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Der Moment, in dem sie am meisten um ihr Leben fürchtet, markiert den Anfang ihrer großen Liebe. Als Anna nach New York kommt, will sie sich in der Stadt der Träume ihren großen Wunsch vom Schreiben erfüllen. Niemals hätte die junge Kolumnistin daran gedacht, im Augenblick ihres größten Schmerzes auf den Mann zu treffen, in den sie sich Hals über Kopf verlieben wird. Doch Adams traumatische Kindheit, Intrigen und seine Vergangenheit drohen, ihre Liebe zu zerstören und bringen beide in Lebensgefahr...
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Seitenzahl: 726
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-99130-743-3
ISBN e-book: 978-3-99130-744-0
Lektorat: Mag. Eva Reisinger
Umschlagabbildungen: Liubov Ezhova, Svetlana Shishkanova | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Prolog
Nun waren ganze sechs Wochen vergangen und ich versuchte weiterhin krampfhaft Fuß zu fassen, Anschluss zu finden und erneut zu fühlen. Emotionen, fernab von Schmerz und Trauer, zu empfinden, war mein oberstes Ziel.
Als ich klein war, saß ich oft am Küchentisch und Oma erzählte mir, wie es früher war. Damals, als man nicht viel hatte und doch unsagbar glücklich war. Wenn ich die Augen schließe, denke ich gerne an diese Zeit zurück. Mit Keksen und Kompott sah die Welt stets besser aus. Vielleicht war diese Sicht auf die Dinge der kindlichen Naivität und der Sorglosigkeit geschuldet, die man als Kind eben innehatte. Ich erinnerte mich gerne an meine Kindheit zurück, denn sie war von Glück, Liebe und Geborgenheit bestimmt.
Nun, zwanzig Jahre später, begreife ich, dass sich vieles verändert hat. In der Schnelllebigkeit unserer Zeit hat man oft das Gefühl, verloren zu sein. Verloren im Alltag, verloren im Umfeld, verloren im Job. Verloren oder gefangen? Gefangen in dem Pflichtbewusstsein, gefangen in der Flut an Aufgaben oder im Gedankenkarussell und der Besessenheit, alles optimieren, durchplanen und durchdenken zu müssen. Jetzt, wo ich keine Zeit habe, mir den Kopf über mein Leben und die Dinge, die schiefgelaufen sind, zu zerbrechen, bin ich froh, gefangen zu sein: gefangen in meinem Beruf. Diese Gefangenschaft raubt mir die Zeit, an meinen Kummer zu denken, an meinem Schmerz zu zerbrechen und mich in meinen Gedanken zu verlieren. An ihn will ich nicht denken und auch nicht an den Sommer im letzten Jahr, von dem ich dachte, dass er alles verändern würde. Dabei war genau dieser Sommer der Anfang vom Ende. Der Anfang vom Ende meiner Träume. Der Anfang vom Ende meines Glaubens an die Liebe. Der Anfang vom Ende meines unbeschwerten Lebens, aus dem jegliche Leichtigkeit gewichen ist.
Ich schaue aus dem Fenster meines kleinen Büros. Na ja, genau genommen sitze ich hier an einem Schreibtisch inmitten eines Großraumbüros, da diesen aber drei kleine Wände umzäunen, nehme ich es mir raus, es als mein Reich anzusehen. Sie sind 1,50 Meter hoch und wenn ich in meiner Arbeit versinke, schotten sie mich vom Trubel ab, der in einer Redaktion nun mal so üblicherweise vorherrscht. Der verbleibenden freien Wand, die mit einer kleinen Öffnung den Ein- und Ausgang gewährt, sitze ich mit dem Rücken zugekehrt. Derzeit habe ich sichtlich Mühe, mich auf meine Artikel zu konzentrieren. Ich stehe auf, nehme meine Kaffeetasse und gehe zur Fensterfront. Wie in Schockstarre bleibe ich versteift stehen. Ich schaue aus dem Fenster hinaus und blicke genau auf die Elm Street.
Ich betrachte die Menschen, die mit ihren Aktenkoffern in der Hand und dem Handy am Ohr eilig über die Ampel laufen. Ich sehe unzählige Autos, wie sie sich aneinander vorbeidrängen, um noch schnell über die soeben bereits rot gewordene Ampel zu kommen. Menschen, die gedankenverloren und pflichtbewusst, geradezu ferngesteuert, zu ihrer nächsten Aufgabe des Tages eilen.
Inmitten von all dem menschlichen Chaos sehe ich dieses eine Mädchen, das an der Hand ihrer Mutter noch hoffnungsvoll und freudig auf den Tag blickt. Sie hat ein hübsches gelbes Kleid mit einem weißen Kragen, Rüschensocken und Sandalen an. Sie trägt ihre dunkelblonden Haare gebunden zu einem Pferdeschwanz und von einem hübschen Schleifenband gehalten.
Ich schaue sie an und erkenne mich in ihr wieder. Damals, als Mama meine Heldin war, die in ihrem Alltag zwischen Beruf, Kind und Wäsche alles geschafft hatte, war ich ähnlich gekleidet. An ihrer Hand fühlte ich mich behütet, glücklich und aufgehoben. Sie erlaubte mir stets zu träumen und bestärkte mich darin, mir meine Hoffnungen zu bewahren und in mich und mein Können zu vertrauen.
Ich hatte eine glückliche Kindheit, aber in der Schule war es nicht immer einfach für mich. Bedingt durch die häufigen Schulwechsel, die mit dem Job meines Vaters einhergingen, musste ich mich stets neu einleben. Während mein Vater sich als inländischer Journalist völlig unbekümmert in den nächsten Auftrag stürzte und meine Mutter ihm nur allzu häufig den Rücken freihielt, musste ich mich behaupten. Behaupten an einer neuen Schule oder in einer etablierten Clique, auf der Suche nach Freundschaften und dem Gefühl von Zugehörigkeit. Erst im Teeniealter hatten meine Eltern verstanden, dass die pubertären Entwicklungen und die damit verbundenen Veränderungen herausfordernd genug waren, und so beschlossen sie, sich niederzulassen. Sie kauften ein Haus in Newburgh und mein Vater begann für eine Zeitschrift zu schreiben. Meine Mom plante währenddessen Kinderfeiern für die hier ansässigen Familien und engagierte sich zunehmend häufiger in der Gemeinde. In dieser Zeit begann ich meine Leidenschaft fürs Schreiben zu entwickeln. Angefangen hat alles mit Tagebucheinträgen, um mir den anfänglichen Kummer von der Seele zu schreiben. Es half mir, über die erste Schwärmerei hinwegzukommen und die Lästereien von den Mädchen aus meiner Klasse zu ertragen. Irgendwann erkannte die Schule mein Potenzial, genau genommen meine Lehrerin Misses Kenns. Kaum hatte ich mich versehen, fand ich mich im ersten Lyrikkurs wieder. Mit den Jahren entfachte meine Leidenschaft zunehmend mehr und ich wählte meine Kurse entsprechend meiner Vorlieben für Gedichte und Prosa.
Mittlerweile habe ich meine Leidenschaft zum Beruf gemacht: Ich bin Anna, lebe im Trubel New Yorks und arbeite als Kolumnistin für eine Lifestyle-Zeitschrift namens Weekly Advices und befasse mich mit der Kolumne Everyday Life, genau genommen gebe ich Tipps, wie man das Positive aus Situationen zieht und wie man es schafft, unabhängig von den täglichen Herausforderungen, Erfüllung zu finden und glücklich zu leben. Es zeugt schon von Ironie, dass gerade ich mich mit Themen wie positive Verstärkung, dem Weg zum Glück und Achtsamkeit beschäftige. Dazu vergebe ich wöchentlich Ratschläge an meine treue Lesergemeinschaft.
Ich trinke meine dritte Tasse Kaffee und betrachte diese zurzeit eher als halb leer statt halb voll. Morgen ist Redaktionsschluss und während ich so vor mich hinstarre, blinkt mein E-Mail-Fach auf. Die Nachricht ist von Ryan, meinem überaus ehrgeizigen und etwas herrischen Chef, der mich zum wiederholten Male auf die Fertigstellung meines Artikels hinweist.
Anna, morgen um Punkt 10 Uhr
erwarte ich deinen Artikel
auf meinem Schreibtisch!
Ryan
Ryan ist Junggeselle, ein Mann mittleren Alters und er sieht wirklich gut aus. Er trägt meist ein dunkles Jackett, eine Jeans und ein Polo. Seine mittlerweile grau gesträhnten Haare hat er stets zurückgekämmt. Sein Style ist sportlich schick und er duftet gut. Meiner Meinung nach könnte er zwar sein Aftershave durchaus etwas dezenter auftragen, denn manchmal hinterlässt er eine solche Duftnote, dass man Kopfschmerzen bekommt, aber nichtsdestotrotz kann ich nicht leugnen, dass er überaus attraktiv ist. Dessen ist er sich aber auch mehr als bewusst. Seine menschlichen Eigenschaften lassen jedoch zu wünschen übrig.
Ryan verhält sich seinen Angestellten gegenüber oft herablassend. Insbesondere den weiblichen und jungen Kolleginnen bringt er leider nur sehr wenig Wertschätzung entgegen.
Thema meines vor mir liegenden Artikels ist Der Weg zum glücklichen Leben in zehn Schritten. Ich seufze schwer, tippe mit meinem Kugelschreiber genervt auf meinem Papierblock herum und krame verzweifelt nach einem Aufhänger in meinen Gedanken. Momentan wäre ich froh, wenn ich mich überhaupt zu einem Schritt der geforderten zehn gedanklich durchringen könnte, aber meine Kreativität scheint mich verlassen zu haben und meine Muse verreist. So sehr ich mich auch bemühe, kriege ich einfach keinen Satz aufs Papier. Ich lese Geschichten von Menschen, die wieder Freude in der Liebe, im Beruf oder auch in ihrem Leben gefunden haben. Ich stöbere in Foren herum, schaue sogar auf Seiten von Selbsthilfegruppen. Das alles scheint heute jedoch seine Wirkung zu verfehlen. Gefrustet nehme ich meine Brille ab und lasse mich ermüdet auf meine verschränkten Arme stützend auf meinem Schreibtisch sinken. Ich schließe die Augen, seufze schwer und versuche mein positives Mindset zu aktivieren, was mir heute nicht zu glücken scheint.
Während ich mich schon verloren glaube, werde ich durch das Summen meines Handys aus meiner Verzweiflung geholt. Eine Nachricht von Lisa:
Hey, Anna,
lass uns heute treffen.
Es hat ein neuer Club aufgemacht.
Ich hole dich um 21 Uhr ab.
Xoxo Lisa
Gerade als ich versuche meine Antwort zu tippen, erscheint bereits die nächste Nachricht von Lisa:
Keine Widerrede, beste Freundin.
Suche nicht nach Ausreden!
Du kommst mit,
egal, wie du um 21 Uhr vor mir stehst!
Bis später
Lisa kennt mich einfach zu gut, denke ich mir und kann mir das Grinsen nicht verkneifen. Wieder einmal hat sie es geschafft, mich für einen kurzen Moment aus meinem Trübsal herauszuholen. Sie ist meine allerbeste Freundin und das seit dem Tag, als ich an die Chemsey School kam und sie mir anbot, neben ihr Platz zu nehmen.
Es ist schon verrückt, wie gut sie mich kennt, und Gedankenübertragung scheint wirklich zu existieren. Ich war tatsächlich gerade dabei, zu überlegen, welche Ausreden ich in diesem Monat bereits genutzt hatte. Redaktionsschluss, Dienstbesprechung und Babysitting für meine Kollegin zählen definitiv zu meinen Top 3 in diesem Monat Februar.
Seit unserer Trennung, seit der Trennung von ihm, gehe ich nicht gerne in Clubs, denn genau solch ein Club war damals der Ort, an dem ich ihm begegnet bin.
Erstes Kapitel
Am 5. Juli bestand Lisa darauf, sie zur Eröffnung des ultrahotten, so beschrieb sie es zumindest, neuen Clubs, The Fifth, zu begleiten. Lisa gehörte zu dieser neuen Generation, die sich im Mainstream wiederfand und bei der alles hip, cool und eben ultrahot war. Das erkor sie auch als Vorgabe für mein Abendoutfit aus. Ich war eigentlich der klassische Typ. Bleistiftröcke und Highwaist-Stoffhosen sowie ein passendes Satin- oder Blusenoberteil komplementierten meinen Stil. Pumps mit maximal 6 cm Absatz und passender Goldschmuck waren meine dazugehörigen Accessoires. Meine Haare waren immer noch dunkelblond, nur die Locken wurden mit den Jahren weniger und glichen eher Wellen, die ich meist zur Seite gesteckt oder zum Pferdeschwanz zusammengebunden trug.
Ultrahot gehörte weder zu meinem Wortschatz noch zu meinem Kleiderschrank, dachte ich mir und sah mich damit mit einer nahezu unmöglich zu bewältigenden Herausforderung konfrontiert. Lisa holte mich damals von zuhause ab. Doch sie kam nicht wie versprochen um 21 Uhr, sondern ganze zwei Stunden eher. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich zu dem Zeitpunkt wenigstens schon geduscht und in Unterwäsche bekleidet vor ihr stand. Als ich die Tür öffnete und sie ansah, dachte ich mir, dass ich mit Sicherheit kein vergleichbares Outfit in meinem Kleiderschrank finden würde, das wenigstens im Ansatz dem Ihrigen entsprach. Ihr schwarzer Rock erschien mir verboten kurz und ihre Bluse definitiv viel zu durchsichtig für meinen Geschmack. Ihre schwarzen Boots stufte ich als vorzeigbar ein. Unsere Vorstellungen kamen sich selten in die Quere und obwohl uns so viel verband, hätten wir in so vielem nicht unterschiedlicher sein können. An diesem Tag erschien Lisa mit einer großen Papiertüte in ihrer Hand. Das weiß ich noch genau.
Ich konnte mich aber nicht daran erinnern, dass sie bei mir übernachten wollte. Obwohl dies an solchen Abenden nicht selten der Fall war. Lisa feierte, wenn, dann richtig. Sie konnte auf Tischen tanzen und kannte sich mit den Zeiten zur Happy Hour bestens aus. Mir war oft nicht wohl dabei, sie dann alleine nach Hause gehen zu lassen. Da wir zuerst immer bei mir vorbeikamen, bot ich ihr stets meine Couch an, die sie meist auch dankend annahm. Am Folgetag schlief sie dann ihren Rausch aus. In dieser Zeit philosophierte ich dann bereits über den Sinn des Lebens, um an einem meiner Artikel weiterzuschreiben. Ich liebte es, den Morgen produktiv zu nutzen, und da ich kaum Alkohol trank, hatte ich, im Gegensatz zu ihr, weder mit einem Kater noch mit schlimmen Kopfschmerzen zu kämpfen.
„Na, dann wollen wir dich mal anziehen“, riss sie mich damals aus meinen Gedanken. Mich anziehen?, hallte ihr Vorschlag in meinen Gedanken nach. Das kann ja spannend werden. Ich wusste nicht, ob ich mich in dem Moment freuen oder doch eher sorgen sollte. Ich gab ihrer Aufforderung nach und fügte mich meinem Schicksal. Wir durchforsteten meinen Kleiderschrank, aber da war, wie bereits schon vermutet, kein Outfit dabei, das Lisas Kleiderwahl ebenbürtig gewesen wäre.
„Hast du denn nicht einmal ein kleines Schwarzes?“, stieß Lisa geschockt raus.
„Doch, aber ich glaube nicht, dass es das ist, was deiner Vorstellung entspricht!“
„Das können wir erst wissen, wenn ich es angezogen gesehen habe“, gab sie erwartungsvoll zurück.
Ich verstand die unausgesprochene Aufforderung, wählte mein einziges schwarzes Kleid, zog es aus der letzten Ecke meines Kleiderschrankes und beschloss, es Lisa zu zeigen. Als ich aus dem Bad trat und sie ansah, konnte ich mein Lachen kaum noch zurückhalten. Ihr Blick war einfach unbezahlbar. Sie war so entsetzt, dass ich, obwohl ich um Ernsthaftigkeit sichtlich bemüht war, aus vollem Hals losprusten musste.
Sie sah mich fragend an: „Anna, aus welchem Material ist das und in welchem Jahrhundert hast du es um Himmels willen nur erstanden?“
„Es ist Vintage!“, gab ich selbstbewusst zurück, während ich es mit meinen Fingern glattstrich und mich im Spiegel von allen Seiten betrachtete.
„Vintage? Es gehört verboten und derjenige, der es dir als Vintagekleid verkauft hat, gehört entlassen!“
Da stand ich nun in meinem kleinen Schwarzen, das ich das letzte Mal vor neun Jahren auf der Konfirmation meiner kleinen Cousine getragen hatte. Dementsprechend sah es auch aus. Meiner Tante Annie gefiel es besonders gut. Lisa fand das hochgeschlossene Kleid, das sogar die Schultern bedeckte und mir bis zu den Knien reichte, furchtbar. Besonders schrecklich empfand sie die Spitzenborde, deren Muster von einem metallischen Silberfaden durchzogen war. Ja, ich muss zugeben, es entsprach vielleicht nicht mehr der aktuellen Mode, aber nichtsdestotrotz gefiel es mir. Ich hatte es damals mit meiner Tante Annie in einer kleinen Boutique in Newburgh gekauft. Es hatte sentimentalen Wert.
Lisa zögerte nicht lange, sprang auf, verließ das Schlafzimmer und ging zielgerichtet in den Flur zurück, um mit der geheimnisvollen und von ihr eigens mitgebrachten Tüte zurückzukehren. Ich hob wortlos die Augenbrauen. Was sollte das denn jetzt werden?
„Wie ich schon vorhin sagte“, wiederholte sie, „wollen wir dich mal anziehen.“ Sie packte den Inhalt ihrer Tüte aus und breitete diesen auf der Tagesdecke meines Bettes aus. Da lagen nun Kleider neben Röcken und durchsichtigen Oberteilen fein säuberlich aufgereiht. Ich ließ meinen Blick schweifen und wusste gar nicht, welches ich schlimmer fand. Lisa sah mich verheißungsvoll an und mir war bewusst, dass sie von mir erwartete, dass ich aus ihrer Kollektion das Kleidungsstück rausziehen sollte, das ich am heutigen Abend tragen würde.
„Lisa, das kann ich doch unmöglich anziehen!“, sagte ich, als ich ein sehr kurzes Spaghettikleid aus ihrer Sammlung zog, das in meinen Augen eher einem etwas zu lang geratenen Oberteil entsprach. Es war halb durchsichtig, pink und aus Polyester. Doch ihre Ausbeute sollte nicht besser werden. Bei der Auswahl schockierte mich ein Teil mehr als das andere und dann sah ich, als ich mich zwischen Negligés und Hotpants schon verloren geglaubt hatte, doch noch einen kleinen Hoffnungsschimmer. Ich griff danach und verschwand mit dem pflaumenfarbigen Kleid wortlos im Bad. Es war knielang und hatte einen hübschen, aber dezenten V-Ausschnitt. Den Rücken zierte ein langer goldener Reißverschluss. Es war ganz anders als die anderen Teile: schlicht, elegant und passte damit perfekt zu mir.
„War ja klar, Anna!“, hörte ich Lisa seufzen. „Einen Versuch war es wert. Ich hatte schon geahnt, dass du die anderen Teile nicht mal im Traum in Erwägung ziehen würdest. Und, Anna: Was wäre ich denn für eine Freundin, wenn ich von dir erwarten würde, dass du dich verkleiden müsstest. Das ist wirklich perfekt. Es ist wie für dich gemacht, Anna!“
Ich betrachtete mich noch einmal im Spiegel meines Schlafzimmerschrankes, strich das Kleid mit den Fingern noch mal glatt und war mit dem Anblick sehr zufrieden. Ich legte mir noch eine feine Goldkette um und wählte zu ihr passende Creolen, schwarze Pumps und eine kleine Abendtasche. Auf meine Lippen trug ich noch einen schimmernden Gloss auf und sprühte meinen Lieblingsduft, Libre von YSL, auf Hals und Dekolletee.
Der besagte neue Club lag nicht weit weg von meinem Zuhause, so beschlossen wir, zu Fuß zu gehen. Wie an jedem Wochenendabend waren wieder unglaublich viele Menschen unterwegs. New York war einfach eine Stadt, die zu keiner Zeit schlief, und am Abend war hier fast schon mehr los als am Tag, denn nun hatten die meisten Menschen frei und damit die Gelegenheit, ins Nachtleben einzutauchen und sich in der Entspannung zu verlieren. Viele der Menschen, die hier leben, arbeiten bis zu sechzehn Stunden täglich an der Erfüllung ihrer Träume, da ist es auch nicht verwerflich, dass sie am Abend abschalten und ihrem Sozialleben mehr Beachtung schenken wollten.
Angekommen am The Fifth sah ich diese unglaublich lange Schlange von Menschen. Typisch New York und seine Hipstars. Kaum eröffnet ein neuer Club, schon drängen sich die Menschen mit ihren Handys vorm Gesicht, um das coolste Selfie auf Instagram oder TikTok hochzuladen. Ich konnte diesem Hype noch nie etwas abgewinnen. Meiner Meinung nach verloren sich die Menschen in der Illusion, anderen vor Augen zu führen, wie vermeintlich aufregend das eigene Leben ist, statt den Moment zu genießen. Followerzahlen waren eben wichtiger als das echte Leben. Meine Computerkenntnisse waren aber auch nur sehr spartanisch ausgebildet und erfüllten damit lediglich die Mindestanforderungen, um in meinem Job zu bestehen. Word und Power Point konnte ich noch etwas abgewinnen, Hashtags und Co. waren dagegen komplettes Neuland. Während ich mich weiter meiner Beobachtung hingab und mir so meine Gedanken zu der Geltungssucht von Menschen machte, hörte ich Lisa schon aus der Ferne rufen.
„Komm schon, Anna! Heute haben wir Glück. Todd hat heute seine Nachtschicht an der Tür.“ Wie ich feststellen musste, war sie bereits vorgelaufen, um ihn freudestrahlend zu begrüßen. Überschwänglich sprang sie ihm um den Hals, krallte sich an seinem Nacken fest und er wirbelte sie daraufhin entschlossen durch die Luft. Todd, Todd, ich versuchte mich vergebens an diesen Namen zu erinnern. Lisa lernte andauernd neue Leute kennen. Sie verpasste keine Afterwork Party und keine Neueröffnung von Clubs. Im Nachtleben kannte sie sich aus wie keine andere.
Manchmal staunte ich wirklich über die Beziehung zwischen uns. Während sie sich im Nachtleben zuhause fühlte, recherchierte ich stets die aktuelle Bestsellerliste zu den neusten Romanen. Ich liebte es, mich in Geschichten rund um die Liebe zu verlieren und mich in die Schicksale der einzelnen Protagonisten und ihre Lebensumstände hineinzuträumen. Das war meine Welt: Entweder schrieb ich selbst oder ich las in Büchern, die ich auf Flohmärkten, in Büchereien oder auch ganz klassisch im Buchladen um die Ecke erstand.
„Anna, Todd von letzter Woche. Ich hatte dir doch von ihm erzählt“, beendete Lisa meine Gedanken und schaute mich ganz merkwürdig an. Sie forderte mich nahezu auf, ihre Erzählungen in Anwesenheit von Todd zu bestätigen, um womöglich bei ihm punkten zu können. „Ja, ich erinnere mich“, fügte ich freundlich hinzu, woraufhin sie ihn erleichtert anlächelte. Aber was wäre ich denn für eine Freundin gewesen, wenn ich nicht mitgespielt hätte, dachte ich mir.
Wie sollte ich mich denn auch nicht an Todd erinnern. Lisa erzählte mir mehr als anschaulich von ihrer ersten und bisher letzten Begegnung. Von den Orten, an denen seine Finger gewesen sind, und von seinen Fähigkeiten als guter Küsser. Diese Erkenntnis hatte meine Freundin an keiner anderen Stelle als dem Hintereingang eines Clubs gewonnen. Nach einer gemeinsamen Zigarette trennten sich ihre Wege und hier, genau heute, begegneten sie sich wieder. Todd winkte Lisa und mich durch und schon waren wir in dem neuen und vermutlich für die nächsten vierundzwanzig Stunden angesagtesten Club von New York drin, bis irgendein neuer Blog einen anderen Club als Place to be auserkoren würde. Da standen wir nun oben auf der zweiten Ebene mit Blick über das gesamte Geschehen. Eine alte Lagerhalle wurde wohl mit Abstand zum coolsten Club der Stadt umgebaut. Ich mochte den Mix aus industriellen Vintageelementen und dem New Yorker Vibe. Überall waren weiße Rosen angebracht, an den Wänden und sogar an den Decken, die die riesigen Kronleuchter einrahmten. Die Sofas und Barhocker waren mit altem, braunem Leder überzogen. Die Tische waren aus gefärbtem Akazienholz. Die DJs spielten einen angesagten Mix aus House und Techno und die Partymenge verlor sich in deren Klängen. Der Rhythmus der Bässe drang durch meinen ganzen Körper. Ich ließ meinen Blick wandern und musste zugeben, dass der Club in sämtlichen Facetten meinem persönlichen Geschmack entsprach. Er war schlicht, stilvoll und einnehmend.
Während Lisa sich zwischen den ganzen Feierwütigen ihren Weg zur Tanzfläche bahnte, versuchte ich der Menge etwas zu entfliehen. „Lisa, ich hole mir etwas zu trinken“, rief ich ihr noch hinterher, doch sie war schon ganz in ihrem Element versunken, riss die Arme in die Luft und begann sich im Takt der Musik zu bewegen. An der Bar musste ich feststellen, dass die Preise ganz schön gesalzen waren. Daran kann ich mich auch noch nach drei Jahren in New York einfach nicht gewöhnen. 12 $ für ein Wasser ist doch wirklich mehr als unverschämt. Als Mädchen vom Land sträubt sich einfach alles in mir, so viel Geld für ein Getränk auszugeben, dass weder besonders anspruchsvoll hergestellt wurde noch mit intensivem Geschmack punkten kann. Ich bestellte mir ein Wasser, da ich selten zu Alkohol griff, und bahnte mir zielstrebig meinen Weg zu der Rooftop-Terrasse. Sobald ich den ersten Schritt über die Schwelle gesetzt hatte, wickelte mich die frische Luft ein und ich hatte endlich Gelegenheit, durchzuatmen. Der Blick über die Stadt war atemberaubend. Alles war in Lichter gehüllt und die Menschen bewegten sich wie kleine Ameisen auf der Straße zu meinen Füßen fort. Der Himmel war sternenklar und die Temperaturen waren angenehm warm. Ich atmete die Luft tief ein und verharrte einen Moment, um die Ruhe in mich aufzunehmen und diese wunderbare Nacht zu genießen. Die Musik hallte hier wesentlich leiser und die Gespräche um mich herum nahm ich nur noch als ein Murmeln wahr. Ich öffnete meine Augen, kehrte der Brüstung den Rücken zu und ließ meinen Blick durch die Menschenmenge wandern, als ich einen großen Schluck von meinem lächerlich teuren Wasser nahm.
In diesem Moment bemerkte ich ihn das erste Mal: ein dunkelhaariger großer Mann, sportlich, gutaussehend und geheimnisvoll. Er war mit einer schwarzen Hose, einem schwarzen T-Shirt und einer dunklen Lederjacke gekleidet. Aus der Ferne konnte ich leider nicht mehr erkennen, aber ich war sicherlich nicht die einzige Frau, auf die er diese Wirkung hatte, gestand ich mir ein. Die Zigarette hielt er in der einen Hand, den Whiskey im klaren Kristallglas in der anderen. Er zog an seiner Zigarette, hauchte den Rauch aus und wandte sich kurz von seiner Begleitung ab. Er fiel mir jedoch nicht nur durch sein Erscheinungsbild auf, das mich direkt in seinen Bann zog, sondern weil er sich mit einer Frau stritt. Sie gestikulierten wild miteinander und obwohl sie sich lauthals Worte an den Kopf knallten, konnte ich den Inhalt ihrer Auseinandersetzung nicht vernehmen. Dies war vermutlich den vielen Menschen hier und der Entfernung von etwa fünf Metern geschuldet. Während man im Club das Gefühl hat, nichts anderes als das gespielte Lied wahrzunehmen, hat man beim Verlassen des Tanzsaals den Eindruck, sein Gehör für die nächsten zehn Stunden verloren zu haben. Alles dringt nur noch ganz dumpf und wie in einen Schleier gehüllt zu einem durch. Sie sah atemberaubend schön aus. Die Frau trug ein rotes Kleid, das sehr figurbetont war und sämtliche Vorzüge ihrer Sanduhrfigur offenbarte, hatte schöne lange braune Haare und ein bildhübsches Gesicht. Ich schätze sie auf etwa achtundzwanzig Jahre. Doch ihr hübsches Gesicht leuchtete nicht, so wie es meins vermutlich getan hätte, wenn dieser Mann mir gegenüber stünde, es war traurig und es zeichneten sich auch Emotionen der Wut und des Zorns in ihm ab. Der Streit wurde immer lauter, bis letztlich das Glas die Dachterrasse hinuntergeschleudert wurde. Die Blicke der anderen fielen auf dieses überaus attraktive Paar. Einer der Türsteher hatte das Geschehen aus sicherer Entfernung beobachtet, doch das Glas brachte bei ihm anscheinend das Fass zum Überlaufen. Er forderte den geheimnisvollen Mann auf, den Club auf kürzestem Wege und ohne Umwege zu verlassen. Er nahm noch einen letzten Zug von seiner Zigarette, drückte sie aus und schnippte sie lässig die Terrasse hinunter. Daraufhin zupfte er sich seine Lederjacke zurecht und fuhr sich lässig durch seine dunklen Haare, von denen sich einzelne Strähnen lösten und in sein Gesicht fielen. In diesem Moment trafen sich unsere Blicke zum ersten Mal und ich sah sein Gesicht. Es war symmetrisch mit ausgeprägten Wangenknochen und schmalen Lippen. In seinen Augen lag ein wunderschönes Eisblau und auf seiner rechten Wange wurde eine längliche Narbe sichtbar. Er war überaus attraktiv. Als er mich eines flüchtigen Blickes würdigte, wurde mir bewusst, dass ich ihn immer noch anstarrte. Ich löste meinen Blick von ihm und schaute auf meine Füße. Was Besseres fiel mir in meiner aufsteigenden Panik nicht ein. Wie ein nervöser Teenie, der sich von seinem Schwarm ertappt fühlte, trat ich von einem Fuß auf den anderen.
Er machte sich auf Richtung Ausgang und streifte im Vorbeigehen meinen Arm. Der Unbekannte roch sehr gut, stellte ich fest. Es gibt wirklich kaum was Attraktiveres als den Geruch von Männern, der einen einnimmt und einem in Erinnerung bleibt, obwohl derjenige bereits aus dem eigenen Blickwinkel verschwunden ist. Ich starrte ihm noch eine Weile hinterher. Sein geheimnisvolles Wesen zog mich in seinen Bann. Neben seiner Wut fiel mir aber auch die Traurigkeit auf, die in seinen eisblauen Augen verborgen lag. Eine Art Leere, die mich zwischen Faszination und Erschaudern wiegte. Schließlich sind doch die Augen das Tor zu unser aller Seelen. Wie konnten sie denn dann dunkel und leer sein? Jeder Mensch hat eine Geschichte: Seine schien eine traurige zu sein.
Als er gegangen war, beschloss ich, es ihm gleich zu tun. Ich war ausgelaugt von der Arbeitswoche und konnte, so sehr ich es auch versuchte, den Clubs meiner Wahlheimat nichts abgewinnen. An solchen Abenden war die Oberflächlichkeit New Yorks deutlich spürbar und das sogar noch offensichtlicher als am Tage. Während sie sich am Tage auf den Erfolg bezog, schwappte sie in der Nacht auf das Aussehen über. Man reduzierte den Menschen nun nicht mehr auf das Arbeitspensum, das derjenige an Stunden bereit war, in die eigene Karriere zu investieren, sondern viel mehr auf Äußerlichkeiten wie langes und volles Haar, einen perfekten Körper oder eine adäquate Kleidung, die die antrainierte Figur betonte und das Selbstbewusstsein stärkte. Ich zog mein Handy aus der Handtasche und begann zu tippen, während ich mich durch die Meute drängte und hier und da noch angerempelt wurde.
Hey, Lisa, ich bin wirklich erschöpft.
Ich gehe heim.
Viel Spaß noch!
Xoxo Anna
Es kam prompt eine Nachricht zurück.
Ok, xoxo.
Damit erklärte ich meinen Abend offiziell für beendet. Ich lief die Treppe hinunter und begab mich ebenfalls Richtung Ausgang. Kaum hatte ich diesen erreicht, öffnete ich die Tür und blieb abrupt stehen, als ich ihn erneut sah: Der Mann von der Dachterrasse stand jetzt im wahrsten Sinne in Dunkelheit gehüllt vor mir. Lediglich der Umriss seiner Gestalt war noch zu erkennen. Angelehnt an einen Laternenmast zog er an seiner Zigarette und atmete den Rauch gleich wieder aus. Während ich die frische Luft als wahre Wohltat in mich aufsaugte, zog er es vor, diese zu verschmutzen. Ich schaute zu ihm hinüber und glich wahrscheinlich einem scheuen Reh im Scheinwerferlicht, das eilig den Nachhauseweg antrat. Von der hübschen Frau in Rot war keine Spur mehr zu sehen.
Im Vorbeigehen bemerkte ich, dass er mit jemandem telefonierte. „Ja, ich kümmere mich darum. Das habe ich doch gesagt. Nein, sie ist weg. Ich weiß nicht, wohin!“ Seine Stimme ließ mich erschaudern. Sie war rau und tief. Gleichzeitig lag so viel Ruhe und Gelassenheit in ihr. Sie bereitete mir Gänsehaut und faszinierte mich zugleich. Ich konnte mein Interesse für diesen Mann nicht mehr verbergen. Vor lauter Schwärmerei bemerkte ich gar nicht, wie ich mitten, und das auf offener Straße, in einen Mann hineinlief, der mit einem lauten „Hey“ prompt seine Genervtheit zum Ausdruck brachte. Ich konnte mich dann zwar wieder fangen, blieb aber zu allem Übel auch noch mit einem Schuh im Bordstein stecken. Das alles passierte ausgerechnet vor den Augen des Mannes, der mein Interesse auf sich gezogen hatte und dessen Aufmerksamkeit nun mir galt, aber leider nicht auf die Art und Weise, wie wir Frauen es uns wünschen würden, viel mehr auf die Art und Weise, dass man sich ein Erdloch herbeisehnt, in das man sich aus Scham verkriechen kann. Ich versuchte mir die Peinlichkeit des Augenblickes nicht anmerken zu lassen, doch leider blieben die Blicke der an mir vorbeikommenden Menschen unangenehm an meiner Person haften. Auf die anderen machte mein Auftritt sicherlich den Anschein, als dass die junge Frau mit großer Wahrscheinlichkeit viel zu viel getrunken und sich nicht mehr im Griff hatte, dabei war die Erklärung eine ganz einfache: Anna hatte das Talent, sich gerne und oft zu blamieren. Am liebsten natürlich, wie sollte es anders sein, vor Publikum: vor sehr großem Publikum.
Während ich immer noch den Kampf mit Bordstein und Schuh führte, lief eine Gruppe von jungen Mädchen, wahrscheinlich mitten in ihren Zwanzigern, an mir vorbei. Mein Ärgernis schien sie wiederum köstlich zu amüsieren, was durch deren Gelächter und Getuschel für niemanden zu überhören war. Am liebsten wäre ich wirklich im Erdboden versunken. Doch das hätte mir auch nicht weitergeholfen, schließlich bekam ich meinen blöden Absatz nicht aus dem Loch des Bordsteins heraus. Verdammt. Wie konnte eine Stadt wie New York nur so fortschrittlich und modern sein und gleichzeitig dermaßen veraltete Pflasteroberflächen haben? Während ich an meinem Schuh herumzog und mittlerweile auch noch die Hände zu Hilfe nahm, wurde mir heiß. Ich kam ins Schwitzen, weil mir diese Situation mehr als unangenehm war. Ausgerechnet am Haupteingang eines angesagten Clubs stecken zu bleiben und das auch noch zur Rushhour der Party People, war so typisch Anna. Ruhe bewahren, Anna. Ruhe bewahren. Ich atmete ein letztes Mal tief durch, versuchte die Menschenmenge um mich herum auszublenden, und endlich gelang mir das schier Unmögliche.
Als ich mich endlich aufrichten konnte, nachdem ich mich aus Bordstein und der Peinlichkeit auf offener Straße befreit hatte, um meinen Heimweg anzutreten, merkte ich, wie der attraktive Unbekannte in Schwarz mich schmunzelnd ansah. Bis vor einer Minute war er mir auch tatsächlich noch sympathisch gewesen. Die Sympathiepunkte hatte er sich jetzt aber definitiv verspielt. Erst mich anrempeln, ohne ein Wort der Entschuldigung den Ort des Geschehens verlassen und sich dann noch einen Spaß aus meiner misslichen und endlos peinlichen Situation machen? Ich hatte genug. Ich zog mein Selbstbewusstseinskostüm über, richtete mich auf, zupfte mein Kleid zurecht und machte mich nun endgültig auf in Richtung Heimweg. Dieser Abend hier setzte meiner Woche endgültig die Krone auf. Es war höchste Zeit, nach Hause zu kommen und in die Dusche zu steigen, um den Stress von mir abzuwaschen und in meinem Jogginganzug eingekuschelt im Bett zu versinken und die Ruhe zu finden, die mein Körper so sehr brauchte, die aber in dieser Stadt wiederum so selten anzutreffen war. Mein Plan für das Wochenende stand fest: Ich würde mich in meiner Wohnung verschanzen, den Schlaf der Woche nachholen und mich meinen zwei neuen Errungenschaften vom Bücherflohmarkt widmen.
Zweites Kapitel
Als ich vor drei Jahren nach New York kam, um meinen Job bei Weekly Advices anzutreten, war mir die zentrale Lage meiner Wohnung von größter Bedeutung. Schließlich hatte ich kein Auto. Bei all den zahlreichen Überstunden, die ich nahezu täglich fleißig ansammelte, war an geregelte Arbeitszeiten ebenfalls nicht zu denken. Aus den genannten Gründen musste für mich am liebsten alles fußläufig zu erreichen sein. Nachts musste ich des Öfteren alleine nach Hause, aber weil ich nur ein paar Minuten von den meisten Clubs entfernt wohnte, machte mir auch dieser Umstand nicht viel aus. Ich hatte keine Angst vor der Dunkelheit. Ganz im Gegenteil, die Dunkelheit brachte etwas Entschleunigung in mein Leben und schärfte meinen Blick für die Schönheit der Nacht. Ich liebte die frische Abendluft und den abendlichen Spaziergang unter dem Sternenhimmel. In der Flut an Sternen hing so viel verborgen und sogar Raum und Zeit waren hier nicht mehr von Bedeutung.
Jetzt blieben mir etwa zehn Minuten Fußweg, bis ich meine Wohnung erreichen und ins Bett fallen würde. Dieser Gedanke hielt meine Motivation am Leben, meine schmerzenden Füße zu ignorieren und vorwärts zu laufen. Damit hatte ich genug Zeit, von dem Abend Abstand zu nehmen. Ich verlor mich gerne in meinen Gedanken und meine Gesellschaft reichte mir meist, um mich auszufüllen. Ich war gerne mit mir und meinem Gedankenkarussell alleine. Unglaublich, wie viele unterschiedliche Menschen einem am Freitagabend so begegnen: Feierwütige, einsame Seelen und mittendrin die hoffnungsvollen Junggesellen und Junggesellinnen, die auf der Suche nach der einen, alles verzehrenden, großen Liebe waren. Ich persönlich zählte wahrscheinlich eher zu der letzten Gruppe. Ich war und blieb hoffnungslos romantisch und der festen Meinung, dass sie auch mich eines Tages finden wird: die große Liebe!
Nach meiner letzten Beziehung mit meiner Highschool-Liebe Tom war ich Single geblieben. Unsere Beziehung hielt zwei Jahre und zerbrach letztendlich an unseren unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen: Er wollte die klassische Heirat und sah sich bereits mit Kindern im hauseigenen Vorgarten sitzen. Ich, im Gegenzug, wollte raus. Raus in die Welt, um meine Träume umzusetzen und mich selbst zu verwirklichen. Ich wollte alles auf einmal: einen Mann, der mich liebt und unterstützt, gleichzeitig strebte ich aber auch nach Unabhängigkeit. Dabei war ich stets auf der Suche nach einem Magazin, das meine Geschichten veröffentlichen würde, das in mich Vertrauen setzte und mich in meinen Fähigkeiten bestärkte. Ich wollte Geschichten schreiben, Spuren hinterlassen, mich in Worten verlieren und gleichzeitig Menschen erreichen. Wir gingen im Guten auseinander und sehen uns regelmäßig, wenn ich meine Eltern besuche. Tom ist mittlerweile glücklich verheiratet und Vater eines kleinen Sohnes. Damit haben wir beide alles richtig gemacht, würde ich sagen. Wir haben das jeweilige Glück gefunden, ohne etwas von unserer eigenen Persönlichkeit zu verlieren und ohne unsere Ideale hinter jemandem und dessen Wünschen anzustellen.
Mittlerweile kannte ich mich in meinem Viertel ganz gut aus. Ich kannte sogar einige Abkürzungen. Diese waren zwar nicht immer in den vertrauenerweckenden Gassen, aber war das nicht eigentlich auch typisch für Abkürzungen? Ich glaubte an Karma und an das Gute im Menschen. Das waren für mich auch die ausschlaggebenden Gründe gewesen, meine Angst vor der Dunkelheit und dem Unbekannten abzulegen, und selbstbewusst durch das Leben zu gehen. Wenn ich keine Angst haben würde und dieses negative Gefühl gar nicht erst ins Universum senden würde, dann würde mir dieses wiederum auch keinen Anlass schicken, mich in Sorgen zu verlieren. Das war meine feste Überzeugung und danach lebte ich.
Kaum war ich in die Halom Street abgebogen, da beschlich mich ein ungutes Bauchgefühl. Ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen breit, das ich beiseiteschob. Unbeirrt setzte ich meinen Weg fort, führte meine Handtasche etwas näher am Körper und umklammerte mit beiden Händen meinen Bauch. Eine leichte Sommerbrise durchzog meinen Körper. Es war frisch geworden. Ich ging schnellen Schrittes vorwärts und bemerkte auf halbem Wege einen Mann, der sich mit dem rechten Bein angewinkelt an der Backsteinmauer einer Warenausgabe angelehnt platziert hatte. Ich blickte um mich und musste feststellen, dass ich mich in dieser Gasse schon viel zu weit fortbewegt hatte, als dass ein Umkehren Sinn machen würde. Gleichzeitig fiel mir aber auch auf, dass wir hier mutterseelenallein waren. Mein Unbehagen über die Situation stieg. Ganz in Gedanken verloren ist mir dieser Umstand zu lange verdeckt geblieben, als dass ich jetzt angemessen reagieren könnte. Ich schob mein Misstrauen zur Seite, holte tief Luft und bewegte mich geradewegs auf ihn zu. Auf den Mann, dessen Blick mich bereits gefunden hatte, während er sich ein Taschentuch aus der Hosentasche zupfte und mich Kaugummi kauend musterte. Auch wenn ich kein gutes Gefühl hatte, ignorierte ich meine emotionale Eingebung, denn schließlich musste ich ja an ihm vorbei. Es gab keinen anderen Ausweg. Kaum hatte ich ihn passiert, kam auch schon die erste Welle der Erleichterung auf mich zu. Doch kaum wollte ich diese im Stillen und voller Stolz feiern und beruhigt ausatmen, nahm ich Schritte hinter mir wahr. Ich erhöhte mein Tempo und fokussierte mich auf meinen Weg aus der Gasse und damit aus der Situation heraus, aber sie kamen näher, wurden schneller und ehe ich mich versah, spürte ich eine Hand auf meiner rechten Schulter. Meine Knie wurden weich. Panik stieg in mir auf und mich überkam eine erdrückende und die Luft abschnürende Ohnmacht. Durch meinen Kopf schossen tausende von Gedanken. Die Angst begann mich voll und ganz einzunehmen. Ich suchte in dem kleinsten Schlupfwinkel meines Körpers nach Hoffnung, dass ich mir keine Sorgen machen brauchte und alles gut werden würde, doch ich fand lediglich einen kleinen Anflug von Mut, der gerade noch ausreichte, mich umzudrehen und nach dem Gesicht zu der auf mir liegenden Hand zu schauen. Zitternd wagte ich, meinen Kopf zur Seite zu drehen und sah ihm genau in die Augen. Sie waren düster, kalt und herrisch. In der Schwärze darin sah ich mich meinem Untergang geweiht.
„Du wolltest doch nicht gehen, ohne mich einmal höflich zu begrüßen“, sagte der Unbekannte überaus ruhig. Ich bekam kein Wort heraus. Verstummte. Ich war gelähmt vor Angst. In Gedanken ging ich sämtliche Fluchtmöglichkeiten durch. Doch es machte keinen Unterschied, ob ich nach links, die Richtung, aus der ich gekommen war, oder nach rechts, die Richtung, die ich als Nächstes eingeschlagen hätte, wählen würde, hier war es menschenleer. Völlig verlassen. Uns würde niemand bemerken. Uns würde niemand sehen. In meinen Pumps würde ich nicht den Hauch einer Chance haben, auf dem gepflasterten Asphalt wegzurennen. Auch mein Schreien und meine Hilferufe würden in dem Trubel, der sich aus den benachbarten Clubs und Bars ergab, hoffnungslos verhallen.
Ehe ich meine Flucht als chancenlos deklarieren konnte, hatte er mich schon so fest an der Schulter gegriffen und gegen die Wand gedrückt, dass ich durch den Aufprall meines Kopfes gegen eben diese ausgeliefert zu sein schien. Ich hatte das Gefühl, das Bewusstsein zu verlieren, während ich versuchte den Schmerz auszuhalten, der durch den Schlag in mir entstanden war. Ich bemühte mich, den Fokus auf eine gleichbleibende Atmung zu legen, um nicht zu hyperventilieren und mein Herz zu beruhigen. Es schlug mir vor Angst so fest gegen meinen Brustkorb, dass ich es halten musste, aus Sorge, es würde mir jeden Moment herausspringen. Als er aber dann noch mit seinem rechten Zeigefinger meinen Hals bis hin zu meinem Schlüsselbein entlangfuhr, beschloss ich, mich meinem Schicksal zu ergeben und die Augen zu schließen, in der Hoffnung, dass dieser Moment schnell vorbeigehen würde, um dann das Gesicht meines Peinigers zu vergessen, einfach aus meinem Gedächtnis zu löschen. Das würde definitiv meine Chance erhöhen, den Moment zu überleben. Traumatisiert und verängstigt, aber ich würde am Leben bleiben. Ich versuchte mich mit einer gleichbleibenden Atmung in eine Art Trancezustand zu manövrieren, einfach nur, um aus dem Hier und Jetzt zu entfliehen und dafür zu sorgen, dass die kommenden Minuten keine Spuren in meinem Inneren hinterlassen können. Immer wieder begann ich von Neuem einzuatmen und wieder auszuatmen. Die in mir aufsteigende Panik versuchte ich hinunterzuschlucken sowie die in mir aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.
Er ließ seinen Finger weiter wandern, erst zu meiner Brust, dann zu meinem Ausschnitt, den er wiederum zur Seite hin aufschob, um die Spitze meiner Unterwäsche einzusehen. So sehr ich mich auch konzentrierte, die schiere Angst übermannte mich und ein Schluchzen löste sich aus meiner Kehle. Dann änderte er die Richtung. Er fuhr meinen Rücken entlang und ich flehte ihn an, damit aufzuhören. Tränen stiegen in mir auf, Verzweiflung machte sich breit und trotz allem sah ich nicht den Hauch einer Chance, dieser Erfahrung und diesem widerlichen Mann zu entkommen. Ich zitterte am ganzen Körper, konnte mich kaum auf den Beinen halten und winselte um mein Leben, während ich alles verloren sah. Er ergötzte sich an meiner Hilflosigkeit, machte immer weiter und blickte mir dabei eiskalt in die Augen, so, als ob er sich an meiner Verzweiflung zunehmend mehr erfreute. Mit einem Male ertönte eine zweite Männerstimme in dieser Gasse. Sie kam aus der Richtung, aus der ich gekommen war, und kam mir bekannt vor. Ich kannte sie nicht und doch schien es mir so, als ob ich sie schon einmal gehört hätte. Mein Kopf dröhnte vor Schmerzen. Der Unbekannte ließ von mir ab und ich begann, nach meiner Beule am Hinterkopf zu tasten. Kaum hatte ich sie gefunden, kniff ich die Augen zusammen und versuchte durch den Schmerz zu atmen. Meine Beine hatten jegliche Stabilität verloren und ich fühlte mich wie von Geisterhand gehalten. Ich war einfach unendlich dankbar, dass da jemand war, der eventuell die Polizei rufen oder der seine Stimme gebrauchen könnte, um ihn zu verjagen. Ich war immer noch im Panikmodus, völlig unfähig, etwas zu sagen, aber ich war nicht mehr allein.
„Lass sie los“, brüllte der Mann. Die Angst schnürte mir meinen Hals zu. Dann hörte ich die andere Person näher kommen und ihre Schritte in unsere Richtung wurden immer schneller. Ich vernahm einen Schlag, dann einen weiteren und als er endlich von mir wegtrat, wurde es schwarz in meinem Kopf, rabenschwarz. Ich verlor mein Bewusstsein und sackte zu Boden.
„Alles okay? Brauchst du einen Krankenwagen? Hey? Alles wird gut. Ich passe auf dich auf. Er ist weg“, versuchte mich eine männliche Stimme aus meinem Zustand geistiger Abwesenheit zurück zu bringen.
Die Worte hallten in meinen Gedanken, doch der Schmerz an meinem Hinterkopf war so stark, dass ich sie nicht lokalisieren konnte. Mit jedem seiner Worte spürte ich meine Rückkehr. Meine Rückkehr ins Hier und Jetzt. Meine Rückkehr in die Gegenwart. Meine Rückkehr an diesen schrecklichen Ort. Die Panik stieg in mir auf. Ich öffnete die Augen und schrie los: „Fass mich nicht an. Lass mich los. Fass mich nicht an, habe ich gesagt.“ Ich legte meine Arme vor meine Brust, versuchte den kleinen Rest meines Ausschnittes zu verdecken und mich zu schützen. Gleichzeitig unternahm ich panisch den Versuch, mich aufzurichten, einen festen Stand zu bekommen und wegzurennen. Doch das war, so ganz ohne Gebrauch meiner Arme, gar nicht so einfach. Beim Versuch mich hinzustellen, rutschte ich mit meinen Absätzen ab, knickte um und fiel auf meine Knie. Kaum hatte ich die Worte zu Ende gebrüllt und mich etwas gefasst, fing ich mich und unternahm erneut den Versuch, meinen schmerzenden Kopf anzuheben, um endlich den kläglichen Versuch zur Flucht zu wagen. Doch mein Kopf schmerzte so sehr, dass mir schwindelig wurde. Durch den Schlag erschien alles verschwommen und mir war übel. Daraufhin hob er beschwichtigend die Hände und ich sah zu ihm rüber, direkt in seine Augen. Es waren dieselben eisblauen Augen, in denen ich mich am Abend bereits für einen kurzen Moment verloren hatte. Sie strahlten wie der Himmel am Morgen, gaben mir Hoffnung und versprachen mir Sicherheit.
„Er ist weg. Ich werde dir nichts tun“, erwiderte er sanft und blickte mich an. Es war der Unbekannte aus dem The Fifth, der mich angerempelt hatte und sich über mich amüsiert hatte, als ich mit meinem Schuh im Bordstein stecken geblieben war. Er war wieder da und dieses Mal hatte er mir geholfen und mich gerettet. Er legte seinen Arm um mich und hielt mich für einen Moment fest. Ich blickte ihn an und er erwiderte meinen Blick. Er sah besorgt zu mir herüber. Die Besorgnis galt mir. Ich kehrte zurück in diese gerade erlebte grausame Erfahrung und begriff, was passiert war. Tränen sammelten sich in meinen Augen und bahnten sich ihren Weg heraus. Ich fiel ihm schluchzend, aber voller Dankbarkeit und Erleichterung zitternd in die Arme.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, flüsterte er mir wiederholt ins Ohr. „Ich werde dich nicht alleine lassen!“
Er nahm meine Hand und in diesem Augenblick sah ich, dass nicht nur ich von diesem Vorfall Wunden davongetragen hatte. Auch wenn meine mehr seelischer Natur waren. Seine Fingerknöchel waren blutig und aufgeschürft. Da begriff ich: Der Schlag, die Schritte, die Stimme … „Du warst das. Du bist gekommen und hast mir geholfen!“, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Erneut sah ich ihn an. Sein Blick erwiderte meinen. „Es tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin.“ Ich schmiegte mich noch näher an ihn. Ich begriff, welches Glück ich gehabt hatte, und als ich mich in den Gedanken zu verlieren drohte, was alles hätte noch passieren können, füllten sich meine Augen erneut mit Tränen. Ich gab mich diesen hin. Er drückte mich näher an sich heran und spendete mir mit seiner Anwesenheit und Stärke unendlich viel Trost.
Ich weinte und weinte. So lange, bis meine Tränen der Erschöpfung wichen. Meine brennenden Augen hatten keine Kraft mehr. Er nahm seine Jacke, legte mir diese um meine Schultern und hielt mich weiterhin fest. Wir saßen auf dem kalten Boden in der leeren Gasse, gemeinsam, ohne etwas zu sagen. Es war nicht der Moment für irgendwelche Worte. Als ich die Augen wieder öffnen konnte, war der Anblick der gleiche: ich in seinen Armen und wir beide auf dem trostlosen Boden dieser hinteren Ecke eines Lagerhauses. Nichts hatte sich geändert. Ich hatte es nicht geträumt. Das Erlebte entsprach keiner Einbildung. Er strich mir über das Haar. Im selben Moment vernahm ich, dass die Musik in den umliegenden Örtlichkeiten bereits zum Verstummen gekommen war, denn die Morgendämmerung kündigte bereits den neuen Tag an. Wir müssen hier tatsächlich mindestens zwei Stunden gesessen haben.
„Ich will hier weg!“, flüsterte ich und sah ihn bittend an.
Er nickte, half mir aufzustehen, zupfte seine Jacke an meinen Schultern zurecht und legte schützend seinen Arm darauf. Er führte mich nach Hause. In diesen zehn Minuten liefen wir schweigend Seite an Seite durch die Straßen von New York. An meinem Haus angekommen, kramte er in meiner Handtasche meinen Hausschlüssel hervor, schloss mir die Eingangstür auf und trat drei Schritte zurück, während ich in den Flur hineintrat. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute zuerst nach links und dann nach rechts, ehe er sich mir wieder zuwendete. Er vergewisserte sich, dass uns niemand gefolgt war. Das begriff ich gleich.
„Du solltest dich gut ausruhen.“ Ich nickte ihm zu, nahm seine Jacke von meinen Schultern und reichte sie ihm entgegen. „Danke“, sagte ich, „danke für alles“, und ging, ohne mich noch einmal umzudrehen, hinein.
Er wartete noch, bis ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen ließ, und oben angekommen, sah ich aus dem Fenster, wie er davonging. Ich war erschöpft und schaffte es lediglich, meine Pumps auszuziehen und mich im Kleid unter die Decke in mein Bett zu legen. Ich zog sie mir über das Gesicht und schaute ein letztes Mal auf die Uhr: Es war bereits 3:30 Uhr gewesen. Ich schloss die Augen und schlief ein.
„Anna, hast du den Artikel fertig? Anna?“, reißt mich Judy aus meinem Tagtraum zurück in die Vergangenheit. „Ryan ist heute besonders schlecht drauf. Die nächste Ausgabe macht ihn völlig nervös. Du weißt doch, die Konkurrenz hat ihre Auflage verdoppelt und Ryan will keinen unserer LeserInnen an diese verlieren“, führt sie weiter aus. Ich brauche einen Moment, um mich in der Gegenwart wieder einzufinden, sortiere meine Gedanken und wende mich ihr zu.
„Ja, ich weiß, Judy. Bis morgen Früh wird der Artikel abgetippt und eingetütet auf seinem Schreibtisch liegen!“, verspreche ich. Ich stehe auf und mache mich gerade auf den Weg zu unserer kleinen Küche, als mir Judy mit Blick auf meinen Notizblock das Offensichtliche vor Augen führt.
„Anna, du hast ja lediglich die Überschrift Der Weg zum glücklichen Leben in zehn Schritten geschrieben“, ruft sie mir irritiert und sichtlich schockiert in Erinnerung, während sie versucht sicherzugehen, dass ihre Worte nicht von den anderen gehört worden sind. Ich blicke auf die Uhr. Es ist bereits 18:11 Uhr. „Ist alles okay bei dir? Brauchst du Hilfe?“, fragt sie besorgt.
Ich verneine und sage ihr, dass ich eine Nachtschicht einlegen werde. Die Wahrheit, wie es in mir, nur sechs Wochen nach unserer Trennung, wirklich aussieht, will ich ihr oder besser gesagt auch mir nicht zumuten. Erneut zurück zu kehren in eine Beziehung, die mich voll mit Liebe erfüllt, aufgefangen und getragen hatte, bis der Sturz in die harte und kalte Realität kam, kann ich meinem gebrochenen Herzen nicht noch einmal antun. Meine Tränen sind aufgebraucht, denn ich habe wirklich viel geweint, und nun, da er endgültig weg ist, gibt es keinen Grund, zu dieser Zeit, zu ihm und zu unserer Liebe zurückzukehren.
Ich schnappe mir mein Handy, tippe eilig eine WhatsApp an Lisa und verschwinde anschließend, und das womöglich für die ganze Nacht, in den unendlichen Weiten des World Wide Web.
Tut mir wirklich leid, Lisa.
Ryan ist sehr angespannt und erwartet
Höchstleistungen bis morgen Früh.
Ich muss durcharbeiten.
Wir müssen unser Essen verschieben.
Viel Spaß euch.
Xoxo
Ich brauche gar nicht nach Ausreden zu suchen. Ich habe zu arbeiten. Ein knappes Okay lässt mich wissen, dass sie meine Nachricht gelesen hat. Ich durchforste das Internet nach möglichen zehn Glaubenssätzen auf dem Weg zum glücklichen Leben, nach denen ich bis vor kurzem noch selbst gelebt habe, die aber mit unserer Trennung aus meinem Inneren verschwunden sind. Ich habe nicht nur Adam verloren, sondern auch all das, wofür ich einstand: mein positives Denken, meine Neugier für das Unbekannte und meinen unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen. Doch ehe ich einen sinnvollen Gedanken an meine Arbeit fassen kann, legt die Frage nach dem Warum und wie es nur so weit kommen konnte erneut meine Welt in Scherben. Doch dieses Mal kann und will ich mich meinen Schmerzen nicht hingeben. Ich muss den Artikel zu Ende schreiben. Mein Job ist das Letzte, das mir von meinem New Yorker Traum noch geblieben ist, und ich bin es meiner treuen Leserschaft mehr als schuldig. Ich bin es mir selbst mehr als schuldig, meinen Traum vom Schreiben nicht aufzugeben.
In den nächsten Stunden raffe ich mich auf und arbeite konzentriert durch. Kaffee hält mich am Leben. Die Grenze für noch in gesundem Maße verzehrten Kaffee und moderaten Verbrauch desselben habe ich längst überschritten. Das braune Elixier lässt mich die Zeit überstehen und meinen Artikel beenden. Auch heute lässt der braune Trank mich nicht im Stich. Nach drei weiteren Kaffees und sechs Stunden Arbeit habe ich bereits das Gerüst erstellt und von da an schreibt sich der Artikel wie von selbst. Punkt 6 Uhr lege ich Ryan den fertigen Bericht auf den Tisch und mache mich auf den Nachhauseweg, denn mir bleiben nur noch vier Stunden bis zur Redaktionssitzung. Vier Stunden, um etwas Schlaf aufzuholen und eine Dusche zu nehmen, mich etwas zu richten und eine Kleinigkeit zu essen. Meine letzte Mahlzeit ist bestimmt schon vierundzwanzig Stunden her und bestand aus einem kleinen Bauernsalat mit viel Blattgemüse, etwas Tomate und Gurke. Nicht gerade viel, aber genug, um den Körper aufrecht zu halten. Mein Appetit war noch nie besonders groß gewesen, doch seitdem ich hier arbeite, stehe ich häufig dermaßen unter Druck, dass an geregelte Mahlzeiten und eine ausgewogene sowie vollwertige Ernährung gar nicht mehr zu denken ist. Seitdem ich hier lebe, habe ich meine Work-Life-Balance komplett aus den Augen verloren. Hier gilt es zu überleben, sich einen Namen zu machen und zu glänzen und nicht die Balance im Alltag zu finden. Mal ehrlich, wer schafft das überhaupt? Auch wenn du glaubst, dass es nicht mehr weitergeht, tun sich stets neue Wege auf, lautet die Einleitung meines Artikels. Bereits in der Highschool im Prosakurs von Mr. Dems wurde mir beigebracht, in alle Artikel eine persönliche Note einfließen zu lassen. Mr. Dems erklärte uns, das wäre der erste Schritt zum Erfolg, eine solide Grundlage, um darauf aufzubauen. Worte müssen den Adressaten erreichen, ihn spüren lassen, dass seine Geschichte dem normalen Leben entspringt. Dieses Mal sind die Worte nicht nur meiner Feder entsprungen, sondern stammen mitten aus meinem Herzen. Unser Leben wird von so vielen Komponenten und den unterschiedlichsten Beziehungen geprägt. Verläuft nur ein Aspekt nicht in der richtigen Bahn, gerät unser emotionales Gleichgewicht aus den Fugen und wir verlieren uns. Es ist höchste Zeit, sich aufzurichten und sich selbst zu finden. Das Leben geht weiter. Das Leben muss weitergehen, Anna!
Adam bestärkte mich stets darin, meinen Artikeln die persönliche Note zu geben, die sie seiner Meinung nach auch so beliebt machten.
Anna, erzähl den Leuten von dir.
Lass sie Anteil an deinem Leben haben.
Dann werden sie dir vertrauen.
Sei für sie die große Schwester, die Mutter,
die sie womöglich nie hatten
oder die sie schmerzlich vermissen,
oder auch die gute Nachbarin mit der guten Seele,
die nie um einen Rat verlegen ist
und deren warme Worte
Balsam für ihre verletzliche Seele sind.
„Na, endlich“, höre ich Ryan genervt sagen, nachdem ich nach einer heißen Dusche mit etwas frischem Make-up und einem neuen Outfit um 9:45 Uhr in der Agentur ankomme und Ryans Büro streife. Er sitzt lässig in seinem 4.000-$-Chefsessel und hält meinen Artikel in der Hand, während er sich in einer einzigen Drehbewegung der Türöffnung zuwendet. Wohlwissend, dass ich diejenige bin, die sein Büro streift und der sein selbstgefälliger Ausspruch gilt.
„Was lange währt, scheint ja tatsächlich gut zu werden“, fügt er hinzu, ohne mich anzuschauen. Ich nicke wohlwollend, falls er doch noch auf die Idee kommen sollte, mich anzusehen, mit einem netten Lächeln im Gesicht, wie man es von einer guten Angestellten auch erwarten würde. Ryan gibt uns meist nur selten Gelegenheit, tatsächlich aus vollem Herzen und voller Stolz für die verrichtete Arbeit zu lächeln. Meistens kritisiert er die einzelnen Artikel in all ihren Einzelheiten so sehr, dass man dazu verleitet wird, das eigene Können in Frage zu stellen. Manchmal geht er mit seinen Kommentaren auch einfach zu weit, denn meiner Meinung nach kann man jegliche Kritik nett und höflich, aber dadurch nicht weniger bestimmt verpacken. Sein bossmäßiges Gehabe ärgert mich oft. Was wäre denn falsch daran, seinem Personal Dankbarkeit und Wertschätzung entgegenzubringen? Bei manchen Menschen bleibt einfach die gute Erziehung mit deren Aufstieg auf der Strecke. Anstatt mich zu ärgern, wiederhole ich einfach mein Mantra, Sei stets die beste Version deiner selbst!, und mache mich mit Blick auf die Zeit sogleich auf zum Besprechungsraum. Wie jeden Donnerstag steht auch heute, pünktlich um 10 Uhr, unsere Redaktionssitzung an. Hier werden alle Artikel noch einmal abschließend begutachtet und letztendlich wird gemeinsam entschieden, welche es in die Ausgabe der Woche schaffen.
Ich trete als Vorletzte in dem Raum ein, dicht gefolgt von Ryan. Dieser kommt wieder überaus selbstbewusst herein, kritisiert, wie gewohnt, hier und da einzelne Passagen unserer Arbeiten, um uns einmal mehr zu verdeutlichen, dass er das letzte Wort bei der Gestaltung unserer Artikel hat. Mit mir scheint er, ausnahmsweise mal, zufrieden zu sein. Damit ist die letzte Nacht, die ich mir in der Agentur um die Ohren geschlagen habe, glücklicherweise, nicht vergebens gewesen.
Ich habe sichtlich Mühe, seinen Ausführungen Folge zu leisten, denn die Müdigkeit droht mich zu übermannen. Ich bin dermaßen damit beschäftigt, mir das Gähnen zu verkneifen, um seine Aufmerksamkeit doch nicht unnötigerweise auf mich zu lenken, dass ich gar nicht merke, wen er sich zum Opfer dieses Tages ausgesucht hat: Die arme Lucy hat heute, verglichen mit mir, weniger Glück. Sie ist aus Kansas hierher gezogen und seit knappen drei Monaten Teil unseres Teams. Auch sie glaubt, genauso wie ich, an die Gutherzigkeit von Menschen. Dieser Glaube wird aber durch unsere Führung deutlich auf die Probe gestellt. Sie ist eine ruhige, eher unscheinbare, junge Frau, die sich Ryan natürlich direkt als Opfer ausgesucht hat, auf dem er herzlos herumhacken kann. Lucy ist mir in der kurzen Zeit sehr ans Herz gewachsen und nimmt in meinem Leben die Rolle meiner kleinen Schwester ein, die ich mir gewünscht, aber nie bekommen habe. Als sie in die Agentur gekommen war, nahm ich mich ihr an, arbeitete sie in die wichtigsten Vorgänge ein und passte auf sie auf, dass sie sich im knallharten New Yorker Büro nicht verliert. Ich halte auch in diesem Augenblick, in dem Ryan seine Liste der Kritik schonungslos abarbeitet und alle vermeintlichen Fehler mit Liebe zum Detail besonders anschaulich darbietet, ihre Hand. Ich will ihr einfach zeigen, dass sie nicht alleine ist. Nach dreißig Minuten Besprechung ist der Spuk endlich vorbei und alle können aufatmen. Während die anderen fluchtartig den Raum verlassen, bleiben Lucy und ich noch einen Moment am Tisch sitzen.
„Anna, darf ich dich etwas fragen?“, höre ich Lucy kleinlaut sagen, während sie auf ihre Finger schaut, an denen sie nervös die Haut an ihren Nägeln abknibbelt. Doch sie braucht gar nicht weiterzusprechen. „Natürlich helfe ich dir!“, gebe ich lächelnd in ihre Richtung zurück. Sie hebt darauf den Blick und sieht mich mit einem gequälten Lächeln an. Während sich ihre Mundwinkel anheben, erreicht ihre Freude über meine Mithilfe nicht ihr Herz. Vermutlich wiegt die Enttäuschung, Ryan erneut nicht zufriedengestellt zu haben, schwerer.
Wir beschließen, uns direkt an die Arbeit zu machen. Ich koche eine Kanne Kaffee auf, gieße uns zwei Tassen ein und gehe damit zu Lucys Schreibtisch hinüber. Ihr Arbeitsplatz ist ordentlich und klar strukturiert. Ganz anders als bei mir. Während Lucy ihren Notizblock und zwei Kugelschreiber zwischen Telefon und Computer ordentlich nebeneinander positioniert hat, kleben an meinem Computer eine Menge Post-its mit Notizen, die für andere nur wenig Sinn ergeben, für mich aber einer klaren Linie folgen. Das Genie beherrscht bekanntlich auch das Chaos. Auch einen Stift habe ich selten zur Hand, da dieser, wie von Geisterhand bewegt, andauernd verloren geht. Eigentlich verbringe ich meine halbe Arbeitszeit mit der Suche nach meinen Aufzeichnungen oder einem Stift, dessen Tinte noch nicht leer ist. So viel mal zum Genie bei der Arbeit.
Wir gehen Lucys Artikel zu der Bedeutung von Freundschaft, den Ryan kreuz und quer mit rot markierten Anmerkungen versehen hat, die wiederum wie kleine Bremslichter warnend über ihren Worten schweben, gemeinsam durch und unterziehen seine Kritikpunkte der konkreten Analyse. Schritt für Schritt. Passage für Passage. Es macht auch keinen Sinn, sich über seine Bemerkungen zu ärgern, da er so ein Typ Mensch ist, der nur eine korrekte Vorstellung, nämlich genau seine alleinige, von einem guten Artikel hat und an eben dieser gibt es auch nicht den kleinsten Punkt anzuzweifeln. Manches erscheint geradezu lächerlich, bei anderen Punkten macht es definitiv Sinn, den Blick schweifen zu lassen und die verschiedenen Ebenen einer Freundschaft auszuweiten. Nicht umsonst unterschied Aristoteles zwischen Nutzen, Lust und der Vollkommenheit, die man durch Freundschaft in einer zwischenmenschlichen Beziehung erreichen kann. Ich merke, wie ich noch von der vergangenen durchgearbeiteten Nacht völlig erschöpft bin. Meine Augen brennen und die Müdigkeit lässt auch nicht lange auf sich warten. Ich habe Schwierigkeiten, mich auf die Wörter zu konzentrieren und meine Abgeschlagenheit trübt gar den Blick für die richtige Wortwahl, doch ich gebe mein Bestes, um Lucy Mut zuzusprechen und ihr Selbstbewusstsein, das Ryan vor der versammelten Mannschaft kleingeredet und in die hinterste Ecke ihrer Seele gedrängt hat, hervorzulocken und aufzubauen. Innerhalb von eineinhalb Stunden haben wir ihren Beitrag zusammengeflickt, abgetippt und neu ausgedruckt. Eineinhalb Stunden, die mir zugegebenermaßen wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen sind.
„Danke, Anna. Ich bin dir so dankbar für deine Hilfe. Ohne dich hätte ich es nie so schnell geschafft. Dabei muss ich mich ausgerechnet heute doch so sehr beeilen. Mein Bruder kommt nämlich gleich vorbei, um mich abzuholen“, sprudelt es aus Lucy fast schon auswendig gelernt heraus, während sie alle Zettel, die sich auf ihrem Tisch befinden, zusammenlegt und sämtliche Stifte in der dazugehörigen Box verstaut.
„Du hast einen Bruder?“, frage ich erstaunt, weil sie diese Tatsache bis dato unter Verschluss gehalten hat, während ich nebenbei unsere Kaffeetassen auf ein Tablett drapiere.
„Ja. Unsere Beziehung ist nicht leicht. Wir haben viel gemeinsam erlebt und haben als Kinder eigentlich nur einander gehabt. Er hat immer auf mich aufgepasst. Leider ist er in seiner Jugend in die falschen Kreise geraten und wir haben von da an eher sporadisch Kontakt gehabt. Dabei ist er alles, was ich habe.“
„Oh, ich verstehe“, sage ich beiläufig, da mich Lucys Redseligkeit dermaßen überrascht, dass ich es vorziehe, ihr zuzuhören, statt ihr ins Wort zu fallen. Ich habe sie, glaube ich, noch nie so viele Informationen aus ihrer Vergangenheit sagen hören und dies binnen weniger Sekunden.