Acht Stockwerke über der Wirklichkeit - Peter Haff - E-Book

Acht Stockwerke über der Wirklichkeit E-Book

Peter Haff

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Beschreibung

Eine Reise zu den verborgenen Quellen des Glücks

Luxus, Sonne, Wind und Wellen: Es ist ein schwimmender Palast, auf dem sich ein Maler auf eine mehrmonatige Kreuzfahrt über die Meere der Welt begibt. Von dieser Kreuzfahrt um den halben Globus bringt er einen riesigen Schatz mit: eine Sammlung von Geschichten, die Menschen zeigen, die ihn durch kleine Gesten, durch ein ungewöhnliches Schicksal oder ein tiefes Wissen um die Geheimnisse des Lebens bis in sein Innerstes berührt haben. Von den Begegnungen mit diesen Menschen erzählt er – und davon, wie diese Kreuzfahrt für ihn zur Reise zu den verborgenen Quellen des Glücks wurde.

Luxus, Sonne, Wind und Wellen: eines Tages erhält ein bekannter Maler die Gelegenheit, auf einem wahren Traumschiff eine Kreuzfahrt über die Meere der Welt zu unternehmen. Er reist in dieser Zeit um den halben Globus, sieht prächtige Landschaften, bedeutende Bauwerke und Monumente großer Kulturen.

Doch was bleibt von den vielen kostbaren Eindrücken im Gedächtnis haften, wenn die Reise vorbei ist? Und welche Augenblicke haben den Reisenden beschenkt und reicher gemacht, als er losgefahren ist?

Monate nach seiner Kreuzfahrt betrachtet der Maler mit seiner Frau die zahllosen Skizzen, die er unterwegs gezeichnet hat, und fast schon versunkene Erinnerungen tauchen wieder auf. Da ist etwa das Porträt einer jungen Frau, die sich mitten in der Hagia Sophia in Istanbul auf den Boden sinken lässt und dort in den Anblick einer Kachel versinkt, in die eine wunderschöne Libelle eingelassen ist. Oder das Bild eines Jungen, der sich selig lächelnd mit ein paar Dollarscheinen, die er von reichen Touristen aus dem Westen ergaunert hat, Luft zufächelt.

Peter Haff, der selbst schon zahlreiche Kreuzfahrten rund um die Welt unternommen hat, hat mit diesem Buch einen unvergeßlichen Reiseroman geschrieben - einen ebenso atmosphärischen wie lebensklugen Roman voller Bilder des Glücks, des Stolzes und der Weisheit, der uns aus unserem alltäglichen Leben herausführt und uns bekannt macht mit einem Lebensglück, das aus tieferen Schichten unseres Seins herrührt und das uns lehrt, mit wachem Blick für das Schöne durch die Welt zu gehen.

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Seitenzahl: 218

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Inhaltsverzeichnis
Was bleibt?
»Die Globe Galery«
Frau, eine Libelle betrachtend
Copyright
Ich übertreibe? Doch nur die Übertreibung gibt uns, wenn auch verzerrt, das Bild wieder, in dem wir das Original erkennen.
Giuseppe Pontiggia, »Nati due volte«
Ich stecke all die Dinge, die ich sehe, in meine Tasche und gehe davon.
Diese Tasche, die meine Augen, meine Erinnerung und ich selbst ist …
Aus dem Bord-Journal der M/S Kap Hoorn
Was bleibt?
Neunundzwanzigtausend Meilen Wasser, fünf Meere, drei Kontinente, siebenundzwanzig Länder, neunzehn Inseln, fremde Gesichter - wie viele waren es? Wo beginnt die Erinnerung? Und wann?
Welche Schauplätze, fragst du, sind in meinem Kopf lebendig geblieben?
Also, hör zu! Zu Beginn will ich dir die Geschichte von Martha und Emil erzählen -
Wenn der freudige Lärm der Reisenden das Ehepaar Kandinsky hilflos zornig werden ließ, nahmen Martha und Emil einander bei den Händen, sie stiegen zum Riviera-Deck der KAP HOORN hinauf, um sich bei einem Gläschen Champagner am lautlosen Flug der Möwen zu erfreuen. Hier oben, acht Stockwerke über der Wirklichkeit, triumphierten sie schweigend über Enttäuschung, Gedränge und Streß. Zwölf Wochen lang saßen sie in freundlicher Ablehnung der übrigen Gäste allein an ihrem Tisch, immer demselben, backbord, im Windschatten des Podiums für die Kapelle. Um zu verhindern, daß jemand ihre Zweisamkeit störte, brachten Martha und Emil ihre Teddy-Bären mit zum Frühstück, Lunch und Dinner; die stummen Plüschfreunde hockten auf Deckstühlen und glotzten die am Verstand der Kandinskys zweifelnden Mitreisenden aus ihren Glasaugen an.
Natürlich gab es Gerüchte, welchen Broterwerb das seltsame Paar wohl ausgeübt haben mochte. Die Frau, die in jedem Hafen, den das Schiff anlief, einen Schal in entsprechenden Landesfarben um die Schultern schlang, als würde sie frieren - kam von ihr das Vermögen? Die Spekulationen reichten bei Emil Kandinsky vom Spezialisten für die Sanierung von Altbauten bis zum Zirkusdirektor oder Facharzt für Palliativ-Medizin. Und doch wußte keiner, wer die Kandinskys eigentlich waren.
Sie lasen viel und redeten wenig. Sie lasen über all die Orte, wo das Schiff im Hafen oder auf der Reede lag, nahmen jedoch nie an einem der organisierten Ausflüge teil. Sie betrachteten das Gewimmel an Land durchs Fernglas und wandten sich rasch wieder dem zu, was auf ihrem Tisch lag, Fremdenführer, Kochbücher, Landkarten, Romane. Martha und Emil Kandinsky waren die einzigen, die in Tunesien Flauberts Roman »Salammbô« gelesen hatten und wußten, wo der »Thopet« lag, Karthagos allerheiligster Ort. Sie besaßen jedes Buch doppelt, lasen zur gleichen Zeit die gleiche Seite und tauschten ihre Eindrücke aus. Ich habe auf der ganzen Reise niemanden getroffen, der so fundiert und gescheit über alle Stationen unserer Kreuzfahrt Bescheid wußte, wie diese beiden ungewöhnlichen Menschen.
Während Martha mir an einem wolkenverhangenen Tag vor der afrikanischen Küste einmal erzählte, sie und ihr Mann würden jedes Jahr drei Monate an Bord der KAP HOORN verbringen - das letzte Hemd hat keine Taschen, sagte sie, Kinder haben wir keine -, liebkoste ihre Hand den Kopf eines Teddys. Die andere Hand blätterte in einem Ordner mit Zeitungsausschnitten über die Ilha de Moçambique. Ich weiß nicht recht, hatte sie nach einer Pause kopfschüttelnd hinzugefügt, was eigentlich zuhause sein sollte, suchen die Menschen in der Fremde: Ruhe, Entspannung, ein bißchen Freiheit. Und was finden sie? Pah, schauen Sie sich hier nur mal um!
Ich kann mich gut an die gemischten Gefühle erinnern, die das Ehepaar Kandinsky in mir geweckt hatte, bevor ich, es war gegen Ende der Reise, Einzelheiten über die dunkle Seite ihres Lebens erfuhr: Ein Gefühl meiner eigenen Unzulänglichkeit, eine gewisse Erheiterung über die Gelegenheit, anders zu leben, die sie zu bieten schienen. Sie konnten einen aus der Fassung bringen, kein Zweifel. Gäbe es für lebenskluge Spinner Noten, Martha und Emil wären gut weggekommen.
Sieht man von Ausnahmefällen wie dem der Kandinskys ab, lassen sich, grob gesagt, zwei Kategorien von Schiffsreisenden unterscheiden: jene, die es kaum erwarten können, sich auf ihren Landgängen enttäuschen zu lassen; sie rechnen stets mit dem Schlimmsten und können nur angenehm überrascht werden. Und andererseits jene, die immer enttäuscht sind; sie haben Bilder aus Hochglanzprospekten vor Augen, Palmenstrände, Sultanspaläste, die farbenstrotzenden afrikanischen Märkte. Sie sind eins mit dem, was diese Bilder ihnen erzählen: eine Erlebniswelt als keusche Vermählung von Wohnzimmer und Fremde. Kaum stehen sie aber der Realität gegenüber, entdecken sie an jeder Ecke den Feind einer hingebungsvollen Erfahrung: sich selbst. Diesen Körper, den sie auf die Reise mitgebracht haben. Der leidet. Die Hitze, der Sonnenbrand, die Fliegen, der Dreck.
Bei aller Verschiedenheit, ein Wunsch verband die Reisenden: sich auf der KAP HOORN »zu Hause« zu fühlen. Das Management trug diesem Anliegen Rechnung, indem es in jedem Hafen über der Gangway ein Spruchband entrollen ließ: »Wieder zu Haus!« Das Schiff und die Handys waren der Schoß des »Wirklichen«, von dem aus die Welt erforscht und erreicht werden konnte. Das Fremde rundherum existierte zwar, aber es war bedrohlich, weil es »unwirklich« war.
Mein Studionachbar, ein Schrottgroßhändler aus Frankfurt, hatte sich zehn Jahre lang darauf gefreut, an Bord eines Kreuzfahrt-Schiffes Afrika zu umrunden. Nach dem Verkauf seines Geschäfts bezogen Eddi Zucker und seine Frau Maria für zwei Monate die Suite 1106; sie erlebten acht Gala-Diners, sieben Stürme mit Windstärke neun, einundzwanzig organisierte Landausflüge, fünf Frühschoppen mit Blasmusik und eine Darmgrippe mit neununddreißig Grad Fieber. Am letzten Reisetag gestand Eddi mir seine Enttäuschung.
Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, sagte er und klopfte mit einer müden Geste seine Pfeife aus, aber ich habe mir das alles ganz anders vorgestellt.
Wie denn?
Na ja, anders eben, vielleicht wie ein Wunder …
Dann erzählte er mir von Sándor Márais Roman »Wandlungen einer Ehe«, in dem vom sehnlichsten Wunsch eines Mannes die Rede ist, eine Botanisiertrommel zu besitzen. Als er alt ist, erfüllen die Götter seinen Wunsch. Er blickt auf das wunderbare Geschenk und stellt enttäuscht fest, daß das Grün das falsche ist.
Sehen Sie, sagte Eddi, genauso geht es mir jetzt.
Zwei Geschichten, aus denen mit brauner Tusche und Pigmenten gemalte Bilder geworden sind.
Eine Frauenhand. Die molligen Finger kraulen das Plüschfell eines Teddybären. Im Hintergrund leicht bewegtes Meer, Seeschwalben, die im Abenddunst verblauende Küste Moçambiques. Illusion von Salzgeruch und Jod.
Zwei Männerhände. Die eine hält eine abgewetzte Dunhill-Pfeife, die Finger der anderen sind gespreizt und leicht gekrümmt, sie scheinen einen Gegenstand in Empfang nehmen zu wollen. Über der Reling, durch einen Schleier aus Pfeifenrauch gesehen, die Konturen von Kriegsschiffen im Hafen von Odessa.
Beide Bilder lehnen nebeneinander an einer kleinen Staffelei auf meinem Maltisch. Sie gehören zur Auswahl von Skizzen, die während der Seereise entstanden sind. Von den siebenundfünfzig Blättern sind nicht alle das geworden, was ich als »bleibendes Bild« bezeichne; es gibt etwa zehn Blätter, auf denen Menschen und Dinge mich anblicken und nicht ich sie. Es sind Szenen, von denen ich beim Zeichnen den Eindruck hatte, daß sie nur darauf warteten, durch den Akt des Gesehenwerdens gerettet zu werden. Sie liegen auf dem Papier wie in einem Gedächtnis.
Das Bildermachen ist ein seltsamer Vorgang: Malerei, wenn sie es ehrlich meint, bedeutet nicht nur, Gesehenes und Empfundenes festzuhalten und wiederzugeben, sondern auch zu empfangen. Es ist, als würde etwas geworfen und aufgefangen. Die Begegnung dieser beiden Energien schafft einen Dialog: Voraussetzung für ein »bleibendes« Bild. Voraussetzung für eine Geschichte, die auch nach Jahren ihren Platz in der Erinnerung hat und immer wieder neu erzählt werden kann. Auch wenn draußen Dezember ist und Eisblumen an den Fenstern die Stube verdunkeln, kannst du es im Licht deiner Leselampe schon Sommer werden lassen und Herbst … da kreisen Seeschwalben über einsamen Fjorden, in einem Hafen am Schwarzen Meer riecht es nach Tang.
Ich kann diese Erfahrung nicht deuten, glaube aber, wenige Künstler würden sie leugnen.
»Die Globe Galery«
Anlaß für meine Reise mit dem Kreuzfahrtschiff KAP HOORN war eine Ausstellung von Zeichnungen und Collagen aus dem Themenkreis »Spuren - was bleibt« in der GLOBE GALERY an Bord - ein Motto, das sich als grotesker Gegensatz zum Zerstreuungs-Klima eines solchen Schiffes herausstellen sollte.
Wie kommt einer, der schreibt, als Maler zu solch einer Reise? Eine Frage, die ich so oft beantworten mußte, daß sie mir schließlich zum Hals heraushing. Manchmal log ich. Von allen Varianten ist diese mir noch heute die liebste (sie kommt der Wahrheit am nächsten): Meine ersten Malversuche galten einem Huhn, einem Scheusal mit einer mörderischen Stimme, dem meine ganze sechsjährige Zuneigung gehörte. Ein Jahr lang hatte ich versucht, das Tier in allen Lebenslagen zu zeichnen, Eier legend, gackernd, zum Schluß ohne Kopf. Das Auge meiner Mutter war noch nicht an den Abstraktionen eines Joseph Beuys oder Basquiat geschult, so mußte ich eines Tages hören, wie sie einer Freundin sagte, du, stell dir vor, der Peti malt den Noldi. Noldi war unser Siamkater.
Ich schlich aufs Zimmer, roch an der Holzkiste mit meinen Farben und vergaß den Schmerz über die dürftige Vorstellungskraft meiner Mutter. Der geheimnisvolle Geruch der Kreiden und Tuben mit den fernen Namen gab mir, ohne daß es mir damals bewußt war, die Verheißung, ein Leben lang durch Malen vor den Stacheln der Welt sicher zu sein. Aus mir wurde dieser schreiblastige Zwitter, dem ein mitreisender Redakteur des »Spiegel« einmal die Frage stellte: Ach, und sonst? Mit den Ohren können Sie nichts?
Die Einladung auf die KAP HOORN hatte mich Anfang Mai erreicht. Ich war gerade von einem zweiwöchigen Aufenthalt im Kloster St. Honorat nach Hause gekommen. Der Wunsch nach Unterhaltung, Bewegung und hektischen Gesten, der mich auf die kleine Insel begleitet hatte, fand an diesem Ort der Stille keine Antwort, und nachdem er in diesem Vakuum noch eine Weile fortgelebt hatte, war er immer blasser geworden und schließlich mangels Nahrung gestorben. Um so schwieriger war die Rückkehr in den Alltag, es begann ein neuer, diesmal umgekehrter Gewöhnungsprozeß, und er war schmerzhaft.
Mitten in diesem Prozeß erreichte mich die Einladung der KAP HOORN-Reederei, in der GLOBE GALERY meine Bilder auszustellen. Meine Frau las den Brief gleich zweimal. Eine tolle Gelegenheit, meinte sie kopfschüttelnd, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß du es auf einem Kreuzfahrtschiff vier Monate lang aushältst, ausgerechnet du.
Bevor ich eine Entscheidung traf, wollte ich wissen, was mich auf dem Schiff erwarten würde. In aufwendig gestalteten Hochglanzprospekten wurde das »Paradies auf einem der komfortabelsten Luxusdampfer der Welt« versprochen (Verwöhnung exklusiv bis zur Unerschwinglichkeit). Die Fotoserien von braungebrannten Paaren in eleganten Deckstühlen, makellosen Stränden, von Kaviar, der im Lüsterglanz funkelt, und die euphorischen Zitate von glücklichen »Repeatern« (Menschen, die ein halbes Leben auf KreuzfahrtSchiffen verbringen) können einen schon packen. An einem grauen Frühsommertag fuhr ich nach Bremen, wo die KAP HOORN für einen Zwischenstopp festgemacht hatte. Meine Ankunft war von einer merkwürdigen Stimmung begleitet. Auf der Mole stand ein Bus des »Städtischen Gesundheitsamtes«; es war einer jener Prüfstände der Volksgesundheit, die jedem den kostenlosen Beweis lieferten, daß kein Mensch wirklich gesund ist; dementsprechend sahen die Personen aus, die das Gefährt an der Rückseite über ein Treppchen wieder verließen. Neben dem Bus hatten sich einige Soldaten der Heilsarmee versammelt; als ich vorbeilief, fingen sie gerade an, ein zerknirschtes Lied zur Bewahrung der Unschuld und gegen den Schwund der Reinheit an den Erlöser zu richten. Das schwimmende Wunder lag vor mir, fest vertäut am »Übersee-Quai«, acht Stockwerke hoch, Balkone mit lindgrünen Liegestühlen im strahlenden Weiß der Bordwand. Am Heck stand der Name des Schiffes, darunter in kleineren Buchstaben »Guernsey«. Ein graumelierter Herr im Burberry-Regenmantel blickte mit vielsagendem Lächeln auf seine »Financial Times« und schlug den Kragen hoch, als würde ihn plötzlich ein Schauer ergreifen. Guernsey, natürlich, ganz klar, sagte er zu seiner Begleiterin, bei den Verhältnissen in Deutschland kann man Schiffe wahrhaftig nur noch im Ausland registrieren lassen.
Ich setzte mich auf einen Poller und wartete, bis die Ausschiffung vorbei war. Diese Art von Luxuskreuzfahrten schien vor allem ältere Gäste anzusprechen, nicht steinalte, sondern jene Altersgruppe der über Fünfzigjährigen, denen die eigene Hinfälligkeit kein abstrakter Begriff mehr war. In meiner Nähe stand ein jüngeres Pärchen; die beiden waren gekommen, um Eltern oder Freunde abzuholen. Das Mädchen deutete auf die Buchstaben M/S KAP HOORN1 und fragte, weißt du, was M/S eigentlich bedeutet? Nach einer kleinen Denkpause antwortete der junge Mann, na klar, Papa war einmal auf der M/S Windstar, dort haben sie M/S als Kürzel für Mumien-Schlepper bezeichnet.
Sobald der Maßschuh wieder Land betritt, verändert sich die Soziologie dahingehend, daß aus Fünf-Sterne-Passagieren innerhalb von Sekunden ganz normale Erdenbürger wurden. Kaum einer der Gäste, die jetzt langsam die Gangway herabkamen, verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. Die Stufen führten aus einem sorglosen Leben zurück in den Alltag.
Nach einer Paßkontrolle der erste Eindruck: Das Ambiente der KAP HOORN mit ihren gläsernen Liften, den blitzenden Edelhölzern, den Bars, Blumenbuketts, Konzertflügeln, Messinggeländern und dem knöcheltiefen Velours entsprach den Fotos in den Werbe-Prospekten. Unwillkürlich überlegte ich, wie ich ein Bild dieses Schiffes zeichnen könnte. Nicht das offizielle, wie es in den Prospekten abgedruckt war. Ein intimeres. Die KAP HOORN war ein Monument des Erfolges, sie bewahrte eine gehörige Distanz zum Rest der Welt. Man befand sich tatsächlich acht Stockwerke über der Wirklichkeit.
Während der Führung durch eine distinguiert wirkende Dame (sie war zuständig für den Bereich »Unterhaltung« - Maler und Schriftsteller fallen unter diese Kategorie ebenso wie Bauchredner, Fahrradakrobaten oder Langustenberater), versuchte ich in diesem Labyrinth der Verwöhnung auch nur einen klitzekleinen Hauch von Schmutz oder Rost, ein Spinnennetz, einen versteckten Kaugummi zu entdecken. Vergebens.
Die GLOBE GALERY erwies sich als großer, lichtdurchfluteter Raum an der Backbordseite des Schiffes. Auf meine Freude fiel ein Schatten, als der Galerist des Künstlers, dessen Ausstellung soeben zu Ende gegangen war, sein dreitagebärtiges Haupt zu mir neigte und zischte, die Galerie ist o. k., Mister, Sie dürfen nur nicht enttäuscht sein, wenn Sie hier Leute treffen, die Modigliani mit Mortadella verwechseln.
Die Führung hatte drei Stunden gedauert. Ich verabschiedete mich von meiner Begleiterin und einem Herrn des Managements, der mir einen Stoß frischgedruckter Kataloge in die Hand drückte, er hatte seine Lobpreisungen in kostbaren Sätzen vorgetragen, im Flüsterton, jedenfalls schien er ein Mann der Liebe zu sein, der Liebe zur KAP HOORN und zu den Menschen, die ihn und das Schiff dafür zurückliebten und bezahlten. Ich lief an einer Schlange von neu ankommenden Passagieren vorbei, die sich für eine Nordlandreise einschifften und mit Champagnergläsern vor der Brust den Begrüßungsmelodien der bordeigenen Kapelle lauschten. Einige der Herren redeten mit ihren Handys, während die Frauen mit abwesendem Blick den Inhalt ihrer Handtaschen überprüften.
Eine weißhaarige Dame fiel auf, an deren Arm sich eine jüngere Frau geklammert hatte. Sie hielt als einzige kein Glas in der Hand und blickte ein bißchen besorgt auf die Stufen der Gangway. Als die beiden näher kamen, sah ich, daß die jüngere einen orthopädischen Schuh trug. Ihre Füße schleiften über das Kopfsteinpflaster, bei jedem Schritt knickte das linke Bein ein wenig mit dem Knie ein, während das rechte nach außen schwang. Plötzlich blieb sie stehen. Sie löste ihren Arm von dem der älteren, hob einen auf der Pier herumliegenden Champagnerkorken auf und roch an ihm.
Frau, eine Libelle betrachtend
Die Skizze der an einem Champagnerkorken riechenden Frau liegt neben den Bildern der Hände von Martha Kandinsky und Eddi Zucker vor mir auf dem Maltisch. Es gibt ein zweites Bild dieser Frau: eine Bleistiftzeichnung, auf der sie eine Libelle betrachtet.
Das Bild ist in Istanbul entstanden. Das Gesicht der Frau ist nicht zu erkennen, der Kopf nur schwach angedeutet; und doch hat man den Eindruck eines Gesichts, das unschlüssig oder traurig geworden ist. Die Gestalt, mit graublauer Lehmerde koloriert, wirkt zerbrechlich. Sie scheint - eher Kind als Frau - von einer anderen Erfahrungsebene zu kommen.
Vier Monate sind vergangen, seit ich dieses Bild in einer Spätsommernacht am Schwarzen Meer malte. Jetzt ist Winter, vor den Fenstern des Ateliers fällt Schnee in nassen großen Flocken. Auf dem Tisch befinden sich außer den Skizzen etwa zwei Dutzend mit Etiketten beklebte Evian-Flaschen, sie tragen die Namen all der Orte, wo ihr Inhalt zusammengekratzt und abgefüllt worden ist: Hellesylt, St. Helena, Gibraltar, die Namib-Wüste, Ilha de Moçambique … Der Inhalt hat nur für mich einen Wert: Erde, Fossilien, ockerfarbener Sand, Reste von verkohlter Baumrinde - rohe Pigmente also. Stoff für Bilder, der während einer Reise gesammelt wurde, die in Südschweden begann und nach der Umrundung Afrikas in Sri Lanka endete.
Nur ein Drittel meiner Bilder sind Zeichnungen nach der Natur. Natur, die sich eignet, gezeichnet zu werden, ist eher die Ausnahme; ein afrikanischer Dschungel ist malbar als Wohnstatt von Geistern, nicht als tropischer Wald. Der Versuch, die Namib-Wüste zu malen, führt zu nicht mehr, als zu Bildern von Sand; die Wüste ist anderswo, in den geriffelten Spuren der Sandnatter oder in den Sandzeichnungen der Buschläufer der Kalahari.
Ich schiebe die Skizze der eine Libelle betrachtenden Gestalt über den Tisch. Meiner Frau verdanke ich den Einfall, die Reise in Bildern zu erzählen. Schau, hatte sie gesagt, das Sammeln von Eindrücken beginnt mit einem Gefühl für die Einsamkeit, die Zerbrechlichkeit eines Menschen in unserer gleichgültigen Welt. Es beginnt damit, daß der Mensch, für den du dich interessierst, Widerstand leistet, arrogant ist oder ungewöhnliche Dinge tut. Ja, und dann die Einzigartigkeit mancher Orte …
Sie hatte recht. Das Verlangen, »gesehen zu haben« (die Pyramiden, das Spitzmaulnashorn, die Mona Lisa) und das Gesehene festhalten zu wollen, hat eine tiefgreifende ontologische Wurzel. Beim Verfassen dieser Aufzeichnungen von meiner Reise und beim Wiederbetrachten der Skizzen ist mir die Erfahrung der »Abwesenheit« bewußt geworden: daß wir nicht mehr sehen können, was wir einmal sahen. Wir finden uns einem Verschwundenen gegenüber, und nun wollen wir verhindern, daß das, was verschwunden ist, dem Unerlebten anheimfällt.
1
M/S: in der Seefahrt gebräuchliche Abkürzung für »Motor-Ship«
© 2006 Luchterhand Literaturverlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
eISBN : 978-3-894-80492-3
www.luchterhand-literaturverlag.de
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