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Carla Lamponi, Halbitalienerin, lebt übergewichtig, aber recht zufrieden in Venedig. Bis zu jenem Tag, an dem sie erfährt, dass ihr Bruder Federico auf einer Reise durch Sardinien verschollen ist. Ausgestattet mit dem Glauben an eine Welt jenseits des Sichtbaren, einer großen Portion Selbstvertrauen und ihrer Leidenschaft für gutes Essen macht sie sich auf, um ihren Bruder zu finden. Dabei entdeckt sie die sardische Kultur, Land, Leute und die Insel-Küche. Während ihrer Nachforschungen gerät sie in einen mysteriösen Strudel aus Ereignissen und Abenteuern, die sie in ihrer ausgeprägt pragmatisch-spirituellen Art zu meistern versucht. Die Suche nach Federico entwickelt sich letztlich zu einer Suche nach sich selbst und dem Sinn des Lebens. Die Autorin Daniela Sedlaczek entführt den Leser auf eine Reise nach Venedig und Nord-Sardinien. Die profunde Kennerin beider Locations verwebt humorvoll Reiseinformationen und Kochrezepte in eine spannende und frech geschriebene Handlung. Als Yogalehrerin beschäftigt sie sich seit Jahrzehnten mit Spiritualität im Alltag und greift diesen Aspekt des Lebens in ihrem spirituellen Kriminalroman in überraschender Weise auf. Die ungewöhnliche Kombination der Themen macht diese kurzweilige Geschichte besonders lesenswert für Menschen mit Interesse an Spiritualität und zu einem Muss für alle Venedig-Liebhaber und Sardinien-Fans.
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Seitenzahl: 600
Veröffentlichungsjahr: 2019
Daniela S. Sedlaczek
Acqua Di Fedo
Carla Lamponis 1. Fall
© 2019 Daniela S. Sedlaczek
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7482-4271-0
Hardcover:
978-3-7482-4272-7
e-Book:
978-3-7482-4273-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhalt
1 – Hunger
2 – Deutsche und italienische Tage
3 – Der Anruf
4 – Der Stein kommt ins Rollen
5 – Pläne und Kekse
6 – Caffè und Hörnchen
7 – Benvenuti a Sardegna
8 – Die Reise beginnt
9 – Monte d‘Accoddi
10 – Gute Nacht, Freunde
11 – Glück im Unglück, oder?
12 – Beulen und was Frau sonst nicht braucht
13 – Gerührt, nicht geschüttelt
14 –Sind Träume Schäume?
15 – Trau, schau wem!
16 – Entwischt!
17 – Pack schlägt sich…
18 – Pack verträgt sich
19 – Polyphonie im Ku-Klux-Klan
20 – Dampfende Flüsse
21 – Atemlos (durch die Nacht)
22 – Alles ist Energie!
23 – Denke nicht an rosa Elefanten!
24 – Indiana Jones
25 – Füüüp
26 – Das Hotel am Monte d‘Accoddi
27 – Acqua di Fedo
28 – Der Freiheit ganz nah
29 – Der Freiheit entgegen
30 – Singen hilft immer!
31 – Asche zu Asche
32 – Das Leben geht weiter
33 – Venedigs dunkle Wasser
Rezepte
Malloreddus à la Signora Baronu
Malloreddus tipico Sarda
Zuppa Gallurese
Coniglio marinato con patate
Sebadas – Sardische Teigtaschen
Pardulas – Ostergebäck
Carciofo con agnello- Artischocken mit Lamm
Sa Cordula - Grillspieß mit Lamm- oder Ziegeninnereien
Bistecca di melanzane - gegrillte Auberginen
Pasta alla buttariga (bottargo) - Spaghetti mit Bottarga
1 – Hunger
„Pronto?“
„Signora Lamponi? Carla Lamponi?“
„Ja. Am Apparat. Wer ist denn da?“
„Hier ist Luigi Baldini.“
Pause. Carla runzelte die Stirn. Sollte ihr dieser Name etwas sagen? Ihr Gegenüber am Telefon schien ihr Zögern zu bemerken.
„Wir kennen uns. Ich bin ein Kollege Ihres Bruders. Wir haben schon einmal telefoniert, vor längerer Zeit. Sie riefen hier in der Redaktion an, um mit Federico zu sprechen.“
Die Furchen auf Carlas Stirn vertieften sich.
„Ach ja?“
Sie hasste es, beim Kochen gestört zu werden. Gerade hatte sie sich eine Pizza in den Ofen schieben wollen. Zugegeben, Kochen konnte man das eher nicht nennen. Aber man wurde satt davon… Seit dem kargen Frühstück - ein Caffè, ein Hörnchen – am Bahnhof Santa Lucia heute Morgen hatte sie nichts mehr gegessen. Jetzt war neun Uhr abends. Sie hatte Hunger, richtigen Hunger. Und immer, wenn sie Hunger hatte, dann war sie nicht mehr sie selbst.
„Und warum rufen Sie mich an? Um diese Uhrzeit!“
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich störe. Ich würde gerne einige Minuten mit Ihnen reden, wenn es sich einrichten lässt. Es geht um Ihren Bruder. Federico.“
Er machte eine kurze Pause, schien eine Antwort zu erwarten.
„Aha.“
Zu weiteren Worten konnte sie sich nicht durchringen. Sie hatte einen furchtbaren Tag mit dieser Nervensäge Signora di Leoni verbracht, einer Dame mit deutlich mehr Geld als Verstand. Leider traf dies auch auf ihren Geschmack zu. Baronessa di Leoni – und auf diesen Titel legte sie besonderen Wert – war der Meinung, dass der Besitz von Geld mit dem Besitz von gutem Geschmack gleichzusetzen war. Aber Carla würde ihr deutlich beibringen, dass sie als Innenarchitektin mehr von Stil verstand als…
„Signora…? Sind Sie noch da?“
Luigi Baldini lauschte in den Hörer.
„Es ist wirklich wichtig. Ich suche Ihren Bruder.“
Sie hatte sich in ihren Gedanken verloren. Wieder einmal.
„Ja, ich bin noch da. Aber Sie rufen ungünstig an. Ich bin beschäftigt. Melden Sie sich bitte morgen Vormittag nochmals…“
Zu dieser Zeit musste sie sich aufs Neue mit der Baronessa auseinandersetzen und würde unterwegs sein. Da konnte dieser Signore… hm, Baldini, anrufen, bis er schwarz wurde. Sie grinste. Und verspeiste in Gedanken bereits genüsslich ihre Pizza.
„…nichts mehr gehört.“
Er hatte weitergesprochen. Oh, was hatte er gemeint?
„…und er ist einfach abgetaucht.“
„Was? Die Verbindung ist schlecht. Was haben Sie gesagt? Sie rufen morgen wieder an? Bis dann!“
Sie wollte den Hörer auf die Gabel legen. Sie konnte die Pizza selbst im gefrorenen Zustand riechen… Oh Madonna, ihr Magen knurrte wie ein Kettenhund. Wenn sie nicht bald was zwischen die Zähne bekam…
„Bitte legen Sie nicht auf… Ich habe Angst, dass Federico etwas zugestoßen sein könnte!“
Himmel, jetzt war es passiert. Keine Pizza der Welt rechtfertigte es nun noch, aufzulegen, den Anrufer zu ignorieren und auf morgen zu vertrösten. Oder doch?
„Wie meinen Sie das? Was ist mit Fedo?“
Carla sah in Gedanken ihren Bruder in Mailand vor sich, wie er mit geistesabwesender Miene, auf seinem Bleistift kauend, rasend schnell Stichworte für einen seiner Zeitungsartikel in den kleinen Notizblock kritzelte. Wenn er arbeitete, dann ging er ganz in seiner Schreiberei auf, sah und hörte nichts Anderes mehr. Carla hatte das nie verstanden. Bereits in der Schule hatte sie Aufsätzen, Erörterungen und Essays nicht das Geringste abgewinnen können. Egal, wie sehr sie sich angestrengt und wie viel Mühe sie sich gegeben hatte: Sie war über schlechte Mittelfeld-Noten nie hinaus gekommen. Sie war sich immer sicher gewesen, dass die Lehrerin sie nicht objektiv beurteilt hatte.
Weshalb sie mit ihrem die Kriminalliteratur liebenden Bruder die Idee geboren hatte, ihn eine Hausarbeit für Carla schreiben zu lassen. Anhand der Note wollten sie die mangelnde Objektivität der Lehrerin ein für alle Mal beweisen. Jeden Abend waren die Geschwister im Dunkeln auf ihren Betten gesessen, hatten mit einer Taschenlampe in ihre Gesichter geleuchtet und sich ausgemalt, wie sie die Lehrerin überführten. Der Direktor würde sie außerordentlich loben. Und selbstredend würde auch die örtliche Polizei auf die kleinen Detektive aufmerksam werden und ihnen fortan kniffelige Fälle zur Lösung übertragen, bis sie in ganz Italien berühmt gewesen wären. Federico und seine ältere Schwester hatten gerne Detektiv gespielt. Stets witterten sie ein großes Geheimnis. Ob in der Nachbarschaft ein Apfelkuchen gestohlen worden war oder sich fremde Gestalten in der Straße herumtrieben, sofort nahmen sie die Fährte auf…
„Mein Gott, wie lange ist das her?“
Carla dachte laut.
„Ich habe seit fünf Wochen keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt“, sagte Luigi.
„Cosa? Was?“
Sie verstand nicht. Ihre Kindheit war doch länger als fünf Wochen her? Mindestens 30 Jahre lagen zwischen diesen Erlebnissen und dem heutigen Tag. Die Überführung der bösartigen Lehrerin hatte kurz darauf in einem Eklat geendet, bei dem sie nur knapp einem Schulverweis entgangen waren. Als hätten sie an der Übersiedlung von Deutschland nach Italien in Kinderjahren nicht sowieso schon genug zu knabbern gehabt. In ihrer Erinnerung verschwamm das Gesicht der Lehrerin mit dem der Baronessa. War die di Leoni die Reinkarnation ihrer mittlerweile bestimmt verstorbenen Lehrerin? Nein, das passte mit dem Alter nicht, doch konnte sie nicht ihre Schwester sein?
Sie schüttelte den Kopf. Da ging alles durcheinander. Das war immer so, wenn sie Hunger hatte. Sie bekam dann nichts mehr auf die Reihe. Sie war sich durchaus bewusst, dass sie den Telefonhörer noch in der Hand hielt, auch, dass da jemand auf der anderen Seite der Leitung etwas von ihr wollte. Doch sie hörte ausschließlich ihre eigenen Gedanken kreisen. Ihr Magen knurrte und wollte nur eines: Dass man ihm viel zu arbeiten gab. Das hatte höchste Priorität, alles Andere konnte, musste warten. Sie nahm noch einmal ihre ganze Konzentration zusammen.
„Hören Sie. Im Moment geht es wirklich nicht. Wenn es wichtig, wenn es notwendig ist, dann melden Sie sich morgen Vormittag bei mir. Ich verlasse gegen zehn Uhr das Haus, ab neun bin ich hier erreichbar.“
Carla ließ ihrem Gesprächspartner keine Chance zu antworten. Wenn es ihm wirklich wichtig war, konnte er am nächsten Tag wieder anrufen. Das musste genügen.
2 – Deutsche und italienische Tage
Ihr Wecker klingelte um halb acht. Jeder vernünftige Italiener hätte sich um diese Uhrzeit noch einmal im Bett umgedreht. Doch Carla konnte ihr deutsches Erbe genauso wenig abstreiten wie ihre italienische Ader, die hin und wieder recht impulsiv zum Ausdruck kam. Sie seufzte und stellte den Wecker ab. Rollte zurück auf den Rücken und starrte an die Decke.
Das Telefonat von gestern Abend kam ihr wieder in den Sinn. Sie hatte nach dem Auflegen des Hörers ihre Pizza in den Ofen gesteckt, ihr verträumt beim Backen zugesehen, die Zeit mit mindestens zwei Gläsern Rotwein überbrückt und die Teigscheibe mit Heißhunger verschlungen. Der Alkohol tat sofort seine Wirkung. Ihr Kopf schwirrte. Vor ihrem inneren Auge sah sie abwechselnd ihre Lehrerin, ihren Bruder, Berge von Pizzen und Gelati, die Wohnung in Rom, in der sie als Kind mit den Eltern gewohnt hatten.
Dann war ihr wieder die Baronessa in den Sinn gekommen, die rosa Plüschsessel mit blauen Samtvorhängen und einem gelben Plastiktisch kombinieren wollte. Und das in einem venezianischen Palazzo aus dem 17. Jahrhundert. Schauderhaft!
Schließlich war ihr gröbster Hunger gestillt gewesen und sie hatte sich einen Caffè zum Abschluss gegönnt. Heiß, stark und süß.
„Dein Caffè ist wie Du, mein Stern“, hörte sie Gianpaolo sagen.
Sie lächelte beim Gedanken an ihn. Auch wenn er ihr das Herz gebrochen hatte – es war eine großartige Zeit gewesen. Und vermutlich würde kein Mann mehr das in ihr auslösen, was Gianpaolo in ihr zum Klingen gebracht hatte. Zu schade, dass sie erst später herausgefunden hatte, dass Gianpaolo eigentlich nur Paolo hieß und auch sonst nicht viel von dem stimmte, was er ihr erzählt hatte. Ganz zu schweigen von dem, was er ihr NICHT erzählt hatte! Wie zum Beispiel von seiner Frau und den drei kleinen Bambini, die jeden Abend auf ihren Vater warteten, während er angeblich auf Dienstreise war oder wieder einmal Überstunden im Büro vorschob.
Trotzdem: Sie hatte ihn mit jeder Faser ihres Herzens geliebt.
Sie seufzte. Männer waren offensichtlich nicht ihre Welt und sie war fürs Erste geheilt. Sie wollte von Kerlen nichts mehr wissen. Zumindest nicht für die nächsten 30 Jahre.
Ihre Gedanken kehrten zurück zu diesem merkwürdigen Telefonat von gestern Abend. Sie war nach dem Essen wie ein Stein ins Bett gefallen, hatte geschlafen wie eine Tote. Ob sie geträumt hatte, wusste sie nicht. Sie hatte aber kaum über das nachgedacht, was der Anrufer gesagt hatte.
Er suchte ihren Bruder. Wenn sie recht verstanden hatte, so hatte sich Federico seit einiger Zeit nicht mehr in der Redaktion blicken lassen. Ob er Urlaub machte? Vielleicht waren die bei der Zeitung auf eine große Sache gestoßen und hatten ihn darauf angesetzt? Er war schließlich der beste Journalist der Zeitung, das zumindest hatte er immer behauptet. Sie nahm ihm das ab. Er hatte stets sehr kompetent auf sie gewirkt. Dabei war er seriös geblieben, selbst wenn einige reißerische Konkurrenzblätter ihm wieder und wieder Avancen gemacht hatten, um ihn abzuwerben. Er aber stand unbeirrbar zu seiner Abendzeitung, egal, wie viel die Konkurrenz ihm geboten hatte. Carla fand das beeindruckend. So wie sie die deutschen Macken ihrer Mutter geerbt hatte, so hatte auch ihr Bruder sein teutonisches Päckchen zu tragen. Treue und Standhaftigkeit gehörten da vermutlich dazu. Ihr Vater, ein Vollblut-Italiener, hatte das nie verstanden. Noch bis kurz vor seinen Tod hatte er den Sohn davon überzeugen wollen, dass das Leben leichter war, wenn man ein gewisses Laissez-Faire einziehen ließ und das Dolce Farniente im Alltag pflegte. Hin und wieder auch mal Fünfe gerade sein lassen konnte und Familie und Essen wichtiger und höher einschätzte denn beruflichen Erfolg oder Termintreue.
„Ach Papa, Du fehlst mir“, dachte sie zärtlich.
Bestimmt hatte es ihr Vater auch nicht leicht gehabt in seiner Ehe. Schließlich waren hier Welten aufeinandergeprallt. Auf der einen Seite das Dolce Vita, das ein jähes Ende in der deutschen Fremde gefunden hatte, als der Vater in den Sechzigern nach Süddeutschland zum Arbeiten gezogen war. Und auf der anderen Seite die deutsche Ehefrau, die Gründlichkeit und Zuverlässigkeit verlangte und ihr Leben lang versucht hatte, wenigstens ein bisschen davon ihrem Manne beizubringen. Carla erinnerte sich gut an diese explosive Mischung zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Und die ohne einander nicht mehr leben konnten. So sehr nicht mehr ohne einander leben konnten, dass ihre Mutter nur wenige Tage nach dem Tod ihres geliebten Ehemannes selbst die Augen für immer geschlossen hatte.
Carla schniefte. So oft sie an ihre Eltern dachte, überkam sie Traurigkeit. Sie vermisste beide, war sie doch von ihrem Naturell her eine Mischung aus beiden Persönlichkeiten. Eine so ausgewogene Melange, dass die Deutschen sie nur als Italienerin sahen und die Italiener sie hier in Bella Italia auch nur als die Deutsche mit den entsprechenden Tugenden wertschätzten. In jeder dieser Nationen war sie eine Fremde, die meist anders reagierte als man von ihr erwartete. Sie selbst sah das differenzierter. Sie war davon überzeugt, dass sie aus beiden Volksseelen das Beste abbekommen hatte.
Und zudem war sie nach einigen Beziehungsfehlversuchen mit Männern zu der Meinung gekommen, dass es eine solche Liebe, wie es sie zwischen ihren Eltern gegeben hatte, heutzutage nicht mehr gab. Zumindest nicht für sie.
Carla schluchzte noch mehr. Sie vermisste Gianpaolo – Paolo. Er war so zärtlich gewesen, hatte sie zum Lachen gebracht, hatte ihr die Sterne vom Himmel holen wollen. Sie wünschte, sie hätte an jenem Tag, als Paolos Ehefrau vor ihrer Tür gestanden und eine Erklärung verlangt hatte, einfach nicht geöffnet. Sie hätte heute noch mit ihm glücklich sein können.
Tief in ihr sagte die warnende deutsche innere Stimme, dass das ein Trugschluss war. Doch ihre italienische Seele träumte sich weiterhin romantisch in seine Arme und fühlte, dass alles hätte gut werden können. Carla Lamponi wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, warf in Gedanken ihren Eltern einen Handkuss zu und schleppte sich in die Küche. Heute hatte sie anscheinend einen deutschen Tag. Ihr war nach einem deftigen Frühstück.
Sie teilte ihre Tage gerne in deutsche und italienische ein. Je nach dem was sie gerade fühlte, konnte sie dies entweder dem italienischen oder deutschen Temperament zuordnen. Und Gelüste nach gekochten Eiern, Orangensaft, Vollkorn-Butterbrot, dick mit Schinken belegt und Nutella mit dem Löffel direkt aus dem Glas gegessen, entsprachen eindeutig einer deutschen Vorstellung von Frühstück. Auch wenn das wiederum bedeutete, dass sie den Start der Diät, die sie unbedingt hatte einlegen wollen, wieder um einen Tag nach hinten verschieben musste. Aber so konnte sie heute wenigstens ein richtiges Mittagessen zu sich nehmen. Eine Mittagspause, in der sie Abstand von der Baronessa gewann, war eine prima Idee. Und außerdem hielt Essen Leib und Seele zusammen, davon war sie überzeugt. Was sich leider in ihrer Kleidergröße niederschlug. Kein Wunder, dass sich kein Mann für sie interessierte… Nicht mal ein Italienischer, dachte sie resigniert. Und bestrich mit deutscher Gründlichkeit ihr Brot mit einer doppelten Portion guter Butter.
Nach der zweiten Tasse deutschen Kaffees fühlte sie sich annähernd wie ein Mensch und als ihr Magen zu arbeiten anfing, begann auch ihr Verstand wieder zu funktionieren. Ihr Vater hatte sich stets darüber lustig gemacht, dass bei ihr Magen- und Hirnaktivität so stark zusammenhingen. Carla selbst fand es eher befremdlich, dass es bei anderen Menschen anders war und empfand sich als etwas Besonderes. Dass dies auch Nachteile haben konnte, kam ihr gerade in den Sinn, als ihre Erinnerung preisgab, dass Federicos Kollege sich ein bisschen ratlos und sogar beängstigt angehört hatte. Besonders als er sagte, dass ihrem Bruder vielleicht was zugestoßen sein konnte.
Verdammt, warum hatte er das denn nicht gleich gesagt, fragte sich ihre italienische Hälfte. Ihre deutsche, gerechtigkeitsliebende Hälfte raunte ihr zu, dass dieser Luigi durchaus deutlich artikuliert hatte, dass er sich sorgte.
Sie nahm sich gedankenverloren noch etwas mehr von der Nussnougatcreme. Hm, das schmeckte so gut. Wer hatte eigentlich diese blöde Idee mit der Diät gehabt?
Als sie das Telefonat noch einmal Revue passieren ließ, war sie sich nicht im Klaren darüber, was das alles bedeutete. Hatte Federico seinen Job hingeschmissen? Selten, dass sein Temperament so mit ihm durchging, doch nicht ausgeschlossen. Er konnte ohne seine Zeitung nicht leben und sie war sich sicher, dass er bis zur Rente bei diesem Blatt bleiben würde – wenn nicht sogar länger. Das war aber auch alles, bei was sie sich sicher war.
Wann hatte sie das letzte Mal mit ihrem Bruder Kontakt gehabt? Das war mehr als drei Monate her. Zu Weihnachten hatte er ihr die obligatorische Weihnachtskarte geschrieben – typisch deutsch mit weißer Schneelandschaft und leuchtendem Weihnachtsbaum.
Sie hatte dieses Jahr keine Karte versendet, ihr Herz war noch weidwund und blutete wegen Gianpaolo. Sie hatte nichts als Leere in sich gespürt und weihnachtliche Stimmung war bei ihr nicht aufgekommen. Und außer zu solchen Anlässen wie Weihnachten, Namenstag oder Geburtstag hatten sie und ihr Bruder Federico kaum Kontakt.
Sie hatten anscheinend beide nicht das Bedürfnis nach geschwisterlicher Nähe, seit dem Auszug aus dem elterlichen Haushalt schon nicht mehr. Carla hatte sich nie Gedanken darüber gemacht. Es fiel ihr jetzt zum ersten Mal bewusst auf, dass sie kaum etwas über ihren Bruder wusste, das nicht mit ihrer gemeinsamen Kindheit zusammenhing. Was kannte sie von seinem derzeitigen Leben, seinem Umfeld, seinen Zielen, seinen Träumen? Eigentlich nichts. Sie fühlte grundsätzlich nicht die Notwendigkeit, mehr darüber wissen zu wollen. Sie empfand das auch nicht als weiter schlimm. Empörend fand ihre italienische Familienseele allerdings, dass ihr Bruder umgekehrt anscheinend ebenso wenig Interesse an ihrem Leben zeigte wie sie an dem Seinigen. Die Familie war schließlich das Wichtigste für einen Italiener!
„Halbitaliener!“, sagte ihre deutsche Stimme.
Sie hasste deutsche Tage!
3 – Der Anruf
Je länger Carla über diesen merkwürdigen Anruf nachdachte, desto ungeduldiger wartete sie darauf, dass das Telefon erneut klingelte. Nach ihrem wunderbaren, deutschen und wieder viel zu reichlichen Frühstück meldete sich ihre Intuition. Sie spürte, dass es wichtig war, sich um den Anruf – oder das, was man ihr damit sagen wollte – zu kümmern.
Auf ihre innere Stimme hatte sich Carla bisher immer verlassen können. Sie wusste gar nicht, wann sie zum ersten Mal festgestellt hatte, dass ihr erster Gedanke oftmals der Beste war. Vorausgesetzt, ihr Magen wies eine gewisse Grundfüllung auf. Oft hatte sie als Kind nach ihrem Bauchgefühl gehandelt und diese instinktive Vorgehensweise hatte sie auch als Erwachsene nicht abgelegt. Meist war sie gut damit gefahren. Wenn man davon absah, dass ihre Intuition immer dann durch Abwesenheit glänzte, wenn es gerade um ihre eigenen Partner ging. Bei ihren Freundinnen war sie als allwissende Beziehungsberaterin verschrien. Sie konnte mit schlafwandlerischer Sicherheit nach dem ersten Kennenlernen sagen, um was für einen Typ Mann es sich handelte. Egal, ob Muttersöhnchen, Macho, Kuscheltyp, Abzocker oder AufEwigTreuer – sie erkannte sie alle. Nur eben leider nicht, wenn es um die ging, mit denen sie fürderhin ihr Leben teilen wollte. Dann konnte sie davon ausgehen, dass sie genau den Falschen nahm.
Carla verstand das nicht – wenn ihre Intuition bei Anderen funktionierte, dann musste ihr Bauch doch auch bei ihr richtig liegen. Immerhin war sie die Chefin dieses gesamten Kunstwerks von Körper, der freundlicherweise wieder beschlossen hatte, alle morgendlichen Kalorien, die sie ihm zuhauf zur Verfügung gestellt hatte, rechts und links der Hüftknochen zu platzieren. Sie konnte regelrecht hören, wie ganze Armeen von winzigen Fettzellen rund um ihren Bauch ihre Zelldeckelchen aufschraubten und laut nach Füllung schrien. Carla schaute auf ihre Hüften und sah sie anschwellen.
„Madonna, ich verfette im Sitzen! Ab Morgen mache ich mehr Sport und esse weniger!“
Sie versuchte, überzeugend zu klingen, denn das mit den Diäten war keine ihrer Stärken. Es war ja nicht so, dass sie formlos als wandelnder Gnocchi durchs Leben wanderte. Sie hatte eine annehmbare Figur. Allerdings wusste sie auch, wie italienische Mamas oftmals mit Fünfzig aussahen… Nein danke, das wollte sie dann doch nicht haben. Also brauchte es einfach wieder ein paar Tage FDH, dann würde das schon wieder werden!
An was hatte sie gedacht, bevor ihre Gedanken Richtung Hüftgold abgewandert waren? Ach ja, das Telefonat und ihre Intuition – sie konnte regelrecht riechen, wie das Unheil näher kam. Sie dachte an ihren Bruder und ein kleiner Schauer lief ihr über den Rücken. Carla Lamponi war gewiss kein Angsthase. Aber sie fragte sich doch beklommen, was der zu erwartende Anruf an Informationen bringen würde.
Ihre innere – deutsche! - Stimme ließ sie im Minutentakt auf ihre Armbanduhr schauen. Es war kurz vor neun, langsam konnte dieser Herr Baldini anrufen. Unpünktlichkeit war eine Unsitte der Italiener, über die sie nicht mehr so einfach hinwegsehen konnte. Ihrer Mutter hatte diese lockere italienische Interpretation von fixen Terminen immer sehr zu schaffen gemacht. Mehr als einmal waren deshalb zu Hause die Fetzen geflogen. Und Carla bemerkte, dass, je älter sie wurde, ihre eigene Toleranzgrenze tiefer sank.
„Wenn ich sechzig bin, kann ich in diesem verrückten Land überhaupt nicht mehr leben. Dann muss ich zurück nach Deutschland“, dachte sie. Im Grunde wusste sie allerdings, dass das Land ihrer Mutter nicht mehr das Ihre war. Sie hatte noch einiges an Verwandtschaft dort in Germania. Hin und wieder lud sie jemand ein, doch sie hatte bisher dankend abgelehnt. Sie hatte kein Interesse an der alten Heimat, an der dortigen Familie. Die Meisten kannte sie eh nicht, kamen aus dem weit verzweigten Clan der Mutter. Die deutschen Großeltern lebten schon lange nicht mehr. An diese hatte Carla keine liebevollen Erinnerungen, da sie von Anfang an gegen die Verbindung der Tochter mit so einem Itaker gewesen waren, wie man damals die italienischen Gastarbeiter genannt hatte. Ihre Mutter hatte es nicht leicht gehabt, sich in der damaligen Zeit gegen ihre Eltern durchzusetzen. Aber sie war stark gewesen, getragen von der tiefen und innigen Liebe ihres Antonio. Und nachdem sich dann Carla angekündigt hatte, war es den Eltern ihrer Mutter plötzlich sehr wichtig gewesen, die Beziehung zu legalisieren. So kam Carla als Sechsmonatskind zur Welt.
Ein erneuter Blick auf die Uhr. Es war sieben nach neun. Dieser Mensch war unpünktlich. Das machte ihn sofort unsympathisch. Wenn der Anruf so wichtig war, wie er behauptet hatte, dann war es ja ein Ding der Unmöglichkeit, sie derart lange warten zu lassen!
Der Anruf kam neun Uhr dreiundzwanzig – nach gefühlten Stunden des Ausharrens, in denen sie zwischenzeitlich zwei weitere große Tassen Kaffee getrunken hatte. Diese schienen ihren Körper komplett passiert zu haben und meldeten sich nun vehement in ihrer Blase. Sie hätte rechtzeitig aufs Klo gehen sollen, sie hatte es sich überlegt. Aber bei ihrem derzeitigen Glück saß sie gerade auf der Schüssel, wenn der Anruf kam und verpasste ihn. Das wollte sie auf keinen Fall! Also nahm sie die Zähne zusammenbeißend den Hörer ab und meldete sich gleich nach dem ersten Läuten.
„Pronto?“
„Signora Lamponi? Hier ist wieder Luigi Baldini. Wie vereinbart rufe ich Sie an.“
„Sie wissen aber schon, dass Sie um neun anrufen wollten? Ich warte hier seit Ewigkeiten neben dem Telefon!“
„Das tut mir leid. Scusi! Ich hatte noch eine Besprechung. Können wir jetzt ein paar Minuten miteinander reden?“
Dieser Luigi schien ein bisschen betröppelt.
„Ja, ein paar Minuten habe ich noch – wie Sie wissen, muss ich um zehn Uhr einen Termin halten. Also machen Sie’s so kurz wie möglich. Was genau wollen Sie von mir?“
„Alora, das ist gar nicht so leicht zu erklären, ich weiß ja selbst nicht recht, um was ich Sie bitten soll. Es ist nur so, ich mache mir ernsthafte Sorgen um Federico. Ich weiß nicht, wo er abgeblieben ist. Und da Sie seine Schwester sind, dachte ich, Sie könnten mir vielleicht sagen, ob er sich bei Ihnen gemeldet hat. La Famiglia – Sie verstehen…?!“
Sie konnte ihn entschuldigend lächeln hören.
Und die Italienerin in ihr rief:
„Siehst Du: Eine Schwester weiß, wo sich ihr Bruder aufhält! Und Du?“
Sofort fühlte sie sich unzulänglich. Und ärgerte sich im gleichen Moment enorm darüber. Sie ließ sich immer noch viel zu häufig durch die Erwartungshaltung Anderer ins Bockshorn jagen!
„Hören Sie, ich bin nicht meines Bruders Hüterin! Federico ist ein erwachsener Mann und muss mir keine Rechenschaft darüber ablegen, wo er was und mit wem tut oder wo er sich aufhält.“
Luigi Baldini hielt den Hörer vom Ohr weg und schaute ihn verständnislos an. Was in aller Welt hatte denn dieser Ausbruch zu bedeuten? Er hatte sie doch nur gefragt, ob sie wusste, wo ihr Bruder war. Eine ganz normale Frage. Sie aber benahm sich, als habe er ihr ein unmoralisches Angebot unterbreitet. Merkwürdige Frau!
Dass das Fedos Schwester sein sollte, das konnte er sich nicht vorstellen. Federico war allenthalben gut gelaunt, höflich und hilfsbereit. Was man von seiner Schwester nicht behaupten konnte. Er schluckte die Worte, die ihm bereits auf der Zunge lagen, hinunter. Nein, es ging hier nicht um sie, auch nicht um ihn, sondern einzig um seinen vermissten Kollegen.
„Das wollte ich damit nicht andeuten, Signora Lamponi. Bestimmt nicht. Tut mir leid, wenn ich mich falsch ausgedrückt haben sollte“, säuselte er. „Ich dachte, dass sich Ihr Bruder vielleicht während seiner letzten Reise bei Ihnen gemeldet hat. Per Postkarte oder per Handy. Ich selbst habe ihn seit fünf Wochen nicht mehr gesehen oder gehört.“
„Das sagten Sie bereits gestern! Fünf Wochen sind doch keine lange Zeit. Er wird Urlaub machen, irgendwo die Seele baumeln lassen. Ich finde, er hat sich den Urlaub verdient. Und überhaupt…“
„Es geht hier nicht um freie Tage, Signora“, unterbrach er sie. „Federico ermittelt in einer Sache im Süden. Er ist inkognito dorthin gereist und wollte vor Ort recherchieren. Sie kennen ihn ja: Permanent auf der Suche nach der Riesenstory…“
„Na, da haben Sie ja Ihre Erklärung, warum er sich nicht gemeldet hat! Er steht vielleicht kurz vor dem Pulitzerpreis und Sie wollen, dass er bei Ihnen anruft und Belanglosigkeiten austauscht?“
Carla war noch immer wütend, am meisten auf sich selbst.
„Federico hat mir leider nicht gesagt, um was es bei der Sache geht. Er hat mir aber klar zu verstehen gegeben: Wenn er sich über längere Zeit nicht bei mir meldet, dann solle ich beginnen, nach ihm zu suchen. Er sagte mir, Sie seien seine erste Anlaufstelle, wenn er Probleme haben sollte…“
Carla war platt. Sie, Federicos erste Anlaufstelle? Seit wann? Seit jetzt? Vorhin noch war sie der Überzeugung gewesen, dass ihr Bruder genauso wenig Interesse an ihr hatte wie sie an ihm – und nun so ein Spruch? Oder war das nur eine Finte ihres Gesprächspartners, der sich ihrer Mithilfe versichern wollte, kostete es, was es wollte? Finte oder nicht: Sie spürte Sentimentalität in sich aufsteigen. Ach, Italiener!
„Signore Baldini, ich kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, dass mein Bruder das gesagt haben soll. Doch egal. Ich kann Ihnen lediglich sagen, dass ich von ihm in den letzten fünf Wochen ebenfalls nichts gehört habe.“
Dass es eher fünf Monate waren, musste sie ihm ja nicht gleich auf die Nase binden. Zudem fühlte sie sich mittlerweile hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, ihre Blase zu entleeren und dem Bedürfnis, endlich zu verstehen, was diese ganze Telefoniererei sollte.
„Und nun weiß ich nicht, wie ich Ihnen helfen könnte. Leider habe ich keine Nachricht erhalten. Aber mein Bruder kann auf sich selbst aufpassen, das ist sicher“, sprach Carla versöhnlicher in die Muschel.
Wieder lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sollte das ein Zeichen sein? Apropos Zeichen: Wie spät war es eigentlich? Sie wollte auf keinen Fall zu spät zu Baronessas Termin kommen. Pünktlichkeit war eines von Carlas beruflichen Aushängeschildern.
Gestatten: Carla Lamponi, Venedigs pünktlichste Innenarchitektin.
„Ich würde Ihnen ja Recht geben, aber selbst Federico hat gesagt, dass seine Ermittlungen nicht ganz ungefährlich sein könnten und dass der Ein oder Andere sicherlich nicht wolle, dass er Dreck aufwühlt. Er hat mir ans Herz gelegt, nach ihm zu forschen, wenn er nicht mehr auftaucht. Und ich gedenke, mein Wort zu halten“, sagte Luigi sehr überzeugend.
„Haben Sie deutsche Vorfahren?“, fragte Carla.
Luigi verstand nicht, was das für eine Rolle spielen sollte.
„Nein – wieso?“
„Ach, nur ein Gedanke. Oh, gerade klingelt es an der Tür… Bleiben Sie bitte am Apparat“, rief Carla, offensichtlich schon von weiter weg.
Er hatte die Türklingel überhaupt nicht gehört. Er lauschte angestrengt in den Hörer, konnte jedoch nichts wahrnehmen, nicht mal Straßengeräusche. Dann, plötzlich, war es ihm, als hörte er von Ferne Wasser rauschen. Und Carla war wieder da.
„Hier bin ich wieder!“
Ihr Tonfall hatte sich irgendwie verändert. Luigi überlegte, was anders war… sie kam ihm… hm… erleichtert vor? Seltsam.
„Signore, mein Termin rückt näher, ich muss los. Was also können wir tun?“
„Ich möchte mich mit Ihnen treffen. Ich denke, wenn wir uns persönlich sehen, dann können wir uns besser eine Strategie erarbeiten, um Federico zu finden“, sagte er.
„Treffen? Wir? Äh, Sie meinen das ernst? Ich sehe nicht, was das helfen könnte. Außerdem kann ich nirgendwo hin, ich habe wichtige und unverschiebbare Termine. Ich leite den Umbau eines Palazzos. Ich bin nämlich Innenarchitektin“, gab sie an.
„Das ist mir bekannt. Keine Angst, ich werde dafür sorgen, dass Sie alle Termine halten können. Ich fahre heute Abend nach Dienstschluss zu Ihnen rüber nach Venezia. Wenn ich über die A4 komme, dann brauche ich knapp dreieinhalb Stunden. Ich wäre so gegen halb elf bei Ihnen.“
Luigi schien keinen Widerspruch zu dulden. Er machte jetzt Nägel mit Köpfen.
„Ich bin sowieso bis in den Abend in der Nähe des Busbahnhofes beschäftigt. Parken Sie Ihr Auto, nachdem Sie vom Festland über die Ponte della Libertà gekommen sind, am großen Parkplatz an der Piazzale Roma, am Ende der Brücke. Dort werde ich auf Sie warten.“
Carla war klar, dass sie den Typen am schnellsten los wurde, wenn sie auf seine Ideen einging. Einmal treffen, das Problem klären, dann konnte sie sich beruhigt wieder dem ganz normalen Wahnsinn zuwenden, der ansonsten ihr Leben beherrschte.
„Wie erkenne ich Sie?“
4 – Der Stein kommt ins Rollen
Carla kam an diesem Tag gerade noch rechtzeitig und schickte drei „Ave-Maria“ dankbar gen Himmel, als ihr der Vorarbeiter auf der Baustelle im Palazzo mitteilte, dass ihre bemitleidenswerte und ach so zu bedauernde Auftraggeberin leider für diesen Tag wegen Migräne das Bett hüten musste. Anscheinend gab es noch mehr Menschen, die ihre eigene Meinung über die Baronessa hatten. Sie war wirklich eine Berühmtheit in Venedig, eher wegen der Art und Weise, wie sie an Titel und Geld des Barons di Leoni gekommen war, einst in den Siebzigern. Angeblich sei sie schrill bekleidet und ziemlich bekifft schwimmend am damaligen Palazzo des Barons angelandet und hatte trockene Kleider verlangt. Und ein Sektfrühstück. Die Baronessa, die zu dieser Zeit noch Signorina Colono hieß, soll von einer solchen Schönheit gewesen sein, dass der bereits weit in den Sechzigern stehende Baron ihr diesen Wunsch erfüllte. Und anscheinend noch viele andere. Wie zum Beispiel den, nur zwei Jahre nach der Hochzeit friedlich im Bett zu entschlafen. Seitdem war die Witwe gern gesehener Gast in vielen Adels- und Geldhäusern. Sie gab ihr Geld, das offensichtlich nie ein Ende fand, mit vollen Händen aus. Sie feierte rauschende Feste, kaufte hin und wieder einer dieser wunderschönen, aber heruntergekommenen Paläste und versuchte, ihm ihren Geschmack einzuhauchen. Und genau dieses Vorhaben wollte Carla hier am Calle Bernardo so gut es ging verhindern, aber leider: Auch in Venedig war der Kunde König. Glücklicherweise musste sich Carla heute also nicht mit ihrer Klientin herumärgern und dies ließ ihr die Zeit, während der Arbeit ihren Gedanken nachzuhängen.
Wenn man einmal davon absah, dass dieser Luigi ein typischer Italiener zu sein schien, so kümmerte er sich dennoch rührend um ihren Bruder. Und vermutlich sollte sie, solange es auch nur den kleinsten Zweifel daran gab, dass es ihrem Bruder gut ging, seinen Kollegen bestmöglich unterstützen. Abermals spürte sie einen leisen Schauer. Sie wusste nicht, ob dieses Erzittern aufgrund ihrer Ahnungen über sie daher rieselte oder ob einfach ihre Phantasie dafür sorgte, dass sie Gruseleffekte à la Hitchcock erleben durfte. Sie konnte sich gut daran erinnern, dass sie als Kind jahrelang Angst unter der Dusche hatte, nachdem sie heimlich Psycho gesehen hatte. Dieses Messer am weißen Duschvorhang war schlicht grässlich!
Da sie sich unentschlossen fühlte, nahm sie sich vor, sich auf jeden Fall konzentriert das anzuhören, was dieser Fremde ihr zu sagen hatte. Vermutlich hatte er sich bereits seine eigenen Gedanken gemacht und wollte diese mit ihr abstimmen. Eine Art Brainstorming.
Carla Lamponi arbeitete den Tag über durch. Sie machte keine Mittagspause, nutzte die ungestörte Zeit, um endlich einmal wieder ohne die Kommentare der di Leoni ein ganzes Stückchen voranzukommen. Insgeheim wünschte sie ihr vier weitere Tage, an denen sie das Bett hüten musste. Um ihre negativen Gedanken wieder gutzumachen, sagte sie gleich dreimal ein „OM TRYAMBAKAM“, ein altes indisches Mantra zur Unterstützung bei Krankheit und Schmerzen, auf. Carla glaubte an die Energie von Mantras und heiligen Namen, auch wenn sie indisch waren. Durch ihre jahrelange Yogapraxis hatte sie sich eher den fernöstlichen Gebetsformen zugewandt. Allerdings waren in der letzten Zeit Yoga und ihre ganz eigene Spiritualität sehr weit in den Hintergrund gerückt – die Arbeit ließ ihr keine Zeit dafür. Zumindest war dies ihr normale italienische Ausrede, wenn das deutsche Gewissen ab und zu einmal nachfragte, warum sie denn ihre persönliche Entwicklung nicht ernsthafter verfolgte. Sie nahm sich vor, ab sofort jeden Morgen nach dem Aufstehen zumindest ein paar Atem- und Dehnübungen zu machen. Auch mehr Meditation täte ihr gut. So sagte ihr Guru, ihr Lehrer, der sie auf dem Yogaweg hin und wieder begleitete. Wenigstens in den Zeiten, in denen Carla eine Begleitung zuließ. Doch sie hatte momentan keine Lust, stetig daran erinnert zu werden, dass man dies tat oder dass es dazugehörte, jenes zu tun. Sie glaubte fest an ihren eigenen Weg, ihr Leben zu leben – Yoga war ein Bestandteil, eine Technik. Aber eben nicht alles. Früher war sie oft belächelt worden, wenn sie erzählte, dass sie Yoga machte. Wurde gefragt, ob sie im Lotussitz über der Erde schweben konnte. Die Ignoranz dieser Menschen nervte Carla. Sie hatte sich damit abgefunden, als exotisch abgestempelt zu werden. Das war sie ja schließlich auch von Kindesbeinen an gewöhnt gewesen. In der badischen Urheimat ihrer Mutter Herta war sie stets nur das Italienerkind gewesen. Als sie nach Rom gezogen waren, la Piccola Tedesca, die kleine Deutsche. Warum dann nicht auch noch ein bisschen Bollywood? Bitte schön!
Immerhin hatte sie einmal ihren Bruder Federico in der Sauregurkenzeit inspirieren können, eine kurze Serie über Yoga und seine Ursprünge zu schreiben. Leider kam es lediglich zu drei Fortsetzungen. Heutzutage, wo es schon fast merkwürdig war, wenn man kein Yoga oder dergleichen machte, fiel sie eher durch ihre eigenwillige Anwendung der Yoga-Übungen auf.
So änderten sich die Zeiten.
Ah, das war das Stichwort gewesen: Welche Uhrzeit hatte es denn geschlagen? Ihre Armbanduhr zeigte kurz nach neunzehn Uhr, die Baustelle lag längst verwaist. Der Vorarbeiter und seine Mannen waren schon vor über einer Stunde nach Hause gegangen. Carla liebte es, alleine im Palazzo zu sein. Er lag an einer schmalen Gasse, die direkt auf den Canale Grande hinausging. Das Gebäude war lediglich in zweiter Reihe gebaut. Ein größerer Bau, den nun die Universität nutzte, stand unmittelbar zwischen dem Kanal und diesem Haus. Dafür machte der heimelige, sonnenbeschienene Vorplatz mit eigenem niedlichen Brunnen vor dem Palazzo der Baronessa ebendiesen minimalen Makel wett. Selbst die Baronessa mit ihren stattlichen finanziellen Möglichkeiten wollte oder konnte sich keinen Palast direkt in der ersten Reihe an Venedigs Vorzeigekanal leisten.
Natürlich war es schwierig, das Material für den Umbau hierher zu bringen, weil alles zunächst mit dem Boot angelandet und dann mit einem Sackkarren hundert Meter weit zum Gebäude transportiert werden musste. Mochte die Lage und das Äußere des Palazzos bescheiden wirken – im Inneren herrschte geradezu eine verschwenderische Fülle an lichtdurchfluteten hohen Räumen und den typisch venezianischen Balkonen. Die elektrischen Leitungen und sanitären Anlagen waren eine Katastrophe gewesen. Doch das war tatsächlich eine Frage von Geld und Zeit. Das Haus hatte, wenn draußen die Lichter angingen, seine ganz eigene Atmosphäre. Von der Dachterrasse aus sah man den Canale Grande und das Viertel rings um den Palazzo glitzern und strahlen. Sie konnte sich gut vorstellen, wie das hochherrschaftliche Leben früher hier gewesen sein mochte. Bälle, Maskeraden und Intrigen waren an der Tagesordnung. Spione gingen ein und aus, Männer trugen Perücken, Frauen Fächer und lange, raschelnde Röcke, unter denen sich schon so mancher versteckt hatte. Sie stellte sich vor, zurück in der Zeit zu reisen und Bestandteil dieses farbenprächtigen Spektakels zu sein. Eine Konkubine mit Schönheitspflaster, hochgebundenem Busen und gepuderten Haaren. Gerade zurückgekehrt von einem Geheimauftrag seiner Majestät des Dogen, würde sie den Verräter enttarnen… ein Geräusch riss sie aus ihren Träumereien. Was war das gewesen? So gerne sich ihre italienische Seele in solchen Fantasien verlor, so unsicher war sie sich, ob in diesen alten Häusern nicht doch mehr wohnte als hie und da eine Spinne oder eine Ratte. Sie beschloss, für heute genug getan zu haben und legte die beinahe fertig gerafften Vorhänge zur Seite, strich sie der Länge nach noch einmal glatt und löschte alle Lichter. Zu guter Letzt schloss sie die mächtige Eingangstür ab und machte sich zu Fuß auf den Weg in Richtung Busbahnhof an der Piazzale Roma. Sie überquerte dabei eine Unmenge Kanälchen, dass sie am Ende nicht mehr wusste, über wie viele Brücken sie gegangen war. Als sie neu in Venedig zugezogen war, hatte es ihr viel Spaß gemacht, die Kanäle und Kanälchen zu ihren Füßen benennen zu können. Heutzutage hastete sie genauso blind für die Schönheit der Stadt über die Gassen und Wasserstraßen wie die Eingeborenen.
Sie kam an der Calle Lavadori an. Dort kannte sie auf der anderen Kanalseite, in Richtung Ferrovia, ein schnuckeliges winziges Lokal, das ihr Gianpaolo einmal gezeigt hatte. Sie war damals so verliebt gewesen, in ihn, in Venedig, in dieses Lokal. Bei der Erinnerung daran wurde ihr warm ums Herz. Ob es eine gute Idee war, hierher zu kommen? Sie hatte auf jeden Fall einen Riesenhunger und in diesem Lokal gab es wirklich gute Fischgerichte. Außerdem saß man hier idyllisch. Egal, ob innen im Restaurant, in dem man sich fühlte wie in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben. Oder draußen, direkt am Kanal Rio Nuovo. In der direkten Nähe gab es einen Park, den Giardino Papadópuli, mit einigen Bäumen, was für Venedig ja eher selten war. Sie mochte den Park, auch wenn es jetzt Ende März erst Vorfrühling war und noch wenig Grün an den Platanen zu sehen war. Das Plätzchen war abends beleuchtet und es herrschte eine romantische, heimelige Atmosphäre.
Sie trat in das Lokal ein und setzte sich an den Tisch, den sie mit ihrem Liebsten auch immer genommen hatte. Direkt am Fenster, mit dem Blick auf den Kanal, der in den Canale Grande mündete, quasi ganz in ihm aufging. Früher, als sie mit ihrem Gianpaolo noch glücklich gewesen war, hatte sie das als wunderbare Metapher für ihre Liebe gesehen. Heutzutage sagte sie sich, dass das alles nur romantisches Getue gewesen war und es so etwas im wirklichen Leben niemals gab. Doch ihr Herz sehnte sich im Grunde nach diesem Gefühl zurück. Sie sah die neugierigen Blicke der Besucher des Lokals, als sie eintrat. Ganz offensichtlich machten sie sich darüber Gedanken, ob sie tatsächlich alleine gekommen war oder ob sie noch auf ein Gegenüber wartete.
Spießiges Italien! Warum sollte eine Frau nicht auch ohne Gesellschaft essen gehen? Das war doch nicht schlimm und kein Armutszeugnis. Es zeugte eher von Selbstvertrauen und Emanzipation! Carla glaubte sich selbst kein Wort. Es war ja überhaupt keine Frage, dass sie viel lieber mit einem Partner hier gesessen wäre. Sie wählte aus der Karte einen Salat mit Fisch, kalorienbewusst. Nach kurzer Zeit bekam sie ihr Essen – und ab diesem Augenblick hatte sie für nichts und niemanden mehr Blicke oder Gedanken übrig. Sie genoss grünen Salat, Oliven, Tomaten, Rohkost, Eier und Rucola zusammen mit einer perfekt gegrillten Seezunge und einem Glas Weißwein. Zum Abschluss nahm sie einen Caffè.
So ein Essen war doch einfach eine Streicheleinheit für die Seele! Carla war sehr stolz auf sich, dass sie sich nur eine relativ kleine Streicheleinheit bestellt hatte. Ihre guten Vorsätze zeigten die ersten Erfolge!
Kurz nach zweiundzwanzig Uhr stand Carla Lamponi frierend, aber wenigstens satt mitten auf der Piazzale Roma und harrte auf Luigi Baldini. Hoffentlich war er dieses Mal pünktlicher! Er durfte gerne früher kommen. Sie wünschte sich endlich Sommer, zumindest richtigen Frühling. Um diese Uhrzeit hatten die meisten Besucher Venedig bereits seit Stunden verlassen und es war wenig los. Viele der noch in der Stadt anwesenden Touristen fuhren gerne mit den späten, um diese Uhrzeit völlig überfüllten Linienbooten über den großen Kanal. Meist waren sie aber enttäuscht, weil sie einen leuchtenden, mit Leben erfüllten Canale Grande erwartet hatten und dann sahen, dass das Meiste an Leben hier erlosch, sobald die Touristen gingen. Denn der Kern Venedigs war mittlerweile beinahe unbewohnt und fast alle Häuser nachts leer. So gab es nur dunkle Fensterhöhlen anstatt der erwarteten illuminierten Pracht. Carla war deshalb froh, weiter nördlich in Cannaregio am Fondamente di San Giobbe zu wohnen. Dort endete die Insel, wenigstens war sie noch wirklich bewohnt wie zu früheren Zeiten. Solche lebendigen Stadtviertel gab es sonst nur noch auf der Venedig vorgelagerten Insel Giudecca oder auf dem Lido. Der typische Venezianer starb langsam aus, war eine bedrohte, jedoch wie Carla fand, sehr schützenswerte Spezies.
„Carla?“
Sie schrak zusammen, als hinter ihr ein Mann auftauchte und ihr seine Hand auf die Schulter legte. Er hatte Glück, dass ihr Magen frisch gefüttert und ihr Kopf damit klar und einsatzbereit war. Deswegen wusste sie sofort, dass der Mensch hinter ihr Luigi Baldini sein musste. Ansonsten hätte sie das getan, was sie in einem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte: ihn dahin zu treten, wo es so richtig weh tat! Diesen Kursus hatte sie vor einigen Jahren belegt, als in Venedig mehrere Frauen von einem Serienvergewaltiger überfallen worden waren. Nicht, dass sie Angst hatte – doch sicher war sicher. Der sollte es nur mal bei ihr versuchen!
„Ich bin Signora Lamponi. Sie sind Signore Baldini?“
Carla Lamponi war die vertrauliche Anrede mit ihrem Vornamen nicht entgangen. Ihre deutsche Seite war überhaupt nicht damit einverstanden, dass irgendein dahergelaufener Reporter sie ungefragt so ansprach. Sie würde ihm zu verstehen geben, dass ein bisschen Anstand und Höflichkeit besser ankamen denn plumpe Vertraulichkeiten.
„Ja, der bin ich. Ich bin froh, dass Sie gekommen sind! Ich hatte ein wenig befürchtet, dass Sie es sich anders überlegt haben könnten… Aber sagen Sie: Ich bin jetzt vier Stunden hierher unterwegs gewesen und konnte noch nicht zu Abend essen. Gibt es vielleicht in der Nähe ein Lokal, in dem man gut verköstigt wird und gleichzeitig ungestört reden kann? Ich habe einen Mordshunger!“
Carla schaute ihm überrascht ins Gesicht. Dass er seinen Hunger vor das Gespräch über ihren Bruder stellen wollte, machte ihn deutlich sympathischer. Sie lächelte und sagte:
„Wissen Sie, ich kenne hier um die Ecke ein nettes Lokal, das sind zu Fuß keine fünf Minuten. Man kann sich dort wunderbar unterhalten“, setzte sie schnell nach, weil sie sich an die umfangreiche Dessertkarte erinnerte, die sie vorhin so tapfer auf die Seite gelegt hatte.
„Wenn Sie wollen, können wir dorthin gehen.“
Schweigend legten sie den Weg zurück. Luigi war ein bisschen enttäuscht, als sie nach kurzer Zeit bereits das Lokal erreicht hatten. Er hätte gerne mehr vom nächtlichen Venedig gesehen. Er freute sich, trotz der widrigen Umstände, einmal Venezia erleben zu dürfen. Er hatte sich schon viele Male vorgenommen, einige Tage hier zu verbringen. Aber dann war immer wieder etwas anderes dazwischen gekommen… hatten sich angeblich wichtigere Dinge davor geschoben und es kam ihm das Lied von Marianne Faithful aus den Siebzigern in den Sinn.
„At the age of 37 she realized, she’ll never ride through Paris in a sportscar with the warm wind in her hair…“, sang er.
The Ballad of Lucy Jordan. Ja, daran erinnerte ihn sein halbherziger Versuch, nach Venedig zu reisen. So wie die Dame im Lied hätte er es ohne den augenblicklichen triftigen Anlass vielleicht nie geschafft, nach Paris – pardon: Venezia zu kommen. Und wie schnell konnte die Jugend, die Gesundheit oder das Leben selbst vorbei sein, dachte er. Luigi wollte zwar nichts herbei schreien, aber ob sich Federico noch bester Gesundheit erfreute…? Er war sich da nicht sicher.
Carla konnte den Mann neben sich singen hören. Das Lied kannte sie doch? Sie summte leise mit, schließlich war sie eine begeisterte Sängerin. Sie sang für ihr Leben gerne, so ganz nur für sich, weil ihr dabei immer leicht ums Herz wurde und sie sich völlig auf sich selbst konzentrieren konnte. Sie nahm sich vor, sich zukünftig wieder mehr auf das Singen einzulassen, ihm mehr Raum in ihrem täglichen Zeitplan einzuräumen. Solange der Palazzo der Baronessa noch renoviert wurde und keine Möbel in den Räumen standen, gab es in jedem Zimmer eine ganz eigene Akustik. Sie hatte sie alle in einer stillen Stunde ausprobiert. Am besten gefiel es ihr, im vorderen Salon zu singen. Dort warfen die kahlen Wände ihre Stimme und die dazugehörenden Obertöne um ein Vielfaches zurück. Und es war dann, als ob viel mehr Stimmen miteinander sangen. Wunderbar. Möglicherweise konnte sie ja hier in Venedig einen Singkreis auftun. Keine Profis, sondern nur Menschen, denen Singen aus dem Herzen etwas bedeutete.
„Hier ist es. Gehen Sie bitte vor“, bat Carla ihre Begleitung in das Lokal einzutreten.
Der Kellner grüßte die beiden oberflächlich, schaute dann ein zweites Mal genauer auf das eintretende Paar, als er Carla erkannte, die ja bereits einmal an diesem Abend bei ihm gegessen hatte.
„Buona sera. Benvenuto addietro – willkommen zurück“, sagte er zu Carla.
Diese nickte und setzte sich zu Luigi an den kleinen Tisch am Fenster.
„Ah, man kennt Sie hier?!“, stellte ihr Gegenüber fest.
„Ja, ich war das ein oder andere Mal hier. Lassen Sie uns das Essen bestellen. Ich weiß nicht, wie lange die Küche offen ist, es sind ja kaum noch Gäste da.“
Beide schauten in die Karte. Luigi wählte ein T-Bone-Steak extragroß mit Salat.
„Fleischfresser“, zuckte er mit den Schultern, beinahe entschuldigend.
„Oh, Fleisch und Fisch sind sehr gut hier. Wirklich, Sie haben gut gewählt. Ich werde nur ein Dessert essen, ich hatte ja bereits ein Abendessen. Ich denke, ich bleibe klassisch bei Tiramisu.“
Der Kellner nahm ihre Bestellung auf und verzog sich in die Küche. Kurz darauf brachte er ihre Getränke und ließ die Beiden wieder alleine.
„Ich danke Ihnen, dass Sie es möglich gemacht haben, dass wir uns hier treffen. Ich habe ja gesagt, dass ich Federico versprochen hatte, bei Ihnen anzuklopfen, falls er sich bei mir nicht melden würde. Sie sagten, er hat sich bei Ihnen überhaupt nicht gemeldet? Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Es widerspricht auch dem ungeschriebenen Reportergesetz, dass man gerade dann, wenn man inkognito vor Ort recherchiert und abtauchen muss, einen vorher vereinbarten Ort oder Menschen kontaktiert. Und wenn Federico das bisher nicht getan hat, dann haben wir wirklich allen Grund, uns Sorgen zu machen. Bitte denken Sie nach – gab es tatsächlich kein Lebenszeichen von ihm?“, fragte er flehentlich.
„Nein, er hat sich nicht gemeldet. Ich habe schon lange nichts mehr von ihm gehört. Das letzte Mal im…“, sie überlegte, ob sie ehrlich sein konnte. Aber vermutlich war es das Beste, bei der Wahrheit zu bleiben.
„…im Dezember. Wissen Sie, wir haben nicht so viel Kontakt. Meistens zu Weihnachten oder zum Geburtstag – da telefonieren wir oder schreiben uns eine Karte… aber beides ist schon länger her. Und nachdem Sie die Situation geschildert haben, mache ich mir jetzt auch Sorgen. Es wäre schrecklich, wenn ihm etwas passiert wäre. Und dass er sich ausgerechnet bei mir melden wollte, das… das rührt mich schon sehr“, sagte sie leise.
Wenn sie sich nicht zusammenriss, würden ihre Augen in wenigen Sekunden in Tränen schwimmen. Sentimentalität half nun aber überhaupt nicht.
„Können Sie denn nicht noch an anderer Stelle nachforschen? Sicherlich hat Federico seine Informationen aufgeschrieben und sie irgendwo deponiert. Bei der Recherche vor Ort hat er doch bestimmt auch darauf geachtet, dass seine Berichte oder Stichworte bei Ihnen in Mailand ankommen… oder macht man das als Reporter nicht so?“
Tapfer versuchte sie, die Tränen niederzudrücken.
„Lassen Sie es mich so ausdrücken, Carla“, ging er auf sie ein.
„Federico hat seine eigene Art zu forschen und an Infos heranzukommen. Wenn er einer heißen Sache auf der Spur ist, wird er sofort zum Einzelkämpfer. Und zum Pedanten, der alle in den Wahnsinn treibt. Keiner kann dann mehr mit ihm zusammenarbeiten.“
Carla registrierte, dass wohl auch ihr Bruder deutsche Tage hatte.
„Deshalb hat er sich alleine auf die Suche nach Insidern gemacht. Da ließ er nicht mit sich reden, wie immer. Deswegen war ich ja froh, dass er wenigstens Sie als seine Kontaktstelle genannt hat, falls es schwierig werden sollte. Und nun hat er sich an seine eigene Regel nicht gehalten. Ah, da kommt ja das Steak. Bitte seien Sie mir nicht böse, wenn ich zuerst essen möchte… Federico nutzt es nichts, wenn wir hungern. Außerdem kann ich klarer denken, sobald ich etwas im Magen habe“, sagte Luigi.
Carla war baff – war das ihr männliches Pendant? Immerhin, das konnte sie gut verstehen und war überhaupt nicht böse, im Gegenteil. Vor ihr stand eine riesige Portion Tiramisu, die Küche schien dem späten Gast den Rest der Tagesmenge gegeben zu haben. Aus dieser Menge ließen sich mindestens drei normale servierbare Kontingente machen. Besagte Kalorienbombe brachte sie um den kompletten Erfolg des heutigen Diät-Tages.
„Ach, sei’s drum. Ab morgen trete ich wirklich kürzer beim Essen“, sagte sie in Gedanken und versenkte mit höchster Konzentration ihren Löffel in der Dessertschale. Göttlich!
„Schmeckt sehr gut, Sie hatten Recht. Alora, wie gesagt, Ihr Bruder gibt seine Informationen nicht gerne preis und hier hat er nicht einmal gesagt, worum es bei der Geschichte geht. Gar nichts. Ich habe natürlich versucht, ein bisschen etwas in Erfahrung zu bringen. Doch er hat geschwiegen wie ein Grab… oh, Verzeihung“, sagte er, als er Carlas Gesichtsausdruck beim Wort Grab sah.
„Es war auf jeden Fall schon beinahe ein Wunder, dass ich ihn die fünfzig Kilometer zum Flughafen nach Bergamo fahren durfte. Seine Maschine ging um sechs Uhr zwanzig. Knapp 60 Minuten brauchte sein Flug, Sardinien ist ja nur ein Katzensprung entfernt…“, erklärte er ihr die wenigen Umstände, die er kannte.
„Madonna! Legen Sie Ihr Besteck hin, wir müssen gehen!“
Carla stand hastig auf und warf dabei den Rest ihres Desserts um. Auf der Tischdecke gab es sofort einen hässlichen, braunen Fleck, dessen Ränder sich immer weiter konzentrisch vergrößerten.
„Begleiten Sie mich nach Hause. Ich muss sofort nach Hause!“
Der Kellner kam an ihren Tisch.
„Alles in Ordnung, Signora? Gibt es ein Problem? Hat es Ihnen nicht geschmeckt?“, fragte er beflissentlich.
„Doch, doch, alles ganz wunderbar… danke. Aber ich habe noch einen dringenden Termin. Bringen Sie dem Herrn die Rechnung“, sprudelte Carla hervor und lief aus dem Lokal hinaus.
Luigi Baldini fand Carlas merkwürdiges Verhalten nicht lustig. Er hatte noch nicht einmal die Hälfte seines Steaks gegessen und fühlte sich beileibe nicht satt. Er verstand nicht, was in dieser Frau vorging. Erst machte sie, ganz entgegen seinen Befürchtungen, einen recht vernünftigen Eindruck, beinahe hatte er geglaubt, mit ihr in ein gutes Gespräch kommen zu können. Und nun lief sie einfach davon, ohne ein Wort der Erklärung und ließ ihn alleine an seinem Tisch sitzen. Der Ober wartete noch immer auf eine Reaktion von ihm.
„Ja, dann machen Sie die Rechnung bitte fertig. Ich esse so lange meinen Teller leer. Die Signora wird sich ein wenig gedulden müssen.“
Er säbelte sich ein großes Stück vom Steak ab. Dieses war nach seinem Gusto gebraten. Zartes Fleisch, auf den Punkt gebracht, well done, saftig, ein Genuss. Er schloss verzückt die Augen.
„Dein Pech“, sagte er durch die Scheibe zu Carla hin, die wie versteinert am Geländer des Kanals stand und ihm den Rücken zudrehte.
Nach wenigen Minuten kam die Rechnung und als er das Geld auf den Teller mit der Rechnung legen wollte, kam Carla mit wütendem Blick wieder in das Restaurant zurückgerauscht.
„Sind Sie denn immer noch hier drin? Wir müssen los – ich glaube, ich weiß, wo wir meinen Bruder suchen müssen…“, rief sie aufgebracht.
In ihr kämpfte das italienische impulsive Heißblut mit der deutschen Gründlichkeit. Und erstaunlicherweise waren sich beide Teile einig darüber, dass dieser impertinente Mensch, der sie seit Minuten – oder waren es bereits Stunden? – in der Kälte warten ließ, endlich sein Essen beenden sollte. Wenn sie selbst schon ihr Dessert stehen ließ, dann konnte er doch nicht einfach in aller Seelenruhe weiteressen! Sie überlegte kurz, ob sie sich den Rest einpacken lassen sollte, verwarf diesen Gedanken dann aber sofort wieder. Sie verspürte keinen Appetit.
Sie wollte jetzt nach Hause. Sofort!
Sie wusste genau, dass sie den ersten Hinweis zum Aufenthaltsort ihres Bruders bereits in Händen gehalten hatte. Unwissend, was er zu bedeuten hatte. Sie hatte ihn für eine der üblichen Werbesendungen gehalten und ins Altpapier gelegt. Madonna! Sie dankte Gott dafür, dass sich die deutsche Leidenschaft der Mülltrennung und des Recyclings bei ihr durchgesetzt hatte. So konnte sie hoffen, dass sie das Schreiben noch fand, jetzt nach ein paar Wochen.
Im Altpapier!
„Ganz ruhig, ich bin ja schon fertig hier… möchten Sie mir nicht sagen, was zwischen dem ersten und dem zwölften Löffel Tiramisu passiert ist, dass Sie wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen sind?“
„Ogni promessa è debito. Jedes Versprechen ist eine Verpflichtung. Deswegen sind Sie doch hier… also, kommen Sie mit mir nach Hause, ich helfe Ihnen, Ihr Versprechen zu halten!“
Carla Lamponi schlug den Weg ins Cannaregio-Viertel, nord-westlich gelegen, ein. Sie ließen Luigis Auto im Parkhaus stehen und hasteten in Richtung Norden. Zuerst am Canale Grande entlang, dann über die Ponte Scalci und weiter durch unzählige Gassen und Gässchen. Die Straßenlaternen legten ein warmes Licht auf die Brücken und Gehwege, hin und wieder schaukelte ein Schnellboot oder eine Gondoletta auf dem Wasser. Das versetzte Luigi in eine romantische Stimmung. Er konnte sich gut vorstellen, dass Frischverliebte hier jede Menge dunkler Ecken fanden, in denen sie ihrer Sehnsucht nachkommen konnten. Und er verstand, warum viele dem Charme Venedigs verfielen. Selbst wenn sie wussten, dass die Nacht lediglich gnädig alle jene Seiten der Stadt kaschierte, die sie tagsüber lieber nicht so genau sahen. Und er wunderte sich, dass er außer einem leicht salzigen und tangigen Meeresgeruch keine unangenehmen anderen Gerüche wahrnehmen konnte. Überhaupt erschien ihm Venedig sauberer als er es sich vorgestellt hatte.
Luigi versuchte den ganzen Weg, Carla zu entlocken, welche grandiosen Neuigkeiten sie ihm zu Hause eröffnen würde, doch von Carla kamen nur Sätze wie:
„Warten Sie es ab, wir werden sehen“ oder „Seinen Müll zu trennen, rettet die Umwelt. Und Leben.“
Es war zum Haare raufen. Warum musste die Schwester seines guten Freundes und Kollegen eine solche Psychopatin sein? Und wieso stieß er in seinem Dasein immer auf genau diese Menschen, wo es doch bewiesenermaßen Millionen anderer, eben normaler Italiener gab?
Einige Zeit später blieb Carla stehen und schloss die Haustür an einem heruntergekommenen Haus auf.
„Ich dachte, die Gute ist Innenarchitektin? Hier sieht es nicht sehr wohnlich aus“, dachte er.
Laut sagte er dann:
„Scheint eine recht ruhige Gegend zu sein.“
„Na ja, es geht. Hier ist das ehemalige Arbeiterviertel. Hin und wieder ist hier schon einiges los. Aber kommen Sie herein – Vorsicht, frisch gewachst!“
Sofort schlug ihm der penetrante Geruch von Bohnerwachs entgegen. Das musste eine typische deutsche Eigenart sein. Schließlich hatte Federico oftmals in späten Redaktionssitzungen von seinem Leben in Deutschland erzählt. Was für komische Dinge man dort tat… zum Beispiel das Holz mit Wachs einzureiben. Andererseits musste er zugeben, dass das Treppenhaus sehr gepflegt aussah und eine heimelige Atmosphäre ausstrahlte. Das täte seinem Treppenaufgang in Mailand auch gut. Sie gelangten in den dritten Stock, wo Carla ihre Wohnungstür aufschloss.
Luigi Baldini fand sich in einer anderen Welt wieder. Überall hingen Artefakte längst vergangener Zeiten an den Wänden, helle Farben und dunkle Möbel ergaben wunderbare Kontraste, Moderne gepaart mit Altem.
„Wow“, entfuhr es ihm.
Ihr Handwerk verstand diese Frau anscheinend doch.
„Das sieht toll aus. Ihre Wohnung, meine ich“, lächelte er sie an.
„Danke. Ich freue mich, dass es Ihnen gefällt. Ich habe lange gebraucht, um das alles zusammenzutragen. Kommen Sie bitte mit in die Küche. Dort kann ich Ihnen zeigen, welchen Hinweis ich gemeint habe.“
Carla lächelte zurück. Langsam wurde der Eisklumpen in ihrem Magen kleiner. Die Gänsehäute, die in regelmäßigen Abständen ihren Rücken hinab gekrochen waren, kamen weniger häufig. In der Küche hieß Carla ihren Gast Platz zu nehmen, auf dem jede Menge Marmeladengläser x und anderes Essbares standen. Hatte Frau Lamponi eine Menge Gäste zum Frühstück gehabt?
Carla wiederum krabbelte auf allen vieren vor ihren Küchenschränken auf dem Boden und öffnete sie. Zog päckchenweise Zeitungen und Papiere heraus, blätterte sie durch und murmelte Dinge vor sich hin, die Luigi nicht verstand. Der Satzmelodie und dem Klang der Worte nach handelte es sich um Deutsch – oder zumindest einen germanischen Urdialekt.
„Ich bin mir sicher, dass es hier irgendwo sein muss. Ich habe es gleich… wissen Sie, ich trenne nämlich meinen Müll.“
Was wollte sie ihm erklären? Luigi verstand zwar die Worte, aber nicht, was sie ihm damit sagen wollte.
„Ja, der Müll…“, murmelte er ihr zustimmend zu, zog dennoch fragend seine linke Augenbraue in die Höhe.
„Eccolo qua! Da ist es ja!! Ich wusste, dass das Haus nichts verliert!“
Triumphierend hielt sie ein Blatt Papier in die Höhe und schwenkte es vor seinem Gesicht. Sie schien mit einem Male wie verändert, beinahe freundlich.
„Wie wäre es mit einem Caffè?“, säuselte sie.
„Ja, gerne, der schadet nicht. Doch sagen Sie: Was haben Sie denn gefunden? Etwas, das uns bei der Suche nach Fedo weiterhilft?“, fragte er.
Sie nickte und füllte geschickt Wasser und Kaffee in die Caffetiera. Setzte sie auf den Gasherd und entzündete das Gas. Kurz darauf erfüllte Kaffeeduft die Küche und weckte die Lebensgeister der Beiden. Carla holte noch ein paar Schokoladewaffeln und packte sie zu all dem anderen Kram auf den Tisch. Mittlerweile bereute sie, das wunderbare Tiramisu nicht mitgenommen zu haben. Das wäre zusammen mit dem Kaffee göttlich gewesen. Sie seufzte, stellte Zucker und zwei Tassen auf die Tafel und setzte sich.
„Alora, ich werde Ihnen sagen, was mir im Lokal eingefallen ist. Vor circa drei Wochen habe ich mit der Tagespost eine Werbesendung erhalten. Darin wurde für ein neuerbautes Hotel Werbung gemacht. So einem Wellness-Schuppen mit allem Schnickschnack… Sauna, Pool, Massage, Yoga, Pilates… ein Eröffnungsangebot sollte es sein. Günstige Preise zur Einführung, Frühbucherrabatte… Sie wissen schon.“
Luigi wusste nicht. Konnte keinen Zusammenhang sehen zwischen Federico und dem, was sie sagte. Aber bestimmt würde sie ihm alles erklären. Vielleicht sollte er vorher von diesen wunderbaren Schokoladenkeksen probieren, die verführerisch auf dem Tisch standen. Der Kaffee dampfte vor ihm und auch Carla wollte zuerst ein bisschen was essen, bevor sie weitersprach. Also war er ruhig und so saßen sie in trauter Zweisamkeit schweigend ihren Gedanken nachhängend an Carlas Küchentisch und knabberten an den Keksen.
Ganz so furchtbar war diese Carla Lamponi doch nicht, dachte er. Immerhin machte sie wunderbaren, starken Caffè, wie er ihn am liebsten trank.
„Jene Werbesendung warb für ein Hotel am…“, sie nahm erneut das Gespräch auf, um sofort wieder zu schweigen und auf ein Blatt Papier zu starren, das sie in der Hand hielt. „…ein Hotel am Monte d‘Accoddi. Monte d‘Accoddi, bei Porto Torres, Provinz Sassari. Und Sie wissen, wo das ist?? Auf Sardinien.“
Sie schwieg bedeutsam, schaute ihn mit erwartungsvollem Blick an, als wollte sie sagen:
„Na, und wo ist nun meine Belohnung?“
5 – Pläne und Kekse
„Und Sie denken, das hängt mit dem Verschwinden Ihres Bruders zusammen?“
Luigi war sich da ganz und gar nicht sicher. Hatte er deswegen beinahe sein Steak stehen lassen müssen?
„Hören Sie, ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich mich über diese Werbung gewundert habe. Erstens habe ich bisher niemals Post aus Sardinien bekommen. Zweitens war der Brief handschriftlich an mich adressiert. Bei Werbesendungen wird meist ein Etikett mit dem PC erstellt. Und drittens…“, ihre Stimme wurde ganz leise, so dass er sie kaum verstand, „hatte ich im ersten Moment den Eindruck, dass mein Bruder mir das geschickt hatte. Die Handschrift war seiner ähnlich. Das Briefkuvert habe ich anscheinend nicht mehr.“
„Und warum haben Sie das nicht gleich mit Fedo in Verbindung gebracht?“
Luigi zweifelte. Das konnte Zufall sein. Andererseits hatte Federico ja versprochen, er würde mit seiner Schwester Kontakt aufnehmen. Wie und wann, das hatte er nicht vorhergesagt.
„Ich habe gedacht, dass man mich wegen meiner Yoga-Leidenschaft angeschrieben hätte. Es werden ja immer Adressen von potentiellen Kunden gekauft. Deswegen meinte ich, dass man meine Adresse von einem Yoga-Event hatte. Von irgendeiner Liste.“
„Yoga? Sie meinen, so mit Kopfstand und über dem Boden schweben??“, fragte er grinsend.
Er war also doch ein Ignorant, sie hatte es gleich gewusst.