Ach wie gut, dass niemand weiß - Alexa Hennig von Lange - E-Book

Ach wie gut, dass niemand weiß E-Book

Alexa Hennig von Lange

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Beschreibung

Meine Liebe glaubt an dich!

Reibungslos, so soll das Leben von Sina, Tochter eines Richters, verlaufen. Da passt ein aalglatter Schwiegersohn in spe wie Jean perfekt – jedenfalls für Sinas Eltern. Doch dann verändert ein einziger Abend Sinas ganzes Leben: Als ihre Freundinnen von den Jungs einer Diebes-Gang angegriffen werden, ist es ausgerechnet einer der Täter, der Sina in letzter Minute rettet. Noah, so heißt der Junge, will Sina unbedingt wiedersehen und bricht sogar in die Villa ihrer Eltern ein, nur um mit ihr zu reden. Trotz allem, was zwischen ihnen steht, verlieben sich die beiden mit Haut und Haaren. Doch niemand darf von ihren heimlichen Treffen wissen – weder Sinas Vater noch Noahs Gang. Und so beginnt ein Spiel mit dem Feuer, in dem plötzlich nichts mehr ist, wie es scheint ...

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Seitenzahl: 449

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Alexa Hennig von Lange

cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

1. Auflage 2014

© 2014 cbt Verlag, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Geviert, Conny Hepting,

unter Verwendung von Motiven von

© Shutterstock/Aleshyn Andrei

SK · Herstellung: KW

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-14719-8

www.cbt-jugendbuch.de

Eins

1. Tag

»Los! Raus mit dir! Du hast lange genug depressiv rumgesessen.« Juno und Nana schleifen mich hinter sich her durch unseren Vorgarten und katapultieren mich in den Wagen, den Lil hinter den Büschen vor unserem Haus geparkt hat. »Du lenkst dich jetzt ab!«

Ich bin nicht sonderlich überzeugt von der Idee meiner drei besten Freundinnen, mich in dieser Sommernacht im Schlabberlook auf die Straße zu zerren, damit ich meinen Liebeskummer vergesse. Was soll das bringen? Ich werde nie über Jean hinwegkommen. Wir waren ein Jahr und drei Monate zusammen, und plötzlich hat er in den Sommerferien im Tenniscamp mit einem anderen Mädchen etwas angefangen und mir einen Tag vor Schulbeginn auf Facebook geschrieben, dass es mit uns vorbei ist.

»Dieser Feigling!«, schimpft Lil und startet den Motor. Sie hat sich – ohne überhaupt einen Führerschein zu besitzen – wieder mal den riesigen schwarzen Mercedes ihres Vaters genommen. Das macht sie andauernd. Diesmal zum Ausgleich, weil ihre Eltern schon wieder im Italien-Urlaub sind. Aber Lil macht sowieso, was sie will. Koste es, was es wolle. Hauptsache, sie hat ihren Spaß. Sie sagt: »Niemand wird von der Aktion etwas merken, solange wir keine Cola verschütten oder Softeis auf den Sitzen verteilen.«

Hallo!? Wir sind keine Assis. Auch wenn mein Outfit gerade total danach aussieht: Badelatschen, T-Shirt und Jogginghose. Vorgestern habe ich mir zum letzten Mal die Haare gewaschen. Meine Mutter würde Anfälle kriegen, wenn sie wüsste, dass ich so aus dem Haus gehe. Aber fürs ausgedehnte Beautyprogramm bin ich einfach zu niedergeschlagen. Es kostet mich schon Kraft, mir die Zähne zu putzen. Seit einer Woche kämpfe ich mich durchs Leben und fühle mich ohne Freund wie eine Ausgestoßene der Gesellschaft. Komplett minderwertig. Heute habe ich mir nicht mal mehr meine Wimpern getuscht. Eigentlich ein absolutes No-Go. Ich seufze: »Und wohin fahren wir?«

Nana rutscht neben mich. »Auf so eine Dachgartenparty von ein paar Jungs, die mit Nick Basketball spielen. Er meint, dass die cool sind.«

Wow! Klingt echt toll. Nick ist Nanas Freund. Er ist zwei Meter groß, will Profi-Basketballer werden und er ist nicht gerade der Hellste.

Als hätte Nana meine Gedanken gelesen, fügt sie eilig hinzu: »Außerdem fangen die meisten von ihnen im Herbst an zu studieren.«

Das ist natürlich ganz was anderes! Ich sage: »Könnt ihr da nicht ohne mich hingehen? Guck mal, wie ich aussehe!«

Mir ist definitiv nicht nach Party zumute. Ich will zurück in mein Bett, bei Kerzenschein traurige Songs hören und die Fotos von Jean und mir anstarren, die ich als riesige Erinnerungskollage rund um mein Bett an die Wände geklebt habe. Warum hat mir niemand gesagt, dass Liebeskummer so wehtut? Dann hätte ich mich erst gar nicht in ihn verliebt.

»Vergiss dein Outfit!« Juno dreht sich zu mir um, wobei ihre riesigen goldenen Ohrringe schlenkern. Sie sitzt vorne auf dem Beifahrersitz und tippt in Lichtgeschwindigkeit irgendwelche Nachrichten in ihr Smartphone. »Auf dieser Party werden nur Sportler sein, thematisch liegst du da mit deiner Jogginghose also genau richtig. Perfekt, um sich einen davon als neuen Freund zu angeln.«

»Ich will aber keinen neuen Freund!« Schon gar keinen Basketballer! Zwei Meter sind mir definitiv zu groß.

Bevor ich wieder aussteigen kann, rast Lil schon die Straße runter und dreht die Musik auf. »Was hast du gesagt? Wir können dich nicht hören!«

»Ich habe gesagt, ich will keinen neuen Freund.«

Juno dreht die Musik wieder leiser und wirft Nana einen genervten Blick über die Schulter zu. Von wegen, dass ich mich mit meinem Liebeskummer langsam mal wieder einkriegen sollte. Dann sieht sie mich durchdringend an. »Jetzt hör mal gut zu, Baby! Du wirst Jean schön den Beweis liefern, dass er dich verloren hat und nicht du ihn. Alles klar? Dieser Trottel muss kapieren, dass du das Wertvollste warst, was er je besessen hat! Er ist der Verlierer – nicht du! Alles klar? Wenn du ihm das gezeigt hast, wird es dir gleich besser gehen.«

Juno muss es ja wissen, die tut alles, um sich ja nie zu verlieben, damit ihr Herz nie gebrochen werden kann.

Nana nickt. »Wir freuen uns schon darauf, wenn wir ihm morgen in der Schule sagen können, dass du bereits wieder einen neuen, unheimlich heißen Freund hast, der dich auf Händen trägt.«

»Wozu?« Ich starre meine Freundinnen an. Ich weiß natürlich, was das Ganze soll. Es geht ihnen nicht um mein Herz, das zertrümmert in meinem Brustkorb mit letzter Kraft ein müdes Pulsieren von sich gibt. Sie wollen Rache und einen Warnschuss an alle Jungs dieser Welt abgeben, ihnen ja nie wehzutun.

Wir fahren die hell erleuchtete Zufahrtsstraße runter und dann direkt zu Kentucky Fried Chicken auf den Parkplatz, wo sich um diese Uhrzeit sämtliche Leute in unserem Alter in den schicken Wagen ihrer Eltern versammeln. Meine drei besten Freundinnen wollen sich Hähnchenteile mit Kartoffelpüree kaufen und ihr Aussehen im Toilettenspiegel überprüfen. Das Bei-KFC-Vorbeifahren gehört seit jeher zum nächtlichen Ausgeh-ritual unseres Viertels. Keine Ahnung, warum. Vermutlich gilt das als echt wild. Juno steht besonders drauf, weil sie irgendwo gelesen hat, dass in Hühnchen ganz viel Proteine sind, die nicht dick machen, und es auf den meisten Partys nichts zu essen, dafür aber Unmengen zu trinken gibt. Um da nicht gleich komplett neben der Spur zu sein, ist es gut, ein bisschen was im Magen zu haben.

Ich knibbele an meinen lackierten Fingernägeln herum und stelle mir zum zehntausendsten Mal vor, wie Jean dieses Tenniscamp-Mädchen küsst und sich von ihr abgeschmackte Verlockungen ins Ohr flüstern lässt. Ich murmele: »Sollte ich jemals rausfinden, wie sie heißt und wo sie wohnt, werde ich ihr alle Haare einzeln ausreißen. Das ist komplett gewissenlos, einem anderen Mädchen den Freund auszuspannen …«

Nana stupst mich von der Seite an. »He, Babe! Jetzt werd nicht schon wieder depressiv. Vergiss sie einfach! Sie hat überhaupt nicht verdient, dass du ständig über sie nachdenkst. Oder hast du wirklich geglaubt, dass Jean und du zusammenbleiben und irgendwann heiraten würdet? Hallo! Dornröschen! Das Leben ist kein Märchen!«

Juno lässt ihren Sicherheitsgurt nach hinten schnalzen und wirft mir verschwörerische Blicke zu. »Vertrau uns. Es werden noch tausend heißere Jungs vorbeikommen, und du wirst froh sein, dass du dich nicht an den Erstbesten gekettet hast. Lenk dich mit einem von diesen durchtrainierten Basketballern ab, und übermorgen weißt du nicht mal mehr, wer Jean war!«

Lil parkt den Wagen mit Schwung auf dem letzten freien Platz, der etwas abseits im Dunklen liegt, wobei sie dem daneben stehenden Sportwagen fast den Seitenspiegel abfährt. »Es ist einfach komplett mittelalterlich, dass Jean eure Beziehung beendet hat und nicht du. Was glaubt der eigentlich, wer er ist? Sexiest Man Alive?! Wir lassen uns von ihm nicht den Glauben an die weibliche Macht nehmen.«

»Alles klar!« Ich lächele gequält.

Weibliche Macht! Was soll das denn bitte sein? Die Drei haben null Ahnung von echter Liebe. Die waren noch nie richtig verliebt. Juno verbietet sich jedes romantische Gefühl, schläft wahllos mit irgendwelchen Jungs und bricht ihnen anschließend das Herz. Lil wartet auf den einen, den sie heiraten will. Und Nana ist auch nur mit Nick zusammen, um nicht grundlos die Pille zu nehmen. Sie werden noch dahinterkommen, dass man einen geliebten Menschen nicht einfach so durch einen neuen ersetzen kann. Ein gebrochenes Herz bleibt für ewig gebrochen. Das weiß jeder, der so was schon mal durchgemacht hat.

Meine drei Freundinnen steigen aus. Ich bleibe sitzen.

Nana beugt sich in ihrem weitausgeschnittenen Tank-Top zu mir runter ins Wageninnere. Mit diesem Push-up-Mörder-Dekolleté hätte mich meine Mutter niemals vor die Tür gelassen. »Kommst du nicht mit rein, Sina?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich warte hier draußen auf euch.« Ich senke meinen Blick auf meine abgeblätterten Fingernägel. Das totale Symbol für mein zerstörtes Leben.

»Glaub aber nicht, dass ich dir eins von meinen Chickenteilen abgebe!« Nana schlägt die Wagentür zu.

»Ich habe sowieso keinen Hunger«, sage ich zum leeren Wageninneren.

Ich sehe meinen drei besten Freundinnen traurig nach. Sie laufen in ihren Leggings, Blusen und Ketten und allem, was sie sich sonst noch angezogen und umgehängt haben, auf den Seiteneingang des überfüllten KFC zu und lassen mich im Wagen sitzen. Bevor sie drinnen verschwinden, höre ich noch, wie Juno quer über den Platz schreit: »Und hau ja nicht ab, Sina! Wir finden dich überall!«

»Alles klar!« Schön, dass jetzt alle wissen, wie ich heiße!

Ich versinke auf dem Lederrücksitz und lasse meinen Blick durchs offene Fenster über den dunklen Parkplatz schweifen. Schließlich bleibt er an einem Jungen hängen, der direkt neben dem Kaugummiautomaten an seinem Motorrad lehnt. Er wirkt ganz und gar gelassen, als sei der Parkplatz der beste Ort, um den Abend dort zu verbringen. Sein ebenmäßiges Gesicht schimmert im milchigen Licht der Laterne. Er trägt ein weißes T-Shirt, sodass seine muskulösen Arme gut zur Geltung kommen. Aber da ist noch etwas anderes an ihm, was meine Aufmerksamkeit nicht mehr loslässt. Ich kann nicht sagen, was es ist. Vielleicht ahne ich zu diesem Zeitpunkt schon, was als Nächstes passieren wird. Vielleicht passiert es auch nur, weil ich ihn anstarre. Vielleicht passiert all das Unglaubliche, das von nun an passieren wird, nur, damit wir am Ende zu den beiden werden, die wir sein sollen.

Inzwischen sieht auch er mich an, als würden wir uns von irgendwoher kennen. Total magisch. Obwohl ich dafür definitiv nicht in der Stimmung bin, steige ich aus dem Auto aus. Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust dazu, denn ich hatte fest vor, mich da auf der Rückbank ausgiebig in meinen schmerzvollen Fantasien von Jean und dem Mädchen zu suhlen, bis meine Freundinnen zurückkommen. Es ist, als wäre ich bereits süchtig nach diesem Schmerz. Stattdessen trete ich jetzt ein Stück vom Wagen weg. Ich stehe da in meiner Jogginghose und den pinken Badelatschen. Meine langen, welligen Haare habe ich zu einem losen Zopf geflochten. Nicht gerade sexy.

Der Junge behält mich im Auge, wie ich langsam rüber zum Automaten schlendere, an dem ich mir normalerweise immer eine Kaugummikugel ziehe, um zu wissen, wie sich mein Leben entwickeln wird. Rot bedeutet: Ich werde Glück in der Liebe haben. Gelb bedeutet: Ich werde später weltberühmt sein. (Ich weiß, ein total peinlicher Babywunsch.) Weiß bedeutet: Ich werde megareich sein. Und eine blaue Kugel bedeutet: Ich werde Pech in der Liebe haben und einsam sterben.

Als ich vor einer Woche eine Kaugummikugel gezogen habe, war sie blau. Der totale Schock! Und einen Tag später hat sich Jean von mir getrennt. Hätte ich damals bloß keine Kugel gezogen! Dann wären wir vermutlich noch zusammen!

Ich stelle mich vor den Automaten und stecke ein Zwanzig-Cent-Stück in den Schlitz. Was soll mir jetzt noch passieren? Was Schlimmeres, als einsam zu sterben, gibt es nicht. Es kann also nur aufwärts gehen. Leider rutscht das Geldstück vorbei und kullert direkt in den Gully. Super! Bevor ich mich richtig aufregen kann, steht der Junge im weißen T-Shirt neben mir und sagt mit sanfter Stimme: »Warte, ich kauf dir eine.«

Er lächelt mich kaum merklich an, wirft zwanzig Cent ein und dreht langsam den Griff herum. Er hat unglaublich schöne Hände, wie ich dankbar feststelle. Im Automaten klackert es. Für einen Augenblick stehen wir reglos nebeneinander, ich konzentriere mich voll auf seine weißen Sneaker, dann fragt er: »Willst du nicht nachsehen, welche Farbe du hast?«

»Wieso?« Ich hebe meinen Kopf und starre ihn mit großen Augen an. Kennt er mein Spiel?

Er grinst. »Was ist? Rot bedeutet: Du wirst Glück in der Liebe haben. Und Weiß bedeutet: Du wirst reich sein. Oder nicht? Jedenfalls ist es bei mir so. Ich spiele das Kaugummispiel, seit ich zehn bin.«

Ich nicke und flüstere ein ersticktes »Ich auch!« Wie kann das sein? Spielt dieser Junge wirklich mein albernes Kaugummikugelspiel? Das ist unmöglich! Ich dachte, ich sei die Einzige weltweit.

»Und? Was wünschst du dir? Geld oder Liebe?«

Seine wunderschönen tiefdunkelgrünen Augen, die von dichten, gebogenen Wimpern umrandet sind, verschmelzen mit meinen. Vor Aufregung kriege ich keinen Ton heraus. Meine Zunge hat sich in meinem Mund verknotet, sodass ich ihn nur noch anstarren kann.

Da ich mich nicht rühre, öffnet er schließlich die silberne Automatenklappe, nimmt die Kugel und legt sie mir wie eine kostbare Perle in die offene Hand. »Hier. Sie gehört dir. Ich hoffe, es ist die richtige Farbe!«

Er verschließt meine Hand mit seiner Hand. Auf der Innenseite seines Unterarms zieht sich eine große Tätowierung vom Handgelenk bis hoch zur Armbeuge. Ein Messer, um das sich eine Schlange windet. Er kann nicht von hier sein. In dieser wohlbehüteten Gegend hat niemand ein Tattoo. Schon gar kein Messer, um das sich eine Schlange windet. So eins haben nur die knallharten Jungs aus dem Viertel jenseits des Kanals, mit denen Mädchen wie wir niemals auch nur reden würden.

Er lächelt. »Pass gut darauf auf.« Dann verschwindet er zu seinem Motorrad, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen. Was um Himmels willen war das denn bitte?

Ich öffne meine Hand und halte sie ins fahle Licht der Laterne. Die Kugel ist rot! Glück in der Liebe! Mein Herz wummert. Was hat das nun wieder zu bedeuten? Dass ich nicht einsam sterben werde! Ich sehe hinüber zu dem Jungen, der an seinem Motorrad lehnt und meinen Blick erwidert. Seltsam genug, dass er sich überhaupt hierhertraut.

Eigentlich will ich sofort in den Laden rennen, um meinen drei besten Freundinnen aufgeregt zu berichten, was hier draußen auf dem Parkplatz gerade abgegangen ist. Aber ich kann mich nicht rühren. Also sehe ich schnell in die andere Richtung, um mich von dem Jungen abzulenken. Ich will ihn vergessen. Das alles hat nichts zu bedeuten. Reiner Zufall. Ich bin in Trauer. Mein Herz ist gebrochen. Ich will nichts von ihm. Er kommt aus einer Gegend, in der Messerstechereien, Drogendeals, bissige Hunde mit Maulkörben und illegale Boxkämpfe an der Tagesordnung sind. Das weiß ich von meinem Vater. Der ist Oberstaatsanwalt. Niemals würde ich da freiwillig einen Fuß reinsetzen.

Aber etwas sagt mir, dass zwischen diesem Jungen und mir etwas begonnen hat und alles Weitere zwischen uns bereits vorbestimmt ist. Das klingt jetzt vermutlich komplett abgedreht, aber diejenigen, die in ihrem Leben schon mal eine derartig verrückte Situation erlebt haben, werden bestätigen, dass man sich in so einem Moment gar nicht mehr anstrengt, zu entkommen. Weil es zwecklos ist. Es ist in etwa so, als würde man versuchen, in zehntausend Meter Höhe aus einem brennenden Flugzeug zu entfliehen. Das kannst du total vergessen. Du musst dich hingeben und darauf vertrauen, dass irgendeine unbekannte Macht dich retten wird oder du es zumindest schaffst, cool zu bleiben, bis alles vorbei ist. Mehr kannst du nicht tun. Ab jetzt hat das Schicksal die Steuerung übernommen.

Meine drei besten Freundinnen kommen wieder aus dem KFC raus, umhüllt von einer Duftwolke aus drei verschiedenen superteuren Parfüms. Aber ohne Chickenteile. Sie reden wild durcheinander. Über ihre Sommerbräune, Sonnenbrand, Sonnenstich und endlose Warteschlangen bei KFC.

Lil klimpert mit dem Autoschlüssel und setzt sich wieder hinters Lenkrad. »Steig ein, Baby! Wir holen uns woanders was zu essen. Bis du da drinnen an der Reihe bist, ist die Nacht vorbei.«

Doch bevor ich mich zu den anderen in den Wagen setzen kann, reißt mich jemand ohne Vorwarnung rückwärts ins Gebüsch. Ich stürze. Spitze Äste kratzen über meine nackten Arme, mein Gesicht. Ehe ich überhaupt verstehe, was los ist, werde ich immer tiefer ins Gebüsch gezerrt. Wie das wehrlose Opfer eines Raubtieres. Meine Haare bleiben in den Zweigen hängen. Ein scharfkantiger Stein bohrt sich von unten in meinen Oberschenkel. Was zur Hölle soll das? Ich schlage um mich und versuche, mich mit aller Macht zu befreien. »Lass mich los!«

Doch der Klammergriff um meinen Oberkörper wird immer enger. Draußen auf dem Parkplatz höre ich meine Freundinnen kreischen. Um mich herum ist nichts als ein Netz von Zweigen. Dahinter Dunkelheit, durchwoben vom gelblichen Licht der Parkplatzlaterne. Ich will schreien. Aber ich kriege kaum Luft. Von hinten wird mir der Mund zugehalten und meine Handgelenke werden fest umklammert. Ich strampele, bis die Beine meiner Jogginghose bis zu den Knien hochgerutscht sind und meine Waden von den Ästen zerkratzt sind. Es bringt nichts. Der, der mich von hinten festhält, ist viel stärker als ich.

Er flüstert in mein Ohr: »Beruhig dich! Es ist alles gut!«

Mein Herz hämmert. Es ist alles gut? Hier ist überhaupt nichts gut! Ich habe unfassbare Angst! Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat! Ich weiß nicht, wer mir den Mund zuhält! Ich weiß nicht, was dieser Jemand mit mir vorhat! Ich höre meine Freundinnen schreien. Ich versuche, in diese fremde Hand zu beißen, um mich zu schlagen und zu treten. Doch gegen diesen Jemand bin ich machtlos. Ich höre Lil ein letztes Mal aufschreien. Dann quietschen Autoreifen, das aufheulende Motorengeräusch entfernt sich und mit einem Schlag ist es totenstill. Bis auf das gleichmäßige Atmen an meinem Ohr. »Beruhig dich! Und hör endlich auf, so herumzustrampeln!«, wispert die Stimme heiser.

Schließlich gehorche ich, weil ich gegen die Umklammerung sowieso nicht ankomme.

Als ich ganz ruhig bin, flüstert die Stimme: »Ich verschwinde jetzt. Wenn dich jemand fragt: Du hast mich nie gesehen. Kann ich dir vertrauen?«

Jetzt schaffe ich es, zumindest zu nicken. Er kann mir vertrauen. Ich tue alles, was er will, solange er nur verschwindet. Außerdem habe ich ihn sowieso nicht gesehen. Oder doch?

Wie durch Watte höre ich aufgeregte Stimmen auf dem Parkplatz. Irgendwelche Leute scheinen mit ihren Handys die Polizei und einen Krankenwagen zu rufen. Was genau los ist, kann ich nicht verstehen. Sind wir überfallen worden? Von wem und warum? Sind meine Freundinnen verletzt? Sind sie in Sicherheit? Was wird mit mir passieren? In meinem Kopf rauscht es. Ich glaube nicht ans Übersinnliche. Ich glaube nur an das, was ich spüre. Obwohl ich denjenigen, der mir da von hinten noch immer den Mund zuhält und meine Handgelenke umklammert, nicht habe kommen sehen, weiß ich plötzlich ohne jeden Zweifel, wer es ist. Es ist der Junge, der mir erst vor ein paar Minuten die rote Kaugummikugel aus dem Automaten gezogen hat. Was soll das alles? Wusste er, was gleich passieren würde? War das geplant?

Er murmelt in meine Haare: »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.« Dann lässt er mich endlich los und verschwindet beinahe lautlos durchs Gebüsch, Richtung Zufahrtstraße.

Ich sollte es vermutlich nicht tun, aber ich drehe mich trotzdem um und sehe in der Dunkelheit die Reflektoren an seinen weißen Sneakern aufleuchten. Er war es tatsächlich! Warum hat er das getan? Um mich zu beschützen? Warum verschwindet er einfach und lässt mich allein zurück? Hat er mit dem zu tun, was da draußen auf dem Parkplatz passiert ist? Ist er gut oder ist er böse?

Noch immer nehme ich seinen Geruch wahr. Noch immer höre ich seine sanfte Stimme. Ich spüre seinen kräftigen Griff um meine Handgelenke. Mit einer Hand muss er beide gleichzeitig umklammert haben. Ich fühle seine Brust an meinem Rücken, seinen Atem. Ich versuche, mich zwischen den Zweigen aufzusetzen, und bemerke erst jetzt wieder die Kaugummikugel in meiner Hand. Soll ich sie in das Gewirr aus Ästen fallen lassen oder behalten? Obwohl ich auf all diese Fragen keine Antworten finde, weiß ich in diesem Augenblick, dass ich in eine neue Welt eingetreten bin, von der ich bisher nicht einmal geahnt habe, dass es sie für mich gibt.

Zwei

2. Tag

»Hey! Wie geht es dir?«

Total übernächtigt zwänge ich mich am nächsten Morgen durch den Türspalt zu Lil ins Krankenzimmer. Meine Eltern haben mich direkt vor dem Krankenhaus abgesetzt und chauffieren jetzt meine zwei Jahre jüngere Schwester Franziska zum Reiten. In einer halben Stunde holen sie mich wieder ab.

Wenn es nach meiner Mutter geht, setze ich ohne sie nie wieder einen Schritt vor die Tür. Endlich hat sich für sie bewahrheitet, was sie schon ihr Leben lang befürchtet hat: dass wir in einer bösen, bösen Welt leben. Trotz der Katastrophe von letzter Nacht bin ich noch nicht bereit, die Welt so dramatisch negativ zu sehen. Auch wenn Juno und Nana von diesen Kerlen im Auto mitgenommen und erst eine Stunde später auf einer Landstraße wieder freigelassen wurden. Bestimmt ist es komplett dumm, zu glauben, dass mich der Junge, der mich ins Gebüsch gezerrt hat, beschützen wollte. Wahrscheinlich war er Teil des ganzen Überfalls. Aus welchem Grund sollte er sonst so schnell verschwunden sein? Obwohl ich ihn verachten und verdammen sollte, hofft etwas in mir darauf, ihn wiederzusehen.

»Hey, Babe.« Lil hebt müde die Hand, in der eine Kanüle steckt, die über einen dünnen Plastikschlauch mit einem Infusionsbeutel verbunden ist. »Danke, dass du gekommen bist.«

Sie sieht furchtbar aus. Gerade erinnert nichts mehr an die wilde, haltlose Lil. Bei dem Angriff hat sie ziemlich was abbekommen. Ihre eine Gesichtshälfte ist dunkellila und geschwollen. Einer der drei Typen, die den Mercedes ihres Vaters geklaut und unsere beiden Freundinnen mitgenommen haben, hat sie zu Boden gestoßen. Dabei ist sie mit dem Kopf aufgeschlagen.

Ich lächele möglichst unbekümmert. »Wie geht es dir, Baby?«

Sie versucht, ebenfalls zu lächeln. »Frag nicht. Und tu nicht so, als sähe ich nicht aus, als hätte ich eine halbe Pizza im Gesicht.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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