freund an der Schulter. „Lass mich“, brummte der, „noch fünf Minuten …“ Taras stürzte ins Freie.

Vorm Haus saß Arianit, der Mittelsmann der UÇK, der mit seiner Familie in der Fabrik wohnte. Er rauchte eine mit Zeitungspapier gedrehte Zigarette. „Guten Morgen“, sagte Taras und hoffte, es klang frisch. Seine Glieder waren schwer.

Arianit hockte auf einem Plastikschemel, eine Mokkatasse in der Hand. Er nickte Taras kurz zu und plauderte weiter mit Afrim übers Wetter und die schlechte Wirtschaftslage. Sein Tirana-Akzent klang fremd, so hoch im Norden, wo schon der gleiche Dialekt wie in Kosovo gesprochen wurde.

Wie die Menschen in Tirana redete auch Onkel Ditmir, den Taras im Flüchtlingslager in Ingelheim kennengelernt hatte. Er stammte aus Albanien und war wegen der katastrophalen Wirtschaftslage im Land geflüchtet. Anders als bei Taras war Ditmirs Antrag auf Asyl abgelehnt worden. Sechs Jahre lang versteckte er sich vor den deutschen Behörden, arbeitete schwarz auf dem Bau und lebte illegal in heruntergekommenen Unterkünften.

Die Zeit zehrte an ihm. Die Arbeit war schwer. Ditmir war fast sechzig Jahre alt. Er wurde häufig krank, ständig plagten ihn Rückenschmerzen. Als Taras und Top beschlossen, sich der UÇK anzuschließen, kam Ditmir zum Abschiedsbesuch. „Junge, ich sollte mit euch nach Tirana fliegen“, sagte er.

„Mach das, Onkelchen. Hast du denn noch nicht genug Geld fürs Alter?“, fragte Taras. Ditmir schüttelte den Kopf. „Ich bekomme noch mehr als 4000 Mark von meinem letzten Chef, aber der zahlt nicht. Es ist zum Verrücktwerden.“

In Tirana hatten Taras und Top Ditmirs Frau besucht. In einer winzigen Wohnung empfing sie die beiden und bot ihnen ein Essen an, das so karg war, dass sie nur das Nötigste nahmen. Dieses erbärmliche Leben war es, wovon Ditmir träumte. Es war kein leichtes Los, als Albaner geboren zu sein.

Taras nahm Arianits Frau die Kaffeetasse ab. Die Sonne wärmte sein Gesicht. Er hoffte, Top würde bald erscheinen.

Auf einmal hörte er Stimmen. Da waren sie, die UÇK-Kämpfer. Sie steuerten auf das Gebäude zu und blickten erwartungsvoll zur Fabrik. Die Gruppe war groß, es waren mehr als hundert Mann. Vorneweg ging der Kommandant in UÇK-Uniform.

Betont lässig trat Taras ihm entgegen, doch bevor er etwas sagen konnte, begrüßte der Mann ihn: „Guten Tag. Wie geht es dir? Geht es dir gut? Deine Familie – alle gesund? Deine Eltern, Geschwister? Alle wohlauf?“ Er sprach Taras an, wie es die Regeln der Höflichkeit unter Albanern geboten: mit Fragen nach Angehörigen, Haus, Hof und Gesundheit.

Taras stutzte. Er hatte einen militärischen Gruß erwartet, abgehackt wie ein Funkspruch. Stattdessen kamen die unendlichen Floskeln, die ihm seit jeher auf die Nerven gingen. Um den Kommandanten nicht zu beleidigen, antwortete er im selben Ton und fügte hinzu: „Wir sind vier Mann, die sich euch anschließen wollen.“

„Ich weiß. Die Deutschen.“

Taras zögerte. Er hatte sich nicht verhört. „Richtig“, antwortete er gepresst und lief ins Haus. Top war endlich angezogen. „Es geht los“, rief er ihm zu, „pack zusammen!“

„Ich hatte noch keinen Kaffee“, murrte Top und fing an, die Schlafsäcke einzurollen.

Edi und Afrim standen unten. Afrim machte eine abwiegelnde Handbewegung: „Keine Panik. Die Kinder sind erst mal müde“, sagte er und deutete mit dem Kopf in Richtung der Ankömmlinge. Taras stockte der Atem, als er sah, mit wem er in den Krieg zog: Die meisten waren Jungen, die gerade die Mittelschule beendet hatten. Einige waren noch nicht volljährig.

Afrim schüttelte den Kopf: „Die sind so alt wie die Jungen, die in Deutschland bei Kriegsende eingezogen wurden. Die UÇK fängt mit einem Volkssturm an“, sagte er missbilligend.

Die Jungen saßen in kleinen Gruppen auf dem Boden. Einige hatten sich hingelegt. Arianits Töchter brachten ihnen Wasser. Etwas abseits lag eine Gruppe älterer Männer im Gras. Sie hatten vermutlich Wehrdienst in der Jugoslawischen Volksarmee geleistet. Taras atmete auf. „Schau mal, die da vorn. So schlimm ist es nicht“, sagte er zu Afrim.

Der Kommandant kam mit einer Zigarette im Mund zu ihnen. „Na, Jungs, seid ihr bereit?“, fragte er.

„Schon lange“, gab Afrim zurück, „wir warten seit einer Ewigkeit auf euch.“

„Du kannst es wohl nicht erwarten, in den Krieg zu kommen“, sagte der Kommandant. Es klang spöttisch.

„Wir sind aus Deutschland angereist und wollen keine Zeit verlieren“, kam Taras dem Freund zu Hilfe.

Der Kommandant spuckte aus. „Wie heißt ihr?“, fragte er.

Sie stellten sich vor. Der Kommandant sagte, er heiße Trim. Dann blickte er zu den jungen Rekruten hinüber. „Die sind ein bisschen kaputt. Der lange Marsch vom Trainingslager, der Regen …“, sagte er. „Später kriegt ihr eure Waffen. Heute Nacht geht es weiter.“

Am Nachmittag begann die Waffenausgabe in einem Nebengebäude der Fabrik. Die meisten Rekruten bekamen Kalaschnikows, doch die letzten in der Reihe erhielten Karabiner, mit denen die Partisanen im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten. Sie waren unhandlich und nicht zielgenau. Vor allem waren sie schwer, bald zehn Kilo. Eine Kalaschnikow brachte nur vier Kilo auf die Waage. Taras verhandelte lange mit dem Soldaten, der sie verteilte, und holte für sich und Top eine Kalaschnikow heraus.

Nach der Ausgabe begannen die Soldaten, die Waffen zu reinigen. Als Taras seine Kalaschnikows putzte, trat Afrim zu ihm. „Ich habe ein uraltes Gewehr bekommen. Es wiegt so viel wie mein ganzer Werkzeugkasten zu Hause und der ist schwer“, sagte er. „Was meinst du: Ob eins der Kinder mir seine Kalaschnikow gibt?“

Die Freunde begannen zu überlegen, wie Afrim das Gewehr tauschen konnte. War es in Ordnung, einem Jungen dafür Geld anzubieten? „Wir sind in der gleichen Truppe – Kameraden“, sagte Edi. Taras stimmte ihm zu. Top argumentierte, dass jemand ein leichteres Gewehr nicht einfach hergeben würde. „Da musst du was drauflegen.“

Schließlich ging Afrim zu einem Jungen. „Würdest du das Gewehr mit mir tauschen? Ich gebe dir 200 Mark.“ Der Junge guckte ihn an. „200? Ich bin doch nicht blöd. Da musst du schon 500 springen lassen.“ Afrim war sprachlos, aber nur für einen Moment. „Schieb dir dein Gewehr sonst wo hin“, sagte er und ließ ihn stehen.

Als alle Gewehre gereinigt waren, zeigte Trim den Mitgliedern des Trupps, wie sie mit den Waffen umgehen sollten. Die militärische Grundausbildung dauerte eine halbe Stunde.

„Trim glaubt wohl, hier sind nur Schnellmerker unterwegs“, sagte Afrim. „Sein blöder Kriegsname ist so großkotzig wie er.“

Taras nickte. Dass „Trim“ ein Tarnname war, war ihm vorher nicht eingefallen; aber „Mut“ zu heißen und Kommandant in der UÇK zu sein, wäre wohl ein großer Zufall.

Afrim sagte: „Kommt her, ich zeige euch, wie die Dinger funktionieren. Dann ist meine Scheißzeit bei der Jugoslawischen Volksarmee nicht umsonst gewesen.“

II.

Am frühen Abend brachen sie auf. Kurz zuvor schloss sich ihnen ein norwegischer Journalist an. Erik tauchte plötzlich an der Fabrik auf und ließ sich nicht davon überzeugen, dass es zu gefährlich sei, nur mit einem Fotoapparat bewaffnet mitzukommen. Er antwortete, er habe genug Erfahrung aus dem Bosnienkrieg.

Taras ging mit Edi vorn im Trupp. Top und Afrim liefen hinten in der Kolonne. Sie führten abwechselnd ein Pony, das sie von einem Bauern gekauft hatten. Neben diversen Gewehren trug es die Munition, einige Handgranaten und eine Panzerfaust.

Der Weg führte steil hinauf in die Berge. Top fluchte, als der Pfad immer schmaler wurde. Er bestand nur noch aus Geröllsteinen, auf denen das Pony keinen Tritt fassen konnte. Immer wieder führte der Pfad über kleine Kämme, an deren Seiten das Gelände jäh abfiel. Auch für die Soldaten war es nicht leicht, das Gleichgewicht zu halten. Wegen der vielen Steine mussten sie im Zickzack laufen. Top zerrte das Pony vorwärts.

Nach mehreren Stunden erreichte der Trupp eine Bergkuppe. Der Kommandant machte ein Zeichen: „Keine Zigaretten, kein Licht und keine geladenen Waffen.“ Schweigend marschierten sie weiter.

Der Mond leuchtete in dieser Nacht besonders hell. Auch die Sterne schienen Licht zu werfen. So hoch oben im Gebirge gab es nur wenige Bäume, die Schutz boten. Unter großer Anspannung marschierten sie vorwärts.

Auf einmal breitete sich Unruhe in der Gruppe aus. Zuvor war kein Wort zu hören gewesen, nun herrschte ein Raunen und Flüstern, das von hinten nach vorn wanderte: „Die anderen sind weg! Wir sind getrennt!“

Der Kommandant hob die Hand. Alle blieben stehen, schwer atmend, froh über die Pause. Trim marschierte leise zählend den Trupp entlang nach hinten. Taras lief hinter ihm her, denn er sorgte sich um Top und Afrim. Nur 60 Mann, dann hatten sie das Ende erreicht.

„Verdammter Mist“, fluchte Trim. Er zeigte auf Taras und schüttelte den Kopf, er sollte stehenbleiben.

„Meine Freunde mit dem Pferd“, raunte Taras, nur eine Bewegung der Lippen. Trim ging weiter. Taras hörte, wie er leise „die Deutschen …“ murmelte. Mehrere Minuten schlichen sie geduckt weiter. Auf einmal war etwas Schwarzes zu sehen, das glänzte. Das war Metall. Ein Gewehrlauf!

„He! Wer seid ihr? Nicht schießen!“, sagte Trim auf Albanisch. Taras erschrak. Was, wenn das Serben waren? Ohne nachzudenken, entsicherte er seine Waffe und legte den Finger an den Abzug. Doch die vermeintlichen Feinde antworteten auf Albanisch.

„Wir sind es, Trim. Nicht schießen!“ Rasch nahm Taras die Waffe herunter. Sie hatten den verlorenen Teil des Trupps gefunden.

Das Pony war vom Weg abgekommen und einen Abhang heruntergerutscht. Die Männer hatten versucht es hochzuziehen. Jetzt luden sie die Sachen ab und schleppten sie hoch zum Weg. Das Tier jagten sie nach Hause.

Taras und Trim verteilten die Gewehre und Munitionskisten, Taras hängte sich zwei Waffen über, das meiste schleppte Top. Er trug bestimmt siebzig Kilo. Und der härteste Teil der Strecke lag noch vor ihnen. Der Pass war mehr als 1700 Meter hoch und sie waren bei nicht mal tausend Metern aufgebrochen.

Es war bitterkalt, sie kamen an die Schneegrenze. Die Soldaten froren und schwitzten zugleich. Irgendwann erreichten sie eine Kuppe und gratulierten sich schweigend, denn hier begann Kosovo. Der Kommandant machte Fingerzeichen, mucksmäuschenstill zu sein. Ab jetzt befanden sich die Kämpfer in großer Gefahr. Die Serben wussten um die nächtlichen Truppenmärsche der UÇK und wollten sie stoppen.

Der Mond schickte weißes Licht zur Erde. Es war fast unheimlich, wie scharf sich die Konturen der Männer abzeichneten. Taras betrachtete seinen Schatten auf dem Boden, seinen scharfkantigen Begleiter in dieser Nacht.

An einer Hütte blieben die Soldaten stehen, um Atem zu holen. Top japste wie ein Hund, doch als Taras ihm anbot, Last zu übernehmen, schüttelte er den Kopf. Er fasste sich an den Bizeps, zeigte auf Taras und senkte grinsend den Daumen.

Flüsternd sagte der Kommandant, dass es noch zwei Stunden bis zum nächsten Stützpunkt seien. „Der Marsch wird leichter, denn es geht fast nur noch bergab. Geht vorsichtig. Bald beginnt der Wald, in dem wir mehr Schutz haben“, raunte er den Männern zu. Dann befahl er, um jeden Preis zusammenzubleiben und auf den Nebenmann zu achten. Er wirkte angespannt. Als er seine Zigarette austrat, war es das Signal zum Aufbruch. Taras blickte auf die Uhr. Kurz vor zwei.

Im Wald fiel die Anspannung von ihnen ab. Sie marschierten durch die Baumreihen. Hier waren sie geschützt, kein Serbe konnte sie zwischen den Stämmen ausmachen. Sie schlenderten, als seien sie auf einer Nachtwanderung. Plötzlich endete der Wald und vor ihnen lag eine Lichtung.

Sie hatte ungefähr die Größe eines Fußballfelds. An der gegenüberliegenden Seite begann erneut der Wald, davor lag ein breiter Weg für Forstfahrzeuge oder jetzt vermutlich Militärjeeps.

Die Ersten gingen los. Taras war unter ihnen. Ein paar Meter neben ihm marschierte der norwegische Journalist. Er ging mit forschem Schritt, sein Blick schien am Mond zu kleben. Taras blickte starr in den Wald gegenüber. Zwischen den Baumstämmen hockte die schwarze Nacht, während sich die Soldaten wie unter Flutlicht bewegten.

Er setzte einen Fuß vor den anderen und verfluchte das Knirschen seiner Sohlen. Mit den Augen suchte er den Waldrand ab, seine Schultern versteiften sich, er zögerte bei jedem Schritt. „Ruhig, Taras, bleib ruhig“, sagte er sich, ging weiter, atmete tief ein und aus. Er spürte ein Zittern im Nacken, als könne er kaum den Kopf halten. Wieso gab es nicht eine einzige Wolke, die diesen Mond verdunkelte?

In der Sekunde, als er seinen Blick vom Wald abwandte, zerriss ein Knall die Stille. Im nächsten Moment schoss eine Leuchtrakete in die Höhe und breitete ihre Strahlen über der Lichtung aus. Dann noch eine. Blitze sprühten aus den Höhlen zwischen den Bäumen im Wald gegenüber. Schüsse! Serben!

Taras stand mitten auf dem Feld. Er sank auf die Knie, als sei er getroffen, aber der Schreck warf ihn nieder. Wie gebannt starrte er in die Blitze, die auf ihn zuschossen. Afrim, der neben ihm war, stieß seinen Oberkörper zu Boden. „Verdammt, Tar, leg dich hin!“

Im Fallen sah er, wie der Norweger sich auf die Erde presste. Dann flog etwas durch die Luft und fiel nicht weit von dem Journalisten herunter. Eine Sekunde später eine Explosion. Dreckklumpen spritzten in die Luft und regneten zu Boden. Taras spürte Brocken auf sich fallen. Erik schrie und fluchte. Taras drückte sein Gesicht ins Gras und flehte, dass die nächste Handgranate nicht ihn träfe.

„Schieß endlich!“, rief Afrim ihm zu. Schießen, ja, schießen! Taras zerrte sein Gewehr unter sich hervor, entsicherte es und zielte auf den Wald. Drückte ab. Doch – nichts. Kein Schuss. In dem Gewehr passierte nichts. Er drückte noch einmal ab. Das Gleiche. „Was soll das?“, brüllte er. Was war los?

Er entsicherte noch einmal, legte an, zog den Abzug nach hinten, wieder nichts. Warum schoss das Ding nicht? Taras riss mit gesenktem Kopf an der Waffe herum. Sein Barett rutschte herunter, sein Gewehr blieb stumm.

Wie lächerlich. Er war in den Krieg gezogen und kaum ging es los, klemmte seine Waffe, seine so verdammt glänzend polierte Waffe. Verzweifelt hämmerte er seine Stirn gegen die Erde.

Wieder erhellten Leuchtkugeln die Lichtung und gesellten sich zu dem erbarmungslosen Mond, der aus ihnen Zielscheiben machte. Ununterbrochen fegten Schüsse über Taras hinweg. Er entsicherte das Gewehr noch einmal. Er fühlte eine Bewegung im Lauf. Jetzt würde er schießen, er lachte schallend und drückte ab.

„Komm, Junge, jetzt geben wir denen das Morgenlicht!“, schrie einer neben ihm. „Ja, jetzt geben wir es ihnen!“, rief Taras zurück und schoss und schoss. Das Gewehr hämmerte gegen seine Schulter, die Kugeln flogen heraus. Der Lärm war gigantisch. So lange hatte er davon geträumt. Endlich war der Moment da!

Während er schoss, sah er sich liegen und konnte es nicht glauben: Das war er, Taras, er führte Krieg, in seiner Heimat, gegen eine Übermacht von Serben. Plötzlich lief ihm ein Schauer über den Rücken. War das wirklich er, der schoss? Es passierte so plötzlich und ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Fast hätte das Gefecht ohne ihn stattgefunden. Dieses verfluchte Gewehr! Die Schüsse peitschten aus allen Richtungen an ihm vorbei und über ihn hinweg, unsichtbar, doch er spürte sie mit jeder Faser. Die Serben schossen mit großen Kalibern, dazu zündeten sie immer wieder Granaten.

Leuchtkugeln explodierten über Taras und ließen die Grashalme vor seinen Augen weiß aufblitzen. Sein Blick suchte Erik. Hinter sich hörte er Schreie. Er fürchtete, die Stimmen von Top oder Edi zu erkennen. Drückte ab. Die nächste Salve begleitete er mit Verwünschungen: „Haut ab, ihr Schweine, ihr verdammten Mörder, ihr Hurenböcke, Dreckskerle!“ Seine Stimme war so laut wie die Knallerei, sie überschlug sich, er kreischte.

Im Dunkeln versuchte er zu erkennen, wer ihm gegenüberlag. War das da vorn ein Kopf, der sich bewegte? Er nahm den Schatten ins Visier und zögerte. Er drückte ab. Doch kein Schuss löste sich. Sein Magazin war leer. Zu seinem Erstaunen fühlte er Erleichterung.

Dann rief er sich zur Ordnung und wollte nachladen. Da bemerkte er, dass die Schüsse um ihn herum nachließen. Jetzt nicht schießen. Sonst knallen sie dich ab, schoss ihm durch den Kopf. Es wurde still.

Das erste Gefecht seines Lebens dauerte nicht mal fünf Minuten. Taras kam es vor wie eine ganze Nacht. Sein Atem war wie abgeschnürt. Er hörte Männer rechts und links von sich rennen. Sie schrien: „Die kesseln uns ein!“ Er lag wie erstarrt. Schüsse flogen von hinten über ihn weg. Abschiedsgrüße. Dann rief der Kommandant: „Schluss!“

Sie blieben minutenlang in den Stellungen, den Kopf im Gras. Angst hielt sie unten. Trim brüllte: „Steht auf, sie sind weg!“ Langsam erhoben sich die Kämpfer. Taras blickte vorsichtig in alle Richtungen. Der Wald starrte dunkelgrün zurück. Die Bäume am Rand der Lichtung schienen sich auf die Männer zubewegt zu haben. War da noch ein Gewehrlauf, der zwischen den Stämmen hervorguckte?

Doch es blieb ruhig. Die Kameraden begannen umherzugehen, ziellos. Taras sah, wie sie sich bewegten, nein, einige blieben liegen. Der Norweger … er stürzte zu ihm.

Seine Kleidung war blutgetränkt. Doch er atmete. Als Taras ihn ansprach, verzog er den Mund. Seine Jeans und die Blousonjacke waren zerfetzt. Granatsplitter hatten seinen Leib gesprenkelt. Es war ein Wunder, dass er lebte.

Ohne zu überlegen, kniete Taras sich neben ihn, öffnete seine Erste-Hilfe-Tasche und zog sterile Tücher heraus, um die Wunden zu versorgen. Sein Blick streifte die deutsche Aufschrift auf der Plastikverpackung. Im selben Moment fand er seine Ruhe wieder.

Ja, so wie im Krankenhaus in Bad Neuenahr würde er arbeiten, auch hier, mitten im Wald, an der Grenze zwischen Kosovo und Albanien. Was er dort gelernt hatte, würde Ordnung in das Chaos auf der Lichtung bringen. Taras nahm ein Schmerzmittel und eine Spritze, schob Eriks Ärmel hoch und sagte: „Jetzt gibt es einen kleinen Piks.“

Nach Erik versorgte er die anderen Verletzten. Er stillte Blutungen und deckte Wunden ab, hetzte von einem zum nächsten. Einer hatte einen Steckschuss in der Schulter, ein anderer einen Schuss in der Brust, der nächste hatte Splitter im Bein. Nur gut, dass Taras in der Notaufnahme gearbeitet hatte. Die Wunden und das viele Blut machten ihm keine Angst. Es war nur Arbeit, Arbeit.

Auf einmal ein Gedanke an Top, er fühlte Druck in seinem Schädel. Noch bevor er losrennen konnte, um Top zu suchen, stand dieser neben ihm. Taras wollte etwas sagen. Da sah er Gezim am Boden liegen, einen Jungen, der auf dem Marsch hinter ihm gegangen war. In seiner Brust klaffte eine große Wunde. Sie färbte seine Jacke dunkelbraun.

„Gezim, hörst du mich? Sprich!“, forderte er ihn auf und der Junge blickte ihn mit flatternden Lidern an. „Ja, ich, ich …“, dann brach seine Stimme. Die Kugel hatte ihn überm Herzen getroffen. Taras riss seine Jacke auf und schlug ihn ins Gesicht, damit er nicht das Bewusstsein verlor. Er öffnete die Augen. „Schlag mich nicht. Ich bin da“, flüsterte Gezim. „Du darfst nicht aufhören, mit mir zu sprechen“, schrie Taras. Der Junge lächelte nur.

„Sag Mama, dass ich sie lieb habe“, flüsterte er so leise, dass Taras sein Ohr an seine Lippen legen musste, um ihn zu verstehen. Dann sackte Gezims Kopf weg. Taras hielt ihn fest im Arm und merkte, wie das Leben aus dem Jungen wich. Es ging so schnell, als könnte seine kleine Seele die Lichtung nicht rasch genug verlassen. Sie verschwand im Frühnebel dieses ersten Kriegstags.

Top stand neben Taras und stieß ihn an. „Tar, wir müssen weiter.“

Gezim war einer von drei Kameraden, die sie an diesem Morgen verloren. Dreißig waren verletzt. Die Hälfte der Männer hatte die Flucht zurück nach Albanien ergriffen. Trim beratschlagte mit den älteren Kämpfern, was zu tun sei. „Vielleicht ist es besser, wir gehen zurück und stellen den Trupp neu zusammen“, sagte Trim. Die anderen murrten.

Einer trat nach vorn. Er wurde „Zigeuner“ genannt, weil er als frech und hemmungslos galt. Er war es gewesen, der Taras aufgefordert hatte, den Serben das Morgenlicht zu bringen. Der Mann setzte ein Grinsen auf. „Ich weiß nicht, was ihr vorhabt. Ich schlafe heute noch mit meiner Frau“, sagte er. Die Gruppe murmelte beifällig und Trim gab nach. „Also gut“, sagte er, „helft den Verwundeten. Wir ziehen weiter.“

Die Toten ließen sie zurück. Sie würden die Leute aus dem nächsten Dorf bitten, sie zu holen. Jeder, der konnte, stützte einen Verwundeten. Bei den Schwerverletzten packten zwei Männer zu. Afrim und Taras nahmen den Norweger. Top und Edi schleppten die Waffen.

Zwei Stunden dauerte der Marsch ins Tal. Taras legte ihn wie in Trance zurück. Eriks Gewicht auf seinen Schultern spürte er nicht. Er stierte vor sich hin, setzte einen Fuß vor den anderen, sagte kein Wort. Endlich erreichten sie das Dorf. Taras wollte sich irgendwo hinlegen, doch da stand Trim vor ihm.

„Top, du musst wieder los. Mir hat einer gesagt, du bist Sanitäter. Einige sind weit zurück. Sie brauchen Hilfe.“ Taras brachte mit Mühe hervor: „Ich heiße Arian, Kommandant, sag einfach Taras, so nennen mich alle.“ Da nahmen ihn zwei Hirten unter die Arme und zogen ihn mit. Er war so müde, dass er im Laufen einschlief. Sie schütteten ihm Wasser über den Kopf.

Als sie die Verwundeten erreichten, war er wieder wach. Die Männer stöhnten vor Schmerz. Er begann beruhigend auf sie einzureden. „Ich bin da. Ich helfe euch.“ Sie blickten ihn dankbar an. Er band Beine oder Arme ab, die eventuell amputiert werden müssten, und legte Verbände an.

Das Material reichte nur für das Nötigste. Er musste improvisieren, fürchtete, dass die Wunden sich entzünden würden, denn so, wie er hier Erste Hilfe leistete, hätten die Ärzte in Bad Neuenahr das niemals zugelassen. „Herr Galani, zur Sterilität gehört auch ein ordentlich angelegter Verband“, hörte er die Stimme des Unfallchirurgen, der ihm erst seine Patienten zum Verbinden überließ, als Taras ein Jahr als Krankenpfleger in der Notaufnahme gearbeitet hatte. Heute Nacht wäre er nicht zufrieden gewesen, auch wenn er es war, der ihn am meisten gefördert hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass Taras sich in Gießen an der Uni bewarb und Medizin studierte.

Mühsam und unendlich langsam brachten sie die Männer ins Tal. Ein Soldat führte Taras anschließend zu einem Haus, wo er sich für ein paar Stunden ausruhen sollte. Doch er konnte nicht einschlafen.

Er wälzte sich hin und her und ging in Gedanken durch, wie er die Verwundeten versorgt, was er vergessen, wo er Fehler gemacht hatte. In der Notaufnahme hatte immer eine Schwester neben ihm gestanden. Die hatte „Taras“ gezischt, wenn er einen Fehler machte.

Dann wirbelte medizinisches Vokabular aus dem Anatomiekurs durch seine Gedanken, lateinische Bezeichnungen von Adern und Muskelsträngen. Auf einmal sah er Gezim. Er schrak hoch. War er wirklich in seinen Armen gestorben? Er war schon tot gewesen, als er zu ihm kam, oder?

Ich bin im Kosovo, ich bin im Kosovo, dachte er, um die Gedanken an Gezim zu verjagen. Endlich gelang es ihm einzuschlafen. Er träumte vom Mond, der kalt über ihnen gestanden hatte. Er verwandelte sich erst in einen Scheinwerfer, dann in eine OP-Leuchte, die langsam über die Soldaten glitt.

III.

Am nächsten Tag wurden die vier Freunde zu ihrer Kompanie geschickt. Sie war in Prelovc stationiert, einem Dorf etwa fünfzig Kilometer westlich der Hauptstadt Prishtina. Hier, im Herzen von Kosovo, lebten Familien, die über Generationen ihre Arbeitskraft und ihr Blut für die Sache der Albaner geopfert hatten. Drenica – das war auch Taras' Heimat.

Ein Gehöft diente der Kompanie als Unterkunft. Das Anwesen war groß: Es gab ein Wohnhaus, mehrere Ställe, einen Schuppen und ein Gerätehaus. Das Haupthaus war im Erdgeschoss aus grauen und braunen Natursteinen gemauert. Die Steine hatten jeder eine andere Form. Das verlieh der Fassade fast etwas Künstlerisches.

Taras dachte an die Neubausiedlungen im Rheintal. Dort wäre so ein Haus undenkbar. Die Klinker saßen in Deutschland perfekt aufeinander, die Reihen immer um einen halben Ziegel versetzt.

Während der Kommandant und die Offiziere im Haus schliefen, waren die Kämpfer in ehemaligen Ställen untergebracht, in denen keine Kühe und Schafe mehr standen. Immerhin waren die Wände gemauert. Ärmere Bauern zimmerten sie aus Holz.

Der Kompanieführer hieß Guri. Das bedeutete „Stein“. Sicherlich auch ein Kriegsname, überlegte Taras. Guri war ein untersetzter Kerl mit rasiertem Schädel und hellblauen Augen. Er war etwa Mitte dreißig, muskulös und ging leicht vorgebeugt. Seine Glatze und der stapfende Gang ließen ihn aggressiv wirken, doch Guri blieb immer sachlich. Selbst wenn er beim Appell über den Platz brüllte, klang es unaufgeregt. Guri lebte schon seit zwei Jahren im Untergrund. Bei den Kämpfern war er beliebt. Sie sagten, er sei gerecht.

In den Tagen nach ihrer Ankunft ließ Guri die Neulinge in Ruhe. Sie bekamen leichte Aufgaben und sollten sich sonst erst mal „umschauen“, wie Guri sich ausdrückte. Die anderen Soldaten verhielten sich zurückhaltend. Keiner von ihnen war aus dem Ausland zur UÇK gekommen.

„Wir sind Söldner in unserer eigenen Armee“, sagte Afrim, „nur ohne Sold.“ Edi stieß ihn in die Seite. „Seit wann machst du das hier als Job?“

Einmal fragte Guri sie nach dem Zusammenstoß mit den Serben. Taras erzählte ihm ausführlich, wie die UÇK-Neulinge begrüßt worden waren. „Unsere Männer sind auf dem Weg über die Grenze schon beschossen worden, aber ein Gefecht mit so vielen Toten und Verletzten hatten wir noch nicht“, sagte Guri und schüttelte den Kopf. „Wir brauchen so dringend Leute.“ Gedankenverloren ging er weg.

Später wurden die vier Deutschen, wie jeder sie nannte, auf dem Kasernengelände beschäftigt. Sie mussten fegen, aufräumen, manchmal auch Kartoffeln schälen. Obwohl Taras sich ständig fragte, wann es endlich losginge, beschwerte er sich nicht. Er hatte sich mit den anderen geeinigt, sich einzuordnen. Ohnehin wurden sie angeguckt, als kämen sie von einem anderen Stern.

„Zu komisch, dass wir hier Deutsche genannt werden“, sagte Afrim. „In Deutschland waren wir Kanaken und mussten uns anstrengen, nicht abgeschoben zu werden.“ Sie hatten alle jahrelang um eine Aufenthaltserlaubnis gekämpft. Taras bekam Asyl, weil sein Bruder im Gefängnis gesessen hatte und die Polizei seine Familie ständig schikanierte. Top musste heiraten, um sich der Abschiebung zu entziehen. Edi und Afrim lebten lange Zeit illegal im Land. Nach dem Beginn des Bosnienkriegs hatten sie sich als Bosnier registrieren lassen und sich von Duldung zu Duldung gehangelt.

„Mir macht es nichts, dass sie mich Deutscher nennen“, sagte Taras auf Deutsch, „die sind nur neidisch.“ Die anderen nickten. Die Deutschen waren das große Vorbild der Albaner.

Während des Zweiten Weltkriegs war Kosovo von den Deutschen besetzt worden und daran erinnerten sich die Albaner gern. Die Deutschen verhielten sich gegenüber der Bevölkerung besser als vorher die Serben. Die SS stellte sogar eine Division aus Kosovo-Albanern auf. Sie hieß Skanderbeg, wie der Nationalheld der Albaner.

Es gab albanische Freischärlertrupps, die gegen die kommunistischen Partisanen kämpften. Dieser Bürgerkrieg mitten im Zweiten Weltkrieg war außerhalb des Balkans kaum bekannt. Dabei rächte sich Tito nach seiner Machtübernahme in Jugoslawien an diesen Gegnern im eigenen Land schwer. Er ließ viele Albaner hinrichten oder warf sie ins Gefängnis.

Taras seufzte. So viele Jahrzehnte Kampf. Aber wenn sie sich jetzt wehrten, dann würden sie bis zum bitteren Ende gehen. Die anderen Republiken Jugoslawiens hatten es auch geschafft, sich aus der serbischen Umklammerung zu befreien. Die Albaner wussten alle, dass Hans-Dietrich Genscher dafür verantwortlich gewesen war, dass Kroatiens Unabhängigkeit so schnell anerkannt wurde. Er war zwar nicht mehr Außenminister, doch die Deutschen würden Kosovo nicht im Stich lassen.

Kein schlechter Spitzname also, „die Deutschen“. Die vier trugen dann auch nach Leibeskräften zu ihrem neuen Image bei, indem sie sich lautstark auf Deutsch unterhielten oder deutsche Wörter in ihre Unterhaltungen einstreuten, als fiele ihnen das albanische Wort nicht ein. Afrim sprach ziemlich gut Deutsch. Bei Top und Edi war es eher Kauderwelsch, aber das merkten die anderen nicht.

Rund sechzig Mann gehörten zur Kompanie, einer von dreien des 78. Bataillons. Die meisten Soldaten waren bestimmt fünf, sechs Jahre jünger als die Deutschen. Auf höchstens zwanzig schätzte Taras sie. Dennoch hatten sie schon viel erlebt. Wenn sie von den Gefechten im vergangenen Winter erzählten, beneidete er sie. Sie hatten in Drenica Terrain erkämpft, das die UÇK immer noch hielt. Die Serben trauten sich nicht, dieses Gebiet zu betreten.

Eines Nachts schickte Guri die vier in einem Spähtrupp los. Sie sollten erkunden, wo die Serben lagen. Sie marschierten kilometerweit durch Felder und Wiesen, ohne auf einen Serben zu treffen, und kehrten um, als die Sonne aufging. Als sie in ihre Schlafsäcke krochen, sagte Taras zu Top: „Das war nicht ernst gemeint. Die wollten sehen, ob wir was taugen.“ Top zog missbilligend die Augenbrauen hoch und antwortete: „Du kannst es wohl nicht erwarten, Taras Galani. Jetzt halt mal die Luft an. Das kommt schon.“