Adorkable - Zwei, die sich hassen … und lieben - Sarra Manning - E-Book

Adorkable - Zwei, die sich hassen … und lieben E-Book

Sarra Manning

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Beschreibung

Ein sonderbares Mädchen, das nirgends reinpasst, ein gut aussehender Junge, auf den alle stehen - die Rollen wurden klar verteilt: Sie ist eine Außenseiterin, ein Dork in seltsamen Second-Hand-Klamotten und ständig wechselnder Haarfarbe, dem keiner zuhört. Er ist der beliebte Star der Schule - und unendlich glücklich! Oder?

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Aus dem Englischen von Marianne Harms-Nicolai

Vollständige eBook-Ausgabe der Buchausgabe

bloomoon, München 2013

Text © Sarra Manning, 2012

Copyright © as appears in the Proprietor’s edition of the Work

first published in Great Britain in 2012 by Atom

Titel der Originalausgabe: Adorkable

Die Originalausgabe ist 2012 im Verlag Atom in Großbritannien erschienen.

© 2013 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Sarra Manning

Übersetzung: Marianne Harms-Nicolai

Lektorat: Kristin Neugebauer

Umschlaggestaltung: © Atom 2012, unter Verwendung der Fotografien von © Colin Thomas

ISBN eBook 978-3-7607-9840-0

ISBN Printausgabe 978-3-7607-8958-3

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Das Adorkable-Manifest

1.  Eigentlich sind wir alle Freaks.

2.  Flohmärkte sind unsere Shoppingmeilen.

3.  Lieber selber nähen, als wie ein Klon herumzulaufen.

4.  Leiden macht dich zwar nicht unbedingt zu einem besseren Menschen, gibt dir aber Stoff zum Bloggen.

5.  Experimentiere mit Photoshop, Haarfärbemitteln, Nagellack oder verschiedenen Muffin-Geschmacksrichtungen, aber niemals mit Drogen.

6.  Sei kein Mitläufer, sondern Anführer!

7.  Lass dich niemals dazu zwingen, dich anzupassen.

8.  Hundewelpen und Haribos helfen einfach immer.

9.  Stille Mädchen schreiben nur selten Geschichte.

10. Gerade deine sonderbaren Eigenschaften machen dich zu etwas Besonderem.

1

»Wir müssen reden«, sagte Michael Lee mit ernster Stimme zu mir, gerade als ich auf dem St.-Judes-Flohmarkt einen Schritt zurück aus der improvisierten Umkleidekabine trat, einem Räumchen aus vier quadratisch angeordneten Ständern mit Gardinen daran und einem blinden Spiegel, in dem ich mich gerade ausgiebig selbst bewunderte.

Ich starrte sein Spiegelbild an und sagte gar nichts. Ich meine, immerhin war er Michael Lee! MICHAEL LEE!

Oh, Michael Lee. Wo soll ich anfangen? Alle Jungs wollten sein wie er. Alle Mädchen wollten ihn haben. Er war der Star der Schule, der Bühne und des Spielfelds. Klug genug, um sich auch mit den Strebern gut zu verstehen, Kapitän des Fußballteams, sodass die Sportskanonen sich vor ihm verneigten, und seine Pseudo-Irokesen-Frisur und die sorgfältig abgewetzten Converse-Turnschuhe machten ihn auch noch für die Indie-Fraktion attraktiv. Und als wäre das nicht schon genug, war sein Vater auch noch Chinese und hatte ihm dieses umwerfend exotisch-eurasische Aussehen vererbt; auf der Mädchentoilette im zweiten Stock der Schule hatte irgendjemand seinen Wangenknochen sogar eine ganze Ode gewidmet.

Doch wenn jemand so beliebt war und sich wirklich mit absolut jedem dermaßen gut verstand, konnte er für mich einfach keinen Charakter haben. Ich hielt Michael Lee, gerade weil er so unfassbar beliebt war, für die langweiligste Person auf der ganzen Schule. Und dazu gehörte schon einiges, denn unsere Schule platzte sowieso vor Mittelmäßigkeit aus allen Nähten.

Ich konnte mir also wirklich nicht erklären, warum Michael Lee sich ausgerechnet vor mir aufbaute und darauf bestand, dass wir uns unterhalten müssten. Er hatte sein Kinn leicht nach vorne geneigt, sodass ich einen Bombenblick auf seine Wangenknochen werfen konnte, die die lyrischen Ergüsse auf dem Mädchenklo inspiriert hatten. Und nicht nur das: Ich konnte auch nicht anders, als direkt in seine Nasenlöcher hineinzugucken, weil er so unglaublich groß war.

»Hau ab«, antwortete ich mit gelangweilter Stimme und wedelte mit meiner Hand angeödet zur anderen Seite des Gemeindesaals. »Du hast mir garantiert nichts zu sagen, was mich interessieren könnte.«

Die meisten Leute hätten sich bei einer solchen Abfuhr wohl schnellstmöglich wieder unter den Stein zurückgezogen, unter dem sie hervorgekrochen waren, aber Michael Lee sah mich einfach an, als bestünde ich aus nichts als heißer Luft, und wagte es dann tatsächlich auch noch, mir die Hand auf die Schulter zu legen, um meinen sich windenden, widerwilligen Körper ganz langsam in seine Richtung zu drehen. »Sieh genau hin«, sagte er, und ich wich noch weiter zurück, als sein Atem mein Gesicht streifte. »Was ist falsch an dem Bild, das du da siehst?«

Ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren als auf Michael Lees Fußball spielende, preisgekrönte Essays schreibende, heiße Finger auf meinem Schlüsselbein. Das fühlte sich völlig falsch an. Es fühlte sich sogar falscher als falsch an. Es war quasi eine völlig neue Dimension von falsch. Aus Protest kniff ich meine Augen fest zusammen, und als ich sie wieder öffnete, fiel mein Blick direkt auf Barney, dem ich wider besseres Wissen die Verantwortung für meinen Stand übertragen hatte, der gerade mit einem Mädchen redete.

Es war nicht irgendein Mädchen, sondern Scarlett Thomas, Michael Lees Freundin. Nicht, dass ich ihr das irgendwie vorgeworfen hätte. Was mich allerdings wirklich an ihr störte, war, dass sie so unglaublich langweilig war und eine echt nervige Stimme hatte, die zugleich rauchig und wie ein nörgelndes Baby klang und auf mich dieselbe Wirkung hatte wie jemand, der Eiswürfel zerkaut.

Außerdem hatte Scarlett langes, blondes Haar, das sie stundenlang kämmen, mit Spray bearbeiten, stylen und mit einem solchen Schwung zurückwerfen konnte, dass man, wenn man mittags in der Essensschlange hinter ihr anstand, eine reelle Chance hatte, einen Mundvoll Haare zu erwischen.

Auch jetzt, während sie mit Barney sprach, warf sie gerade wieder ihr Haar zurück und grinste ihr hohles Grinsen, und Barney lächelte und zog dabei den Kopf ein, wie er es immer tat, wenn er verlegen war. Klar, was ich sah, versetzte mich nicht gerade in Jubel oder Begeisterung, aber anderseits …

»Ich kann da nichts Falsches erkennen«, sagte ich kurz angebunden zu Michael Lee. »Es ist doch nur deine Freundin, die sich mit meinem Freund unterhält …«

»Das ist es nicht. Es ist nicht die Unterhaltung an sich …«

»… vermutlich über quadratische Gleichungen oder eine der vielen anderen Sachen, die Scarlett nicht kapiert und weshalb sie durch die Matheklausur gefallen ist und sie noch einmal wiederholen muss.« Ich warf Michael einen schneidenden Blick zu. »Miss Clement hat Barney gebeten, Scarlett Nachhilfe zu geben. Hat sie das nicht erwähnt?«

»Sie hat es erwähnt, und es wäre ja auch gar nichts dabei, dass die beiden sich unterhalten. Aber es ist die Art und Weise, wie sie sich im Grunde überhaupt nicht unterhalten. Eigentlich stehen sie nur da und starren sich gegenseitig an…«, betonte er.

»Das ist lächerlich«, sagte ich, auch wenn ich ihm nach einigen weiteren heimlichen Blicken auf Barney und Scarlett, die sich wirklich nur intensiv fixierten, fast recht geben musste. Es war ganz offensichtlich, dass sie sich anstarren mussten, weil ihnen der Redestoff ausgegangen war. Es war ein ziemlich nervöses, unbehagliches Anstarren, weil die beiden absolut gar nichts gemeinsam hatten. »Da ist überhaupt nichts komisch, nada, niente … wenn man mal von der Tatsache absieht, dass ihr, du und Scarlett, euch auf einem ganz normalen Flohmarkt unters gemeine Volk gemischt habt …«, fügte ich noch hinzu, als ich mich Michael Lee wieder zuwandte. »Okay, nachdem wir das geklärt haben, kannst du dich jetzt gerne wieder um deine Angelegenheiten kümmern.«

Michael öffnete den Mund, als ob er noch mehr Worte über die absolut uninteressante Tatsache verlieren wollte, dass Barney und Scarlett sich Grimassen schnitten, doch dann schloss er ihn wieder. Ich wartete darauf, dass er endlich gehen würde, damit ich mich wieder mit meinen Angelegenheiten beschäftigen konnte, da stand er plötzlich direkt neben mir.

»Ich sage dir, da ist irgendwas zwischen den beiden«, insistierte er und beugte dabei seinen Kopf zu mir nach unten. Sein Atem geisterte noch einmal über meine Wange und ich hätte ihn am liebsten hektisch weggewischt. Michael Lee richtete sich wieder auf und sagte: »Schönes Kleid übrigens.«

An seiner süffisanten Miene erkannte ich sofort, dass er es nicht ernst meinte, und zum ersten Mal fragte ich mich, ob sich unter Michael Lees schmeichelhafter Oberfläche nicht doch einige bisher unerforschte Abgründe versteckten.

Ich schniefte laut und verächtlich, wodurch sich der spöttische Zug auf seinen Lippen in ein breites Grinsen verwandelte, bevor er davonschritt.

»Jeane, meine Liebe, versteh das jetzt bloß nicht falsch, aber ich befürchte, das war sarkastisch gemeint. Das Kleid sieht alles andere als toll aus«, hörte ich eine gequälte Stimme zu meiner Linken und sah hinüber zu Marion und Betty, zwei Freiwillige aus dem St.-Judes-Sozialkomitee, die den Kuchenstand bemannten und dabei gleichzeitig die Umkleidekabine bewachten. Schon ein einziger ihrer strengen Blicke hätte ausgereicht, um sogar den abgebrühtesten Spanner abzuschrecken. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass sie einen Perversen notfalls auch mit steinharten Brötchen bombardieren würden, wenn ihre strengen Blicke allein nicht wirkten.

»Klar war er sarkastisch, aber er hat sich eben geirrt. Denn dieses Kleid ist einfach nur schön«, schwärmte ich, während ich zurücktrat, um mich noch einmal im Spiegel zu bewundern – obwohl mir jetzt irgendwie nicht mehr ganz danach zumute war.

Das Kleid war schwarz, eine Farbe, die ich normalerweise gar nicht trug. Warum sollte irgendjemand schwarz tragen wollen, wo es doch so viele fantastische Farben auf der Welt gab? Leute mit zu wenig Fantasie vielleicht? Oder Gothics, an denen die Neuigkeit, dass die Neunziger schon lange vorbei waren, irgendwie vorübergegangen war?

Aber dieses Kleid war eben nicht nur schwarz, sondern durchgehend mit gelben, grünen, orangefarbenen, blauen, roten, lila- und pinkfarbenen Schlangenlinien gemustert, von denen einem fast die Augen wehtaten, und es saß so perfekt, dass es aussah, als sei es nur für mich gemacht worden – was nicht oft vorkommt, weil ich irgendwie einen komischen Körper habe.

Ich bin ziemlich klein, höchstens 1,52 cm oder 1,53 cm, und so kompakt, dass ich sogar noch Kindergrößen tragen kann. Aber das macht mir nichts aus. Mein Großvater sagte immer – wenn er ausnahmsweise gerade mal nicht der Meinung war, kleine Mädchen solle man zwar sehen, aber nicht hören –, ich würde ihn an ein Grubenpony erinnern!

Aber egal. Ja, ich bin stämmig, vielleicht sogar etwas untersetzt. Das heißt, meine Beine sind echt durchtrainiert und muskulös, weil ich überallhin mit dem Fahrrad fahre, aber sonst bin ich am ganzen Körper eher stabil. Ohne meine eisengrauen Haare (sie sollten eigentlich weiß werden, aber mein Freund Ben war erst seit zwei Wochen in der Friseurausbildung und irgendetwas war beim Färben gründlich schiefgegangen) und den leuchtend roten Lippenstift, den ich immer trug, hätte man mich auch für einen pummeligen 12-jährigen Jungen halten können.

Aber dieses Kleid hatte genug Abnäher, Falten und horizontale Linien und erzeugte dadurch irgendwie tatsächlich den Eindruck, als hätte ich so etwas wie eine Figur. Die Pubertät und ich hatten uns bisher nicht wirklich gut verstanden, und statt mich mit weiblichen Kurven auszustatten, hatte sie mich eher mit einer umfassenden körperlichen Unförmigkeit zurückgelassen.

»Du könntest so hübsch aussehen, wenn du mal ein schönes Kleid anstelle dieser grauenhaften Klamotten vom Trödelmarkt tragen würdest. Man weiß doch gar nicht, wo das alles herkommt«, lamentierte Betty. »Meine Enkelin hat eine Menge Kleider, die sie nicht mehr trägt. Da könnte ich dir gern mal ein paar Sachen heraussuchen.«

»Nein, danke«, sagte ich bestimmt. »Ich liebe nun mal den ollen Trödelmarktkrempel.«

»Aber einige der ausrangierten Sachen meiner Enkelin sind sogar von TopShop.«

Ich konnte mich kaum beherrschen, aber ich verzichtete trotzdem darauf, sofort in eine Hasstirade über das absolut Problematische am Kauf von Kleidern in den Filialen der High-Street-Ketten auszubrechen, die in jeder Saison mit den fünf gleichen Looks hausieren gingen, sodass jeder identisch langweilige Kleider trug, die irgendwo in der Dritten Welt von Kindern in Ausbeutungsbetrieben für ein paar Tassen Mais zusammengenäht worden waren.

»Wirklich, Betty, ich trage gerne Sachen, die andere nicht mehr haben möchten. Die Kleider können ja nichts dafür, dass sie nicht mehr modern sind«, betonte ich. »Und ich finde es sowieso viel besser, Dinge wiederzuverwenden, statt sie zu recyceln.«

Fünf Minuten später gehörte das Kleid mir, und ich war in meinen lila Alte-Damen-Rock und meinen senffarbenen Pullover zurückgeschlüpft und auf dem Weg zu meinem Stand, an dem Barney in einem Stapel vergilbter Comics blätterte. Gott sei Dank waren Scarlett und Michael Lee nirgendwo mehr zu sehen.

»Ich hab dir Kuchen mitgebracht«, verkündete ich. Beim Klang meiner Stimme schoss Barneys Kopf ruckartig nach oben und sein milchig weißer Teint nahm eine rosarote Farbe an. Ich hatte noch nie zuvor einen Jungen getroffen, der so oft rot wurde wie Barney. Genau genommen war ich gar nicht sicher gewesen, ob Jungs überhaupt rot werden konnten, bevor ich Barney begegnet war.

In diesem Moment hatte er ja nicht einmal einen Grund dazu, außer … Nein, ich wollte meine kostbare Zeit nicht mit Michael Lees bescheuerten Theorien vergeuden, aber …

»Ach übrigens, was haben denn Michael Lee und Scarlett Thomas hier gemacht?«, fragte ich wie beiläufig. »Das ist doch wohl kaum ihre Szene. Ich wette, dass sie sich gegen den Gestank der Secondhand-Klamotten zu Hause erst mal mit Desinfizierzeug einsprühen.«

Barney war jetzt so knallrot geworden, dass es aussah, als ob jemand sein Gesicht in einen Topf mit kochend heißem Wasser getaucht hätte. Er beugte sich nach vorn, sodass sein seidiges Haar sich wie ein Vorhang vor sein brennendes Gesicht legte, und grummelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin.

»Du und Scarlett?«, soufflierte ich ihm.

»Äh, was ist mit mir und Scarlett?«, fragte er mit erstickter Stimme.

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich hab nur gesehen, dass sie den Stand abcheckte, während ich da drüben Kleider anprobiert habe. Ich hoffe, du hast sie ordentlich bequatscht und ihr den angeschlagenen ›Rugby-Spieler machen es mit komischen Eiern‹-Becher angedreht, den ich sonst nicht loswerde.«

»Äh, nein, dazu hatte ich leider keine Gelegenheit«, gestand Barney, als ob er etwas sehr Beschämendes zu beichten hätte. »Der Becher ist ja auch schon ziemlich kaputt.«

»Stimmt. Stimmt natürlich. Wundert mich nicht, dass du ihn ihr gar nicht angeboten hast«, sagte ich und nickte dabei bemüht verständnisvoll mit dem Kopf. »Ihr saht übrigens ziemlich vertraut aus. Worüber habt ihr denn gesprochen?«

Barney winkte wie wild ab. »Über nichts!«, jammerte er, erkannte dann aber sofort selbst, dass »Über nichts« wohl nicht ganz die passende Antwort war. »Wir haben über Mathe geredet und so …«, fügte er schnell hinzu.

Ich war mir bis zu diesem Punkt völlig sicher gewesen, dass sich zwischen Barney und Scarlett – abgesehen von ein paar komplexen Brüchen – eigentlich überhaupt nichts abspielte. Aber Barneys offensichtliches Schuldgefühl zwang mich jetzt dazu, diese Theorie noch einmal zu überdenken.

Ich wusste, dass ich die Wahrheit in Nanosekunden aus Barney herauskitzeln konnte, und die Wahrheit war, dass Barney sich in Scarlett verknallt hatte. Sie sah gut aus, und machte man sich über den Zustand ihres Gehirns keine weiter reichenden Gedanken, konnte man sie wirklich als einen tollen Fang betrachten. Es gab keinen Grund, deswegen sauer zu sein, auch wenn ich Barney eigentlich besser erzogen hatte. Aber die Sache war es nicht wert, noch länger darüber zu sprechen. Das war einfach zu öde.

»Ich hab dir Kuchen mitgebracht«, erinnerte ich Barney und sah, wie seine Augen wild hin und her jagten, als ob er sich nicht ganz sicher war, ob mein abrupter Themenwechsel bedeutete, dass das Thema Scarlett beendet und abgehakt war, oder ob ich nur eine gerissene Taktik anwandte, um ihn zu überrumpeln.

Ausnahmsweise tat ich das nicht. Ich gab ihm ein riesiges Stück Kuchen, das in eine Serviette eingewickelt war, und Barney nahm es misstrauisch entgegen.

»Vielen Dank«, murmelte er, doch als er seine Belohnung auspackte, sah ich, wie die Farbe seines Gesichts von Tiefpink zu Bettlakenweiß wechselte. Barney war so blass, dass er nur noch einige Nuancen von einem Albino entfernt war. Er hasste seine Haut fast so sehr wie seine orangefarbenen Haare.

In der Schule nannten die jüngeren Schüler Barney die »Rote Hackfresse«, dabei ist Barneys Haar gar nicht rot. Genau genommen hat es die Farbe von Marmelade, außer wenn die Sonne daraufscheint und es zu einer lebenden Fackel wird – übrigens der Hauptgrund dafür, dass ich ihm verboten habe, es zu färben. Ach ja, und eine Hackfresse ist er auch nicht.

Wenn sein Gesicht gerade mal nicht von seinem dichten Pony verdeckt ist, sind seine Züge fein, fast mädchenhaft, und seine Augen, die mich in diesem Moment abschätzend fixierten, sind so grün wie ein Gartenteich. Barney ist der einzige Junge, den ich je getroffen habe, dessen unverkennbar eigene Farben Weiß, Orange und Grün sind.

Die meisten anderen Jungs sind Blau oder Braun, dachte ich und machte mir im Geiste schnell eine Notiz, dass ich dieser Jungs-und-ihre-Farben-Theorie diese Woche noch in meinem Blog nachgehen sollte. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Barney zu, der sein Gesicht inzwischen angewidert verzogen hatte und mir die Serviette samt Inhalt entgegenstreckte. »Das ist Karottenkuchen!«

Ich nickte. »Ja, Karottenkuchen mit Frischkäse-Frosting. Ziemlich lecker!«

»Nicht lecker! Das ist der Inbegriff des Nicht-Leckeren. Ich hatte dich gebeten, mir ein Stück Kuchen mitzubringen. Kuchen! Und du kommst mit irgendwas zurück, das aus Karotten und Frischkäse besteht. Das ist ganz sicher kein Kuchen«, blaffte Barney. »Es ist ein als Kuchen getarntes Mittagessen.«

Ich konnte nur dastehen und ihn mit offenem Mund anstarren. Barney war früher schon mal gereizt gewesen – meistens war ich der Grund dafür –, aber so zickig hatte ich ihn nie erlebt.

»Aber du magst doch Karotten«, wagte ich in Anbetracht von Barneys düsterem Gesichtsausdruck einen eher ängstlichen Vorstoß. »Ich bin mir sicher, dass ich dich schon einmal Karotten habe essen sehen.«

»Ich esse sie, wenn ich dazu gezwungen werde. Aber es müssen Fleisch oder Kartoffeln dabei sein.«

»Tut mir leid«, sagte ich und versuchte so zu klingen, als ob ich es ernst meinte. Barney war in einer schlecht einschätzbaren Stimmung und ich wollte keine neue Explosion auslösen. »Es tut mir leid, dass ich bei der Kuchenauswahl so versagt habe. Daran muss ich wohl noch arbeiten.«

»Na ja, ich denke mal, es war nicht dein Fehler«, entschied Barney großherzig. Er sah mich unter seinem Pony hinweg an, während sich auf seinen Lippen der leichte Hauch eines Lächelns abzeichnete. »Bei der Auswahl des Kuchens hast du tatsächlich versagt, aber es tut ja auch gut zu wissen, dass du überhaupt bei etwas versagen kannst. Ich hatte schon angefangen, mir Gedanken zu machen.«

»Oh, ich kann eine Menge Dinge nicht«, versicherte ich Barney, während ich entschied, dass es vielleicht sicherer wäre, in Zukunft mit ihm zusammen hinter dem Stand stehen zu bleiben. »Ich kann keine Räder schlagen. Mein Französisch ist schlecht, und meine Gesichtsmuskulatur ist zu schwach, um eine Augenbraue hochziehen zu können.«

»Das ist genetisch«, sagte Barney. »Aber ich glaube, das kannst du dir beibringen.«

Ich zog meine rechte Augenbraue mit dem Finger nach oben. »Vielleicht sollte ich sie jede Nacht mit einem Klebestreifen festkleben und hoffen, dass meine Muskeln sich so darauf trainieren.«

»Ich wette, es gibt dafür eine Anleitung im Internet«, sagte Barney eifrig. Das war genau die Art seltsamer, überflüssiger Fragen, wie er sie gerne im Internet recherchierte. »Ich werde meine ausgezeichneten Google-Fähigkeiten anwenden, ja?«

Wir waren wieder Freunde, ich meine, wieder Freund und Freundin. Ich besorgte Barney ein großes Stück Schokoladenkuchen und verbrachte dann den Rest des Nachmittags damit, die Liste mit den Dingen, in denen ich ein totaler Versager war, zu erweitern, was Barney zum Lachen brachte.

Alles war gut. Alles war okay zwischen uns. Obwohl es mich schon wunderte, warum ich mich selbst runtermachen musste, damit Barney sich in unserer Beziehung besser fühlte, obwohl ich doch eine bekennende Feministin war. Wirklich, das Wort »Feministin« stand sogar auf meinen Visitenkarten.

Ausnahmsweise nahm ich es aber mal nicht so genau und wählte den Weg des geringeren Widerstands, denn ich konnte den Gedanken an einen drei Stunden lang niedergeschlagenen Barney nicht ertragen. Ich schrie ihn noch nicht einmal an, als er Dr.-Pepper-Cola auf die Adorkable-Wärmflaschenhülle kleckerte, an der ich Jahre gestrickt hatte.

2

Ich hasse Jeane Smith.

Ich hasse ihr blödes graues Haar und ihre ekelhaften Polyester-Klamotten. Ich hasse es, wie sie sich anstrengt, so unattraktiv wie möglich auszusehen, trotzdem aber will, dass jeder sie bemerkt. Sie sollte einfach ein T-Shirt mit der Aufschrift »Hey! Ich brauche sofort Aufmerksamkeit!« tragen.

Ich hasse es, dass alles, was sie sagt, irgendwie sarkastisch und gemein ist und wegen ihrer flachen, tonlosen Art zu sprechen noch sarkastischer und gemeiner klingt. Als ob es einfach viel zu uncool wäre, Gefühle oder Begeisterung zu zeigen.

Ich hasse die Art, wie sie ihr potthässliches Gesicht an meins randrängelt und mir mit einem Finger in die Brust sticht, wenn sie mir ihre Meinung aufdrängen will. Obwohl, je länger ich drüber nachdenke, umso unsicherer bin ich mir, ob sie das wirklich je getan hat – aber egal, das sind genau die Sachen, die sie vermutlich tun würde.

Aber am meisten hasse ich sie dafür, dass sie so abscheulich ist und eine so völlig durchgeknallte Zicke, dass sogar ihr Freund es mit ihr nicht mehr aushält und nach einem Notausgang sucht. Besonders, wenn der Notausgang meine Freundin ist.

Ich wusste, dass Barney auf Scarlett stand. Das war nur natürlich. Sie war eben ziemlich heiß. Wirklich superheiß. Wann immer wir in die Stadt gingen und auch nur auf 50 Meter Reichweite von TopShop gelangten, wurde sie von allen Seiten von Modelscouts und Agenten belagert.

Aber Scarlett ging nie in die Agenturen, weil sie selbst der Meinung war, dass sie zweieinhalb Zentimeter zu klein war, um Model zu werden, und außerdem war sie zu schüchtern. Bevor wir anfingen, uns zu treffen, fand ich Scarletts Schüchternheit irgendwie süß. Doch nach einer gewissen Zeit ist Schüchternheit nicht mehr süß und löst auch keine Beschützerinstinkte mehr aus; irgendwann ist sie nur noch frustrierend, und du fängst insgeheim an, mit den Zähnen zu knirschen.

Die Sache mit der Schüchternheit ist nämlich so, dass es manchmal irgendwie wie eine Entschuldigung aussieht, gewisse Dinge noch nicht einmal zu versuchen, so wie Scarlett noch nicht einmal versuchte, dass unsere Beziehung funktionierte. Ich hingegen strengte mich ungeheuer an; ich rief sie jeden Abend an und dachte mir coole Sachen für unsere Dates aus. Ich kaufte ihr Geschenke, half ihr, ihr Blackberry einzurichten, und war überhaupt insgesamt ein spitzenmäßiger Freund. Ob Fußball, Physikarbeiten oder eine Beziehung – was soll das Ganze, wenn du es total halbherzig machst? Ich will jetzt nicht großkotzig klingen, aber ich könnte so ziemlich mit jedem Mädchen der Schule ausgehen, genau genommen mit jedem Mädchen von jeder Schule in unserem Stadtteil. Die Tatsache, dass ich mir Scarlett ausgesucht habe, hätte ihr doch einen Riesenschuss Selbstvertrauen geben müssen und sie hätte mir gegenüber ruhig etwas mehr Dankbarkeit zeigen können.

Als ich dann also Scarlett und Barney zusammen sah, machte mich das echt wütend. Alles, was ich je von Scarlett bekommen hatte, war, dass sie ihre Haare dauernd zurückwarf und mich schwach anlächelte, während sie Barney mit sehnsüchtigen Blicken ansah und kicherte. Ich konnte ihr Kichern zwar nicht hören, aber ich stellte es mir wie kleine, silberne Dolche vor, die direkt auf mein Herz zielten, und als ich mich abwandte, fiel mein Blick auf ein zu kurz geratenes, plumpes, grauhaariges Mädchen, das sich im Spiegel betrachtete.

Jeane Smith ist ungelogen die einzige Person an unserer Schule, mit der ich mich noch nie unterhalten habe. Ich hasse Vorurteile und Cliquen und den ganzen Scheiß von wegen »Die Leute passen nicht zu mir, weil sie nicht die gleiche Musik hören oder in Sport totale Nieten« sind. Ich mag es, mich mit allen gut zu verstehen und immer ein gemeinsames Thema zu finden, über das man reden kann, auch wenn die Leute vielleicht mal nicht ganz so cool sind.

Jeane Smith spricht mit niemandem, wenn man mal von diesem Barney absieht. Jeder spricht über sie oder über ihre ekelerregenden Klamotten und die Wortgefechte, die sie mit ihren Lehrern in wirklich jedem ihrer Kurse anzettelt, doch niemand spricht mit ihr, denn wenn man das versucht, bekommt man nur eine sarkastische Bemerkung zu hören und einen vernichtenden Blick.

Das war auch genau das, was ich bekam, als ich versuchte, ihr meinen Verdacht bezüglich Barney und Scarlett zu erklären. Schon nach der Hälfte meines ersten Satzes realisierte ich meinen Fehler, aber da war es schon zu spät. Ich konnte schließlich schlecht mitten im Satz abbrechen und gehen. Ich konnte mir nicht erklären, wie es jemand schaffte, einen so voller Verachtung in Grund und Boden zu starren, dass man meinte, dabei körperliche Schmerzen zu fühlen, aber irgendwie hatte Jeane diese Kunst von Grund auf erlernt. Es war, als seien ihre Netzhäute durch Laserpointer ersetzt worden.

Dann schob sie ihr Kinn vor und wurde zickig, und plötzlich war überhaupt nicht mehr wichtig, was für eine abgefahrene Sache sich da zwischen Barney und Scarlett abspielte, sondern nur noch, in dieser Diskussion das letzte Wort zu haben.

»Schönes Kleid übrigens«, sagte ich und wies mit dem Kopf auf das grauenhafte bunte Scheißding von Kleid, das sie anhatte. Das war ein echter Tiefschlag und eigentlich völlig unter meinem Niveau, aber immerhin brachte es Jeane Smith zum Schweigen. Aber dann grinste sie, und dieses Grinsen sagte mehr als tausend Worte – und keins davon war freundlich.

Als ich diese unschöne kleine Unterhaltung beendet hatte, waren auch Scarlett und Barney mit ihrem lautlosen Flirt fertig. Scarlett eilte zu mir und sah lebhafter aus als jemals zuvor.

»Können wir jetzt gehen?«, fragte sie, als ob es meine Idee gewesen wäre, auf diesen Flohmarkt voller angestaubter alter Sachen und stinkiger Klamotten zu gehen, die nicht mal mehr als Spenden im runtergekommensten Charity-Shop der Welt angenommen worden wären. Es war eigentlich Scarlett gewesen, die hierher hatte kommen wollen, und da sie ja niemals irgendetwas Interessantes oder Witziges vorschlug, das wir an unseren Treffen machen konnten, hatte ich dies als ein Zeichen echten Fortschritts in unserer Beziehung betrachtet.

Jetzt allerdings hatte ich den Verdacht, dass Scarlett diesen Vorschlag nur gemacht hatte, weil Barney hier sein würde. Normalerweise wäre ich direkt auf den Punkt gekommen und hätte Scarlett gefragt, was da eigentlich los war, aber irgendetwas ließ mich zögern. Wenn ich es mit Scarlett nicht hinkriegte, was würde das dann über mich selbst sagen? Es würde bedeuten, dass sie lieber mit einem brabbelnden Rothaarigen zusammen wäre als mit mir, und das wäre … nein! Das war einfach unmöglich.

Also sagte ich nur: »Cool. Es riecht, als ob hier drin jemand gestorben ist.«

Scarlett murmelte zustimmend, doch als wir die Tür erreichten, wandte sie sich noch einmal um und warf einen Blick in die Ecke, in der Barney saß. Er schmachtete jetzt nicht mehr Scarlett an, sondern Jeane, die die Hände in die Hüften gestemmt hatte und ihn angriffslustig anfunkelte.

»Gott, wie ich dieses Mädchen hasse!«, sagte Scarlett mit mörderisch tiefer Stimme. Ich starrte sie völlig fassungslos an. Dies war das allererste Mal, dass ich Scarlett ihre Meinung äußern hörte. »Sie ist so gemein. Sie hat mich in Englisch schon mal richtig zum Weinen gebracht. Als ich aus Ein Mittsommernachtstraum vorgelesen habe, hat sie sich mittendrin gemeldet und über meine Leistung beschwert. Wenigstens klinge ich nicht wie ein Roboter auf Drogen.«

»Stimmt, sie ist irgendwie nervig …«

»Sie ist nicht irgendwie irgendwas. Sie ist total nervig!«, informierte Scarlett mich eisig. Sie steckte an diesem Nachmittag voller Überraschungen. Sie starrte mich sogar zornig an, als ich ihr die Tür aufhielt, so als sei ich ein Jeane-Smith-Vertreter.

»Warum regst du dich so über sie auf?«, fragte ich, als wir die Stufen zur Straße hinaufstiegen. Ich kannte die Antwort schon – Scarlett hasste Jeane, weil sie mit Barney zusammen war. Ich war mir sicher.

»›Ich bin Jeane Smith‹«, sagte Scarlett mit Roboterstimme, was mich zum Grinsen brachte, denn die wütende, wild gewordene Scarlett war ungefähr tausendmal witziger als die Scarlett, mit der ich mich sonst immer traf. »›Ich habe eine Million Follower auf Twitter und ich bin ein Blogger-Genie und meine abstoßenden Klamotten und meine Alte-Oma-Frisur sind ultimativ cool, und wenn du das nicht so siehst, liegt das daran, das du eben nicht cool bist. Tatsächlich bist du so uncool, dass ich mich kaum dazu bringen kann, dich auch nur anzugucken; du könntest mich ja mit deinen hässlichen, uncoolen Vorstadtbazillen anstecken.‹ Uhh! Sie ist so was von eingebildet!«

»Sie hat einen Blog? Das ist doch wirklich nichts Besonderes! Jeder hat einen Blog.«

»Du kennst ihren Blog nicht«, murmelte Scarlett düster. »Sie schreibt über Sachen – das ist unglaublich.«

»Wie kommt es überhaupt, dass du sie im Internet stalkst?«, fragte ich, und meine Stimme wurde so piepsig, dass ich an der letzten Silbe fast erstickte.

»Mach ich gar nicht.« Scarletts Stimme hingegen verfiel wieder in ihren üblichen Flüstermodus. »Ich muss ihren Blog lesen, sonst kann ich nicht mitreden, wenn die anderen in der Schule über sie sprechen.«

»Habt ihr Zwölftklässler nichts anderes, worüber ihr reden könnt, als Jeane Smith?«

Scarlett antwortete nicht, sondern sah die Straße hinauf und hinunter, bis sie erleichtert seufzte. »Da ist das Auto von meiner Mum. Ich muss gehen.«

»Ich dachte, wir gehen noch einen Kaffee trinken.«

»Ja, na ja, meine Mum hat mir eine SMS geschickt und geschrieben, sie sei in der Gegend.« Scarlett wand sich unglücklich. »Als du dich gerade auf dem Flohmarkt umgesehen hast. Ich meine, da hat sie mir die SMS geschrieben.«

Ich sollte das hier einfach beenden, dachte ich. Denn das hier, wir, das führte nirgendwo hin, und ja, natürlich würde Scarlett mich mit ihrem traurigen Gesicht ansehen, das aussah wie eine Babyrobbe, kurz bevor sie zu Tode geknüppelt wird, aber ich hatte Scarletts trauriges Gesicht in den letzten Wochen so oft gesehen, dass ich dagegen immun war.

»Weißt du, Scar, ich habe nachgedacht …«, begann ich, aber Scarlett wich schon zurück.

»Ich muss los«, kreischte sie, als ihre Mutter auf die Hupe drückte. »Bis morgen oder so.«

»Ja, bis dann«, sagte ich, aber Scarlett war schon zum Range Rover ihrer Mutter losgerannt, der den Verkehr blockierte, und konnte mich nicht mehr hören.

3

Viel zu schnell war es fünf Uhr und die Flohmarkt-Junkies wurden langsam weniger.

Ich hatte einen guten Nachmittag gehabt und die meisten schweren Sachen verkauft: eine angestaubte Sammlung von Schundromanen, ein grauenhaftes gerahmtes Bild von einem Clown, das mich jedes Mal erschauern ließ, wenn ich es betrachtete, und eine Art-déco-Statue von einer schwarzen Katze, die eine Lampenfassung auf dem Kopf trug und ein Elektrokabel mit Stecker an der Stelle, an der eigentlich ihr Schwanz hätte sein müssen.

Es dauerte also nicht lange, den Stand zusammenzupacken und meine Plastikkörbe in den massiven, benzinfressenden Vierradantrieb von Barneys Mum einzuladen, und wir mussten die Sachen auch nicht auf dem Rücksitz auftürmen wie sonst immer. Barney hatte seine Fahrprüfung erst vor ein paar Monaten gemacht und bekam immer Schweißausbrüche und zitterte vor Aufregung, wenn er nicht durch das Heckfenster blicken konnte.

Auch wenn sein Sichtfeld jetzt vollkommen klar war, brauchte Barney absolute Ruhe beim Fahren, doch je näher wir meiner Wohnung kamen, umso schwerer fiel es mir zu schweigen.

Ich wartete ab, bis wir an einer Ampel hielten. »Willst du noch ein bisschen mit zu mir kommen?«, fragte ich. »Wir könnten auch ins Kino gehen. Der Film mit Ellen Page, über den wir neulich gesprochen haben, läuft gerade. Oder was hältst du von …?«

Barney zischte verärgert, weil ich immer noch redete, obwohl die Ampel schon von Rot auf Gelb umgesprungen war. »Sorry«, murmelte ich und sank in meinen Sitz zurück, während er jeden einzelnen Muskel anspannte, um, wenn die Ampel auf Grün umsprang, direkt weiterfahren zu können, möglichst ohne den Wagen abzuwürgen.

Ich bemühte mich, ganz still und stumm dazusitzen und auch nicht zu schwer zu atmen, bis Barney ganz langsam und vorsichtig am Bordstein vor dem rot geklinkerten Altbau eingeparkt hatte, in dem ich wohnte.

»Also, willst du noch was machen?«, fragte ich. »Für ein paar Stunden?«

»Ich kann nicht. Du weißt doch, dass meine Mum möchte, dass ich den Sonntagabend zu Hause verbringe, damit sie überprüfen kann, ob ich meine Hausaufgaben gemacht, mich hinter den Ohren gewaschen und meine Stifte angespitzt habe und ob meine sauberen T-Shirts noch für die Woche reichen.« Barney kräuselte angewidert die Nase. »Ich wette, selbst wenn ich zur Uni gehe, wird sie sich sonntagnachmittags ins Auto setzen, um mich zu kontrollieren.«

»Ich bin sicher, das würde sie nicht tun«, sagte ich, obwohl ich eigentlich der Meinung war, dass Barneys Mum genau das getan hätte, wenn Barney nicht noch einen jüngeren Bruder gehabt hätte, der mindestens genauso viel, wenn nicht noch mehr Beaufsichtigung brauchte wie Barney. Es war nicht gerade die große Liebe zwischen Barneys Mum und mir – sie dachte, ich hätte einen schlechten Einfluss auf ihren Sohn, und sehnte sich nach den Zeiten zurück, in denen er zu Hause geblieben war und kein soziales Leben hatte. Aber ich achtete sehr darauf, dieses Thema bei Barney nie anzusprechen, denn ich wollte nicht zu der Sorte Mädchen gehören, die zwischen einen Jungen und seine erdrückend überfürsorgliche Mutter gerieten.

»Doch, das würde sie.« Barney machte seinen Sicherheitsgurt los. »Ich helfe dir noch, alles reinzutragen, aber dann muss ich nach Hause.«

Nachdem wir alle Körbe und Kartons und Taschen ins Foyer gehievt und dann mit dem klapprigen Fahrstuhl in den sechsten Stock bugsiert hatten, um schließlich alles in meinem Flur abzuladen, atmete Barney tief ein und wartete darauf, dass ich meine Jacke aufhängte.

Ich konnte sein ängstliches Gesicht im Flurspiegel sehen; es passte perfekt zu meinem eigenen. Ich hasste diese Stelle. Der Abschiedskuss.

Ich ging zwei Schritte vor, und Barney streckte seinen Hals ein paar Zentimeter in meine Richtung, um mir seine Bereitschaft zu signalisieren. Als wir praktisch Nase an Nase standen, kniff er die Augen zusammen und spitzte den Mund mit so fest geschlossenen Lippen, dass sie aussahen wie das Arschloch einer Katze. Mal abgesehen davon, das hier jede visuelle Stimulation vollkommen fehlte, fühlten sich Barneys Lippen, als ich meine auf seine presste, kein bisschen kusstauglich an. Sein Mund war nicht entspannt, seine Lippen waren nicht weich und anschmiegsam, und wir küssten uns so, wie wir uns immer küssten: Wir quetschten wie wild unsere Münder aufeinander, als ob Anstrengung die mangelnde Leidenschaft irgendwie wettmachen könnte.

Streichelnde oder liebkosende Hände kamen nicht zum Einsatz. Barney hielt seine Arme seitlich vom Körper, ich legte eine Hand dekorativ auf seine Schulter und es kam absolut keine Zunge vor. Als ich zum ersten Mal versucht hatte, das einzuführen, war Barney so ausgeflippt, dass ich nie wieder wagte, es noch einmal zu probieren. Ich zählte in meinem Kopf »ein Elefant, zwei Elefanten, drei Elefanten …«, und als ich bei »fünfzig Elefanten« angekommen war, löste ich meine Lippen vorsichtig von seinen.

»Wir werden langsam besser«, bemerkte Barney, obwohl er einen so gequälten Ausdruck im Gesicht hatte, als ob er am liebsten sofort mit dem Handrücken das Phantomgefühl meiner Lippen auf seinem Mund weggewischt hätte. »Denkst du nicht auch?«

»Definitiv«, stimmte ich zu, aber wir wussten beide, dass das eine Lüge war. Zumindest mir war das klar, und Barney konnte doch nicht wirklich so verplant sein, zu denken, dass die 50 Sekunden, die wir damit verbrachten, unsere Münder gegeneinanderzureiben, tatsächlich ein Fortschritt sein sollten.

Barney war lustig und nett und er wusste wirklich unendlich viele praktische Sachen über Computer, aber zwischen uns bestand einfach keinerlei sexuelle Anziehung. Ich war mir nicht sicher, ob noch so viele Kussübungen dies jemals würden ändern können. Entweder fühlt man sich voneinander angezogen oder eben nicht, und zwischen uns gab es nicht das kleinste erotische Knistern.

»Okay, ich mach mich mal besser auf den Weg«, seufzte Barney, und es war zumindest ein kleiner Triumph für mein Ego, dass er so klang, als wäre er alles andere als begeistert, mich verlassen zu müssen. »Meine Mum hat gerade Linsensuppe gekocht, als ich ging. Ich glaub, ich weiß schon, was es zum Abendessen gibt.«

Na ja, vielleicht lag es einfach daran, dass er überhaupt keine Lust hatte, nach Hause zu gehen. »Ich wette, Karottenkuchen klingt jetzt richtig verlockend, oder?«, sagte ich so dahin und Barney grinste.

»Du hast es gut, dass du alleine wohnst, Jeane. Niemand sagt dir, was du machen sollst. Du kannst essen, was du willst und wann du willst. Du kannst so lange aufbleiben, wie du willst, so lange im Internet surfen, bis alles vor deinen Augen verschwimmt, und …«

»Und wenn etwas kaputtgeht oder seinen Geist aufgibt, muss ich ganz allein herauskriegen, wie man es repariert. Ich muss selbst putzen und kochen und mich für die Schule wecken …«

»Oh, tu bloß nicht so, als ob das alles ganz furchtbar schrecklich wäre«, spottete Barney. »Es ist ja nicht so, als würdest du jemals putzen, und du ernährst dich von Haribos und Kuchen. Denk nur mal an mich, wie ich nach Hause gehe und von meiner Mutter zu Tode genervt werde, während ich ihre eklige Linsensuppe esse und auf ihrem echt gummiartigen selbst gemachten Brot rumkaue. Es ist grau«, fügte er mit einem Schaudern hinzu, als er in Richtung Tür ging. »Sie sagt, das sei nur die Weizenkleie, aber ich finde, das ist einfach keine Farbe, die ein essbares Brot haben sollte.«

Ich folgte Barney nach draußen, da er das mit dem Türriegel nie geregelt kriegte, und als ich mich für ein freundliches Abschiedsküsschen auf die Wange nach vorne neigte, zuckte er mit dem Kopf zurück, als wäre ich gerade dabei, mich mit ausgerollter Zunge auf seinen Mund zu stürzen.

»Bis morgen«, sagte Barney herzlich, um die Tatsache zu verbergen, dass er vor meinen Lippen flüchtete, als wären sie mit fleischfressenden Bakterien infiziert, während sein Gesicht ungefähr zum siebzehnten Mal an diesem Tag feuerrot anlief. »Ich muss gehen!«

Ich horchte auf das leicht klatschende Geräusch von Barneys Sneakern auf dem Parkettfußboden, das Ächzen und Quietschen, als er das Metallgitter des Aufzugs zur Seite schob und hineinging, dann das Surren, während der Fahrstuhl seinen Weg zwischen den einzelnen Stockwerken nahm. Ich konnte sogar den weit entfernten Knall der Haustür noch hören. Es klang so abschließend, endgültig.

Nachdem meine Eltern sich hatten scheiden lassen und ich zusammen mit meiner älteren Schwester Bethan in diese Wohnung in einem Altbau gezogen war, war ich begeistert gewesen. Es schien alles so exotisch im Vergleich zu den ersten fünfzehn Jahren meines Lebens, die ich in einer Doppelhaushälfte mit Garten, Garage, Doppelglasfenstern und Einbauschränken verbracht hatte.

In einem Altbau zu leben, der nach Bienenwachs roch und einen schwarz-weiß gekachelten Boden in der Eingangshalle hatte – sogar die Tatsache, dass es überhaupt eine Eingangshalle gab –, verlieh mir das besondere Lebensgefühl eines Mädchens aus einem Buch, das in den 20er-Jahren spielt, und das einen Bubikopf trägt und sagt: »Ach du meine Güte, haben Sie vielen Dank!«, wenn ein Mann ihr die Tür aufhält.

Bethan und ich hatten sogar darüber gesprochen, ob wir nicht steppen lernen sollten, damit unsere Steppschuhe die schönsten Geräusche machten, wenn wir mit geschmeidigen Sohlen über den Boden im Flur tanzten (oder was man beim Stepptanz eben so macht).

Aber das war letztes Jahr. Dieses Jahr ist Bethan nicht da. Sie macht ein Jahrespraktikum in einer pädiatrischen Spezialklinik in Chicago, und ich lebe ganz allein in dieser wunderschönen Wohnung, die inzwischen leider gar nicht mehr so wunderschön ist; ich finde, das Leben ist einfach zu kurz, um es mit Staubsaugen oder Staubwischen oder Aufräumen zu verbringen.

Es existierte noch ein vage zu erahnender Pfad von der Wohnungstür bis in das offene Wohnzimmer. Ich bahnte mir meinen Weg durch zerknitterte Zeitschriften und knisternde Bonbonpapiere, um zum Tisch zu gelangen, und schaltete dann mein MacBook ein.

Es kostete mich große Überwindung, aber statt meine Mails oder meinen Twitter-Account oder Facebook zu checken, fing ich gleich an, meine BWL-Notizen zu lesen.

Ich muss sonntagabends immer noch Hausaufgaben machen. Nicht, weil ich so ein Rumbummler bin, der alles bis zur letzten Minute aufschiebt, sondern weil der Sonntagabend der einsamste Abend der Woche ist. Alle anderen hocken mit ihren Müttern da, die ihnen wegen Lunchpaketen und sauberen Klamotten die Hölle heißmachen. Sogar meine echten erwachsenen Freunde sagen, dass sie sonntagabends immer dieses Zurück-in-die-Schule-Gefühl bekommen, das man nur mit einem schmalzigen Film und einem Riesenbecher Eiscreme wieder loswird.

Ich habe keine Mutter, die sich mehr um mich kümmert, als mir lieb ist, oder einen Vater, der das übernimmt, also lasse ich mir immer einige Hausaufgaben übrig, damit ich gar nicht erst auf die Idee komme, in Selbstmitleid zu versinken. Du kannst dich nicht selbst bemitleiden, wenn du sorgfältig Finanzdaten in die Arbeitsblätter aus deinem BWL-Kurs eintragen musst.

Das wurde nicht besser dadurch, dass die Firma, die ich mir für den BWL-Unterricht ausgedacht hatte, auch im wirklichen Leben meine eigene, echte Firma war. Adorkable war eine Außenseiter-zelebrierende Lifestyle-Marke und Trendagentur, die ich gegründet hatte, als mein Blog (der auch Adorkable hieß) plötzlich Unmengen von Preisen gewann und ich immer wieder gefragt wurde, ob ich nicht etwas für den Guardian schreiben oder an einer Podiumsdiskussion auf Radio Four teilnehmen wollte.

Die jeweiligen Zahlen, die ich per Copy & Paste von einem Dokument in das andere zog, bezifferten die tatsächlichen Summen, die ich in den letzten sechs Monaten durch Beratungsleistungen, öffentliche Auftritte, Journalismus und den Verkauf von Adorkable-Markenprodukten auf Etsy und CafePress eingenommen hatte. Das machte das Lernen für BWL aber auch nicht witziger. Nicht das kleinste bisschen. Ich seufzte gerade vor Erleichterung, weil ich das Ende der letzten Spalte erreicht hatte, als das Telefon klingelte.

Meine Mum rief jeden Sonntagabend um 19.30 Uhr an, also hätte mich der Anruf eigentlich nicht so überraschen und mein Herz nicht so zum Stocken bringen sollen. Vielleicht lag es daran, dass ich den Rest der Woche meist damit verbrachte, die Erinnerung an unsere Sonntagabendtelefonate zu verdrängen. Es war also jedes Mal wie ein Schock, wenn sie anrief und meinen Namen mit dem gleichen, leicht beklommenen Unterton aussprach, mit dem sie ihn schon aussprach, seit ich denken konnte.

»Hallo Pat«, sagte ich. »Wie geht’s?«

In Trujillo, Peru, war alles prima, auch wenn unter der Woche der Strom ausgefallen war und ihr langsam die sauberen Klamotten ausgingen, weil …

»Haben die überhaupt Waschmaschinen in Peru?«, fragte ich, ohne eigentlich richtig bei der Sache zu sein, denn die Leitung knisterte und ihre Stimme klang seltsam zeitverzögert, und sogar als wir noch im gleichen Haus lebten, hatten wir uns nie besonders viel zu sagen.

»Natürlich haben sie Waschmaschinen, Jeane. Bei mir werden gerade die sauberen Unterhosen knapp, weil ich einfach keine Gelegenheit hatte, irgendetwas zu waschen. Peru ist nicht die Dritte Welt. Sie haben hier Waschmaschinen, fließend heißes und kaltes Wasser und, ja, sogar Starbucks. Obwohl das mehr über die Globalisierung aussagt als über …«

Wir hatten erst zwei Minuten miteinander gesprochen, und schon wurde es eisig. »Du hattest gesagt, dass ihr keinen Strom hattet!«

»Ja, das liegt daran, dass ich von montags bis freitags, wie du weißt, außerhalb der Stadt in einer sehr abgelegenen Gegend von …«

»Oh ja, wie geht es den peruanischen Gefängnisinsassinnen?«, fragte ich demonstrativ provokant, wobei jede Silbe vor Verachtung nur so triefte.

»Musst du immer wegen allem so schnippisch sein?«

»Ich bin gar nicht schnippisch«, sagte ich, obwohl sie recht hatte. Nicht, dass sie das so oder so irgendwie hätte beurteilen können. »Wirklich, es interessiert mich. Wie geht es ihnen?«

Ich wusste, dass die Erzählungen von den peruanischen Gefängnisinsassinnen sie gut zehn Minuten beschäftigen würden. Immerhin waren sie der Grund oder die fadenscheinige Ausrede, die sie uns dafür geliefert hatte, dass sie zwei Reisetaschen und einen Rollkoffer gepackt und schnurstracks über den Atlantik verschwunden war. Dort wollte sie sich zwei Jahre lang mit der Ausarbeitung eines Forschungspapiers beschäftigen, in dem sie die Wirkungen eines New-Age-, Bäume umarmenden, fröhlichen Wanderprediger-Ansatzes in der Haft untersuchte und seine Wirkung auf die mörderischen Tendenzen und das Verhalten langzeitinhaftierter weiblicher Insassen des peruanischen Gefängnissystems erforschte. Ich umschreibe das hier nur, denn der tatsächliche Titel ihres Forschungsthemas würde jeden in Tiefschlaf versetzen, bevor man es überhaupt fertig gelesen hätte.

Pat schwafelte weiter, und ich sagte nur hin und wieder »Hmmm«, während ich über meinen ersten Tweet für diesen Abend nachdachte. Normalerweise twitterte ich alle fünf Minuten, aber Barney fand, es sei vollkommen unsozial, ständig weiter in mein iPhone zu tippen, wenn wir verabredet waren, und so erlebte ich im Moment einen massiven Twitter-Entzug.

»Aber jetzt zu dir, Jeane, wie geht es dir?« Pat hatte das Ende ihres Lobgesangs über die Tugend, gewalttätigen Serienkillerinnen Meditationstechniken beizubringen, erreicht und war jetzt bereit, sich meinem Fall in allen Einzelheiten zuzuwenden. »Wie ist es in der Wohnung?«

»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Der Wohnung geht’s auch gut.«

»Du hältst sie doch schön in Ordnung, oder? Und du wäschst auch ab und machst den Küchenfußboden sauber, oder? Sonst kommen die Ameisen …«

»Wir sind im sechsten Stock. Ich kann mir kaum vorstellen, dass eine Ameise die vielen Treppenstufen bis hier hoch schafft, außer sie fährt mit dem Fahrstuhl.« Pat atmete tief ein. »Alles ist ganz sauber.« Sie würde sich niemals meinen Blog ansehen, um dabei festzustellen, dass ich eine »DustCam« aufgestellt hatte (mein alter Laptop, der einen Teil meines Sideboards zeigte, um Quentin Crisps Theorie nachzuvollziehen und zu beweisen, dass der Staub nach vier Jahren nicht mehr schlimmer wurde).

»Na gut, wenn du das sagst.« Ich wusste, dass sie mir nicht glaubte. »Wie geht’s in der Schule? Miss Ferguson hat mir eine E-Mail geschrieben. Sie sagt, es scheint alles in Ordnung zu sein.«

Miss Ferguson und ich verstanden uns ziemlich gut, und wenn ich nicht gerade plötzlich über das Schulgelände marschieren und die Leute mit einem Gewehr abknallen würde, so würde sie meine kleineren Missetaten ‒ wie das Herumstreiten mit meinen Lehrern, das Programmieren meines Handys mit einem Alarmton, den nur sensible Teenagerohren hören konnten und mit dem mir meine E-Mails im Unterricht angezeigt wurden, und der Willenskampf, den ich mit Mrs Spiers, meiner Kunstlehrerin, ausfocht und in dem es um meine Weigerung ging, eine langweilige Studie von einigen Zweigen zu malen, na ja, die üblichen Sachen eben ‒ meiner Mutter gegenüber niemals erwähnen.

»Das liegt einfach daran, dass es so ist«, sagte ich. »Also, ich will dich nicht länger aufhalten…«

»Warte mal! Hast du etwas von Roy gehört?«

»Ja. Er kommt bald nach London und wir werden uns dann treffen«, erzählte ich ihr, während ich den Dreck um mich herum anstarrte und über den Zeitpunkt in nicht allzu ferner Zukunft nachdachte, zu dem ich aufräumen musste, bevor mein Vater das alles sah.

»Und hast du mit Bethan gesprochen?«

»Ja.« Ich fing an, leicht entnervt zu klingen. »Wir skypen die ganze Zeit. Du könntest mich auch über Skype anrufen. Das wäre auch viel billiger als telefonieren.«

»Du weißt doch, dass ich mich mit Computern nicht so gut auskenne.«

»Da muss man sich nicht groß auskennen. Du lädst dir die App runter, klickst auf Installieren und dein Computer macht den Rest. Ist ganz einfach. Das kriegst sogar du hin.«

»Jeane, fang nicht damit an.«

»Ich fange mit gar nichts an. Ich sage dir nur, dass ich die ganze Zeit online bin, und wenn du Skype hättest, könntest du wann immer du wolltest mit mir in Verbindung …«

»Na ja, also ich bin nicht sehr oft online. Hier ist eben nicht an jeder Ecke ein Internet-Café.«

»Du sagtest doch, dass es Starbucks gibt. Die haben freies WLAN – also, ich verstehe nicht, wo das Problem ist?«

»Nein, das verstehst du nie.« Sie stieß einen angefressenen Seufzer aus. »Warum musst du aus jeder Unterhaltung einen Streit machen, Jeane?«

»Man braucht immer zwei Leute, um sich zu streiten, Pat«, erinnerte ich sie, denn wenn ich stritt, machte ich niemals einen Rückzieher. Sogar wenn ich wusste, dass es eigentlich besser gewesen wäre. Ich war einfach dazu geboren, widerspenstig und störrisch zu sein. »Ich muss jetzt los.«

»Willst du mir nicht wenigstens noch ordentlich Auf Wiedersehen sagen?«, fragte sie.

»Ordentlich Auf Wiedersehen«, sagte ich gedehnt, was gemein war, denn Pat konnte nichts dafür, dass sie so war, wie sie war. Aber ich konnte auch nichts dafür, dass ich eine schnippische Kuh war. »Hör mal, sei mir nicht böse, aber ich habe noch tonnenweise Hausaufgaben zu erledigen und der Gedanke an meine BWL-Tabellen macht mir schlechte Laune.«

»Na, da bin ich ja froh, dass nicht ich es bin, die dir schlechte Laune macht«, sagte sie mit einer etwas weniger eingeschnappten Stimme. »Aber du hast versprochen, deine Aufgaben nicht immer bis zum letzten Moment aufzuschieben.«

Es war nicht der letzte Moment. Der letzte Moment wäre, die Tabellen auszufüllen, wenn die Anwesenheitsliste vorgelesen wird. »Ich weiß«, biss ich die Zähne zusammen. »Tut mir leid.«

Es folgten noch mal quälende zwei Minuten und siebenunddreißig Sekunden absolut inhaltsleerer Konversation, bevor Pat endlich auflegte.

Ich streckte meine Arme über dem Kopf aus, um all die Schmerzen und Verspannungen im Nacken und in den Schultern wieder loszuwerden, die immer auftauchten, wenn ich mit Pat telefonierte, dann doppelklickte ich auf Firefox, dann auf TweetDeck und verband mein iPhone mit meinem Computer, um die Bilder hochzuladen, die ich an diesem Nachmittag geschossen hatte.

Meine Finger flogen über die Tasten, als ich meinen ersten Tweet des Abends schrieb. Dann drückte ich Enter, und binnen zehn Sekunden hatte schon jemand geantwortet.

Und ich war nicht mehr allein.

4

Ich liebe Sonntagabende. Die anderen sechs Abende in der Woche sind vollgestopft mit Hausaufgaben, Fußballtraining, Schülermitverwaltungstreffen, Debattierclubangelegenheiten und dem Erledigen von Verwaltungsaufgaben für meine Eltern, sodass sich sogar das Ausgehen mit meinen Freunden anfühlt wie ein weiterer Punkt auf meiner To-do-Liste, den ich abarbeiten muss. Hinzu kommt, dass meine Eltern hartnäckig davon überzeugt sind, dass ich zehn Stunden Schlaf brauche, um mich auf die vor mir liegende Woche vorzubereiten, weshalb man mir nachhaltig davon abrät (manche Leute würden sogar sagen, man hat es mir verboten), auch nur darüber nachzudenken, an einem Sonntagabend auszugehen.

Meine Mutter badete gerade meine kleinen Schwestern, und als ich die schmalen Stufen zu meinem Schlafzimmer unter dem Dach hochtrottete, hörte ich, wie Melly sich bitter beklagte, dass sie mit Alice zusammen baden musste. »Sie ist fünf und ich bin sieben. Ich brauche meine Privatsphäre, Mum.«

Ich grinste, als ich meine Zimmertür schloss und mein vollbeladenes Tablett vorsichtig auf dem Schreibtisch abstellte. Sonntagabends erwartet meine Mutter von mir, dass ich den Kühlschrank von all dem Essen befreie, das noch vom Wochenende übrig ist, bevor montags die neue Lieferung vom Supermarkt kommt. Außerdem sollen wir von Montag bis Donnerstag nichts von dem essen, was meine Eltern »Müll« nennen. Also ist der Sonntagabend immer die vorerst letzte Chance, mich mit fettigem, überzuckertem Essen vollzustopfen.

Während ich auf einem kalten Frühlingsröllchen herumkaute, schaltete ich meinen Computer ein, um meine Physikhausaufgaben fertig machen zu können. Meine Eltern denken, dass ich alle meine Aufgaben erledige, bevor ich Freitagabend ausgehe, aber da irren sie sich gewaltig.

Mum klopfte an die Tür, als ich gerade meine letzten Formeln runterschrieb. »Michael? Alles in Ordnung da drin?«

Ich hatte ihr verboten, ohne meine Erlaubnis in mein Zimmer zu kommen, seit sie mich mit Megan, meiner Freundin vor Scarlett, in einer ziemlich kompromittierenden Situation auf meinem IKEA-Teppich überrascht hatte.

Es folgte eine Woche langer, qualvoller Diskussionen über persönliche Grenzen und Mädchen-in-Schwierigkeiten-bringen. Wann immer Mum jetzt meine frisch gewaschene Wäsche in einem Wäschekorb vor meine Tür stellte, waren die Taschen meiner Jeans mit Kondomen vollgestopft. Beim letzten Zählen hatte ich 93 Kondome, originalverpackt in ihren glänzenden Folien.

»Ja, alles gut«, rief ich. »Ich hab mir den letzten von den Pfannkuchen mit den Schokoladenstückchen genommen, die Dad gestern gemacht hat. Ist das in Ordnung?«

»Lieber in deinem Mund als auf meinen Hüften«, sagte Mum. »Was machst du da drinnen?«

Manchmal sehnte ich mich nach den glücklichen Zeiten zurück, als sie mit Vorliebe einfach so, ohne zu klopfen, in mein Zimmer platzte. Das schien mir fast besser als jetzt, wo sie vor meiner Tür stand und mich mit Fragen bombardierte.

»… ich sitz nur ein bisschen am Computer«, sagte ich vage.

»Also, Dad und ich gucken uns eine DVD an – wenn du auch Lust hast …?«, redete sie weiter. »Nichts allzu Kitschiges.«

»Nein, danke«, antwortete ich entnervt. »Wirklich, Mum, ich komm später runter.«

»Wenn du wirklich nicht möchtest …«

Ich antwortete nicht, sondern grunzte nur, denn wenn ich ihr weiter antwortete, würde sie für immer vor meiner Tür stehen bleiben. Schließlich hörte ich sie die Treppe hinuntergehen – sie ist die einzige Person, die ich kenne, die ihren Schritten einen vorwurfsvollen Klang geben kann. Ich wandte mich wieder Facebook zu. Scarlett war online, aber gerade als ich mich einloggte, loggte sie sich aus. Oder veränderte ihren Status in »unsichtbar«, sodass ich denken sollte, sie hätte sich ausgeloggt – wie auch immer, es sah nicht gut aus für das angeschlagene, hinkende Monster, das alles war, was von unserer Beziehung noch übrig geblieben war.

Als ob meine Finger von meinem Gehirn völlig losgelöst wären, sah ich, wie sie »Jeane Smith + Blog + Twitter« in die Google-Suche eintippten. Ich wusste nicht, warum mich das überhaupt interessierte, wo die fünf Minuten, die ich mit Jeane Smith an diesem Nachmittag verbracht hatte, mir eigentlich bis zum Ende dieses Jahrzehnts reichten, und außerdem gab es wahrscheinlich Tausende von Frauen, die Jeane Smith hießen und Blogs führten. Auch wenn das eine ziemlich angeberische Aktion war: ein »e« ans Ende seines Namens zu hängen, sodass er französisch oder so klingen sollte, und … oh!

Der allererste Link der 1.390.000.000 Suchergebnisse führte mich direkt auf ihren Blog Adorkable.

Da war ein Foto von Jeane, sodass ich wusste, dass ich auf der richtigen Seite gelandet war, darunter standen die Worte: Eigentlich sind wir alle Freaks. Na ja, also in diesem Punkt hatte sie recht.

Jeane Smith lebt in London und ist Bloggerin, Tweeterin, Träumerin, Irrealistin, Agent Provocateur, Strickerin und Rebellin in der Ausbildung.

Eines Tages, vor einigen Jahren, rief sie unter dem Namen Adorkable einen Blog ins Leben, um irgendwo über die vielen, vielen Sachen sprechen zu können, die sie mochte. Und auch über die vielen, vielen Dinge, die sie hysterisch werden ließen.

Die Leute fingen an, ihren Blog zu lesen, und ein Jahr nach seiner Erfindung wurde er vom Guardian zum Besten Lifestyle Blog gewählt, hatte einen Bloggie-Award gewonnen und wurde seitdem in der Times, der New York Post, im Observer und auf den Webseiten Jezebel und Salon besprochen.

Ihre demütige und wortgewandte Blog-Mistress schaffte es außerdem auf Platz sieben auf der Guardian-Liste der »30 Leute unter 30, die die Welt verändern« und wird darüber hinaus als Social-Networking- und Social-Trend-Expertin betrachtet (was auch immer das sein soll) und berät alle möglichen trendigen Firmen mit Büros in Soho und Hoxton.

Ihre journalistischen Beiträge erschienen im Guardian, in der Times, in NYLON, ID und Le Monde und sie hat auf Konferenzen in London, Paris, Stockholm, Mailand und Berlin Vorträge über Jugendtrends gehalten. Jeane schreibt außerdem eine Style-Kolumne für ein japanisches Teenager-Magazin, KiKi, und betreibt regelmäßig Stände auf einigen sehr gut besuchten Flohmärkten im Großraum Londons.

Adorkable ist Blog, Lifestyle-Marke und Trendagentur, aber es ist auch ein Zustand des Daseins. Auf uns allein gestellt sind wir Sonderlinge, Computerfreaks, Außenseiter, Loser, Spinner, eben Dorks, die tragischen Pechvögel, aber zusammen sind wir bedeutend, eine Bewegung. Oh ja!

Wie auch immer, dachte ich mir, im Grunde war das alles ein Riesenhaufen Schwachsinn. Das war ganz offensichtlich. Sie war nur ein siebzehnjähriges Mädchen mit einem ernsten Aufmerksamkeitsdefizit – und Leute, die in die Schule gingen und bei ihren Eltern lebten und sich melden und um Erlaubnis fragen mussten, ob sie mitten in der Stunde aufs Klo gehen durften, veränderten verdammt noch mal nicht einfach die Welt oder hatten beschissene Beraterjobs bei Trendagenturen (und schrieben auch nicht für den Guardian). So war es einfach nicht.

Jeane Smith war einfach nur scheiße, und ich wusste gar nicht, warum ich überhaupt noch auf ihren Blog und auf etwas, das sie eine DustCam nannte, starrte. Es schien so, als würde sie ihren Blog mindestens einmal am Tag aktualisieren; sie musste also eine ganze Menge Leerläufe haben, wenn sie gerade nicht der Fährte stinkiger Secondhand-Klamotten folgte oder eine Rebellin in der Ausbildung war. Ich scrollte mich durch eine Menge hochgestochener Posts darüber, wie man mit seinem inneren Dork in Verbindung trat, und sah mir die Einträge an, die sie jeden Morgen gegen 8.15 Uhr machte, wenn sie angeberisch ihr in beißenden Farben zusammengestelltes Tageskleidungs-Ensemble mit fortlaufenden Kommentaren versah:

Hauskleid mit Wirbelmuster: eine Spende von Bens Großmutter

Gestreifte Strumpfhose: GapKids (Sollte ich immer noch nicht aus der Kinderabteilung herausgewachsen sein?)

Turnschuhe mit Kirschblüten: Flohmarkt

Bonbonkette: von meinem Stammkiosk

Ich konnte nicht nachvollziehen, warum Jeane so stolz auf ihren wirklich erschütternden Sinn für Mode war. Okay, ich rannte auch nicht gleich los, um mir jeden Monat die neueste Vogue Pour Homme zu holen, aber ich kaufte meine Klamotten bei Hollister, Jack Wills und Abercrombie & Fitch. Ich wusste also schon, was gut aussah, und wirbelige Muster und Streifen auf muffigen, alten Klamotten sahen nicht gut aus. Und jeder, der zwei funktionierende Augen im Kopf hatte, konnte das auch sehen.

Wenigstens sah die Jeane, die dort eine große Auswahl total übertriebener Modelposen vollführte (sie gab ihnen auch noch Namen wie »Schmollgesicht« und »Schmollgesicht, wie in alten Zeiten« und sogar »Oooooh, mein Ischias«), ein bisschen fröhlicher aus als die zähnefletschende Version, die ich an diesem Nachmittag gesehen hatte. Aber davon mal abgesehen, hatte ich keine Ahnung, was diese ganze Sache hier beweisen sollte.

Außerdem kam hinzu, dass Jeane Smith online eigentlich noch mehr um sich selbst kreiste, als sie es schon im normalen Leben tat. Es war kein Wunder, dass Barney die Nase voll von ihr hatte. Ich war gerade dabei, mich auf die Suche nach einer Stelle im Internet zu machen, die nicht von Jeanes idiotischer Dork-Agenda verseucht war, als ich über einen YouTube-Link stolperte und ihn ohne nachzudenken anklickte.

Ich zuckte mit einem alarmierend mädchenhaften Kreischer auf meinem Stuhl zusammen, als plötzlich Jeane in einem glänzenden Body mit Leopardenmuster und einem Frotteeschweißband, das sie sich quer über die Stirn gezogen hatte, erschien. Sie sah vollkommen lächerlich, aber sehr mit sich selbst zufrieden aus, und neben ihr tauchten noch zwei ältere Mädchen auf, die beide mindestens einen Kopf größer waren als sie und die gleiche idiotische, völlig absurde Workout-Ausstattung trugen.

Dann hörte ich die unverkennbare Melodie von Single Ladies und die drei fingen an zu tanzen. Den Beyoncé-Tanz. Sie imitierten sogar den Klaps mit der Hand, was aber nicht verhinderte, dass Jeane dabei blieb, nach links zu tanzen, wenn ihre Background-Tänzerinnen nach rechts gingen, was zu viel Kicherei und einer Menge gut gelauntem Geschubse und Gestoße führte.

Ich musste unwillkürlich mitkichern, denn jemandem, den du nicht magst, zuzusehen, wie er sich zum Idioten macht, war immer die allerbeste Unterhaltung – doch schnell wurde aus meinem höhnischen Grinsen ein Lächeln, denn … ich weiß nicht … Vielleicht lag es an der Art und Weise, wie Jeane ihre nicht existierenden Hüften kreisen ließ und ihre Wangen einsog. Sie war absolut unbefangen, so völlig anders als jedes andere Mädchen, das ich kannte. Die waren immerzu mit ihren Haaren beschäftigt und streckten ihre Brüste raus, als ob sie ständig von allen beobachtet würden, sogar wenn sie eigentlich niemand ansah.

Am Schluss versuchte Jeane, hoch in die Luft zu springen, und knallte bei ihrer wackligen Landung in eins der anderen Mädchen. Die beiden fielen zu Boden. Das letzte noch stehende Mädchen bemühte sich weiterzutanzen, aber sie musste so furchtbar lachen, dass sie, als Jeane ihren Fuß um ihren Knöchel hakte, dankbar nach unten auf einen Haufen mit den anderen sank, sodass ich nichts mehr sehen konnte als ein Gewusel aus Beinen in glänzenden Strumpfhosen. Der Song war zu Ende, und kurz bevor der Bildschirm schwarz wurde, hörte ich eine Stimme sagen: »Jeane, du bist so ein Vollidiot.«

Ich verzichtete auf die Links zu ihrem Etsy- und CafePress-Shop (Gab es im Internet überhaupt noch einen Bereich, in dem sie nicht ihre klebrigen Pfoten drinhatte?), in denen sie Markenbecher, T-Shirts und Tragetaschen verkaufte, die mit Sprüchen bedruckt waren wie »I ♥ Dorks« und »Dork-Sein ist das neue Schwarz«, und ging gleich weiter auf ihre Twitter-Seite.

Es ergab keinen Sinn für mich. Aber ich konnte in Twitter generell keinen Sinn entdecken. All diese Leute, die darüber twitterten, was sie zum Frühstück gegessen hatten oder wie sehr sie es hassten, ihre Deutsch-Hausaufgaben zu machen, waren für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr in sich selbst verliebt. Als ob es nötig wäre, jeden einzelnen Zufallsgedanken für die Nachwelt zu twittern. Es war ganz offensichtlich, dass das alles totale Loser waren, die keine Freunde hatten, also gingen sie auf Twitter und fachsimpelten zusammen mit einer Riesenmenge anderer sozialer Randexistenzen, die auch keine Freunde hatten, über irgendwelchen Mist.

Na gut, ich war auf Twitter und auch bei Facebook und MySpace, aber abgesehen von einem einzigen Tweet (»Also, was passiert als Nächstes?«) hatte ich mich nie damit befasst. Und wenn ich mir Jeanes Twitter-Seite ansah, dann war es richtig gewesen, das Twittern anderen Leuten zu überlassen, denn ihr Twitter-Feed bestand fast nur aus Antworten auf andere Tweets, und es war, wie dreißig angesagte Witze zu lesen, die eigentlich gar nicht richtig witzig waren.

Ich fand es auch alles andere als lustig, dass Jeanes Tweets von mehr als einer halben Million geistig zurückgebliebener Irrer verfolgt wurden. Wie war das überhaupt möglich? Funkelten ihre Tweets vor magischem Staub? Es gab richtige, echte Stars aus dem Fernsehen und den Zeitungen, die weitaus weniger Follower hatten als sie.