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Ein großer Kanzler. Er prägt Deutschland bis heute. Konrad Adenauer hat viel dazu beigetragen, dass die Demokratiegründung in Deutschland nach 1945 gelang. Seine Entscheidungen bei der Ausformulierung des Grundgesetzes, des Umgangs mit NS-Belasteten, der Einführung der sozialen Marktwirtschaft, der Gründung einer christdemokratischen Partei haben das Land geprägt. Und Adenauer hat Deutschland zurück in den Kreis der Nationen geführt, in Europa und weltweit. Doch er hat die junge Demokratie auch existenziell belastet, mit illegaler Parteienfinanzierung und der geheimdienstlichen Ausspähung der SPD. Friedrich Kießling zeichnet das Bild eines ambivalenten Charakters, der große Handlungsmacht besaß und sie für das Land, seine Partei und nicht zuletzt für sich selbst einzusetzen wusste.
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Seitenzahl: 832
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die erste Lebenshälfte verbrachte Konrad Adenauer im Kaiserreich. Als Student der Rechtswissenschaft, Beigeordneter und Oberbürgermeister in Köln lernte er das Handwerk der öffentlichen Verwaltung und des lokalen Parlamentarismus von der Pike auf. Ohne diese und die darauf in der Weimarer Republik erworbenen demokratischen Techniken hätte er nach 1945 im Parlamentarischen Rat und als erster Kanzler der Bundesrepublik der jungen Demokratie nicht die zentralen Impulse geben, die fundamentalen Entscheidungen umsetzen können, die das Land bis heute prägen.
Friedrich Kießling, als Bonner Historiker im Herzen der Adenauer-Region zwischen Köln und Rhöndorf, schreibt seine Geschichte von Adenauers Leben (Kaiserreich, Weimar, »Drittes Reich« und Bundesrepublik) vor dem Hintergrund der Zeitenwende, angesichts tiefgehender Angriffe auf Deutschland von außen wie von innen. Die Rückbesinnung auf Adenauer, die lange Vorgeschichte und die Gründungsimpulse helfen, das Heute zu schätzen, seine Verwurzelung zu verstehen und Adenauer, bei all seiner Ambivalenz, zu würdigen. Kießlings Biographie bietet den Adenauer für das 21. Jahrhundert.
Friedrich Kießling
Dreieinhalb Leben
Biografie
Prolog
I Im Kaiserreich
1 Köln
2 Katholisch – wie katholisch?
3 Schule und Studium
4 Preußisch-deutscher Untertan
5 Aufstieg in der Kölner Stadtverwaltung
6 Krieg
7 Bilanz: Adenauers Kaiserreich
II Weimarer Republik
1 In die Republik
2 Weimarer Demokratie
3 Im »Rausch der Arbeit«. Die Entstehung des modernen Kölns
4 Adenauer und das Reich
5 Das Ende der Republik
6 Eine »verhältnismäßig ruhige Zeit«: Adenauer und Weimar
III Adenauer im Nationalsozialismus
1 Opposition
2 Politischer Rückzug und Kampf um Rehabilitierung
3 Wechselnde Wohnorte
4 Verfolgung
IV Nachkrieg und Gründung der Bundesrepublik
1 In der Zusammenbruchsgesellschaft
2 Der Weg zur Kanzlerschaft
3 Ideenwelten nach 1945
V Kanzler
1 Innen- und außenpolitische Weichenstellungen
2 Der (Macht-)Apparat
3 Die autoritäre Versuchung? Adenauers Politikstil und Demokratieverständnis in der Bundesrepublik
4 Adenauers Umgang mit der NS-Vergangenheit
5 Außen- und innenpolitische Erfolge und allmählicher Niedergang
VI Epilog: Abschied vom Amt
Schluss
Lauter Experimente und Adenauer-Momente
Ein riskantes Leben
Adenauer und die Demokratie
Vom Kaiserreich bis in die Bonner Republik
Dank
Quellen- und Literaturverzeichnis
Archivquellen
Personenregister
Historiker haben es gut. Historiker haben nur mit der Vergangenheit zu tun, unsereins als Politiker mit der Gegenwart und der Zukunft.
Gespräch mit Karl Dietrich Erdmann, 9. März 1965[1]
Mit 41 Jahren war Adenauer 1917 der jüngste Oberbürgermeister einer großen deutschen Stadt überhaupt. Bis zu seiner Amtsenthebung 1933 betrieb er eine engagierte und dynamische Politik. Von »keine Experimente« war bei den vielen Projekten, die die Stadt in Adenauers Amtszeit verfolgte, keine Spur.
Adenauer, wie ihn die Nachwelt kennt. Am 23. Juni 1963 begrüßte er als Bundeskanzler den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy bei dessen Besuch in der Bundesrepublik auf dem Flughafen Köln-Wahn. Drei Tage später besuchten beide Westberlin und wurden vor dem Schöneberger Rathaus von einer großen Menschenmenge gefeiert. Seit 1994 trägt der heutige Flughafen Köln/Bonn offiziell Konrad Adenauers Namen.
Es sah aus wie ein Abschluss. Als Konrad Adenauer und seine Familie kurz vor Weihnachten 1937 in das neue, eigene Haus in Rhöndorf bei Bonn einzogen, war er beinahe 62 Jahre alt. Eine beachtliche Karriere lag hinter ihm. Nur mit Anstrengungen und Beharrlichkeit war es in den zurückliegenden Jahren gelungen, in harten Verhandlungen mit den neuen Machthabern seine finanziellen Schwierigkeiten zu überwinden. Das fertige Haus war das Ergebnis. Realistisch betrachtet, konnte es im besten Fall der Beginn eines hoffentlich geruhsamen Lebensabends werden. Sicher war dies allerdings nicht. Die Nazis, die ihn 1933 aus dem Amt des Kölner Oberbürgermeisters gejagt, die ihn zur Flucht aus seiner Geburtsstadt getrieben und schon einmal inhaftiert hatten, waren nicht weg, ein Ende des Regimes nicht in Sicht.
Bei dem Leben als Pensionär blieb es bekanntlich nicht. Die folgenden Jahre wurden für Adenauer nicht zu einem Abschluss, sondern zu einem Zwischenreich zwischen einer ansehnlichen, aber noch nicht spektakulären Karriere und dem Aufstieg zum Bundeskanzler eines neuen Deutschland sowie zu einem der führenden Staatsmänner der westlichen Welt, der – als wäre dies alles noch nicht genug – auch noch zu einem der Gründerväter eines neuen Europas wurde. Im Mai 1945 kehrte Adenauer auf den Posten des Kölner Oberbürgermeisters zurück, diesmal von den Amerikanern eingesetzt. Gute vier Jahre später zog er als erster Regierungschef der Bundesrepublik ins Kanzleramt ein. Und als er 1963 nach 14 Jahren aus dem Amt schied, war aus der deutschen Zusammenbruchsgesellschaft von 1945 im Westen des Landes ein respektabler, demokratischer neuer Staat geworden, der fest in die internationalen Strukturen eingebunden war und der sich auch innenpolitisch langsam zu neuen Ufern aufmachte.
Doch Adenauers Leben war viel mehr als »nur« die Zeit ab 1949, als er mit 72 Jahren erster Regierungschef der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland wurde. Und es wäre ebenso falsch, die sieben Jahrzehnte zuvor lediglich als eine Art Vorgeschichte des Machtantritts von 1949 zu begreifen. Nein, Adenauer lebte nicht ein Leben mit der Kanzlerschaft als Mittel- und Zielpunkt. Dieses Leben umfasste mindestens drei aktive Phasen, eine im Kaiserreich, an dessen Ende 1918 er 42 Jahre alt war, Familienvater und Oberbürgermeister einer der größten deutschen Städte, eine Phase in der Weimarer Republik, in der er neben seinem Kölner Amt auch Präsident der zweiten Kammer des preußischen Parlaments war, und eine Phase in der Bundesrepublik, 1949 bis 1963 als deren Kanzler. Nimmt man die Zeit als Zwangspensionär im Nationalsozialismus hinzu, waren es dreieinhalb Leben. Und eine der wichtigsten Überlegungen einer Biografie Adenauers muss deshalb lauten: Auch wenn am Ende die Kanzlerjahre für die Nachgeborenen das Bild dieses Mannes prägten, Konrad Adenauer war nicht immer der, den wir aus der frühen Bundesrepublik zu kennen glauben, er war nicht immer der Mann des Slogans »Keine Experimente«, mit der seine Partei 1957 in den Bundestagswahlkampf ging. Möglicherweise war er es sogar nie.
Am Anfang dieses Buches über das Leben des ersten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland stehen drei grundsätzliche Einsichten. Die erste ist denkbar einfach. Konrad Adenauer war nicht nur nicht immer Kanzler, er war auch nicht immer alt. Seine Geschichte vornehmlich aus der Perspektive der Kanzlerschaft heraus zu erzählen, vermittelt ein falsches Bild. Adenauers Biografie zeigt viel mehr, als es die Konzentration auf die bundesrepublikanischen Jahre vermag. Im Grunde ist es eine Geschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt, eine Geschichte vom Kaiserreich bis weit in die Bundesrepublik Deutschland hinein. Eine deutsche Geschichte mit immer wieder europäischen, an manchen Stellen auch globalen Momenten.
Die zweite Einsicht hat viel mit der erzwungenen Untätigkeit im »Dritten Reich« zu tun, die ein höchst aktives Leben jäh unterbrach. Denn entgegen manchen Versuchen, im Kölner Oberbürgermeister der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bereits den späteren Kanzler der Bundesrepublik zu sehen, deutet in der Tätigkeit des kaiserlichen und Weimarer Kommunalpolitikers wenig auf die großen Entscheidungen des Bonner Regierungschefs hin. Wer etwa eine seiner nationalistischen Reden der Weimarer Jahre liest, wird kaum auf den Gedanken kommen, hier den großen Verständigungspolitiker der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 vor sich zu haben. Adenauer konnte durchaus anders, aber ein widerspruchsloser Verständigungspolitiker war er vor 1933/45 ganz sicher nicht. Ebenso verkehrt wäre es, aus der Tatsache, dass Adenauer in der Zwischenkriegszeit mehrmals als Reichskanzler im Gespräch war, abzuleiten, dass dieses Leben zielstrebig auf die Übernahme des höchsten Regierungsamtes in Deutschland hinauslief. Die Weimarer Republik benötigte im Schnitt fast alle 15 Monate einen neuen Regierungschef. Dieser Bedarf sorgte dafür, dass bei jedem Ende einer Regierung schnell ein Dutzend von Namen im Gespräch war. Darunter waren nicht selten Oberbürgermeister, die dank der damaligen Gemeindeordnungen in vielen deutschen Ländern eine besondere Machtstellung besaßen. Zwei Stadtoberhäupter wurden in Weimar tatsächlich Kanzler, andere wurden Reichsminister. Adenauer gehörte weder zu den einen noch zu den anderen.
Nein, Adenauers große Karriere nach 1945 ergibt sich nicht geradlinig aus seiner Tätigkeit vor 1933. Er bereitete sich nicht schon Jahrzehnte auf die Kanzlerschaft vor. Es sind viel eher die ganz verschiedenen, häufig widersprüchlichen Erfahrungen seines langen aktiven Lebens, die seine Biografie erklären. Das Erleben des Nationalsozialismus gehört mit an erster Stelle dazu. Mit anderen Worten: Auch dieses Leben war voller Zufälle und geprägt von Brüchen. Wie er diese erfuhr und wahrnahm, wie er mit diesen umging und diese bearbeitete, das ist die eigentliche Geschichte von Adenauers Leben.
Die dritte Einsicht ist die wichtigste. Sie betrifft das historische Bild der alten Bundesrepublik insgesamt und damit das von den ersten Jahrzehnten des gegenwärtigen Deutschlands, in denen die Fundamente unserer heutigen Demokratie gelegt wurden und die mit keiner anderen Person so eng verbunden sind wie mit Konrad Adenauer. Lange lag die Aufmerksamkeit bei der historischen Einordnung der Bonner Republik vor allem auf den 1960er und frühen 1970er Jahren. Diese wurden als Kernperiode eines fundamentalen Wandels verstanden, die aus einem autoritär geprägten Land erst ein wirklich demokratisches und pluralistisches Gemeinwesen machten.[2] Die Adenauer-Ära wurde aus dieser Sicht zum Gegenbild einer neueren Entwicklung, an der ihr nur ein marginaler Anteil zugeschrieben wurde. Die eigentliche Demokratisierung fand gemäß dieser Deutung erstens danach und zweitens vor allem im Bruch mit der ersten Phase der Bundesrepublik statt. Darstellungen der Bonner Republik schreiben bis heute diese grundlegende Zweiteilung der bundesdeutschen Geschichte fort. Die Adenauer-Jahre geraten unter dieser Perspektive in den Hintergrund. Fast scheint es, als müssten sie in ihrer Bedeutung für die weitere Geschichte der Bundesrepublik erst wieder entdeckt werden.
Gewissermaßen konträr zu solchen Sichtweisen entstand in den letzten Jahren aber auch eine Diskussion um tiefere Wurzeln der Demokratie in Deutschland, die sogar noch einmal weit über die Adenauer-Ära hinaus historisch zurückreichten.[3] Dazu gehörte etwa der Versuch, die Weimarer Republik nicht von ihrem Scheitern aus zu betrachten, sondern als grundsätzlich chancenbehafteten Neuanfang. Darüber hinaus wurden am deutschen Kaiserreich von 1871 nun weniger die autoritären Züge, sondern liberale Anteile sowie die in manchem tatsächlich erstaunliche kulturell-gesellschaftliche und sogar politische Modernität untersucht. Nicht wie autoritär das Kaiserreich war, wurde nun zur entscheidenden Frage, sondern wie modern insbesondere das späte Kaiserreich möglicherweise war.[4] Wo die Diskussion um den Wandel in den 1960er und 1970er Jahren die spätere Bundesrepublik von ihrer Vorgeschichte zunehmend trennte,[5] rückten die Betonung der demokratischen Errungenschaften von Weimar oder Fragen nach der Modernität des Kaiserreichs sogar noch ältere Abschnitte der modernen deutschen Geschichte wieder näher an die alte Bundesrepublik und damit im Übrigen auch an unsere Gegenwart heran.
Für die historische Darstellung der Bundesrepublik ist diese doppelte Perspektive eine entscheidende Herausforderung. Sie muss zum einen zeigen, wie und warum die Gründung von 1949 schließlich gelang und so die Jahre nach Krieg und Nationalsozialismus tatsächlich zum Anfangspunkt eines neuen und diesmal stabilen demokratischen Deutschlands wurden. Sie darf bei ihren Erklärungen auf der anderen Seite aber auch nicht die Verbindung zur Geschichte vor 1945 verlieren. Die Bundesrepublik trägt von Anfang an verschiedene Zeitschichten in sich. Dazu gehört ohne Zweifel eine genuin bundesdeutsche Schicht, die sich in den verschiedenen Neuanfängen und Neuansätzen in den Jahrzehnten nach 1945/49 zeigte. Dazu gehören aber ebenso komplizierte Traditionsstränge, die die Bonner Republik nicht nur mit dem Nationalsozialismus, sondern eben auch mit Weimar oder dem wilhelminischen Kaiserreich verbanden und in denen insgesamt Erklärungen für die bundesdeutsche Geschichte zu suchen sind.
Die Biografie Konrad Adenauers ist wie keine andere mit diesen verschiedenen Zeitschichten verknüpft. 1876 in Köln geboren, erlebte Adenauer das Kaiserreich nicht nur bewusst, sondern aktiv mit. Als Vertreter des großstädtischen Bürgertums in Köln, der katholischen Zentrumspartei, aber auch als Mitglied studentischer Korporationen oder ganz am Ende der Hohenzollernherrschaft als Mitglied des Preußischen Herrenhauses hatte er Einblick in genau jene Ambivalenzen des Reichs zwischen autoritärem Staat und selbstbewusster Zivilgesellschaft, die Historikerinnen und Historiker in den letzten Jahren so fasziniert haben.[6] In dieser Geschichte des Kaiserreichs spielt zudem der Hinweis auf dessen ausgeprägte regionale Unterschiede eine besondere Rolle. Für den Rheinländer Adenauer war diese Dimension der deutschen Geschichte ebenfalls von Anfang an relevant, wahrscheinlich aber erfuhr er sie in den Weimarer Jahren noch intensiver, als er zur nationalen Prominenz in seiner Partei aufstieg und als Präsident des Preußischen Staatsrats zu einem der wichtigen politischen Akteure im bei weitem größten deutschen Bundesstaat Preußen wurde.
Aber auch Adenauer führte nach 1945 nicht einfach seine Überzeugungen und politischen Rezepte aus Weimar oder gar dem späten Kaiserreich weiter. Auch er wandelte sich, er tat es im Übrigen bis ins hohe Alter. So gesehen, ist der oft gegen Adenauer erhobene Vorwurf der »Restauration« früherer Verhältnisse falsch. Die vielgestaltige Mischung aus Kontinuität und Diskontinuität der frühen Bundesrepublik trägt er aber natürlich dennoch in sich. In der frühen Bundesverwaltung sorgte nicht zuletzt er mit seiner Personalpolitik dafür, dass in den Bonner Ministerien und anderen Bundesbehörden so viele Spitzenbeamte ungeachtet ihrer NS-Belastungen ihre Karriere über 1945 hinweg fortsetzen konnten.[7] Auch angesichts von Adenauers ans Licht gekommener Ausspähung der Opposition mit Hilfe der für die Auslandsaufklärung zuständigen Organisation Gehlen oder angesichts seiner persönlichen Eingriffe in verschiedene Verfahren der Bundesanwaltschaft ist die Frage nach den Grenzen der frühen Bonner Demokratie ganz konkret an die Person des ersten Bundeskanzlers zu stellen.[8] Wie lässt sich also Adenauers ohne Zweifel ziemlich autoritärer Führungsstil in die Erzählung eines politisch gewandelten Deutschland nach 1945/49 einordnen? Welche Rolle spielte er bei den nationalsozialistischen Überhängen in der frühen Bundesrepublik? Und war Adenauer überhaupt Demokrat?
Solche sehr aktuelle Fragen zeigen: Über 30 Jahre nach den ersten umfassenden Biografien zu Konrad Adenauer ist die Zahl der Themen und Fragen, die an eine neue Adenauer-Biografie zu richten sind, noch einmal erheblich gewachsen. Sie reichen von einer größeren Aufmerksamkeit für die erfahrungsgeschichtlichen Dimensionen einer Biografie bis hin zur Berücksichtigung der veränderten Perspektiven, mit der wir inzwischen auf die Epochen von Weimar, des späten Kaiserreichs sowie natürlich auch der frühen Bundesrepublik blicken. Doch über all dem steht etwas anderes: Wie kein anderer deutscher Spitzenpolitiker nahm Adenauer führende Positionen sowohl im Kaiserreich als auch in Weimar sowie in der Bundesrepublik ein. Den Nationalsozialismus durchlebte er als bekannter und prominenter Gegner. Nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten dieser dreieinhalb Leben über alle Brüche hinweg zu fragen, ist die eigentliche Herausforderung einer Biografie Konrad Adenauers. Darin liegt ihre große Bedeutung für die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert insgesamt und darin besteht auch ihre Bedeutung bis heute.
[1]
Konrad Adenauer: Die letzten Lebensjahre. Gespräche, Interviews und Reden. Rhöndorfer Ausgabe. Bd. I 1963–1965. Bearb. v. Hans Peter Mensing. Paderborn u.a. 2009, S. 398.
[2]
Verwestlichung, Liberalisierung oder auch Demokratisierung waren entscheidende Schlagwörter dieser Perspektive. Für diese Sicht: Arnd Bauerkämper (Hg.): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945–1970. Göttingen 2005; Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980. Göttingen 2002; Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 2. Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung. München 2000.
[3]
Friedrich Kießling/Christoph Safferling: Der Streitfall. Wie die Demokratie nach Deutschland kam und wie wir sie neu beleben müssen. München 2024.
[4]
Sven Oliver Müller/Cornelius Torp (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Göttingen 2009.
[5]
Der Tübinger Historiker Anselm Doering-Manteuffel sprach einmal davon, dass um 1969/70 in der Bundesrepublik »Konturen modelliert« gewesen seien, die »kaum noch Ähnlichkeiten mit der Zeit um 1950 aufwiesen«, Anselm Doering-Manteuffel: Im Kampf um ›Frieden‹ und ›Freiheit‹. Über den Zusammenhang von Ideologie und Sozialkultur im Ost-West-Konflikt. In: Hans Günter Hockerts (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts. München 2004, S. 29–47, hier S. 40.
[6]
Für beide Seiten: Eckard Conze: Die Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe. München 2020, sowie Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre. München 2020.
[7]
Frank Bösch/Andreas Wirsching (Hg.): Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus. Göttingen 2018; Eckart Conze u.a.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010; Manfred Görtemaker/Christoph Safferling: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit. München 2016.
[8]
Klaus-Dietmar Henke: Adenauers Watergate. Die Geheimoperation des BND gegen die SPD-Spitze. Berlin 2023; Kießling/Safferling: Staatsschutz im Kalten Krieg, z.B. S. 350–354; Friedrich Kießling/Christoph Safferling: Staatsschutz im Kalten Krieg. Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF. München ³2021, S. 350f.
Wenn eine Staatengründung […], die ins Leben trat mit einer großen Machtvollkommenheit, mit großer äußerer und innerer Macht, so schnell zusammenbricht, dann beweist das doch, dass sie wahrscheinlich nicht richtig gebaut war.
Wir spielten in den Pausen [auf dem Gymnasium, F.K.] »Stadtverordnetenwahl«. Der eine Teil waren die Liberalen, der andere Teil war das Zentrum. Wer das Katheder erklomm, der hatte gewonnen. Dabei gab es schwere Prügel.
Teegespräche 1959–1961[9]
Adenauer 1883 mit seinen Geschwistern Lilli (1879–1950), August (1872–1952) und Johannes (1873–1937). Er war zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt.
Mit wilhelminischem Schnurrbart: 1904 heiratete Adenauer Emma Weyer, mit der er sich 1902 verlobt hatte. Emma kam aus bester Kölner Familie. Ihr Onkel war Adenauers direkter Vorgänger als Oberbürgermeister.
Das katholische Milieu Kölns war ein wichtiger Bestandteil von Adenauers Leben. Es prägte die Stadt und war auf den Straßen stets präsent. Im reichsweiten Vergleich zeichnete sich der Kölner Katholizismus allerdings auch durch seine Liberalität aus.
Köln im späten Kaiserreich war eine moderne Großstadt. Hier lernte Adenauer ab 1906 die Verfahren einer modernen Verwaltung kennen. Als Mitglied der Zentrumspartei sammelte er erste politische Erfahrungen.
Der Kriegsausbruch 1914 traf auch Köln mit großer Wucht. Adenauer war von Anfang an für die Versorgung der über 600000 Kölnerinnen und Kölner zuständig. Nach der Niederlage 1918 zogen sich die deutschen Truppen bis zum 3. Dezember über die Kölner Rheinbrücken zurück. Wenige Tage später besetzten britische Soldaten Köln.
Nach seinem Abitur 1894 studierte Adenauer in Freiburg, München und Bonn Jura. 1897 bestand er in Bonn das Erste Juristische Staatsexamen mit der Note »gut«. An allen Studienorten trat er katholischen Studentenverbindungen bei. Neben dem Studium unternahm er mit Kommilitonen Fahrten in die nähere und weitere Umgebung. 1895 führte ihn eine Reise von München aus bis an den Gardasee und nach Oberitalien.
Als Adenauer 1876 geboren wurde, war die 1842 begonnene Vollendung des mittelalterlichen Kölner Doms noch im vollen Gange. Die Fertigstellung des Werks wurde 1880 in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm I. prunkvoll gefeiert. Adenauer sah vom Straßenrand aus zu. Noch Jahrzehnte später erinnerte er sich, welch großen Eindruck die Feierlichkeiten auf ihn gemacht hätten. Er »habe es nie vergessen«.
Konrad Adenauer hat fast die Hälfte seines Lebens im Kaiserreich verbracht, 42 von 91 Jahren. Fünf Jahre nach der Reichsgründung von 1871 geboren, ging er noch in der Bismarckzeit zur Schule. Er studierte im Wilhelminismus, den Herrschaftsjahren Wilhelms II., und brachte es noch vor dem Ersten Weltkrieg als Beigeordneter der Stadt Köln zu einer beachtlichen beruflichen Stellung. Seit 1917 war er Oberbürgermeister einer der größten deutschen Städte und saß darüber hinaus als sogenannter präsentierter Abgeordneter im Preußischen Herrenhaus, der am ehesten mit dem heutigen britischen Oberhaus vergleichbaren ersten Kammer des preußischen Parlaments, in dem sich die adeligen und administrativen Spitzen des Hohenzollernstaates versammelten. Im Kaiserreich fand Adenauer seine erste Frau, er verlobte sich und heiratete. Noch vor dem Ersten Weltkrieg wurden die ersten drei Kinder geboren. Die parteipolitische Karriere in der preußischen »Zentrumspartei« begann im Kaiserreich, sein frühes Weltbild formte sich als rheinischer Katholik in einem protestantisch dominierten Reich. Als Vierjähriger, so erinnerte sich der fast Neunzigjährige Jahrzehnte später gegenüber seiner langjährigen Sekretärin Anneliese Poppinga, habe er Kaiser Wilhelm I. bei einem Besuch in Köln aus nächster Nähe gesehen. Anlass waren die prunkvollen Feierlichkeiten zur Fertigstellung des Doms am 15. Oktober 1880. »[A]lles«, so Adenauer, »habe einen großen Eindruck auf ihn gemacht, er habe es nie vergessen.«[10]
Dass Konrad Adenauer die ersten vier Jahrzehnte seines Lebens im Kaiserreich verbracht hatte und sich an einen Besuch Wilhelms I. aus dem Jahr 1880 in seiner Heimatstadt erinnerte, ist von weit mehr als biografischem Interesse. Denn was nahm der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland mit aus den Jahrzehnten im Kaiserreich? Welche Bedeutung hatten sie für seine späteren Tätigkeiten als Abgeordneter, als Leiter großer politischer oder administrativer Apparate, als Innen- und Außenpolitiker oder als Demokrat? Da Adenauer den Start der Bundesrepublik prägte wie niemand anders, ist die Frage auch für die deutsche Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts insgesamt von erheblichem Interesse. Umgekehrt war Adenauer mit dieser Lebenserfahrung beileibe nicht allein. Das Ende des Kaiserreichs lag, das gilt es sich klarzumachen, in der Entstehungsphase der Bonner Republik gerade einmal 30 Jahre zurück. Schon wer damals 50 Jahre alt war, hatte sehr bewusste Erinnerungen und Erfahrungen aus der letzten deutschen Monarchie. Die vielen großen historischen Einschnitte – 1914, 1918/19, 1933, 1945 – verdecken hier manchmal in der Rückschau die Kürze der Zeit, die am Beginn der Bundesrepublik seit dem Ende der deutschen Monarchie vergangen war. Übertragen auf die seit der deutschen Wiedervereinigung von 1990 verstrichene Zeit, geht es bei der Frage nach Prägungen aus dem Kaiserreich zu Beginn der Bundesrepublik darum, inwieweit für die Jahre um 2020 unterschiedliche Entscheidungen oder Verhaltensweisen daraus hergeleitet wurden, ob jemand in der DDR oder der Bonner Republik geboren und aufgewachsen war – was natürlich ständig geschah.
»Adenauers Kaiserreich« in diesem Sinne als Erfahrung zu erschließen, die auch später für ihn relevant blieb, ist allerdings gar nicht einfach. Das liegt am Kaiserreich selbst, das sich in der Rückschau als alles andere als ein monolithischer Block darstellt. Es hatte vielmehr zahlreiche unterschiedliche Facetten, je nachdem, auf welchen sozialen, politischen, lebensweltlichen oder regionalen Aspekt man blickt. Es gibt nicht die eine Geschichte des Kaiserreichs, sondern ganz viele unterschiedliche Geschichten. Eine andere Schwierigkeit liegt in der Quellenlage zur Person Adenauers. Zwar sind wir über die äußeren Daten der ersten 40 Lebensjahre des ersten Bundeskanzlers gut und zuverlässig informiert, über die Art und Weise, wie Adenauer diese Jahrzehnte erlebte, wissen wir aber deutlich weniger. Ein Tagebuch liegt nur für kurze Zeit vor, das Gros des in der Tat ungeheuer umfangreichen Briefwechsels stammt aus späteren Jahren. So sind wir in vielen Fällen auf Aussagen Adenauers angewiesen, meist lag da die erinnerte Zeit aber bereits Jahrzehnte zurück, zudem sind es – wie in dem oben zitierten Beispiel – häufig Dritte, die seine Erinnerungen überliefert haben. Längere Passagen, die über Adenauers Erfahrungen im Kaiserreich Auskunft geben, finden sich in den insgesamt so reichhaltigen Quellenbeständen zu Adenauer überhaupt nur relativ wenige. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Bis heute ist die Geschichte des frühen Adenauer von seiner Zeit als Bundeskanzler gleichsam »überformt«. Vieles, was über diese Zeit berichtet wird, ist von dem Bemühen bestimmt, darin den Staatsgründer der Bonner Republik schon zu erkennen. Dies führt zu einer Reihe von Überhöhungen seiner Rolle, etwa im Ersten Weltkrieg, zum Teil auch als Oberbürgermeister in der Weimarer Republik. Es entsteht so ein Adenauer-Mythos, der stark vom Kanzlerbild der Zeit nach 1949 geprägt ist.
Bisherige Biografen haben auf unterschiedliche Weisen versucht, die Quellengrundlage zur Erschließung von »Adenauers Kaiserreich« zu erweitern. Neben den wenigen zeitgenössischen Aussagen von Adenauer selbst sowie den späteren Erinnerungen haben sie zum Beispiel auf Stimmen von Altersgenossen, Bekannten oder Freunden zurückgegriffen, von denen angenommen werden kann, dass deren Perspektiven vielleicht auch für Adenauer gelten könnten. Überhaupt war natürlich auch Adenauer Teil bestimmter sozialer, generationeller, politischer oder konfessioneller Milieus. Viele Ansichten, Einstellungen und Wahrnehmungen dieser sozialen Gruppen wird er geteilt haben. Wer solche Erfahrungswelten erschließt, beschreibt – bei aller Vorsicht – auch einen Zugang zu Adenauer.
Bleibt die Frage, was alles davon im Falle des ersten Bundeskanzlers das Kaiserreich überdauert hat. Hier hilft eine genaue Spurensuche. Welche späteren Verhaltensweisen, welche Ideenbestände lassen sich mit »Adenauers Kaiserreich« verknüpfen? Adenauers hartnäckiges Sprechen von »Russland« oder »Sowjetrussland« statt von der Sowjetunion lässt jedenfalls vermuten, dass ältere Erfahrungsschichten bei ihm auch nach 1945 noch eine Rolle spielten. Auch abfällige Bemerkungen über außereuropäische Gesellschaften deuten auf ein jahrzehntealtes, im Kaiserreich erlerntes Weltbild. Zu fragen ist aber auch, was von der anderen, der modernen Seite des Hohenzollernstaates blieb, von dem Kaiserreich, das gerade in den großen Städten von einer selbstbewussten Bürgergesellschaft, von einer pluralistischen Öffentlichkeit und nicht zuletzt von manchen demokratischen Anfängen geprägt war.
[9]
Konrad Adenauer: Teegespräche 1959–1961. Bearb. v. Hanns Jürgen Küsters. Berlin 1988, S. 282f. u. 400f.
[10]
Anneliese Poppinga: Meine Erinnerungen an Konrad Adenauer. Stuttgart 1970, S. 184.
In Köln wurde Adenauer am 5. Januar 1876 geboren. Hier verbrachte er den größten Teil seines aktiven politischen Lebens. Hier »lernte« er nicht nur Politik, sondern machte auch erste Schritte in seinem erlernten Beruf als Jurist, sammelte Erfahrungen in der Führung einer Verwaltung oder im Umgang mit einem gewählten Parlament, der Kölner Stadtverordnetenversammlung. Sein erster wissenschaftlicher Biograf Hans-Peter Schwarz hat es so ausgedrückt: Wer sich der Stadt Köln »in ihrer Vielfalt, Schönheit und Modernität« zu erinnern wisse, erhalte »einen Schlüssel zum Verständnis dieses vielschichtigen Mannes«.[11]
Im Geburtsjahr von Konrad Adenauer hatte Köln etwas mehr als 135000 Einwohner. Das Stadtgebiet war auf den mittelalterlichen Stadtkern beschränkt. Zur ersten großen Stadterweiterung der modernen Zeit kam es 1888, als nach zum Teil heftigen Debatten die Stadt Ehrenfeld, die Gemeinden und Gemeindeteile Lindenthal, Sülz, Müngersdorf und Nippes sowie die Stadt Deutz auf der anderen Seite des Rheins eingemeindet wurden. 1881 hatte man damit begonnen, den alten Mauerring niederzureißen. Zusammen mit den Eingemeindungen sollte dies der Stadt den Weg in die Moderne ebnen. Schon zuvor hatten sich angesichts der Enge der mittelalterlichen Stadt immer mehr Produktionsbetriebe vor den Toren der Stadt angesiedelt und waren die dazugehörigen Wohnviertel – auch weil es billiger war – dort entstanden.
Wie andere traditionsreiche Städte versuchte auch Köln, mit den Erweiterungen die Kontrolle über die stürmische Entwicklung in der Zeit der Industrialisierung zu behalten und gleichzeitig von dieser zu profitieren. Die Stadtspitze sah sich dabei in zunehmender Konkurrenz zu den aufstrebenden Industriestädten an Rhein und Ruhr. Köln drohte die Stellung als führendes urbanes Zentrum im deutschen Westen zu verlieren. Dies galt es zu verhindern. Die Stadterweiterungen waren aber auch Spekulationsprojekte. Neubaugebiete wurden erschlossen oder Bauland durch den Abbruch der Befestigungen frei. In Köln hatte die Stadt die Militäranlagen der inneren Stadtmauer 1881 kurz vor dem Abbruch vom preußischen Staat erworben und dann als bevorzugten Baugrund verkauft. Noch 1882 begann die Errichtung der repräsentativen Kölner Ringe mit historischen Prachtbauten, wie der 1902 fertiggestellten Oper am Habsburgerring.[12]
Köln hatte damit in den Jahren des jungen Adenauers ein doppeltes Gesicht: Zum einen lebte es – und gerade seine Eliten – immer noch aus dem Bewusstsein heraus, die traditionsreiche Metropole im Westen Deutschlands zu sein. Die Bausubstanz der mittelalterlichen Großstadt unterschied Köln deutlich von aufstrebenden Städten wie Duisburg, Elberfeld und selbst Düsseldorf. Ähnliches galt für das bürgerliche Selbstbewusstsein der Stadt, das mit dem Anspruch einherging, zu den führenden deutschen Zentren zu gehören. Auf der anderen Seite war die Geschichte aber auch Belastung und wurde so empfunden. Die engen Gassen des mittelalterlichen Kerns und die Stadt- und Festungsmauern behinderten die moderne Entwicklung.
Unter diesen Bedingungen handelten die Kölner Stadtoberen in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert unter dem Druck, mit der Moderne Schritt halten zu müssen, um die führende Position ihrer Stadt gegen die aufstrebende Konkurrenz nicht zu verlieren. Das Ergebnis war gerade im letzten Jahrhundertdrittel eine in der Rückschau rastlos anmutende städtische Wachstumspolitik, die Köln in den Jahrzehnten um 1900 zu einer der am stärksten wachsenden Städte im Reich überhaupt machte (nachdem es zuvor klar unterdurchschnittliche Wachstumsraten aufgewiesen hatte). Nicht nur die Ringstraßen wurden errichtet, überhaupt wurde das bis dahin schon aus militärischen Gründen frei gebliebene Gebiet zwischen Altstadt und den nun eingemeindeten Orten im Vorfeld bebaut, die sogenannte Neustadt. Parallel dazu wurde auch die Altstadt erheblich umgestaltet, viele Straßen wurden verbreitert sowie zahlreiche kleine und winkelige, zum Teil baufällige Häuser durch moderne Bauten ersetzt.
Zur baulichen Umgestaltung und Erweiterung kam die Errichtung einer modernen Infrastruktur. Es ging um Gas, (Ab-)Wasser und Strom, Straßen und Eisenbahnanschlüsse, die Errichtung eines innerstädtischen Transportsystems, aber auch um einen modernen Schlachthof, Markthallen und natürlich auch Schulen. Liest man in die Protokolle der Verhandlungen der Stadtverordnetenversammlung im späten 19. und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts hinein, bekommt man eine Ahnung von dem ungeheuren Ausmaß der notwendigen Maßnahmen. Ein größeres oder auch kleineres Projekt folgte in fast jeder Sitzung dem anderen. Damit einher ging ein um ein Vielfaches gewachsener städtischer Haushalt. 1912 betrug er das Vierzigfache des Etats von 1870.[13] Zwar brachten die Projekte auch Einnahmen, zu einem erheblichen Teil wurden sie in Köln wie anderswo aber durch Schulden finanziert, was die Städte zu Vorreitern des »modernen Ausgabenstaates« machte, »der mit seinen Schulden Ausgaben finanziert, die sich in der Zukunft lohnen oder systemstabilisierend wirken sollen«.[14] Das trug den Städten damals viel Kritik ein. Schuldenmacherei war der Vorwurf, mit dem der Oberbürgermeister Adenauer auch in der Zwischenkriegszeit konstant konfrontiert war. Die aggressive Wachstumsstrategie der Kölner Stadtpolitik zahlte sich allerdings am Ende aus. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Köln nicht nur seinen traditionellen Status als Handels- und Finanzmetropole gewahrt und unter den veränderten Bedingungen erneuert, sondern war auch zu einer der wichtigsten Industriestädte und modernen Verkehrsknotenpunkte im Reich geworden. Als Oberbürgermeister sollte Adenauer diesen Kurs fortsetzen. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg.
Konrad Adenauers Geburtshaus befand sich tatsächlich noch im Innern der alten Stadt. Das Haus in der Balduinstraße 6 hatte sein Vater erworben, nachdem er sich nach einer Militärkarriere, die ihn von den Mannschaftsgraden bis hin zum Rang eines Leutnants geführt hatte und während derer ihm das Preußische Militärehrenzeichen II. Klasse verliehen worden war, in Köln niedergelassen hatte. 1873 war er zum Sekretär am Appellationsgerichtshof in Köln ernannt worden. Dort machte er Karriere im mittleren Beamtendienst, die ihn bis zum Obersekretär sowie Kanzleirat am Oberlandesgericht Köln führte, wie das Appellationsgericht inzwischen hieß. Johann Conrad Adenauer leitete damit den Schreibdienst des Kölner OLG.[15] Dass er sich im Dienst bewährte, dafür sprechen auch zwei weitere Ordensverleihungen. 1891 wurde ihm der preußische Rote Adlerorden der IV. Klasse verliehen, 1905 folgte der Kronenorden III. Klasse. Für einen mittleren Beamten im Justizdienst war dies bemerkenswert.[16] Für die Gesellschaftsgeschichte der Zeit wiederum charakteristisch ist, dass die Orden auch im Adressbuch der Stadt Köln vermerkt wurden. Hinter Johann Conrad Adenauers Name fand sich in seinem Todesjahr 1906, den Auszeichnungen entsprechend, ein stattlicher Zusatz. »Adenauer Conr. Sen., Kanzleirat, Obersekr. am Oberlandesgericht (M.E. II., R.A.O. IV., K.O. III.)«, so lautete der vollständige Eintrag.[17]
Sozialgeschichtlich wird die Familie des Johann Conrad Adenauer meist dem (vielleicht etwas besser situierten) Kleinbürgertum zugerechnet. Das mag für die soziale Stellung des Vaters als mittlerer Beamter mit lediglich primärer Schulbildung zutreffen. Ökonomisch führt es aber vor dem Hintergrund einer Klassengesellschaft wie der des Kaiserreichs in die Irre. In einem Gesuch um ein Studienstipendium für seinen Sohn August, Konrad Adenauers älteren Bruder, gab Johann Conrad Adenauer 1891 sein Gehalt einschließlich eines Wohnzuschusses mit 4032 Mark jährlich an, das Gehalt allein lag bei 3600 Mark.[18] Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung verdiente Adenauers Vater damit ziemlich gut. Das Durchschnittseinkommen lag Anfang der 1890er Jahre in Preußen bei deutlich unter 1000 Mark. Unter den Steuerzahlern in Preußen gehörte Adenauers Vater damit rein statistisch zu den obersten fünf Prozent der Einkommensskala (und fand sich dennoch in Steuerklasse drei). Damit konnte er sich im Übrigen mit Gymnasiallehrern der Zeit gleichstellen, was ihn dann aus dem Kleinbürgertum doch deutlich hervorhob.
Bezogen auf das Haushaltseinkommen sind die Zahlen insofern zu relativieren, als im Unterschied zu vielen Arbeiterfamilien, in denen zwangsläufig mehr als ein Familienmitglied verdiente, im bürgerlichen Hause Adenauer selbstverständlich nur der Vater arbeitete. Die Lebensverhältnisse waren dennoch keineswegs ärmlich oder gar von »Armut« geprägt, wie es manchmal heißt.[19] Im Rahmen der Gesellschaftsstruktur des Kaiserreichs ist diese Charakterisierung sogar eine völlige Verkennung. Sie gehört zu den Mythen, die den bundesdeutschen Kanzler bis heute umranken. Das heißt aber nicht, dass in der sechsköpfigen Familie nicht genau gerechnet werden musste, zumal wenn man »standesgemäß« leben wollte und allen Söhnen das Abitur sowie ein Studium ermöglicht werden sollte.
Für das Milieu der Familie Adenauer bezeichnend sind die vielen Umzüge, die sich – dies ist jedenfalls zu vermuten – nicht aus Armut, aber doch aus dem Versuch ergaben, die richtige Balance zwischen den finanziellen Möglichkeiten auf der einen Seite und der Suche nach einer »standesgemäßen« Wohnung auf der anderen zu wahren. In der Balduinstraße blieb man bis 1886 oder 1887, dann sind bis zum endgültigen Auszug Konrads aus der elterlichen Wohnung nach seiner Heirat 1904 in den Adressbüchern Kölns vier weitere Wohnungen belegt. Unter der Schaafen-, Hahnen-, Magnus- sowie der Lütticher Straße befand sich nur die letzte außerhalb des mittelalterlichen Zentrums Kölns. Zumindest aus finanzieller Sicht froh gewesen sein dürfte die Familie, dass Johann Conrad Adenauer auch noch mit über 70 Jahren im Dienst blieb. 1833 geboren, starb er 1906 als aktiver Beamter. Eine feste gesetzliche Altersgrenze, für die meisten waren es 65 Jahre, wurde für die Beamten in Preußen erst 1920 eingeführt. In dem angesprochenen Bittgesuch um ein Stipendium für seinen ersten Sohn August hat Adenauers Vater die finanzielle Situation der Familie 1891 wohl ziemlich zutreffend so ausgedrückt: »Dieses Einkommen reicht wohl aus, um standesgemäß leben zu können, wobei indes noch scharf gerechnet werden muss; es reicht aber nicht aus, um einen Sohn auf der Universität zu unterhalten. Ich würde also notgedrungen das kleine Kapital angreifen müssen; es bliebe dann schließlich für die jüngeren Kinder nichts übrig.«[20] In einer Untersuchung zu Konsumtypen im Kaiserreich ist die Einkommensklasse von Adenauers Vater dem »bescheiden-wohlständischen Konsum«-Typ zugerechnet worden.[21] Das trifft es bezogen auf die Gesamtgesellschaft des Kaiserreichs ganz gut. »Standesgemäß leben zu können«, wie es der Vater ausdrückte, ist ein wichtiges Stichwort. Genau darum ging es und daran maß sich die Einschätzung der eigenen finanziellen Verhältnisse.
Ein zweiter wichtiger sozialhistorischer Befund neben der Einordnung in das gehobene, aber im Gesamtvergleich nicht schlecht verdienende Klein- bzw. mittlere Bürgertum liegt in der Aufstiegsgeschichte sowie dem offensichtlichen Aufstiegswillen der Familie Adenauer. Obwohl dies finanziell einige Belastungen bedeutete, suchte man allen drei Söhnen das Studium zu ermöglichen. Und so ergab sich die für das 19. Jahrhundert sozialgeschichtlich typische Aufstiegsgeschichte über drei Generationen, aus den traditionellen Beschäftigungen in der Landwirtschaft oder im Handwerk der Großelterngeneration über eine mittlere Beamtenlaufbahn der Väter hin zum Studium der dritten – männlichen – Generation. Zu dieser intergenerationellen Aufstiegsgeschichte kommt der persönliche Ehrgeiz, der auch bei Konrad Adenauer klar zu erkennen ist. Aus ganz kleinen Verhältnissen, das sei gegenüber bis heute existierenden Vorstellungen betont, stammte Adenauer aber nicht. Mit der Stellung des Vaters am Appellationsgericht war für die Familie einiges erreicht. Dass die Söhne auf das Gymnasium gingen und das Studium anstrebten, war unter diesen Umständen nicht außergewöhnlich.
Dies alles spielte sich für Konrad Adenauer zunächst in Köln ab. Den Erfahrungshintergrund seiner Kindheit und frühen Jugend darf man sich aber nicht zu »großstädtisch« vorstellen. Das moderne Köln wurde ja gerade erst gebaut. In Adenauers Kindheit begann wenige Meter hinter der elterlichen Wohnung das Land. Konrad musste nur durch das nahe Hahnentor hindurchgehen. Hinzu kamen viele weiter bestehende Verbindungen der Familie ins dörfliche Umland. Adenauers Vater Johann Conrad kam aus Meßdorf bei Bonn. Heute ein Bonner Stadtteil, war es damals ein winziges Dorf weit vor den Toren. Der Großvater von Konrad Adenauer betrieb dort eine Bäckerei. Die bäuerlichen weiteren Vorfahren stammten aus Flerzheim nicht weit entfernt, heute ein Stadtteil von Rheinbach.
Als beide Eltern früh starben, verdingte sich Adenauers Vater zunächst als Knecht auf einem nahe gelegenen Gut. Vielleicht um dem wieder drohenden Abstieg ins unterbäuerliche Milieu zu entgehen,[22] ging er 1851 im Alter von 18 Jahren zum Militär und machte dort eine Karriere, die ihn nach dem Abschied auf die Stelle des Kanzleisekretärs am Kölner Oberlandesgericht brachte.
Adenauers Mutter war die Tochter eines Kölner Bankbeamten, der selbst aus Thüringen stammte und evangelisch war. Die Verwandtschaft ihrer Mutter wiederum verweist, ähnlich wie die von Adenauers Vater, ins kleingewerblich-bäuerliche Milieu rund um Bonn. In Adenauers Kinder- und Jugendzeit bestanden also viele Beziehungen zu Verwandten auf dem Land. Die Ferien wurden regelmäßig bei einem Freund des Vaters in Lessenich bei Bonn verbracht.[23] Von den extrem verdichteten Wohnbedingungen der Kölner Altstadt (wir sprechen hier von einer für heutige deutsche Städte nicht mehr vorstellbaren Bevölkerungsdichte von 30000 Menschen pro Quadratkilometer) war das damalige Dorf Lessenich meilenweit entfernt. »Der Abschied vom Lande«, so Adenauer Jahrzehnte später, »sei ihm jedes Mal schwergefallen.« Den Satz des 88-Jährigen hat einmal mehr seine langjährige Sekretärin Anneliese Poppinga überliefert.[24] Wie viel nostalgische Kindheitserinnerungen – möglicherweise auf beiden Seiten – dabei mitspielten, muss offenbleiben, er spiegelt aber eine Lebensrealität der rasanten Urbanisierung im Kaiserreich wider, bei der der Wechsel in die Stadt eben keineswegs bedeutete, die Bindungen zum Land zu verlieren. Wie Millionen andere erlebte auch der heranwachsende Adenauer den Kontrast zwischen dem kaum veränderten ländlichen Raum auf der einen Seite und den extrem verdichteten Wohnverhältnissen in den wachsenden Städten auf der anderen.
Solche Erfahrungen mögen den Hintergrund dafür bieten, dass die moderne »Vermassung« bis in seine Zeit als Bundeskanzler zu den großen Lebensthemen von Konrad Adenauer gehörte. Es war aber auch eine ungeheuer dynamische Zeit, in der sich die »technischen« Bedingungen der Lebenswelten radikal änderten, von Straßenbahnen über städtische Abwasser- und Beleuchtungssysteme bis zu den überall emporwachsenden städtischen und staatlichen Repräsentationsbauten im Bildungs-, Kultur- oder Justizbereich. Als Adenauer 1894 Abitur machte, war gerade der Neubau des Kölner Hauptbahnhofs mit seiner 255 Meter langen und 64 Meter breiten Bahnsteighalle sowie dem riesigen Empfangsgebäude im Stil der Neorenaissance fertig geworden. War das »Land« in Adenauers Kindheit und Jugendzeit nie weit weg gewesen, so hatte sich Köln bis in seine Zeit als junger Erwachsener zur modernen Großstadt entwickelt.
Wir wüssten gerne, wann Adenauer zum ersten Mal mit einer elektrischen Straßenbahn fuhr (in Köln konnte er es kurz nach der Jahrhundertwende tun) oder wann er zum ersten Mal den neuen Hauptbahnhof nutzte. Im Auto war er spätestens mit der Übernahme des Amtes als Erster Beigeordneter im Jahr 1909 häufig unterwegs. Auch ohne eigenen Führerschein war Adenauer damit zweifellos ein Kind der beginnenden Moderne um die Jahrhundertwende. Kaum etwas zeigt das so deutlich wie eine Seite von Adenauer, die immer noch recht wenig bekannt ist, nämlich die als Erfinder.
Über Jahrzehnte hinweg hat sich Adenauer mit kleineren und größeren Erfindungen beschäftigt. Am bekanntesten ist vermutlich ein besonderes Mischbrot, das er in den Hungerjahren des Ersten Weltkriegs entwickelte und das als »Adenauer-Brot« in die Geschichte eingegangen ist. Als er sich im Nationalsozialismus gezwungenermaßen vor allem in seinen Rhöndorfer Gärten die Zeit vertrieb, tüftelte er an allen möglichen praktischen (oder weniger praktischen) technischen Gartenhelfern. Noch interessanter sind allerdings seine ersten Versuche als Erfinder, die er in den Jahren direkt nach 1900 unternahm und mit denen er sich hartnäckig um Patente bemühte, am Ende aber erfolglos. In seinen ersten Patentversuchen beschäftigte er sich mit den Antriebssystemen von Lokomotiven und Automobilen.[25] Besonders spannend ist sein Vorhaben, durch verschiedene Vorrichtungen die Staubentwicklung von Autos zu minimieren. Es lässt sich gut vorstellen, wie Adenauer hier die Auswirkungen des neuen Verkehrsmittels auf dafür noch ungeeigneten Straßen auf die unmittelbare Umgebung vor Augen standen. In späteren Erfindungsversuchen beschäftigte er sich mit der Luftreinheit in Städten und mit Maßnahmen für eine bessere Verkehrssicherheit.
Solche Bemühungen, die Adenauer zeitlebens betrieb, zeigen ihn als sehr aufmerksamen und neugierigen Bobachter. Sie weisen aber auch über die Person hinaus. Adenauer ging es um die Auswirkungen der technischen Entwicklungen auf die Menschen. Er lehnte sie aber überhaupt nicht ab, sondern versuchte, negative Effekte und Gefahren mit technischen Lösungen zu beheben bzw. zu minimieren. Als gelerntem Großstädter standen ihm dabei ebenso die sozialen Auswirkungen der technisch-industriellen Entwicklung vor Augen, denen er mit einer rational gestalteten, und damit modernen, Stadtplanung zu begegnen suchte. Als Jurist wiederum scheute er nicht davor zurück, unermüdlich Anträge beim Reichspatentamt für die Anerkennung und den juristischen Schutz seiner Erfindungen zu stellen. Neben den monetären Interessen waren ihm das Funktionieren und die Logik der modernen Verwaltungs- und Rechtssysteme natürlich völlig klar und er war entschlossen, diese für sich zu nutzen. In der kollektiven Erinnerung ist Adenauer vor allem als alter Mann präsent. Von den Jahrzehnten um 1900 aus gesehen war Adenauer vor allem eines: Er war ein Kind der technischen, industriell-sozialen, aber auch der staatlich-bürokratischen Hochmoderne, wie sie in Deutschland um 1890 endgültig einsetzte. Zu diesem – man könnte sagen, er war ein »native« der Moderne – war Adenauer in Köln geworden, wo alle diese Entwicklungen wie nur an wenigen anderen Orten im Reich wahrzunehmen waren. Das Köln des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts hatte aber viele andere Facetten. Zum Beispiel war es ein Zentrum des deutschen Katholizismus. Für Adenauer wurde selbstverständlich auch das wichtig.
[11]
Schwarz: Adenauer. Bd. 1, S. 49.
[12]
Zur Geschichte Kölns im Kaiserreich v.a.: Thomas Mergel: Köln im Kaiserreich 1871–1918. Köln 2018. Außerdem u.a.: Thomas Deres u.a. (Hg.): Köln im Kaiserreich. Studien zum Werden einer modernen Großstadt. Köln 2010; Stefan Lewejohann/Georg Mölich (Hg.): Köln und Preußen. Studien zu einer Beziehungsgeschichte. Köln 2019; Reinhard Matz/Konrad Vollmer: Köln vor dem Krieg. Leben, Kultur, Stadt 1880–1940. Köln 2012.
[13]
Mergel: Köln im Kaiserreich, S. 150.
[14]
Ebd., S. 151.
[15]
Köhler: Adenauer, S. 29.
[16]
Ebd., S. 30.
[17]
Greven’s Adreßbuch für Köln und Umgebung. Insbesondere auch Mülheim am Rhein und Kalk. Köln 1906, II. Teil, S. 5.
[18]
Everhard Kleinertz: Der Kanzleirat Johann Konrad Adenauer, die Stiftung Cremer und das Universitätsstudium seiner Söhne August und Konrad. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 73 (2002), S. 105–162, hier S. 119.
[19]
Werner Biermann: Konrad Adenauer. Ein Jahrhundertleben. Berlin 2017, S. 55.
[20]
Eingabe des Kanzleirats Johann Konrad Adenauer vom 26. März 1891 um Gewährung einer Unterstützung aus der Stiftung Cremer für seinen Sohn August, abgedruckt in: Kleinertz: Der Kanzleirat Johann Konrad Adenauer, S. 136f., hier S. 137.
[21]
Hendrik A. Fischer: Soziale Ungleichheit im Spiegel des Konsums. Eine clusteranalytische Untersuchung zum differentiellen Konsum im Kaiserreich. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2010), S. 229–257.
[22]
So vermutet Schwarz: Adenauer. Bd. 1, S. 56.
[23]
Poppinga: Meine Erinnerungen an Konrad Adenauer, S. 185.
[24]
Ebd.
[25]
Zu den Erfindungen und Patentanträgen: Finni Jo Erdmann: Korrespondenzen mit Konrad Adenauer – ein Erfinder und seine Patentanwälte. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 69 (2024), S. 57–87, https://doi.org/10.1515/zug-2023-0018, sowie Peter Koch: Die Erfindungen des Dr. Konrad Adenauer. Reinbek bei Hamburg 1986.
Im Dezember 1954 erhielt Adenauer Post von der »Katholischen Arbeiter- und Männerbewegung« aus Gelsenkirchen. Deren Vertreter verwahrten sich gegen Kritik an Bundesfamilienminister Franz-Josef Wuermeling, der auf einer Kundgebung das »moderne Antikirchentum« heftig beklagt hatte. In seinem Antwortschreiben widersprach der Bundeskanzler: Er teile die Auffassung der Katholischen Arbeiter- und Männerbewegung nicht. Ein Bundesminister müsse sich in »erster Linie seinen Aufgaben widmen und auf Andersgläubige oder nicht christlich Denkende Rücksicht nehmen«.[26]
An diesem Vorgang sind einige Aspekte bemerkenswert. So fand Adenauer offenbar nichts dabei, einen seiner Minister auf diese Weise gegenüber Dritten (und schriftlich!) zu kritisieren. Er, der selbst stets absolute Loyalität einforderte, nahm für sich ohne Zögern das Recht in Anspruch, seine Kabinettskollegen auf diese Weise zu desavouieren. Bemerkenswert ist gleichfalls, dass der Bundeskanzler überhaupt antwortete – und dann auch noch mit einer klaren inhaltlichen Stellungnahme. Deren Tenor wiederum mag überraschen. Denn Adenauer nahm seinen stramm katholischen Familienminister ja keineswegs in Schutz. Ganz im Gegenteil, Wuermeling wurde vorgeworfen, mit seinen prokirchlichen Polemiken seine eigentlichen Aufgaben zu vernachlässigen.
Konrad Adenauers ausgeprägter Katholizismus ist oft beschrieben worden. Dieser gehört zu den Standardvorstellungen über den ersten Bundeskanzler. Die kleine Episode um Wuermeling und die Katholische Arbeiterbewegung Gelsenkirchen zeigt allerdings, dass der Rückschluss von Adenauers Katholizismus auf seine Politik so einfach nicht möglich ist. Es ist vielmehr auch in diesem Fall deutlich komplizierter.
Zunächst muss festgehalten werden, dass Religion und Konfession in der gesamten Lebensspanne von Konrad Adenauer eine Bedeutung hatten, die mit der des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts nicht mehr zu vergleichen ist. Erst in den letzten Jahren von Adenauers Regierungszeit als Bundeskanzler begann sich dies durchgreifend zu ändern. Bis dahin lebte die Mehrheit der deutschen Bevölkerung mit starken konfessionellen Bindungen.[27] Adenauers ausgeprägter Katholizismus ist deswegen auch keine Besonderheit, sondern der Normalfall. Ganz besonders galt dies für Köln. Die Stadt am Rhein, Sitz des gleichnamigen Erzbistums, war eine, wenn nicht die katholische Hochburg im Reich. Sie war das »deutsche Rom«. In den späten 1830er Jahren hatte das »Kölner Ereignis«, in dessen Zuge Erzbischof Clemens August Droste zu Vischering im Streit um den Umgang mit katholisch-protestantischen »Mischehen« von den preußischen Behörden seines Amtes enthoben und verhaftet worden war, Schlagzeilen gemacht und mit zur Ausbildung eines politischen Katholizismus, aus dem dann Adenauers »Zentrumspartei« hervorging, beigetragen. Eine Generation später flammte der Konflikt zwischen preußisch-protestantischem Staat und Kirche im Kulturkampf der Bismarckzeit auch in Köln erneut auf. Als Kaiser Wilhelm I. am 15. Oktober 1880 in Köln die Fertigstellung des Doms feierte und der kleine Adenauer zuschaute, wurde wieder einmal ein Kölner Erzbischof polizeilich gesucht. Der drohenden Haft hatte sich Erzbischof Melchers allerdings bereits Jahre zuvor durch das Exil in den Niederlanden entzogen. Der preußische König und deutsche Kaiser wurde an der Domschwelle deswegen nicht von Bischof Melchers begrüßt, sondern von Weihbischof Baudri, nebenbei einem der profiliertesten kirchlichen Akteure im Kulturkampf überhaupt.
Die Bedeutung des Katholizismus in Kön ging aber weit über die Konflikte zwischen Staat und kirchlichen Würdenträgern hinaus. Ein dichtes Netz an katholischen Vereinen, Institutionen, Orden oder Schulen durchzog die Stadt. Mit der »Kölnischen Volkszeitung« war Köln darüber hinaus ein wichtiges Zentrum der katholischen Presse. Das Zentrum, die soziale Schichten übergreifende katholische Partei im Reich, hatte in Köln einen ihrer Schwerpunkte. Mit August und Peter Reichensperger waren zwei der Mitbegründer der Partei eng mit Köln verbunden. Reichsweite Verbände, wie der Katholische Frauenbund oder die Kolpingbewegung, hatten in Köln ihren Sitz bzw. ihren Schwerpunkt. Neben Mönchengladbach war Köln ebenso ein Zentrum der Katholischen Arbeiterbewegung im westlichen Reich, die sich 1903 zum »Verband katholischer Arbeitervereine Westdeutschlands« zusammenschloss. Katholische Versammlungen füllten schließlich regelmäßig den Stadtraum, sei es bei den zweimal während des Kaiserreichs in Köln stattfindenden Katholikentagen, der jährlichen Fronleichnamsprozession oder anlässlich sogenannter Volksmissionen, die zwischen dem Ende des Kulturkampfes und dem Ersten Weltkrieg einen regelrechten Boom erlebten und mit Massenandachten Straßen und Plätze füllten.[28]
Dies alles war auch Adenauers Welt. Die Institutionen, Vereine und Versammlungen des katholischen Milieus waren ihm wohlvertraut. Als Student trat er selbstverständlich an allen von ihm besuchten Studienorten katholischen Studentenvereinen bei. Seine auswärtigen Semester verbrachte er nicht an protestantisch geprägten Universitäten in Berlin oder Göttingen, sondern im katholischen Freiburg und in München. Geistliche gehörten sein ganzes Leben hindurch zu seinen wichtigsten Vertrauten. Liest man die vielen Briefe, die er an sie richtete, entsteht der Eindruck eines Mannes, der im Glauben Halt suchte und wohl auch fand. Seine Vertrautheit mit den vielfältigen Institutionen des katholischen Milieus bildet so auch eine Erklärung dafür, warum er den Brief der »Katholischen Arbeiter- und Männerbewegung« aus Gelsenkirchen noch 1954 als Bundeskanzler beantwortete. Es gibt keinen Grund, an den vielen Schilderungen von Adenauers Frömmigkeit, seinem ehrlichen Glauben und seiner tief empfundenen Verwurzelung im katholischen Milieu zu zweifeln.[29]
Diese Verankerung in einem gelebten Katholizismus zeigte sich, wenn er als Bundeskanzler Briefeschreibern und -schreiberinnen für Gebete dankte, in die er und seine Arbeit eingeschlossen worden waren,[30] wenn er sich immer wieder an besonders intensive Weihnachtsfeste erinnerte, und sie spricht nicht zuletzt aus den Briefen, die er während seiner Aufenthalte im Kloster Maria Laach in den ersten Jahren der NS-Herrschaft an gute Freunde oder seine zweite Frau Auguste schrieb. »Ich glaube«, schrieb er im Mai 1933 an seine Freundin Dora Pferdmenges, »man überwindet diese Zeiten nur, wenn man sich gewöhnt, in größeren Zusammenhängen zu denken, wenn man das irdische Dasein nur als Teil des menschlichen Lebens zu betrachten sich bestrebt, und wenn man fest glaubt, dass es einen Gott gibt, der zwar auch in den sichtbaren Dingen sich zeigt, der aber über diesen steht und unabhängig von ihnen ist.« Dora Pferdmenges solle über solche »›klösterliche‹ Betrachtungen« keineswegs lächeln. Die Atmosphäre in Maria Laach sei für diese sicher günstig, »aber deshalb sind sie nicht weniger wichtig«.[31]
Besonders Adenauers Frau erreichten aus Maria Laach im Übrigen auch Glaubenszweifel, für die Bedeutung von Religion in Adenauers Leben sprechen aber selbstverständlich – und vielleicht gerade – diese. »[D]en Glauben an Gott muss ich mir auch jeden Tag neu belegen und neu erkämpfen«, schrieb er am 22. August 1935 an Auguste Adenauer. Eine Woche später nahm er den Gedanken erneut auf und schrieb, dass er »religiös ganz verstört und aus dem Gleichgewicht gebracht« sei. Er wolle versuchen, »in Maria Laach zuerst mein Inneres, mein religiöses Gleichgewicht wieder zu finden«.[32] Ähnliche Passagen finden sich in dem nicht vollständig überlieferten Briefwechsel zwischen den Ehepartnern in jenen Jahren immer wieder. Im Oktober 1935 schrieb zum Beispiel auch Adenauers Frau, dass sie »nicht einmal Gebet« zum Ertragen des Leids der Familie bringe. Die »Majestät Gottes« könne sie im Übrigen am »besten in der Natur unter einem großen freien Himmel verstehen«.[33] Neben religiösem Zweifel sind in dem Briefwechsel jener Jahre aber auch die Bedeutung des christlichen Kalenders bzw. des kirchlichen Wochenrhythmus gut zu erkennen. »[I]ch dachte daran«, schrieb Adenauer ebenfalls im Oktober 1935 während der Trennung von der Familie aufgrund der Ausweisung aus dem Regierungsbezirk Köln durch die Nationalsozialisten an seine Kinder, »wie wir im Sommer nach der Messe sonntags um den großen Tisch gesessen haben, da kam Euer lieber Brief. Es war mir, als säßen wir zusammen dort. […] Nun freue ich mich sehr, wenn Ihr demnächst alle sonntagnachmittags zu mir zum Kaffee kommt.«[34] Der Gottesdienstbesuch war bei Familie Adenauer schlicht sonntägliches Pflichtprogramm.
Diese katholische Welt, aus der Konrad Adenauer kam, ist also in seinem Leben stets präsent. Sie muss allerdings ebenso genauer angesehen und charakterisiert werden. Denn Adenauers katholische Welt war keineswegs so festgefügt und homogen, wie es etwa eine oberflächliche Gegenüberstellung von rheinischem Katholizismus auf der einen Seite und preußisch-protestantisch dominiertem Reich auf der anderen nahelegen würde. Das galt gerade für die Situation in Köln, wo die vom liberalen Bürgertum beherrschte Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung im Kulturkampf auf Seiten des preußischen Staates stand. Die meisten ihrer Vertreter waren Katholiken, aber eben gleichzeitig Liberale.
Auch in den großen internen Konflikten des politischen und sozialen Katholizismus im Kaiserreich standen wichtige Teile des Kölner Katholizismus auf der reformorientiert-liberalen Seite, nicht auf der der Orthodoxie. Diese Ambivalenz bestimmte etwa den »Kölner Zentral-Dombauverein«, der keineswegs primär katholisch geprägt war, wie vermutet werden könnte, sondern eher Ausdruck eines liberalen-modernen Bürgertums war.[35] Es zeigte sich ebenso im sogenannten Gewerkschaftsstreit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als es um die Akzeptanz von christlichen, also überkonfessionellen, Gewerkschaften durch den Katholizismus ging. Der in Köln dominierende »Verband katholischer Arbeitervereine Westdeutschlands« sprach sich dafür aus.
Überhaupt spielte die Öffnung zur Überkonfessionalität im »deutschen Rom« in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle. 1906 erregte der langjährige Chefredakteur der »Kölnischen Volkszeitung« und preußische Landtagsabgeordnete Julius Bachem mit seinem in den »Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland« erscheinenden Aufsatz »Wir müssen aus dem Turm heraus!« große Aufmerksamkeit. Darin sprach er sich für die konfessionelle Öffnung seiner Partei des Zentrums aus und schlug unter anderem vor, vermehrt protestantische Wahlkreiskandidaten zu unterstützen. Das beinhaltete ebenso die Öffnung hin zu einer nationalen, allgemeinpolitischen Partei, die nicht nur vor allem kirchenpolitische Fragen bearbeitete, sondern sich, wie Bachem schrieb, »konstant allen Lagen des öffentlichen Lebens« zuwende und sich so ganz nebenbei auch von vermeintlichen oder tatsächlichen kirchlichen Vorgaben emanzipiere.[36] Mit seinem Artikel stand Bachem am Anfang des sogenannten Zentrumsstreits, in dem vor dem Ersten Weltkrieg Vertreter, die wie er das Zentrum als grundsätzlich überkonfessionelle und allgemeinpolitische Partei begriffen, denjenigen gegenüberstanden, die die Konfessionalität betonten und überdies die Autorität der Kirchenvertreter hochhielten. Während letztere Position als »Trierer« oder »Berliner Richtung« bezeichnet wurde, firmierten Erstere unter dem Schlagwort »Kölner Richtung«. Eingebettet waren solche Auseinandersetzungen in das grundsätzliche Ringen des Katholizismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert um seine Haltung zur europäischen Moderne. Bachems Stellungnahme bedeutete dabei eine klare Öffnung zu den sozialen und kulturellen Erscheinungen der modernen Welt.
Zumindest in Köln darf man sich das politisch-katholische Milieu im Kaiserreich also keineswegs als abgeschlossene Wagenburg vorstellen. Vielmehr war der Katholizismus mit weiteren Grundströmungen des Reichs verbunden bzw. gab es Übergänge, Überschneidungen und Teilmengen mit anderen Bevölkerungsgruppen. Man war nicht nur katholisch, sondern eben auch Bürger, Liberaler oder Konservativer, sozial oder national engagiert. Hinzu kam, dass Protestanten eine erhebliche Rolle in der Kölner Wirtschaft und Gesellschaft spielten. Das galt gleichfalls für die Lokalpolitik. Die Idee einer christlichen Sammlungspartei gab es gerade auch in Köln schon im Kaiserreich. Im Stadtrat bestand lange eine liberale Mehrheit. Erst 1903 gelang es dem Zentrum, die liberale Dominanz im politischen Leben der Stadt zum ersten Mal zu durchbrechen.
Zwei der fünf Kölner Oberbürgermeister im Kaiserreich waren Protestanten, darunter mit Friedrich Wilhelm von Becker der bei weitem am längsten regierende. Gerade in der Kölner Elite, in die Adenauer einheiratete, spielten Protestanten eine erhebliche Rolle. Das gilt im Übrigen auch für sein privates Leben. Seine Mutter stammte aus einer konfessionell gemischten Ehe, seine zweite Frau Auguste Zinsser war evangelisch, trat aber wegen der Hochzeit zum katholischen Glauben über. Bei aller katholischen Prägung und persönlichen Gläubigkeit, von der auszugehen ist: Auch Konrad Adenauer war alles andere als ein katholischer Dogmatiker. Pragmatische, überkonfessionelle Positionen waren ihm ebenso vertraut wie die Unterscheidung zwischen kirchenpolitischen Fragen, bei denen die Haltung der katholischen Autoritäten für ihn selbstverständlich eine Rolle spielte, und solchen allgemeinpolitischer Art, die davon unabhängig beurteilt werden mussten. Zu den für ihn ein Leben lang wichtigen Autoren gehörte der Schweizer Jurist und philosophisch-theologische Autodidakt Carl Hilty. In dessen mit zahlreichen Lebensweisheiten versehenen, zeitgenössisch sehr erfolgreichen Publikationen über das »Glück« oder zu »Was ist Glaube?« suchte Adenauer zum Beispiel während der Zeit des Nationalsozialismus Halt. Konventionell katholisch war an den Schriften des Protestanten Hilty nichts. Sie schöpften aus einem breiten Reservoir aus christlichen und antiken Lebensweisheiten, von der Stoa über zahlreiche Passagen aus dem Alten und Neuen Testament bis zum Schweizer Reformator Johannes Calvin und verschiedenen Versionen der modernen Arbeitsethik.[37]
Vor dem Hintergrund des Katholizismus in Köln, wie Adenauer ihn während des Kaiserreichs in seiner Heimatstadt kennengelernt hatte, sind auch spätere Entscheidungen bzw. Haltungen gegenüber Kirchenvertretern zu sehen. Er kann zum Beispiel dabei helfen, zu verstehen, warum der frühere Zentrums-Politiker Adenauer in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Gründung einer überkonfessionellen christlichen Partei der CDU so intensiv betrieb und auf der anderen Seite das gleichfalls neu entstehende Zentrum geradezu aggressiv bekämpfte. Die Trennung zwischen kirchen- und allgemeinpolitischen Fragen wiederum wird sichtbar, wenn er sich etwa während der Entstehung des Grundgesetzes mit dem Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings mündlich wie schriftlich intensiv über die Stellung der Kirchen in der neuen Verfassung oder Regelungen zum Religionsunterricht austauschte.[38] Schon bei der von den Bischöfen heftig geforderten Aufnahme von Elternrechten in den Grundrechtskatalog wurde Adenauer aber deutlich. In einem Brief an Kardinal Frings vom 7. Februar 1949 warnte er den Episkopat davor, sich wegen der Bestimmungen zum Elternrecht gegen das Grundgesetz auszusprechen. »Wer auffordern würde, gegen das Grundgesetz zu stimmen«, schrieb er an den Kölner Erzbischof, »weil bezüglich des Elternrechts nicht alles erreicht worden ist […] würde m.E. sich mit Sicherheit dem vernichtenden Vorwurf aussetzen, dass [er] in der schlimmsten Notzeit des deutschen Volkes gegen dessen Interesse gehandelt haben würde.«[39] Intern sprach er davon, dass die Haltung der Bischöfe »unmöglich« bzw. »ganz unmöglich« sei.[40]
Solche unverblümten Sätze gegenüber Kirchenvertretern finden sich immer wieder in Adenauers Korrespondenz. 1922 erhielt zum Beispiel Frings’ Vorgänger, Erzbischof Kardinal Schulte, ein entsprechendes Schreiben. Es ging um dessen Kritik an Zuschüssen für ein Krematorium durch die Stadt Köln und die Zustimmung von katholischen Stadtverordneten. Er könne »nach wie vor« nicht einsehen, schrieb Adenauer an Schulte, »woher ein Katholik das Recht nehmen soll, einem Protestanten oder Juden die Möglichkeit zu nehmen, für sich eine Bestattungsform anzuwenden, wie er sie für gut hält«.[41]
Auf dem Münchner Kirchentag von 1922, als dessen Präsident Adenauer fungierte, kam es gar zum offenen Streit mit dem Münchner Erzbischof Kardinal Faulhaber. Dieser hatte sich auf dem Katholikentag öffentlich radikal antirepublikanisch geäußert. In seiner Schlussansprache kam Adenauer auf Faulhabers Ausfälle gegen die Weimarer Republik zurück. Lediglich leicht verklausuliert und damit für alle klar erkennbar sprach er von »hier und da« gefallenen Äußerungen, die »man sich aus Verhältnissen örtlicher Natur« erklären könne, hinter denen aber die »Gesamtheit der deutschen Katholiken« nicht stehe. Es verrate einen »Mangel an historischem Blick, die heutige Verfassung verantwortlich zu machen für die heutigen Zustände«. Wenn der Sturm Äste und Bäume breche, so Adenauer weiter mit Blick auf den Zustand der von Faulhaber gegen die Republik angeführten Monarchie am Ende des Kaiserreichs, »so war der Sturm nur der Anstoß, denn die Bäume und Äste waren alt und morsch, denn wären sie nicht morsch und lebensschwach gewesen, so hätten sie den Sturm überdauert«. Die »Treibhaustemperatur des Krieges« habe in diesem Sinne Keime zu rascher Entwicklung gebracht, die »bereits lange vor dem Kriege gelegt waren«.[42] Laut Zeitgenossen soll Faulhaber bei diesen Worten nur deshalb die Bühne nicht verlassen haben, weil er seinen Hut nicht gleich fand und deswegen noch da war, als Kirchentagspräsident Adenauer ihn kurze Zeit später bat, die Versammlung mit seinem Segen zu schließen.[43]
Die kirchlich-religiös pragmatische Politik seiner Oberbürgermeisterzeit umfasste nicht nur konfessionelle Toleranz gegenüber dem Protestantismus, sondern auch viele Kontakte zur jüdischen Gemeinde Kölns. Nachdem Adenauer sich, wie stets in solchen Fällen, bei ihm bekannten anderen Mitgliedern über den Charakter der Organisation rückversichert hatte, trat er 1926 dem »Deutschen Komitee Pro Palästina zur Förderung der jüdischen Palästinasiedlung« bei. Ein Jahr später stellte er für eine Veranstaltung des Komitees ein ausführliches Grußwort zur Verfügung, in dem er auf die enge Verbindung zwischen Köln und der zionistischen Bewegung verwies und die Schaffung einer jüdischen »Heimstätte« in Palästina im Rahmen des Völkerbundes begrüßte.[44] Zu der jüdischen Gemeinde unterhielt er auch sonst regelmäßige Kontakte. Wenn er als Oberbürgermeister von religiöser Toleranz sprach, war das Judentum stets mitgemeint.[45]
Gläubigkeit, Frömmigkeit, Verankerung im katholischen Milieu, all das machte Konrad Adenauers Katholizismus aus. Kennengelernt hatte er aber gleichzeitig in seiner Heimatstadt eine gehörige Portion katholischen Pragmatismus, Offenheit gegenüber anderen Konfessionen sowie im Politischen die Unterscheidung zwischen einer engen konfessionell-kirchenpolitischen Orientierung seiner Zentrumspartei und deren Ausrichtung als christlich fundierte, aber grundsätzlich allgemeinpolitische Gruppierung. Wer Adenauers Lebensweg verfolgt, kann viel von diesen beiden Seiten seines Katholizismus erkennen. Gegenüber kirchlichen Autoritäten bedeutete es zum Beispiel, ihnen klare Grenzen zu setzen, wenn sie ihr eigentliches Feld verließen und in allgemeinpolitische Fragen in einer Art und Weise eingriffen, die Adenauer missfiel. Genau dies war der Fall, als Kardinal Faulhaber auf dem Münchner Kirchentag 1922 die republikanische Ordnung attackierte. Auf diesem Gebiet sah sich der Oberbürgermeister Adenauer berechtigt, den Kirchenmann zurechtzuweisen, und er tat es auch. Geprägt von seinen eigenen kirchlichen Erfahrungen, hütete sich Adenauer aber ebenfalls davor, den politischen Einfluss des Katholizismus zu unterschätzen. Entsprechend zäh arbeitete er in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg daran, den Episkopat gegen die wiedergegründete Zentrumspartei auf die Seite der CDU zu ziehen. Politische Stellungnahmen von Amtsträgern in diesem Sinne nahm er dann gerne an. Als Kardinal Frings im November 1948 seinen Eintritt in die CDU öffentlich machte, reagierte Adenauer entsprechend hocherfreut und war umgekehrt alarmiert, als Frings wenige Monate später (in der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde es allerdings erst nach Verabschiedung des Grundgesetzes) wieder austrat.[46] Auch im beginnenden Bundestagswahlkampf von 1949 schreckte er keineswegs davor zurück, selbst bei ihm gegenüber kritischen Kirchenvertretern wie dem Bischof von Münster Michael Keller für die Unterstützung der CDU zu werben.[47]
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Adenauer an die Katholische Arbeiter- und Männerbewegung Gelsenkirchen, Konrad Adenauer: Briefe 1953–1955. Bearb. v. Hans Peter Mensing. Berlin 1995, S. 199. Dort ist auch der gesamte Vorgang dokumentiert. Zum Verhältnis Adenauers zum Katholizismus und dessen Vertretern: Rudolf Morsey: Adenauer und Kardinal Frings1945–1949. In: Dieter Albrecht u.a. (Hg.): Konfession und Politik. Festschrift für Konrad Repgen zum 60. Geburtstag. Berlin 1983, S. 483–501; Norbert Trippen: Josef Kardinal Frings und Konrad Adenauer. In: Historisch-Politische Mitteilungen 9 (2002), S. 63–72.
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Olaf Blaschke (Hg.): Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970
