Ada oder Das Verlangen - Vladimir Nabokov - E-Book

Ada oder Das Verlangen E-Book

Vladimir Nabokov

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Beschreibung

«Ada» ist, selbst in Nabokovs herausragendem Werk, ein leuchtender Solitär. Es handelt von der unmöglichen Liebe zwischen den hochbegabten Geschwistern Ada und Van. Angesiedelt ist die Handlung auf dem imaginären Planeten Antiterra, auf dem sich erstaunlicherweise das alte Russland und das moderne Amerika friedlich überlagern. Die beiden Hauptfiguren, die in ihrer geistigen Überlegenheit faszinierend, aber auch unnahbar und amoralisch wirken, lieben außer einander nur ihre hochspezialisierten Hobbys (z.B. Entomologie, Botanik, Psychologie, Insektenkunde, russische Literatur oder das Auf-den-Händen-Laufen). Auf ihren Lebenswegen hinterlassen sie, unverschuldet schuldig geworden, eine Spur der emotionalen Verwüstung. Dieses Buch funkelt und provoziert auf jeder Seite und erzeugt eine eigentümliche Stimmung von ekstatischer Hellsichtigkeit. Es steckt voller überraschender Beobachtungen und Gedanken, wilder und abgründiger Erotik. Trotz aller erzählerischen Präzision bleibt es anarchisch in seiner konsequenten Weigerung, die Figuren zu erklären oder gar zu verurteilen. Es ist in Nabokovs Alterswerk der komplexe, an klugen Anspielungen und versteckten Scherzen überreiche Höhepunkt.

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Seitenzahl: 1253

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Vladimir Nabokov

Ada oder Das Verlangen

Aus den Annalen einer Familie

Deutsch von Uwe Friesel, Marianne Therstappen und Dieter E. Zimmer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Ada» ist, selbst in Nabokovs herausragendem Werk, ein leuchtender Solitär. Es handelt von der unmöglichen Liebe zwischen den hochbegabten Geschwistern Ada und Van. Angesiedelt ist die Handlung auf dem imaginären Planeten Antiterra, auf dem sich erstaunlicherweise das alte Russland und das moderne Amerika friedlich überlagern. Die beiden Hauptfiguren, die in ihrer geistigen Überlegenheit faszinierend, aber auch unnahbar und amoralisch wirken, lieben außer einander nur ihre hochspezialisierten Hobbys (z.B. Entomologie, Botanik, Psychologie, Insektenkunde, russische Literatur oder das Auf-den-Händen-Laufen). Auf ihren Lebenswegen hinterlassen sie, unverschuldet schuldig geworden, eine Spur der emotionalen Verwüstung.

Dieses Buch funkelt und provoziert auf jeder Seite und erzeugt eine eigentümliche Stimmung von ekstatischer Hellsichtigkeit. Es steckt voller überraschender Beobachtungen und Gedanken, wilder und abgründiger Erotik. Trotz aller erzählerischen Präzision bleibt es anarchisch in seiner konsequenten Weigerung, die Figuren zu erklären oder gar zu verurteilen. Es ist in Nabokovs Alterswerk der komplexe, an klugen Anspielungen und versteckten Scherzen überreiche Höhepunkt.

Über Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er, seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 2. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Inhaltsübersicht

WidmungStammbaumVorbemerkungErster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. KapitelZweiter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelDritter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelVierter TeilFünfter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. KapitelAnhangNachwortZeittafelDie Geographie von AntiterraOrtsverzeichnisNabokov über AdaAusgewählte LiteraturTafelteilAbb. 1Abb. 2Abb. 3Abb. 4Abb. 5Abb. 6Abb. 7Abb. 8Abb. 9Abb. 10Abb. 11Abb. 12Abb. 13Abb. 14Abb. 15Abb. 16Abb. 17Abb. 18Abb. 19Abb. 20Abb. 21Abb. 22Abb. 23Abb. 24Abb. 25Abb. 26Abb. 27Abb. 28Abb. 29Abb. 30Abb. 31Abb. 32Abb. 33Abb. 34Abb. 35Abb. 36Abb. 37Quellennachweis der TafelabbildungenZu den Anmerkungen

Für Véra

Stammbaum[1]

Mit Ausnahme von Mr. und Mrs. Ronald Oranger[2], ein paar Randfiguren und einigen nichtamerikanischen Bürgern sind alle in diesem Buch namentlich erwähnten Personen tot.

(Der Hrsg.)

Erster Teil

1

«Alle glücklichen Familien sind sich mehr oder weniger unähnlich; alle unglücklichen sind sich mehr oder weniger ähnlich»[3], sagt ein großer russischer Schriftsteller am Anfang eines berühmten Romans (Anna Arkadijewitsch[4] Karenina, ins Englische verklärt von R.G. Stonelower[5], Mount Tabor, Ltd., 1880). Jener Ausspruch hat wenig oder nichts mit der Geschichte zu tun, die hier ausgebreitet werden soll, einer Familienchronik, deren erster Teil eher einem anderen Werk Tolstojs nahesteht, Detstwo i Otrotschestwo (Kindheit und Heimat, Pontius-Presse, 1858).[6]

Vans Großmutter mütterlicherseits, Daria («Dolly») Durmanov, war die Tochter von Fürst Peter Zemski, dem Gouverneur von Bras d’Or[7], einer amerikanischen Provinz im Nordosten unseres großen und vielgestaltigen Landes, der sich 1824 mit Mary O’Reilly vermählte, einer irischen Dame von Welt. Dolly, ein Einzelkind, in Bras geboren, heiratete 1840, im zarten und leichtfertigen Alter von fünfzehn, General Ivan Durmanov, den Kommandeur der Yukon-Festung, einen friedlichen Gutsherrn mit Ländereien in den Severn Tories (Severnïya Territorii)[8], jenem tessellierten[9] Protektorat, das immer noch liebevoll «russisches» Estoty genannt wird und so granoblastisch[10] wie organisch in «Russisch»-Canady oder «Französisch»-Estoty[11] übergeht, wo nicht nur französische, sondern auch mazedonische und bayerische Siedler sich unter unserem Sternenbanner eines halkyonischen Klimas erfreuen.

Die Lieblingsdomäne der Durmanovs war jedoch Raduga[12] in der Nähe des Städtchens gleichen Namens, jenseits des eigentlichen Estotilands auf der atlantischen Tafel des Kontinents zwischen dem eleganten Kaluga[13], New Cheshire, U.S.A., und dem nicht minder eleganten Ladoga[14], Mayne, gelegen, wo sie ein Stadthaus besaßen und wo auch ihre drei Kinder zur Welt kamen: ein Sohn, der jung und berühmt starb, und ein Paar schwieriger weiblicher Zwillinge. Dolly hatte die Schönheit und Launenhaftigkeit ihrer Mutter geerbt, aber auch einen älteren, angestammten Hang zu wunderlichem, nicht selten beklagenswertem Geschmack, trefflich widergespiegelt zum Beispiel in den Namen, die sie ihren Töchtern gab: Aqua und Marina («Warum nicht Tofana[15]?», fragte verwundert der gute und kapital gehörnte General mit einem dröhnenden Lachen, dem ein kleines, abschließendes Hüsteln vorgetäuschter Gleichgültigkeit folgte – ihm graute vor den Ausbrüchen seiner Frau).

Am 23. April 1869, im feucht-warmen, trüb-grünen Kaluga, heiratete die fünfundzwanzigjährige Aqua, an ihrer üblichen Frühjahrsmigräne leidend, Walter D. Veen, einen Bankier aus Manhattan von alter angloirischer Abstammung, der lange Zeit eine leidenschaftliche Liebesbeziehung zu Marina unterhalten hatte und bald hernach mit Unterbrechungen wieder aufnahm. Letztere ehelichte irgendwann 1871 einen Vetter ersten Grades ihres ersten Liebhabers, dessen Name ebenfalls Walter D. Veen war, einen ebenso begüterten, aber wesentlich langweiligeren Burschen.

Das «D» im Namen von Aquas Gatten stand für Demon[16] (eine Form von Demian oder Dementius), und so wurde er auch von seiner Sippe genannt. In der Gesellschaft war er allgemein als Rabe Veen oder Dunkler Walter bekannt, zum Unterschied von Marinas Mann, Durak[17] Walter oder einfach Roter Veen. Demons zwiefaches Hobby war das Sammeln alter Meister und junger Mätressen. Außerdem liebte er mittelältliche Wortspiele.

Daniel Veens Mutter war eine Trumbell, und sofern ihm kein Spielverderber in die Quere kam, neigte er dazu, in großer Ausführlichkeit zu erklären, wie im Laufe der amerikanischen Geschichte aus dem englischen bull, Bulle, das neuenglische bell, Glocke, geworden war. Irgendwie war er in seinen Zwanzigern «ins Geschäft gekommen» und hatte sich ziemlich üppig zu einem Kunsthändler in Manhattan ausgewachsen. Zumindest anfangs hatte er weder ein besonderes Verhältnis zu Bildern noch irgendein kaufmännisches Geschick; auch brauchte er sich in keiner Weise von dem Auf und Ab eines «Jobs» durchrütteln zu lassen, denn er hatte von einer Reihe weitaus tüchtigerer und wagemutigerer Veens ein solides Vermögen ererbt. Da er zugegebenermaßen nicht viel vom Landleben hielt, verbrachte er nur wenige, sorgfältig abgeschirmte Sommerwochenenden auf Ardis[18], seinem prachtvollen Landsitz nahe Ladore[19]. Seit seiner Kindheit hatte er nur einige Male einem anderen Gut, das ihm gehörte, hoch oben im Norden am Kitezh-See[20] in der Nähe von Luga[21], seinen Besuch abgestattet. Es umfasste eine große, sonderbar rechteckige, jedoch ganz natürliche Wasserfläche, ja, bestand praktisch daraus, und wie er einmal mit einer Stoppuhr gemessen hatte, brauchte ein Flussbarsch eine halbe Stunde, um sie diagonal zu durchschwimmen. Er teilte diesen Besitz mit seinem Vetter, der als Knabe ein großer Fischer vor dem Herrn war.

Das Liebesleben des armen Dan war weder kompliziert noch schön, aber irgendwie (er vergaß bald die genauen Umstände, wie man die Maße und den Preis eines mit Liebe angefertigten Überrocks vergisst, den man wenigstens ein paar Winter lang ab und an getragen hat) verliebte er sich ganz gemütlich in Marina, deren Familie er schon kannte, als sie noch ihr Haus in Raduga besaß (das später an Mr. Eliot[22], einen jüdischen Geschäftsmann, verkauft wurde). Eines Nachmittags im Frühling 1871 hielt er im aufwärtsfahrenden Lift des ersten zehnstöckigen Gebäudes[23] von Manhattan um Marinas Hand an, wurde beim Halt im siebten Stock (Spielwaren) empört zurückgewiesen, fuhr allein wieder nach unten und begab sich zur Abkühlung seiner Sinne auf eine dreimalige Reise um die Welt in der Fogg[24] entgegengesetzten Richtung, jedes Mal wie eine lebendige Latitüde auf der gleichen Route. Im November 1871, als er gerade damit beschäftigt war, gemeinsam mit demselben übelriechenden, aber artigen Fremdenführer im milchkaffeebraunen Anzug, den er im selben Genueser Hotel schon zweimal angeheuert hatte, seine Pläne für den Abend zu machen, wurde ihm auf einem Silbertablett ein Aerogramm von Marina präsentiert (nachgeschickt mit einer ganzen Woche Verspätung über sein Büro in Manhattan, wo man es durch das Versehen einer jungen neuen Angestellten in einem Fach mit der Bezeichnung RE AMOR abgelegt hatte), in dem sie ihn wissen ließ, dass sie ihn nach seiner Rückkehr nach Amerika heiraten werde.

Laut Sonntagsbeilage einer Zeitung, die gerade begonnen hatte, auf der «Humorseite» die inzwischen längst erloschenen Goodnight Kids[25], Nicky und Pimpernella (süße Geschwister, die ein schmales Bettchen miteinander teilten), zum Leben zu erwecken – zusammen mit anderen alten Papieren hatte sie auf dem Dachboden von Ardis Hall die Jahre überdauert –, fand die Hochzeit Veen-Durmanov 1871 am Tag der hl. Adelheid[26] statt. Zwölf Jahre und etwa acht Monate später geschah es, dass zwei nackte Kinder, eines dunkelhaarig und sonnengebräunt, das andere dunkelhaarig und milchweiß, sich in einem Schaft heißen Sonnenlichtes, der schräg durch die Dachluke fiel, über die darunter stehenden staubigen Kartons beugten und jenes Datum (16. Dezember 1871) mit einem anderen verglichen (16. August im selben Jahr), das von Marinas Hand anachronistisch quer über die Ecke eines professionellen Photos (in einem himbeerroten Plüschrahmen auf dem Schreibtisch in der Bibliothek ihres Mannes) gekritzelt war; die Photographie glich bis ins Detail dem Bild in der Zeitung – mitsamt dem üblichen Schweif des ektoplasmatischen Brautschleiers, den eine Brise auf den zugigen Kirchenstufen dem Bräutigam vor die behosten Beine wehte.[27] Am 21. Juli 1872 wurde auf Ardis, dem Sitz ihres mutmaßlichen Vaters im Bezirk Ladore, eine Tochter geboren und erhielt aus ungeklärten mnemotechnischen Gründen den Namen Adelaida, Adelheid. Eine zweite Tochter, diesmal ganz bestimmt Dans, folgte am 3. Januar 1876.

Außer der alten illustrierten Beilage der immer noch existenten, aber ziemlich senilen Kaluga Gazette fanden unsere possierlichen Pimpernell und Nicolette auf demselben Dachboden eine Kassette, deren Inhalt sich (nach Aussage des Küchenjungen Kim, wie man später verstehen wird) als ein ellenlanger Film im Kleinbildformat erwies, den der Globetrotter aufgenommen hatte, und manche seiner malerischen Basare, angepinselten Cherubim und Männekens Piss kehrten dreimal, an verschiedenen Stellen, in drei verschiedenen Heliocolortönen[28] wieder. Natürlich konnte man in dem Augenblick, da man eine Familie zu gründen gedachte, gewisse Interieurs nicht gut vorführen (etwa die Gruppenszene in Damaskus mit ihm und dem unentwegt zigarrerauchenden Archäologen aus Arkansas mit der faszinierenden Narbe dort, wo die Leber sitzt, den drei fetten Huren und Old Archies[29] voreiligen Spritzern, wie das dritte männliche Mitglied der Gruppe, ein richtiger britischer Pfundskerl, das witzigerweise nannte); doch immerhin spielte Dan den größten Teil des Films mit rein sachlichen Kommentaren, die wegen der unzuverlässigen oder irreführenden Lesezeichen in den verschiedenen herumliegenden Reiseführern gar nicht leicht zusammenzubekommen waren, während ihrer instruktiven Flitterwochen in Manhattan seiner Braut viele Male vor.

Jedoch ruhte der beste Fund der beiden Kinder in einem anderen Karton aus einer tieferen Schicht der Vergangenheit: ein kleines grünes Album mit säuberlich eingeklebten Blumen, die Marina in Ex, einem Gebirgskurort unweit Brig, Schweiz, wo sie sich vor ihrer Ehe aufgehalten hatte, meist in einem gemieteten Chalet, selber gepflückt oder anderweitig beschafft hatte. Die ersten zwanzig Seiten waren mit einer Anzahl kleinerer Pflanzen geschmückt, die sie im August 1869 aufs Geratewohl gesammelt hatte – auf den Almen oberhalb des Chalets oder im Park des Hotels Florey oder im Garten des nahe gelegenen Sanatoriums («Mein Nusshaus[30]», wie die arme Aqua es tituliert hatte, oder «das Heim» nach Marinas nüchternen Fundortvermerken). Diese einleitenden Seiten waren weder botanisch noch psychologisch von besonderem Interesse; und die letzten rund fünfzig Seiten waren leer geblieben; aber der mittlere Teil mit seinen auffällig wenigen Pflanzenarten erwies sich als regelrechtes kleines Melodram, aufgeführt von den Geistern toter Blumen. Die Exemplare befanden sich auf der einen Albumseite, die Anmerkungen von Marina Dourmanoff (sic) auf der gegenüberliegenden.

Ancolie Bleue des Alpes, Ex en Valais, 1.IX.69. Von einem Engländer im Hotel. «Alpine Akelei, Ihre Augenfarbe.»

Epervière auricule[31]. 25.X.69, Ex, ex Dr. Lapiners[32] ummauertem Alpengarten.

Goldenes (Ginkgo) Blatt: aus dem Buch Die Wahrheit über Terra gefallen, das Aqua mir gab, bevor sie ins «Heim» zurückging. 14.XII.69.

Künstliches Edelweiß, überbracht von meiner neuen Pflegerin mit einem Zettel von Aqua, auf dem stand, dass es von einem «misernoje[33] und bizarren» Weihnachtsbaum im «Heim» stamme. 25.XII.69.

Blütenblatt einer Orchidee, eine von 99 Orchideen, bitte schön, gestern per Post erhalten, Special Delivery[34], c’est bien le cas de le dire[35], aus der Villa Armina[36], Alpes Maritimes. Habe zehn davon beiseitegelegt, damit man sie Aqua ins «Heim» bringe. Ex-en-Valais, Schweiz. «Schneefall in Fatums Kristallkugel», wie er zu sagen pflegte. (Datum ausradiert.)

Gentiane de Koch[37], selten, gebracht von lapotschka (Liebling) Lapiner aus seinem «verschwiegenen Enzianarium». 5.I.1870.

(Blauer Tintenklecks, der zufällig die Form einer Blume hatte, oder verbesserte Filzstiftübermalung) Compliquaria compliquata var. aquamarina[38]. Ex, 15.I.70.

Phantasieblume aus Papier, gefunden in Aquas Handtasche. Ex, 16.II.1870, gebastelt von einem Mitpatienten, im «Heim», das nicht mehr das ihre ist.

Gentiana verna (printanière)[39]. Ex, 28.III.1870, auf dem Rasen vor dem Häuschen meiner Pflegerin. Letzter Tag hier.

Die zwei jungen Entdecker dieses seltsamen und krank machenden Schatzes redeten darüber wie folgt:

«Ich deduziere», sagte der Knabe, «vor allem drei Tatsachen: dass die noch nicht verheiratete Marina und ihre verheiratete Schwester an meinem lieu de naissance[40] überwinterten; dass Marina ihren eigenen Dr. Krolik[41] hatte, pour ainsi dire[42]; und dass die Orchideen von Demon kamen, der es vorzog, an der See zu bleiben, seiner dunkelblauen Urgroßmutter.»

«Ich kann hinzufügen», sagte das Mädchen, «dass das Blütenblatt zur gemeinen Schmetterlings-Orchis[43] gehört; dass meine Mutter noch verrückter war als ihre Schwester; und dass die so beiläufig abgetane Papierblume ein durchaus erkennbares Abbild des Frühjahrs-Sanikel ist, den ich im vergangenen Februar in Hülle und Fülle auf den Bergen an der Küste von Kalifornien gesehen habe. Dr. Krolik, unser lokaler Naturkundler, auf den du, Van, angespielt hast, wie Jane Austen es der schnellen Erzählinformation halber formuliert haben könnte («You recall Brown, don’t you, Smith?»[44]), hat das Exemplar, das ich von Sacramento nach Ardis mitbrachte, bestimmt als Bärenfuß – BÄR, mein Schatz, nicht bar-fuß wie du oder ich oder das Stabianer Blumenmädchen[45] –, eine Anspielung, die dein Vater, der jedenfalls nach Blanches Ansicht auch meiner ist, im Nu verstanden hätte» (Fingerschnippen à l’américaine). «Es ist dir sicher angenehm», fuhr sie fort, während sie ihn umarmte, «dass ich es nicht bei seinem wissenschaftlichen Namen[46] nenne. Übrigens, der andere Fuß – das Leontopodium[47] von jenem armen kleinen Weihnachtsbaum, stammt von derselben Hand – und möglicherweise gehört sie einem sehr kranken Chinesenjungen, der den ganzen Weg vom Barkley College angereist war.»

«Bravo, Pompeianella[48] (die du beim Blumenstreuen in den Bilderbüchern von Onkel Dan gesehen hast, die ich aber letzten Sommer in einem neapolitanischen Museum bewundert habe). Nun sollten wir aber doch unsere Hemdchen und Höschen wieder anlegen und hinuntergehen und dieses Album sogleich vergraben oder verbrennen, Girl. Findest du nicht?»

«Ja, finde ich auch», erwiderte Ada. «Vernichten und vergessen. Aber es ist ja noch eine Stunde bis zum Tee.»

Zum Thema «dunkelblau», das bisher in der Schwebe geblieben ist:

Ein früherer Vizekönig von Estoty, Fürst Ivan Temnosiniy, Vater der Ururgroßmutter der Kinder, Fürstin Sofia Zemski (1755–1809), und direkter Abkömmling der Jaroslawer Herrscher aus vortatarischer Zeit, hatte einen jahrtausendalten Namen, der im Russischen ‹dunkelblau› bedeutete. Obwohl er gegen den glitzernden Schauder genealogischen Bewusstseins immun war und es ihn kaltließ, dass Dummköpfe ihm seine Zurückhaltung wie seine Leidenschaft als Snobismus auslegten, konnte Van nicht umhin, sich von dem samtenen Hintergrund ästhetisch berührt zu fühlen, den er fortwährend als tröstlichen, allgegenwärtigen Sommerhimmel zwischen dem schwarzen Blattwerk des Familienstammbaums ausmachen konnte. In späteren Jahren mochte er Proust nicht wieder lesen (wie er auch dem parfümierten Gummi türkischen Konfekts keinen Genuss mehr abgewinnen konnte), ohne eine Woge des Überdrusses und das Raspeln griesigen Sodbrennens zu verspüren; und dennoch blieb seine Lieblingsstelle jene, die den Namen ‹Guermantes› betraf, mit dessen violettem Schein das angrenzende Ultramarin im Prisma seines Bewusstseins verschmolz und Vans artistische Vanitas angenehm anstachelte.

Schein oder Sein? Ungeschickt. Neu formulieren! (Anmerkung in Ada Veens später Handschrift.)

2

Marinas Verhältnis mit Demon Veen begann an seinem, ihrem und Daniel Veens Geburtstag, am 5. Januar 1868, als sie vierundzwanzig war und beide Veens dreißig.

Als Schauspielerin hatte sie nichts von dem atemraubenden Talent, das die Kunst der Mimikry zumindest für die Dauer der Vorstellung wertvoller erscheinen lässt als den Preis für solche Rampenlichter wie Schlaflosigkeit, Phantasie und arrogante Artistik; jedoch an dem speziellen Abend, während jenseits von Plüsch und Puder weicher Schnee fiel, war la Durmanska (die dem großen Scott, ihrem Impresario, allein für Publicity wöchentlich siebentausend Golddollar zahlte und dazu eine prächtige Prämie für jedes Engagement) von Anfang an in diesem kitschigen, ephemeren Stück[49] (einem amerikanischen Drama, von einem prätentiösen Schreiberling an einer berühmten russischen Liebesgeschichte entlanggeschrieben) so traumhaft, so süß, so aufregend, dass Demon (in amourösen Angelegenheiten nicht ganz ein Gentleman) mit seinem Parkettnachbarn, Fürst N., eine Wette abschloss, ein Wachbataillon von Garderobieren bestach, um die Sylphide dann in einem cabinet reculé[50] (wie ein französischer Autor eines früheren Jahrhunderts geheimnisvoll jenen kleinen Raum genannt hätte, in dem noch die zerbrochene Trompete und die Springreifen für die Pudel eines vergessenen Clowns neben vielen staubigen Töpfchen bunter Schminke herumstanden) zwischen zwei Szenen (Kapitel 3 und 4 des gemarterten Romans) schnurstracks zu besitzen. In der ersten Szene hatte sie sich in anmutiger Silhouette hinter einem halbdurchsichtigen Wandschirm entkleidet, war in einem zarten und zauberischen Nachthemdchen wieder hervorgekommen und hatte den Rest der erbärmlichen Szene damit verbracht, mit einer alten Amme in Eskimostiefeln über einen ortsansässigen Gutsbesitzer, Baron d’O., zu plauschen. Auf den Rat der unendlich weisen Frau vom Lande schrieb sie mit einer Gänsefeder, auf der Kante ihres Bettes an einem Louis XV.-Tischchen mit geschwungenen Beinen sitzend, einen Liebesbrief[51]. Sie benötigte fünf Minuten, um ihn mit schmachtender, aber dennoch lauter Stimme vorzulesen, wovon niemand etwas hatte, denn die Amme döste auf einer Art Seemannskiste vor sich hin, und die Zuschauer waren vorwiegend mit dem Schimmer künstlichen Mondlichts auf den bloßen Armen und schwellenden Brüsten der liebeskranken jungen Dame beschäftigt.

Noch ehe die alte Eskimofrau mit der Botschaft davongeschlurft war, hatte Demon Veen seinen rosa Samtsitz verlassen und machte sich daran, die Wette zu gewinnen. Er war sich seines Erfolges umso sicherer, als Marina, eine Demivierge, seit ihrem letzten Tanz am Silvesterabend in ihn verliebt war. Überdies machten der tropische Mondschein, in dem sie gerade gebadet hatte, das durchdringende Empfinden ihrer eigenen Schönheit, der glühende Puls der just dargestellten Jungfer und der wackere Applaus eines beinah vollen Hauses sie besonders empfänglich für den Kitzel des Demon’schen Schnurrbarts. Sie hatte außerdem reichlich Zeit, sich für die nächste Szene umzuziehen, denn diese begann mit dem ziemlich langen Intermezzo einer russischen Balletttruppe, die Scotty verpflichtet und in zwei Schlafwagen den ganzen Weg von Belokonsk[52], West-Estoty, herbeigeschafft hatte. In einem üppigen Obstgarten ließen mehrere fröhliche junge Gärtner, die aus irgendeinem Grunde in georgischer Stammestracht auftraten, in großer Eile Himbeeren[53] in ihrem Mund verschwinden, während mehrere gleichermaßen unglaubwürdige Dienstmädchen in scharowary[54] (jemand hatte sich vertan – vielleicht war das Wort ‹Samowar› im Aerogramm des Agenten verstümmelt worden) eifrig Marshmallows und Erdnüsse von den Zweigen der Obstbäume pflückten. Auf ein unsichtbares Zeichen dionysischen Ursprungs hin stürzten sich in diesem lachhaften Programm, dessen Schnitzer Veen (kribbelnd, leichtlendig, mit Fürst N.s rosenroter Banknote in der Tasche) fast vom Sitz fallen ließen, alle in einen wilden Tanz namens kurva oder «Boulevard-Band».[55]

Sein Herz setzte einen Schlag lang aus und bereute die liebliche Lücke nie, da sie, erregt und errötend, in einem rosa Kleid in den Obstgarten lief und sich so bei der Claque ein Drittel der sitzenden Ovation verdiente, der den prompten Abgang der blöden, aber bunten Transfiguranten aus Lyaska[56] – oder Iveria[57] – feierte. Ihre Begegnung mit Baron d’O., der mit Sporen und grünen Schwalbenschwänzen aus einer Seitenallee geschlendert kam, entging Demons Aufmerksamkeit irgendwie, so betroffen war er von dem Wunder jenes kurzen Abgrunds absoluter Wirklichkeit zwischen zwei scheinhaften Fulgurationen vorgetäuschten Lebens. Ohne das Ende der Szene abzuwarten, eilte er aus dem Theater in die klirrende kristallene Nacht hinaus, da Schneeflocken seinen Zylinder mit Sternen sprenkelten, und weiter zu seinem Haus im nächsten Block, wo er ein verschwenderisches Souper arrangierte. Als er aufbrach, um die neue Geliebte in seinem glöckchenklingelnden Schlitten heimzuholen, hatte das Schlussballett kaukasischer Generale und verwandelter Aschenputtel gerade ein plötzliches Ende gefunden, und Baron d’O., nun mit schwarzen Schwalbenschwänzen und weißen Handschuhen angetan, kniete in der Mitte der leeren Bühne und hielt den gläsernen Schuh hoch, den seine launische Liebste ihm gelassen hatte, als sie sich seinen verspäteten Avancen entzog. Die Claqueure wurden müde und sahen schon auf ihre Chronometer, während Marina in einem schwarzen Umhang in Demons Arme und seinen Schwanenschlitten schlüpfte.

So schwelgten und schweiften sie, entzweiten sich und flogen wieder zueinander. Im folgenden Winter wuchs in ihm der Verdacht, dass sie ihm untreu sei, aber er konnte seinen Rivalen nicht identifizieren. Mitte März, bei einem Arbeitsessen mit einem Kunstexperten, einem leichtlebigen, schlaksigen, liebenswerten Burschen in einem altmodischen Frack, klemmte sich Demon sein Monokel ins Auge, klickte eine kleine, lavierte Tuschzeichnung aus ihrem flachen Futteral und sagte, er sei der Ansicht (natürlich hege er keinen Zweifel, aber wünsche Bewunderung für seine Gewissheit), dass sie ein unbekanntes Werk der delikaten Kunst Parmigianinos[58] sei. Das Blatt zeigte ein nacktes Mädchen auf einem blumenumwundenen Podest, das im Damensitz einen pfirsichgleichen Apfel in der hohlen, halberhobenen Hand hielt und für seinen Entdecker den zusätzlichen Reiz hatte, an Marina zu erinnern, wenn sie aus dem Hotelbadezimmer ans Telephon gerufen wurde und, auf der Lehne eines Sessels schwebend, die Muschel abschirmte, um ihren Liebhaber etwas zu fragen, das er nicht verstehen konnte, denn ihr Flüstern ging unter im Geplätscher des Bades. Baron d’Onsky brauchte nur einen Blick auf jene erhobene Schulter und auf gewisse faserig-gewundene Effekte zarter Vegetation zu werfen, um Demons Ansicht zu bestätigen. D’Onsky stand in dem Ruf, selbst beim Anblick des herrlichsten Meisterwerks nicht das geringste Zeichen ästhetischer Bewegung zu zeigen; dieses Mal jedoch legte er sein Vergrößerungsglas wie eine Maske beiseite und erlaubte seinem unverhüllten Auge, den samtenen Apfel und die Grübchen wie auch die moosigen Stellen des Aktes mit einem entzückten, gedankenverlorenen Lächeln zu liebkosen. Würde Mr. Veen in Erwägung ziehen, es ihm hier und jetzt zu verkaufen, Mr. Veen, bitte? Mr. Veen würde nicht. Skonky[59] (ein höchst einbahniger Spitzname) müsse sich mit dem stolzen Gedanken begnügen, dass er und der glückliche Besitzer bis heute die Einzigen seien, die es je en connaissance de cause[60] bewundert hätten. Zurück wanderte es in seine Spezialmappe; doch nach dem vierten Cognac erflehte d’O. einen letzten kurzen Blick. Beide Herren waren ein bisschen betrunken, und Demon fragte sich insgeheim, ob die ziemlich banale Ähnlichkeit dieses paradiesischen Geschöpfes mit einer jungen Schauspielerin, die sein Gast zweifellos in Eugen und Lara[61] oder Lenore Raven[62] auf der Bühne gesehen hatte (beides penibel verrissen von einem «widerlich unbestechlichen» jungen Kritiker), kommentiert werden sollte oder würde. Sie wurde es nicht: Solche Nymphen waren sich wegen ihrer elementaren Durchsichtigkeit wirklich sehr ähnlich, zumal da Ähnlichkeiten junger Springquellen nichts anderes sind als das leise Murmeln natürlicher Unschuld und zwielichtiger Spiegel, dies ist mein Hut, seiner ist älter, aber wir haben den gleichen Londoner Hutmacher.

Am nächsten Tag, als Demon in seinem Lieblingshotel mit einer böhmischen Dame Tee trank, die er nie zuvor gesehen hatte und auch nie wiedersehen würde (sie begehrte seine Empfehlung für eine Stelle in der Glasfisch-und-Blumen-Abteilung eines Bostoner Museums), unterbrach sie ihre eigene Geschwätzigkeit, um auf Marina und Aqua zu deuten, die in modischer Verdrießlichkeit und bläulichen Pelzen, mit Dan Veen und einem Dackel hinter sich, ausdruckslos durch das Vestibül wandelten, und sagte:

«Interessant, wie diese schreckliche Schauspielerin Parmigianinos berühmter ‹Eva am Klepsydrophon›[63] gleicht.»

«Es ist alles andere als berühmt», sagte Demon ruhig, «und Sie können es gar nicht gesehen haben. Ich beneide Sie nicht», fügte er hinzu; «dem naiven Fremden, der bemerkt, dass er oder sie in den Schlamm eines fremden Lebens getreten ist, muss ziemlich übel werden. Haben Sie diesen Klatsch direkt von einem Burschen namens d’Onsky oder dem Freund eines Freundes von ihm?»

«Freund von ihm», antwortete die unselige böhmische Dame.

Beim Verhör in Demons Verlies wob Marina unter trillerndem Gelächter einen pittoresken Lügenteppich; dann brach sie zusammen und gestand. Sie schwor, dass alles vorbei sei; dass der Baron, physisch ein Wrack, geistig ein Samurai, für immer nach Japan gegangen sei. Aus einer zuverlässigeren Quelle erfuhr Demon, dass das wahre Reiseziel des Samurai der hübsche kleine Vatikan war, ein römischer Kurort, von wo er in einer Woche oder so nach Aardvark[64], Massa, zurückkehren würde. Da Veen der Vorsichtige es vorzog, seinen Mann in Europa umzulegen (der altersschwache, aber unverwüstliche Gamaliel[65] tat angeblich zwar alles Erdenkliche, Duelle in der westlichen Hemisphäre zu verbieten – eine Zeitungsente oder aber die Pulverkaffeekapricen eines idealistischen Präsidenten, denn nichts kam je dabei heraus), mietete Demon den schnellsten verfügbaren Petroloplan, holte den Baron (der vor Gesundheit strotzte) in Nizza ein, sah ihn in Gunters Buchladen treten, ging hinterdrein und schlug dem erstaunten Baron in Gegenwart des unerschütterlichen und eher gelangweilten englischen Buchhändlers einen lavendelfarbenen Handschuh quer übers Gesicht. Die Herausforderung wurde angenommen; zwei ortsansässige Sekundanten wurden ausgesucht; der Baron wählte Degen; und nachdem eine gewisse Menge guten Blutes (polnisches und irisches – eine Art amerikanischer «Gory Mary» im Barjargon) zwei behaarte Oberkörper, die geweißte Terrasse, die Freitreppe, die in einem ergötzlichen Douglas-d’Artagnan[66]-Arrangement in den ummauerten Garten führte, die Schürze eines rein zufällig anwesenden Milchmädchens und die Hemdsärmel beider Sekundanten, des charmanten Monsieur de Pastrouil und des schurkischen Colonel St. Alin, bespritzt hatte, trennten die beiden letztgenannten Herren die keuchenden Duellanten, und Skonky starb, nicht «an seinen Wunden» (wie ein niederträchtiges Gerücht behauptete), sondern an einem schwärenden Nachgedanken der geringsten unter ihnen, die er sich möglicherweise selbst beigebracht hatte, einem Stich in der Leistengegend, der Durchblutungsstörungen zur Folge hatte, etlichen chirurgischen Eingriffen zum Trotz, deretwegen er sich zwei oder drei Jahre über mehrmals längere Zeit in der Aardvark-Klinik von Boston aufhielt – einer Stadt, in der er übrigens 1869 unsere Freundin, die böhmische Dame, heiratete, nunmehr Kustodin der Glas-Biota im örtlichen Museum.

Marina erschien wenige Tage nach dem Duell in Nizza und spürte Demon in seiner Villa Armina auf, und im Rausch der Versöhnung vergaßen beide, die Fortpflanzung zu überlisten, woraufhin die höchst «interessanten Umstände» begannen, ohne die diese qualvollen Aufzeichnungen allerdings nie zustande gekommen wären.

(Van, ich vertraue deinem Takt und deinem Talent, aber sollten wir wirklich wieder und wieder so lustvoll zu dieser verruchten Welt zurückkehren, die letztlich vielleicht doch nur oneirologisch existierte, Van? Randbemerkung in Adas Handschrift von 1965; dünn durchgestrichen in ihrer spätesten, zittrigen Schrift.)

Jenes unbekümmerte Stadium war nicht das letzte, aber das kürzeste – eine Sache von vier oder fünf Tagen. Er verzieh ihr. Er betete sie an. Er wollte sie unbedingt heiraten – unter der Bedingung, dass sie ihre schauspielerische «Karriere» sofort aufgäbe. Er tadelte die Mittelmäßigkeit ihrer Begabung und ihre ordinäre Entourage, und sie schrie, er sei ein Rohling und ein Teufel. Vom 10. April an war es Aqua, die ihn versorgte, während Marina zu ihren Proben von Lucile zurückflog, noch so einem grauslichen Drama, das einem weiteren Flop am Theater von Ladore entgegensteuerte.

«Adieu. Vielleicht ist es besser so», schrieb Demon Mitte April 1869 an Marina (der Brief ist entweder eine Kopie in seiner kalligraphischen Handschrift oder das nicht abgesandte Original), «denn welch Segen auch immer unser Eheleben begleitet und wie lange auch immer dieses gesegnete Leben angedauert hätte, dies eine Bild werde ich nicht vergessen und will ich nicht verzeihen. Präge es Dir ein, meine Liebe. Lass es mich in Worten wiederholen, mit denen eine Schauspielerin etwas anfangen kann – Du warst nach Boston gefahren, um eine alte Tante zu besuchen – ein Klischee, aber in diesem Fall die Wahrheit, und ich zu meiner Tante auf die Ranch in der Nähe von Lolita, Texas[67]. An einem Februarmorgen (um die Mittagszeit chez vous) rief ich Dich in Deinem Hotel aus einer Dorophonzelle am Straßenrand an, die aus reinem Kristall bestand und nach einem fürchterlichen Gewitter immer noch voller Tränenspuren war – um Dich zu bitten, sofort herüberzufliegen, weil ich, Demon, der ich mit meinen verknitterten Flügeln rasselte und den Dorophonautomaten[68] verfluchte, ohne Dich nicht leben konnte, und weil ich wünschte, dass Du in meinen Armen den Wirbel der Wüstenblumen sehen solltest, die der Regen hervorgebracht hatte. Deine Stimme war weit weg, aber süß; Du sagtest, Du seist im Evaskostüm, bleib dran, lass mich einen penjuar[69] anziehen. Stattdessen schirmtest Du die Muschel ab und sprachst vermutlich zu dem Mann, mit dem Du die Nacht verbracht hattest (und den ich beseitigt hätte, wäre ich nicht darauf versessen gewesen, ihn zu kastrieren). Das ist die Skizze, die im sechzehnten Jahrhundert ein junger Künstler aus Parma in einer prophetischen Trance für das Fresko unseres Schicksals angefertigt hatte und die bis auf den Apfel der schrecklichen Erkenntnis mit einem Abbild in der Erinnerung zweier Männer übereinstimmte. Übrigens hat die Polizei Deine flüchtige Zofe hier in einem Bordell gefunden und wird sie Dir zurückschicken, sobald sie genügend mit Quecksilber[70] vollgestopft ist.»

3

Die Einzelheiten der L-Katastrophe (und ich meine nicht Levitation) im beau milieu des vergangenen Jahrhunderts, die die ungewöhnliche Wirkung hatte, den Begriff ‹Terra› sowohl hervor- als auch in Verruf zu bringen, sind in historischer Hinsicht zu wohlbekannt und in geistlicher zu obszön, um in einem Buch ausführlich behandelt zu werden, das sich an junge Laien und Liebhaber wendet und nicht an Würdenträger oder würdige Sargträger.

Heute natürlich, da großartige Anti-L-Jahre reaktionären Wahns (mehr oder weniger!) vorüber sind und unsere glatten kleinen Maschinen – Faragot[71] segne sie – wieder einigermaßen so schnurren wie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, hat der rein geographische Aspekt der Angelegenheit seine versöhnend komische Seite, ganz wie die Muster metallener Marketerien und bric-à-Braques[72] und die goldbronzierten Scheußlichkeiten, die für unsere humorlosen Vorfahren «Kunst» bedeuteten. Denn tatsächlich kann niemand leugnen, dass jenen Konfigurationen, von denen feierlich behauptet wurde, sie repräsentierten eine mehrfarbige Karte von «Terra», etwas höchst Lächerliches eigen war. Es ist doch zum Totlachen, wenn man sich vorstellt, dass «Russland» kein putziges Synonym von Estoty sein sollte, der amerikanischen Provinz, die sich vom nördlichen Polarkreis – kein Teufelskreis mehr – bis hin zu den eigentlichen Vereinigten Staaten erstreckte, sondern auf Terra den Namen eines Landes bedeutete, das wie durch einen trickreichen Landstreich über das Ha-ha eines Doppelozeans auf die gegenüberliegende Hemisphäre versetzt worden war, wo es sich über die ganze heutige Tatarei von Kurland bis zu den Kurilen ausdehnte! Aber zeitlich bestand eine noch kompliziertere, noch hanebüchenere Diskrepanz, wenn man (noch absurder) in den Raumbegriffen von Terra Abraham Miltons[73] Amerussland in seine Bestandteile zerlegte und physisches Wasser und Eis die eher politischen als poetischen Begriffe ‹Amerika› und ‹Russland› voneinander trennten – nicht nur, weil die Geschichte eines jeden Teils dieses Amalgams nicht ganz zur Geschichte des jeweiligen Gegenstücks mit seinen speziellen Bedingungen passte, sondern weil so oder so eine Lücke bis zu hundert Jahren zwischen den beiden Welten klaffte; eine Lücke mit einem bizarren Durcheinander von Wegweisern an den Kreuzungen der Zeitläufe, wo längst nicht jedes Nicht-mehr der einen Welt dem Noch-nicht der anderen entsprach. Es lag unter anderem an dieser «wissenschaftlich nicht fassbaren» Übereinstimmung von Auseinanderstrebendem, dass Köpfe, die bien rangés waren (nicht willens, sich mit Kobolden herumzuschlagen), Terra als Phantasma oder Phantom verwarfen, während derangierte Köpfe (bereit, sich in jeden Abgrund zu stürzen) sie zur Stütze und Bezeugung ihrer eigenen Irrationalität akzeptierten.

Wie Van Veen in der Zeit seiner leidenschaftlichen Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Terrologie (damals ein Zweig der Psychiatrie) selber herausfinden sollte, waren sogar die tiefsten Denker, die reinsten Philosophen, Paar von Chose und Zapater von Aardvark, gefühlsmäßig uneins über die Möglichkeit, dass es «einen Zerrspiegel unseres Zerrglobus» gab, wie es ein Gelehrter, der ungenannt bleiben möchte, mit so wohlklingendem Scharfsinn ausgedrückt hat. (Hm! Kwerri-kwerri, wie die arme Mlle L. immer zu Gavronsky[74] sagte. In Adas Handschrift.)

Da waren jene, die darauf beharrten, dass die Diskrepanzen und «unstimmigen Überlappungen» zwischen diesen beiden Welten zu zahlreich und in den Strang aufeinanderfolgender Ereignisse zu fest eingewoben waren, als dass die Theorie wesensmäßiger Identität mehr sein konnte als ein plattes Phantasieprodukt; und dann gab es jene, die dem entgegenhielten, dass die Nichtübereinstimmungen nur die lebendige organische Wirklichkeit der anderen Welt bestätigten; dass ein vollkommenes Abbild eher auf ein spiegelhaftes und damit spekulatives Phänomen hindeuten würde; und dass zwei Schachpartien mit identischen Eröffnungen und identischen Endspielen sich in jedem Stadium ihres unwiderruflich konvergierenden Verlaufs auf einem Brett und in zwei Gehirnen in eine unendliche Zahl von Variationen verzweigen könnten.

Der bescheidene Erzähler muss den Wiederleser an all dies erinnern, denn im April (mein Lieblingsmonat) 1869 (auf keinen Fall ein annus mirabilis[75]) am Georgstag[76] (laut Mlle Larivières rührseligen Memoiren) heiratete Demon Veen Aqua Durmanov – aus Trotz und Mitleid, eine nicht ungewöhnliche Mischung.

Gab es noch eine zusätzliche Würze? Marina pflegte im Bett mit perverser Prahlerei zu behaupten, Demons Sinne müssten von einer wunderlichen Art «blutschänderischer» (was immer das bedeuten mag) Lust (im Sinne des französischen plaisir, das eine Menge zusätzliches spinales Vibrato erzeugt) umnebelt gewesen sein, wenn er es streichelte und schmeckte und feinfühlig teilte und auf unaussprechliche, aber faszinierende Art und Weise besudelte – das Fleisch nämlich (une chair) seiner Frau und seiner Geliebten, die vermischten und verstärkten Reize von Zwillingsperis[77], eine sowohl einzelne als auch doppelte Aquamarina, Mirage in einem Emirat, paarige Perle, Orgie von epithelialen Alliterationen.

Tatsächlich war Aqua weniger hübsch und weitaus verrückter als Marina. Im Laufe ihrer vierzehn elenden Ehejahre verbrachte sie mit Unterbrechungen eine Serie von stetig länger werdenden Aufenthalten in Nervenkliniken. Eine kleine Karte des europäischen Teils des britischen Commonwealth – sagen wir von Scotoskandinavien bis zur Riviera, Altar und Palermontovia – und auch das meiste von den USA, von Estoty und Canady bis nach Argentinien, wäre ganz schön dicht mit emaillierten Rote-Kreuz-Fähnchen gespickt, die Aquas Biwake in ihrem Krieg der Welten markierten. Sie hatte einst vorgehabt, ein Körnchen Gesundheit («bitte nur ein bisschen Grau statt dieser massiven Schwärze») in angloamerikanischen Protektoraten wie dem Balkan und Indien zu finden, und hätte es wohl gar mit den beiden südlichen Kontinenten probiert, die unter unserer gemeinsamen Verwaltung gedeihen. Natürlich war die Tatarei, ein unabhängiges Inferno, das damals von der Ostsee und dem Schwarzen Meer bis zum Pazifischen Ozean reichte, dem Tourismus nicht zugänglich, obwohl Jalta und Altyn Tagh seltsam attraktiv klangen … Aber ihr wahres Ziel war Terra die Schöne, und dorthin, glaubte sie zuversichtlich, würde sie nach ihrem Tod auf libellulalangen Flügeln fliegen. Ihre armen kleinen Briefe aus den Wahnsinnsheimen an ihren Mann waren manchmal unterschrieben mit: Madame Shchemyashchikh-Zvukov («herzzerreißende Töne»).

Nach ihrem ersten Ringen mit dem Irrsinn in Ex en Valais kehrte sie nach Amerika zurück und erlitt eine schlimme Niederlage; das war die Zeit, als Van noch von einer sehr jungen Amme gesäugt wurde, die selbst fast noch ein Kind war, Ruby Black, geborene Black, und die ebenfalls den Verstand verlieren sollte: Denn kaum kamen all die Zärtlichen, all die Zerbrechlichen mit ihm in engeren Kontakt (wie es später Lucette geschah, um ein anderes Beispiel zu nennen), da waren sie auch schon zu Pein und Trübsal verurteilt, es sei denn, ein Schuss von seines Vaters dämonischem Blut hatte sie gestärkt.

Aqua war noch nicht zwanzig, als die Exaltation ihrer Natur etwas Krankhaftes zu erkennen gab. Chronologisch fiel das Anfangsstadium ihrer Geisteskrankheit mit der ersten Dekade der Großen Revelation zusammen, und obwohl Aqua ebenso gut ein anderes Thema für ihren Wahn hätte finden können, zeigen die Statistiken, dass die Große und für manche Unerträgliche Revelation mehr Geistesverwirrung in der Welt hervorrief als selbst der religiöse Wahn des Mittelalters.

Revelation kann gefährlicher sein als Revolution. Kranke Gemüter setzten den Begriff eines Terra-Planeten mit dem einer anderen Welt gleich, und diese «Andere Welt» wurde verwechselt nicht nur mit der «Nächsten Welt», sondern mit der Wirklichen Welt in uns und jenseits von uns. Unsere Zauberer, unsere Dämonen sind edle, schillernde Geschöpfe mit durchscheinenden Klauen und mächtig schlagenden Flügeln; aber in den Achtzehnhundertsechzigern drängten die Neugläubigen einen dazu, sich eine Sphäre vorzustellen, darin unsere herrlichen Freunde gänzlich degradiert und nur noch scheußliche Monster waren, widerwärtige Teufel mit den schwarzen Hodensäcken der Fleischfresser und den Giftzähnen der Schlangen, Schmäher und Peiniger weiblicher Seelen; während auf der anderen Seite der kosmischen Bahn ein Regenbogennebel engelgleicher Geister, nämlich die Bewohner der lieblichen Terra, all die abgestandenen, aber immer noch potenten Mythen alter Bekenntnisse wiederbelebten, neu arrangiert fürs Melodium aller Kakophonien sämtlicher Götter und Gottesmänner, die je in den Sümpfen dieser uns genügenden Welt scharenweise ausgebrütet worden waren.

Für deine Zwecke reicht das, Van, entendons-nous[78]. (Randnotiz.)

Die arme Aqua, deren Phantasie sich nur allzu leicht in den Fangzähnen von Krummgeistern und Christen verfing, stellte sich lebhaft das Paradies eines zweitklassigen Hymnikers[79] vor, ein künftiges Amerika mit hundertgeschossigen Alabastergebäuden, einem wunderschönen Möbelladen ähnlich, angefüllt mit hohen weißen Kleider- und niedrigeren Kühlschränken; sie sah gigantische Flughaie mit lateralen Augen, die nicht einmal eine Nacht brauchten, um eine Pilgerschar durch den schwarzen Äther über einen ganzen Kontinent zu tragen, von einem dunklen zu einem leuchtenden Meer, bevor sie zurück nach Seattle oder Wark[80] düsten. Sie hörte Zauberspieldosen sprechen und singen, die den Terror des Denkens ertränkten, dem Liftgirl Auftrieb gaben, mit dem Bergmann in die Tiefe fuhren und in den Behausungen der Einsamen und Armen Schönheit und Frömmigkeit, Jungfrau und Venus priesen. Von jener unaussprechlichen magnetischen Kraft, die von bösen Gesetzgebern in diesem unserm schäbigen Land angeprangert wurde – oh, überall, in Estoty und Canady, in der «deutschen» Mark Kennensie[81] wie auch im «schwedischen» Manitobogan, in der Werkstatt des Yukonesen mit rotem Hemd[82] wie in der Küche der Lyaskanka[83] mit rotem Kopftuch, selbst im «französischen» Estoty, von Bras d’Or bis nach Ladore – und sehr bald in unseren beiden Amerikas und auf den anderen wie betäubten Kontinenten –, wurde auf Terra so freizügig Gebrauch gemacht wie von Wasser und Luft, von Bibeln und Besen. Zwei oder drei Jahrhunderte früher wäre sie wohl bloß eine von den brennbaren Hexen gewesen.

In ihren wechselvollen Jahren als Studentin hatte Aqua das schicke Brown Hill College[84] verlassen, das von einem ihrer weniger reputierlichen Vorfahren gegründet worden war, um an diesem oder jenem sozialen Projekt in den Severnïya Territorii teilzunehmen (was auch gerade in Mode war). Sie organisierte mit Milton Abrahams unbezahlbarer Hilfe einen Freien-Farma-Laden in Belokonsk und verliebte sich daselbst bitterlich in einen verheirateten Mann, der es aber nach einem Sommer parvenühafter Passion, die er ihr in der garçonnière seines Ford-Campmobils spendiert hatte, doch vorzog, sie aufzugeben, statt seine gesellschaftliche Stellung in einer Stadt von Spießbürgern aufs Spiel zu setzen, wo die Geschäftsleute sonntags «Golf» spielten und «Logen» angehörten. Die furchtbare Krankheit, in ihrem Falle und dem anderer Unglücklicher grob als eine «extreme Form von mystischer Manie plus Daseinsentfremdung» (also schlichtweg Wahnsinn) diagnostiziert, ergriff stufenweise Besitz von ihr – mit Intervallen ekstatischer Ruhe, mit vereinzelten Abschnitten prekären Wohlseins, mit plötzlichen Träumen von Ewigkeitsgewissheit, die immer seltener und kürzer wurden.

Nach ihrem Tode 1883 rechnete Van aus, dass im Verlauf von dreizehn Jahren, jeden mutmaßlichen Moment ihrer Gegenwart mitgezählt, auch die trostlosen Besuche in ihren verschiedenen Kliniken und ihre plötzlichen tumultuösen Auftritte mitten in der Nacht (bei denen sie den ganzen Weg die Treppe herauf entweder mit ihrem Mann oder mit der zarten, aber behänden englischen Gouvernante rang und oben von dem alten Appenzeller[85] wild begrüßt wurde – und schließlich das Kinderzimmer erreichte, ohne Perücke, ohne Hauspantoffeln, mit blutigen Fingernägeln), dass also die Zeit, da er sie tatsächlich sah oder in ihrer Nähe war, alles in allem kaum länger als eine menschliche Schwangerschaft gedauert hatte.

Die rosige Ferne von Terra wurde ihr bald mit grauenvollen Nebeln verhängt. In ihrem Zerfall stürzte sie in einen Schacht von Phasen, deren jede zermürbender war als die vorige; denn das menschliche Gehirn kann zur besten aller Folterkammern werden, die es erfunden, eingerichtet und in Millionen von Jahren, in Millionen von Ländern, an Millionen schreiender Kreaturen ausprobiert hat.

Sie entwickelte eine krankhafte Sensibilität für die Sprache von fließenden Wasserhähnen – die gelegentlich (wie der Pulsschlag vor dem Einschlafen etwa) ein bruchstückhaftes Echo menschlicher Rede widerhallen lassen, das im Ohr nachklingt, während man sich nach Cocktails in fremder Gesellschaft die Hände wäscht. Als sie dieses unmittelbare, anhaltende und in ihrem Falle ziemlich lebhafte und spöttische, aber in Wirklichkeit recht harmlose Nachspiel dieses oder jenes kürzlich geführten Gesprächs zum ersten Male bemerkte, fühlte sie sich geschmeichelt bei dem Gedanken, dass sie, die arme Aqua, rein zufällig auf eine so einfache Methode gestoßen war, Sprache aufzuzeichnen und zu übermitteln, während sich Technologen auf der ganzen Welt (sogenannte Eierköpfe) abmühten, äußerst komplizierte und immer noch sehr teure hydrodynamische Telephone und andere jämmerliche Erfindungen allgemein nutzbar und kommerziell rentabel zu machen, sodass sie jene Apparate ersetzen konnten, die nach dem Verbot des unnennbaren «Amber»[86]k tschertjam sobatschim (russisch «zum Teufel») gegangen waren. Bald jedoch begann der rhythmisch perfekte, aber verbal ziemlich verschwommene Redefluss der Wasserhähne zu viel relevante Bedeutung anzunehmen. Die Artikulationsreinheit des fließenden Wassers nahm zu, je mehr es zur Plage wurde. Es sprach, kaum dass sie jemanden reden gehört hatte – nicht unbedingt mit ihr selbst – oder einer kräftigen und ausdrucksvollen Stimme ausgesetzt gewesen war, einer Person mit schnellem charakteristischem Tonfall und mit sehr individuellen oder fremdartigen Phrasierungen, oder auch dem Geschwätz eines zwanghaften Erzählers auf einer grässlichen Party oder einem wässrigen Gewäsch in einem langweiligen Stück oder Vans süßer Stimme, oder einem bisschen Poesie aus einer Vorlesung, my lad, my pretty, my love, take pity[87], vor allem aber den flüssigeren, floueren italienischen Versen, zum Beispiel jenem Liedchen, zwischen Kniereflexklopfen und Augenlidlüpfen aufgesagt von einem halb russischen, halb verrückten alten Doktor, Dok, Tok, Klipper, Klapper, ballatetta[88], deboletta … tu, voce sbigottita … spigotty e diavoletta … de lo cor dolente … con ballatetta va … va … della strutta, destruttamente … mente … mente … stell die Platte ab, oder der Fremdenführer wird nicht aufhören, wie an diesem Morgen in Florenz, eine lächerliche Säule vorzuführen, die, sagte er, an die «Elmo» erinnern sollte, die plötzlich Blätter trieb, als man den toten, steinschweren St. Zeus[89] durch den sehr, sehr langsam wachsenden Schatten daran vorübertrug; oder die Vettel von Arlington, die unaufhörlich auf ihren schweigenden Ehemann einsprach, während die Weinberge vorbeiflogen, und sogar im Tunnel («das können sie dir nicht antun, sag’s ihnen, Jack Black[90], sag’s ihnen doch …»). Das Bade-(oder Dusch-)Wasser war zu sehr Caliban[91], um deutlich zu sprechen – oder war vielleicht zu brutal darauf aus, den heißen Schwall hervorzustoßen, die höllische Glut loszuwerden, um zum Plaudern aufgelegt zu sein; aber die Plätscherbächlein wurden immer ehrgeiziger und abscheulicher, und als Aqua in ihrem ersten «Heim» einen der widerlichsten der Visite machenden Ärzte (den Cavalcanti-Zitator) in russisch gefärbtem Deutsch geschwätzig widerliche Vorschriften in ihr widerliches Bidet gießen hörte, beschloss sie, nie wieder einen Wasserhahn aufzudrehen.

Aber auch jene Phase ging vorüber. Andere Martern ersetzten die redseligen Quellen ihrer Namensschwester so vollständig, dass, als sie in einem lichten Moment mit der zarten kleinen Hand um eines Schlucks Wasser willen zufällig einen Waschbeckenhahn aufdrehte, der lauwarme Born in dem ihm eigenen Kauderwelsch ohne die leiseste Spur von Falsch oder Mimikry antwortete: Finito! Nun war es die Bildung weicher schwarzer Höhlungen (jami, jamischtschi) zwischen den trüber werdenden Skulpturen des Denkens und der Erinnerung in ihrem Bewusstsein, die sie unglaublich quälte; psychische Panik und physische Pein reichten sich ihre rubinschwarzen Hände, von denen die eine sie für ihre Gesundheit beten, die andere um den Tod flehen ließ. Künstliche Gegenstände verloren ihre Bedeutung oder gewannen einen monströsen Nebensinn; Kleiderbügel waren in Wirklichkeit die Schultern enthaupteter Tellurier, die Falten einer Wolldecke, die sie von ihrem Bett gestoßen hatte, blickten sie traurig an mit einem Gerstenkorn auf dem herabhängenden Augenlid und einem trübsinnigen Vorwurf auf der schlaffen Krümmung einer bläulichen Lippe. Ihre Anstrengung, jene Information zu begreifen, die geniale Menschen irgendwie den Zeigern eines Zeitmessers oder Zeit-Messers entnehmen, blieb genauso hoffnungslos, als hätte sie versucht, die Zeichensprache einer Geheimgesellschaft zu entschlüsseln oder den chinesischen Gesang jenes jungen Studenten mit seiner nichtchinesischen Gitarre, eines Bekannten aus der Zeit, als sie oder ihre Schwester ein lilafarbenes Baby geboren hatten. Aber ihr Wahnsinn, die Majestät ihres Wahnsinns behielt immer noch die rührende Koketterie einer wahnsinnigen Königin: «Wissen Sie, Herr Doktor, ich glaube, ich brauche bald eine Brille, ich weiß nicht recht» (hoheitsvolles Lachen), «ich werde einfach nicht klug aus dem, was meine Armbanduhr anzeigt … Sagen Sie mir um Himmels willen, was sie zeigt! Ah! halb zehn – warum Zehen? Macht nichts, macht nichts, ‹Macht› und ‹Nichts› sind Zwillinge, ich habe eine Zwillingsschwester und einen Zwillingssohn. Ich weiß, Sie wollen mein Pudendron[92] untersuchen, die Bewimperte Alpenrose[93] in ihrem Album, die sie vor zehn Jahren gesammelt hat» (sie zeigt fröhlich, stolz ihre zehn Finger, zehn ist zehn!).

Dann wuchs sich die Qual zu unerträglicher Dichte und Albtraumdimensionen aus und ließ sie schreien und sich übergeben. Sie wünschte (und es wurde ihr dank dem Klinikfriseur, Bob Bean, gestattet), dass man ihre dunklen Locken zu einem aquamarinblauen Igel schor, denn sie wuchsen in ihren löchrigen Schädel hinein und kringelten sich drinnen. Laubgesägte Stücke aus Himmel oder Wand fielen auseinander, ganz gleich, wie sorgfältig sie zusammengefügt worden waren, jedoch konnte ein unbedachter Stoß oder der Ellbogen einer Pflegerin diese federgewichtigen Fragmente so leicht irritieren, dass sie zu unverständlichen Blankos anonymer Gegenstände wurden oder zu den leeren Rückseiten von «Scrabble»-Steinen, die sie nicht wie ein Spiegelei auf ihre Sonnenseite umdrehen konnte, weil ihr die Hände von einem Pfleger mit Demons schwarzen Augen gefesselt worden waren. Doch sogleich gaben Panik und Pein, wie ein Kinderpaar[94] in einem ungestümen Spiel, ein letztes gellendes Lachen von sich und liefen fort, um es hinter einem Busch miteinander zu treiben, wie in Graf Tolstojs Anna Karenin, einem Roman, und wieder für einen Augenblick, einen kurzen Augenblick, war alles still im Haus, und deren Mutter hatte den gleichen Vornamen wie ihre.[95]

Einmal glaubte Aqua, dass ein totgeborenes männliches Kind von einem halben Jahr, ein erstaunter kleiner Fetus, ein Gummifisch, das sie in der Badewanne hervorgebracht hatte, an einem in ihren Träumen schlicht mit X gekennzeichneten lieu de naissance[96], und das, als sie in vollem Tempo in einen Lärchenstumpf gepulvert war, irgendwie gerettet und ihr ins «Nusshaus» gebracht worden war, versehen mit den Glückwünschen ihrer Schwester, gewickelt in blutgetränkte Watte, aber völlig lebendig und gesund, damit er als ihr Sohn Ivan Veen ins Register komme. In anderen Augenblicken war sie überzeugt, dass es ein Kind ihrer Schwester war, unehelich geboren während eines aufreibenden, aber höchst romantischen Schneesturms, in einer Schutzhütte auf dem Sex (Scex) Rouge[97], wo zum Glück ein Dr. Alpiner, praktischer Arzt und Enzianliebhaber, neben einem rüden roten Ofen darauf wartete, dass seine Stiefel trockneten. Einige Verwirrung gab es dann knapp zwei Jahre später (September 1871 – ihr stolzes Gehirn behielt immer noch Dutzende von Daten), als sie, aus ihrem nächsten Refugium entwichen und irgendwie im unvergesslichen Landhaus ihres Mannes angelangt (imitiere einen Fremden: «Signor Konduktor, ei want go Lago di Luga, hier geld»), den Augenblick ausnutzte, da er im Solarium massiert wurde, um auf Zehenspitzen in ihr früheres Schlafzimmer zu schleichen – und einen köstlichen Schock erfuhr: Ihr Talkumpuder in einem halbvollen Glasbehältnis mit der farbenprächtigen Aufschrift Quelques Fleurs stand immer noch auf ihrem Nachttisch; ihr liebstes flammenfarbenes Nachthemd lag unordentlich auf dem Bettvorleger; für sie hieß das, dass nur ein kurzer schwarzer Albtraum die strahlende Wirklichkeit verfinstert hatte, die ganze Zeit bei ihrem Mann geschlafen zu haben – die ganze Zeit seit Shakespeares Geburtstag[98] an einem grünen, regnerischen Tag –, während es für die meisten anderen leider bedeutete, dass Marina (nachdem G.A. Vronsky, der Mann vom Film, Marina wegen eines anderen langwimprigen Christossik[99], wie er alle hübschen Starlets nannte, verlassen hatte) mit dem brillanten Gedanken schwanger gegangen war, c’est bien le cas de le dire, Demon würde sich von der verrückten Aqua scheiden lassen und Marina heiraten, sofern diese (glücklich und zu Recht) davon ausging, wieder guter Hoffnung zu sein. Marina hatte einen rukulitujuschtschij[100] Monat mit ihm am Kitezh-See verbracht, aber als sie ihm (kurz vor Aquas Ankunft) ihre Absichten selbstgefällig vortrug, warf er sie aus dem Haus. Noch später, auf der kurzen letzten Etappe einer unnützen Existenz, warf Aqua alle diese doppeldeutigen Erinnerungen über Bord und ertappte sich dabei, dass sie in einem luxuriösen «Sanastoria»[101] in Centaur, Arizona, wieder und wieder, eifrig und selig, die Briefe ihres Sohnes las. Stets schrieb er auf Französisch, nannte sie petite maman und erzählte von dem lustigen Internat, auf das er nach seinem dreizehnten Geburtstag gehen würde. Sie hörte seine Stimme durch das nächtliche Ohrenklingen ihrer neuen, planvollen, letzten, letzten Schlaflosigkeiten und war getröstet. Er nannte sie meistens Mammi oder Mama, wobei er im Englischen die letzte und im Russischen die erste Silbe betonte; jemand hatte einmal gesagt, dass Drillinge und heraldische «Dracunculi» in dreisprachigen Familien öfter vorkommen; aber es gab jetzt nicht den mindesten Zweifel mehr (außer vielleicht in dem in der Hölle schmorenden Geist der verhassten, lange toten Marina), dass Van ihr, ihr, Aquas geliebter Sohn war.

Weil sie nach diesem gesegneten Zustand vollkommener innerlicher Ruhe keinen weiteren Rückfall erleiden wollte, aber wusste, dass es so nicht bleiben würde, tat sie, was ein anderer Patient im fernen Frankreich in einem längst nicht so strahlenden und bequemen «Heim» getan hatte. Ein Dr. Froid[102], einer der Zentauren in der Verwaltung, möglicherweise ein emigrierter Bruder mit dem im Reisepass geänderten Namen des Dr. Froit aus Signy-Mondieu-Mondieu in den Ardennen oder, noch wahrscheinlicher, derselbe Mann, denn beide kamen aus Vienne, Isère, und waren einzige Söhne (wie ja auch ihr eigener Sohn), entwickelte beziehungsweise erneuerte die auf die Ausbildung eines «Gruppen»-Gefühls abzielende therapistische Erfindung, ausgewählte Patienten dem Personal helfen zu lassen, sofern sie dazu «Lust verspürten». Aqua ihrerseits wiederholte haargenau den Trick der schlauen Eleonore Bonvard[103], nämlich sich zum Bettenmachen und zum Putzen der Glasregale zu melden. Das Astorium in St. Taurus[104] oder wie immer der Ort hieß (wen kümmert’s – man vergisst Kleinigkeiten rasch, wenn man in endloser Undinglichkeit treibt) war vielleicht moderner, mit einem ausgesuchteren Wüstenblick, als das freudlose Mondefroid-Bleakhorse-Horsepittle[105], aber beiderorts konnte ein dementer Patient einem imbezilen Pedanten durchaus ein Schnippchen schlagen.

In knapp einer Woche hatte Aqua mehr als zweihundert Tabletten verschiedener Potenz zusammengerafft. Die meisten kannte sie – die faden Sedativa und jene, die einen von acht Uhr abends bis Mitternacht mattsetzten, sowie etliche Sorten stärkerer Schlafmittel, die einen nach acht Stunden des Nichtseins mit gläsernen Gliedern und bleiernem Kopf zurückließen, und eine Droge, die an sich köstlich war, aber ein bisschen tödlich im Zusammenspiel mit einem Schluck jenes flüssigen Putzmittels, das im Handel als Morona bekannt war; und eine plumpe lila Pille erinnerte sie, sie musste lachen, an jene Tabletten, mit denen die kleine Zigeunerhexe[106] in der (von Ladores Schulmädchen heiß geliebten) spanischen Erzählung zu Beginn der Jagdsaison all die Jäger mit all ihren Bluthunden in Schlaf versetzt. Damit kein Übereifriger auf die Idee käme, sie beim Davontreiben aufzuerwecken, so überlegte Aqua, musste sie dafür sorgen, dass sie so viel Zeit wie möglich in ungestörtem Stupor außerhalb des Glashauses zubrachte, und die Realisierung dieses zweiten Teils ihres Planes wurde vereinfacht und unterstützt von einem zweiten Agenten oder Doppelgänger des Professors von der Isère, einem Dr. Sig Heiler, den alle als großen Mann und «eine Art Genie» im landläufigen Sinne von «eine Art Bier» verehrten. Patienten, die durch ein gewisses Zwinkern mit dem Augenlid oder anderen halbintimen Körperteilen unter der Aufsicht von Medizinstudenten verrieten, dass Sig (ein leicht verunstalteter, aber nicht unansehnlicher alter Junge) in ihren Träumen als «Papa Fig» zu erscheinen begann, ein Versohler von Mädchenpopos und sprühender Spucknapfspucker, galten als auf dem Wege der Besserung befindlich und durften nach dem Erwachen an normalen Freiluftvergnügungen wie etwa Picknicks teilnehmen. Die schlaue Aqua zwinkerte, simulierte ein Gähnen, öffnete die hellblauen Augen (mit den bestürzend kontrastierenden pechschwarzen Pupillen, die auch Dolly, ihre Mutter, gehabt hatte), zog eine gelbe Hose und einen schwarzen Bolero an, ging durch ein kleines Kiefernwäldchen, fuhr per Anhalter ein Stück mit einem mexikanischen Lastwagen, fand eine passende Schlucht im Gestrüpp, schrieb ein Briefchen und fing an, aus der hohlen Hand seelenruhig den vielfarbigen Inhalt ihrer Handtasche zu schlucken, so wie ein russisches Dorfmädchen lakomjaschtschajassja jagodami (in Beeren schwelgt), die es gerade im Wald gesammelt hat. Aqua lächelte und genoss träumerisch den (recht «kareninsch» getönten) Gedanken, dass ihre Auslöschung die Leute ungefähr so tief träfe wie das abrupte, mysteriöse, nie erklärte Ableben eines Comicstrips in einer seit Jahren abonnierten Sonntagszeitung. Es war ihr letztes Lächeln. Sie wurde viel früher entdeckt, war aber auch viel schneller gestorben als erwartet, und der aufmerksame Siggy, immer noch in seinen sackigen Khakishorts, berichtete, dass Schwester Aqua (wie alle sie aus irgendwelchen Gründen nannten) dalag, als sei sie in Vorzeiten begraben worden, in einer fetus in utero-Position, ein Kommentar, der seinen Studenten relevant vorkam und meinen eigenen vielleicht auch.

Ihre letzte Notiz, die man bei ihr fand und die an ihren Mann und Sohn gerichtet war, hätte von dem normalsten Menschen auf dieser oder jener Erde stammen können.

Aujourd’hui (heuty-toity!)[107] habe ich, dieses lidklappernde Spielzeug, mir das psykitschige Anrecht verdient, eine Landpartie mit Herrn Doktor Sig, Schwester Johanna der Schrecklichen und einigen «Patienten» in den benachbarten bor [Kiefernwald] zu genießen, wo ich genau die gleichen skunkähnlichen Baumhörnchen sah, Van, die Dein Dunkelblauer Vorfahr in den Park von Ardis importiert hatte, wo Du zweifellos eines Tages herumstrolchen wirst. Die Zeiger einer Turmuhr, sogar wenn sie nicht geht, müssen wissen und auch die dümmste kleine Armbanduhr wissen lassen, wo sie stehen, sonst ist weder das eine noch das andere ein Zifferblatt, sondern bloß ein weißes Gesicht mit einem Anklebebärtchen. Ähnlich muss der tschelowek [Mensch] wissen, wo er steht, und muss es andere wissen lassen, sonst ist er nicht einmal ein klok [Stück] eines tschelowek, weder er noch sie, sondern nur ein «Tittchen», wie die arme Ruby ihre kärgliche rechte Brust zu nennen pflegte, mein kleiner Van. Ich, die arme Princesse Lointaine[108], très lointaine inzwischen, weiß nicht, wo ich stehe. Also muss ich fallen. Drum adieu, mein lieber, lieber Sohn, und lebe wohl, armer Demon, ich weiß weder Tag noch Jahreszeit, aber es ist ein einigermaßen und gewiss zeitigermaßen freundlicher Tag mit einer Menge niedlicher kleiner Ameisen, die schon Schlange stehen, um über meine hübschen Pillen herzufallen.

[Gezeichnet] Meiner Schwester Schwester, die jetzt is ada[109] («aus der Hölle heraus») ist.

«Wenn wir möchten, dass die Sonnenuhr des Lebens ihren Zeiger zeigt», kommentierte Van, als er Ende August 1884 im Rosengarten von Ardis Manor die Metapher weiterentwickelte, «müssen wir immer daran denken, dass die Stärke, die Würde, die Freude des Menschen darin besteht, den Schatten und Sternen, die ihre Geheimnisse vor uns verbergen, zu trotzen und sie mit Verachtung zu strafen. Nur die lächerliche Macht des Leidens hat sie aufgeben lassen. Und ich denke oft, es wäre sehr viel plausibler gewesen, ästhetisch, ekstatisch, estotisch gesprochen, wenn sie wirklich meine Mutter gewesen wäre.»

4

Als Van in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts[110] damit begann, seine tiefste Vergangenheit zu rekonstruieren, stellte er bald fest, dass jene Details seiner Kindheit, die wirklich von Belang waren (jedenfalls für die spezielle Absicht, die er mit seiner Rekonstruktion verfolgte), am besten und nicht selten nur dann abgehandelt werden konnten, wenn sie in verschiedenen späteren Stadien seiner Knabenjahre und Jugend erneut auftauchten, als ein plötzliches Nebeneinander, das den Teil wiederbelebte, indem es das Ganze lebendig machte. Deshalb hat seine erste Liebe hier Vorrang vor seinem ersten schlimmen Schmerz oder schlimmen Traum.

Er war gerade dreizehn geworden. Er hatte noch nie die Annehmlichkeiten des väterlichen Daches verlassen. Er hatte sich noch nie klargemacht, dass solche «Annehmlichkeiten» nicht als selbstverständlich zu betrachten waren, sondern nur in einer schablonenhaften einleitenden Metapher in einem Buch über einen Jungen und eine Schule vorkamen. Ganz in der Nähe der Schule hatte eine Witwe, Mrs. Tapirov, die Französin war, aber Englisch mit russischem Akzent sprach, einen Laden mit Kunstgewerbe und mehr oder weniger antiken Möbeln. Dorthin ging er an einem klaren Wintertag. Kristallvasen mit karmesinroten Rosen und goldbraunen Astern standen hier und da im vorderen Teil des Ladens – auf einer vergoldeten Holzkonsole, auf einer lackierten Kommode, auf dem Bord einer Vitrine oder einfach auf den teppichbelegten Stufen, die einen Stock höher führten, wo große Kleiderschränke und blinkende Frisiertische im Halbkreis um eine seltsame Gesellschaft von Harfen standen. Er überzeugte sich davon, dass jene Blumen tatsächlich künstlich waren, und fand es befremdlich, dass solche Imitationen immer nur dem Auge schmeichelten, anstatt auch das feuchte, fettige Gefühl lebendiger Blüten und Blätter nachzuahmen. Als er am nächsten Tag wiederkam, um den (jetzt, achtzig Jahre später, vergessenen) Gegenstand abzuholen, den er repariert oder nachgemacht haben wollte, war dieser noch nicht fertig oder noch nicht eingetroffen. Im Vorbeigehen berührte er eine halboffene Rose und wurde um das sterile Gewebe betrogen, das seine Fingerspitzen erwartet hatten, als kühles Leben sie mit schmollenden Lippen küsste. «Meine Tochter», sagte Mrs. Tapirov, die seine Überraschung bemerkte, «stellt immer einen echten Strauß zwischen die künstlichen pour attraper le client[111]. Sie haben den Joker gezogen.» Als er hinausging, kam sie herein, ein Schulmädchen in einem grauen Mantel mit braunen, schulterlangen Ringellocken und einem niedlichen Gesicht. Bei einer anderen Gelegenheit (denn ein bestimmter Teil von dem Ding – der Rahmen vielleicht – brauchte entsetzlich lange, um zu heilen, oder der ganze Artikel erwies sich letztlich als unerhältlich) sah er sie zusammengerollt mit ihren Schulbüchern in einem Sessel – ein Teil des Hauses zwischen den verkäuflichen Dingen. Er sprach nie mit ihr. Er liebte sie wahnsinnig. Es muss mindestens ein Semester lang gedauert haben.

Das war Liebe, normal und geheimnisvoll. Weniger geheimnisvoll und beträchtlich grotesker waren die Leidenschaften, die etliche Generationen von Schulmeistern nicht auszurotten vermocht hatten und die sich im Riverlane-Internat selbst 1883 noch immer unvergleichlicher Beliebtheit erfreuten. Jedes Schülerhaus hatte seinen Lustknaben. Eine Clique ausländischer Jungen, vorwiegend Griechen und Engländer, angeführt von Cheshire, dem Rugby-Ass, schätzte und quälte einen hysterischen Knaben aus Uppsala mit Silberblick, losem Mundwerk und fast abnorm ungeschickten Gliedmaßen, aber einer wundervoll weichen Haut und den runden, rahmigen Reizen von Bronzinos Amor[112] (dem großen, den ein entzückter Satyr im Boudoir einer Dame entdeckt); und teils aus Schneid, teils aus Neugier überwand Van seinen Abscheu und beobachtete kalt ihre groben Orgien. Bald jedoch gab er dieses Surrogat auf zugunsten einer natürlicheren, wenn auch gleich herzlosen Zerstreuung.

Die ältliche Frau, die Gerstenzucker und «Lucky Louse»-Hefte[113]