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Türkisblaues Meer. Zartduftende Aprikosenhaine. Sanfte Strände. Doch die Idylle trügt ...
Sommer 1958. Für die deutschen Touristinnen Sonja und Elke ist es das große Abenteuer: Mit ihrem Roller fahren die jungen Frauen nach Italien in den Urlaub. In einem kleinen Dorf an der Adriaküste steigen sie in der Pension von Federica Pellegrini ab. Ein paar Tage später wird der Lehrer des Ortes tot aufgefunden, mit dem Elke zuvor geflirtet hat. Die beiden fürchten, unter Mordverdacht zu geraten. Zum Glück nimmt Federica sich des Falles an und ermittelt auf eigene Faust. Sehr zum Missfallen von Commissario Garibaldi, der anreist, um herauszufinden, wer den Naturliebhaber aus dem Weg räumen wollte. Und Garibaldi ist nicht der Einzige, dem Federica auf die Füße tritt ...
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Seitenzahl: 502
Veröffentlichungsjahr: 2021
Türkisblaues Meer. Zartduftende Aprikosenhaine. Sanfte Strände. Doch die Idylle trügt … Sommer 1958. Für die deutschen Touristinnen Sonja und Elke ist es das große Abenteuer: Mit ihrem Roller fahren die jungen Frauen nach Italien in den Urlaub. In einem kleinen Dorf an der Adriaküste steigen sie in der Pension von Federica Pellegrini ab. Ein paar Tage später wird der Lehrer des Ortes tot aufgefunden, mit dem Elke zuvor geflirtet hat. Die beiden fürchten, unter Mordverdacht zu geraten. Zum Glück nimmt Federica sich des Falles an und ermittelt auf eigene Faust. Sehr zum Missfallen von Commissario Garibaldi, der anreist, um herauszufinden, wer den Mann aus dem Weg räumen wollte. Und Garibaldi ist nicht der Einzige, dem Federica auf die Füße tritt …
Margherita Giovanni ist ein Pseudonym der Autorin Brigitte Pons. Sie lebt in der Nähe von Frankfurt/Main, schreibt Romane und Kurzgeschichten und ist dabei immer auf der Suche nach dem perfekten Text. Neben dem Schreiben liebt sie das Reisen und ganz besonders Barcelona. Als Isabella Esteban schreibt sie eine Krimireihe über ihre liebste Stadt Europas, im E-Book erscheint unter dem Namen Brigitte Pons außerdem ihre Odenwald-Krimireihe um Ermittler Frank Liebknecht.
MARGHERITA GIOVANNI
ADRIAMORTALE
BITTERSÜSSER TOD
KRIMINALROMAN
LÜBBE
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com)
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: lüra – Klemt & Mues GbR, Wuppertal
Umschlaggestaltung: U1berlin / Patrizia Di Stefano
Einband-/Umschlagmotive: © BMW Group Archiv; © Ian Stewart / Alamy Stock Photo; Historical photo by courtesy of the completely renovated five stars Hotel Lorelei Londres Sorrento
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-0739-8
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für meine Eltern
Die Glocke von San Francesco läutete und erschreckte einen dösenden Vogel, der sich vom Sims des Kirchturms in die Luft erhob. Ein warmer Wind fuhr unter seine Flügel, trug ihn über den Hügel, auf dem sich das Dorf Pesaro del Monte piccolo Cattolica hinter die Reste alter Mauern duckte. Häuser aus lehmbraunen Steinen klebten dicht an dicht an der mittelalterlichen Hauptstraße. Wie ein Schneckenhaus gewunden führte sie zum Herz der Gemeinde, wo sich von oben betrachtet das Gewirr der ziegelgedeckten Dächer öffnete. Diese glichen den sommerlichen Feldern, die sich uneinheitlich in Form und Farbe im Westen landeinwärts erstreckten. Noch dominierte am Boden helles Grün, das jedoch bald schon verschwunden sein würde, wenn die reifen Ähren sich kurz vor dem Schnitt unter ihrer Last bogen und das Land in stumpfem Gelb und dem feinen Staub der Getreideernte versank. Hier und da unterbrachen kleinere Weiler und Olivenhaine das Bild. Weinstöcke fügten dem Farbenspiel ihren Teil hinzu, während sich gen Süden am Monte Bartolo der Wald verdichtete. Die Ebene nördlich des Hügels war stärker besiedelt und entlang des Strandes von Cattolica mit bunt gestreiften und getupften Sonnenschirmen übersäht, unter denen sich Urlauber in modischer Badekleidung auf Liegestühlen räkelten.
Der Vogel überflog die Werkstatt von Gino Tardelli, der vom Traktor bis zum Transistorradio alles in Gang zu setzen wusste, und die Backstube von Signora Tozzi, bei der es immer ein paar Brotkrümel zu stibitzen gab. Dann zog er seinen Kreis enger und erwog, zum Turm zurückzukehren oder zumindest am Brunnen auf dem Platz davor zu landen, um den sich die wichtigsten Gebäude scharten: die Kirche, das Rathaus – auch wenn der Begriff für die Amtsstube des Bürgermeisters ein wenig hoch gegriffen war –, eine Trattoria und der Kramladen. Werbung an der Fassade anzubringen war dem Inhaber untersagt worden, und so trug Signor Iannazzo täglich am Morgen außer dem Zeitungsständer und den Obstkisten auch einige Schilder nach draußen und am Abend wieder hinein. Ein stures und unnötiges Ritual, denn seine Kundschaft kannte das Sortiment ohnehin. Doch er liebte die Botschaften auf Blech, die brillanten Farben und die verschnörkelte Schrift. Ganz besonders sein neuestes Schild mit einer verzückt lächelnden Frau und einem Mottarella-Eis am Stiel. Die Anschaffung der Eistruhe hatte fast genauso viel Wirbel verursacht wie das erste Paar Damenstrümpfe aus Nylon, das er damals im Schaufenster präsentiert hatte. Beides reiner Luxus – und dem Pfarrer ein Dorn im Auge. Und beides nach jeder Lieferung binnen kürzester Zeit ausverkauft.
Die Glocke von San Francesco schlug noch immer. Ihr spröder Ton wehte weit hinaus aufs adriatische Meer, ein wenig schief und zu hell für ein anständiges Geläut. Eine Behelfsglocke, weil die ursprünglich im Turm angebrachte einst gestohlen worden war. Im Krieg oder von Piraten, ganz genau war es nicht überliefert und erinnern konnte sich natürlich niemand mehr, lag der dreiste Raub doch schon lange zurück. So lange, dass es Leute gab, die meinten, er habe nie stattgefunden und das mickrige Glöckchen sei schon immer da gewesen. Eine Frage, über die nicht selten Streit entbrannte, so wie auch über manch anderen Sachverhalt in Pesaro del Monte piccolo Cattolica gern und oft und laut gestritten wurde.
Der kleine Vogel flatterte weiter zum einstigen Kloster am Rand der Steilküste, das den Naturgewalten und dem Salzwasser die Stirn geboten hatte, ehe es zerfiel. Von der Existenz der Mönche zeugten kaum mehr als ein paar Grabsteine im hohen Gras und die Einfriedung des Kräutergartens, in dem seit damals würzig duftende Pflanzen sprossen. In einiger Entfernung, etwas tiefer am Hang, unweit eines malerischen, wenn auch selten genutzten Fußweges zum Strand, ließ sich das Vögelchen im Geäst des ältesten Aprikosenbaumes von Cesare Collina nieder. Ein knorriges Exemplar, das die meiste Zeit des Jahres mehr tot als lebendig aussah.
Auf dem Weg wirbelte zwischen Ginster, wilden Orchideen und Lorbeer Staub empor, begleitet von Lachen und Gesang.
»Komm ein bisschen mit – nach Italien! Komm ein bisschen mit – ans blaue Meer!«
Zwei von Sonnenhüten bedeckte Köpfe kamen in Sicht, gerötete Schultern, an denen Badetaschen baumelten, überragt von einer aufgeblasenen Luftmatratze. Das Kissen am oberen Ende wippte bei jedem Schritt, als wolle es den Sängerinnen zustimmen.
Arglos betrachtete der Vogel den unter ihm gekrümmt auf dem Rücken liegenden Menschen, der in den leuchtend blauen italienischen Himmel starrte. Ein feuchter Schimmer glänzte in seinen Wimpern. Stöhnend bewegte er die Lippen. Aus einem Mundwinkel rann Speichel und bildete Blasen. Zum letzten Schall von San Francesco durchfuhren wellenartige Zuckungen den ausgestreckten Körper, als peitschte jäh ein Sturm übers Meer. Dann wurde es mit einem Mal still, nichts regte sich mehr. Selbst die Luftmatratze hörte auf zu nicken.
Und in die Ruhe hinein plusterte das Vögelchen sein Gefieder und begann zu zwitschern.
Der babyblaue Motorroller wurde langsamer und langsamer, schließlich hielt die Fahrerin an. Sie konnte das hartnäckige Pochen an ihrer Schulter nicht länger ignorieren.
»Was ist denn?«, fragte sie nach hinten gewandt und klopfte ihrerseits auf die Tankanzeige. Das sah gar nicht gut aus.
»Wir haben uns verfahren, gib es zu.«
Ärgerlich schaute Elke die schmale, asphaltierte Straße rauf und runter, die sich in sanften Kurven dahinzog. Leider führte sie tatsächlich schon seit geraumer Zeit nur noch bergauf, obwohl sie doch runter wollten ans Mittelmeer. Außer ihnen war keine Menschenseele zu sehen, und der letzte Wegweiser, an dem sie sich noch sicher gewesen war, lag ein ordentliches Stück zurück. Ausgerechnet Sonja, die Straßenkarten grundsätzlich verkehrt herum hielt und kein Wort Italienisch konnte, musste sie jetzt mit der Nase auf ihren Fehler stoßen: Irgendwo war sie falsch abgebogen. Dabei hätte sie jeden Eid geschworen, dass auf dem Pfeil, dem sie gefolgt war, sowohl Pesaro als auch Cattolica genannt gewesen waren. Und nun krochen sie einen Hügel hoch, und ihrer heißgeliebten Zündapp ging die Luft aus. Der Sprit genau genommen.
»Kann sein«, sagte Elke leichthin und unterdrückte ein Seufzen. Sie schob die Sonnenbrille hoch und kniff die Augen zusammen. »Du, sieh doch mal dort!« Mit ausgestrecktem Arm deutete sie nach vorn. »Da sind Häuser, du Angsthase! Dort, über den Baumwipfeln. Wirst schon sehen, wir sind hier goldrichtig.« Sie setzte die Brille wieder auf die Nase, ließ sich die Zweifel an der eigenen Aussage nicht anmerken und hielt den Atem an, bis der Motor ihrer Bella wieder tuckerte. Den Spritverbrauch bis Cattolica hatte sie genau, aber knapp kalkuliert – ohne unfreiwilligen Abstecher, wie sie vermutlich gerade einen machten.
Sonja schaute immer noch skeptisch drein und war es auch, einen Kommentar sparte sie sich jedoch und schlang ergeben die Arme um ihre Freundin. Es war Elkes Roller, und es war Elkes Idee gewesen, gemeinsam einen Italienurlaub zu machen. Und obwohl es ihr nicht gefiel, Angsthase genannt zu werden, musste sie sich eingestehen, dass sie einer war. Ohne Elke wäre sie weder hier noch anderswo in den Ferien, sie säße bei ihren Eltern, würde im Haus helfen und im Garten und sich schief ansehen lassen, wenn sie nur mal ins Kino wollte. Doch Elke hatte ihr die richtigen Worte in den Mund gelegt, die sie im heimischen Wohnzimmer brav wieder ausgespuckt hatte. Ihrem Vater war die Zigarette aus dem Gesicht gefallen und hätte um ein Haar ein Loch in sein Feinripphemd gebrannt. Eins von den neuen, war ja klar. Das hätte sie ihm dann ersetzen müssen.
Sonja verdiente ihr eigenes Geld – erbärmlich wenig, auch nach der abgeschlossenen Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin – und lieferte davon jeden Monat unaufgefordert ihr Kostgeld ab. Da stand es ihr doch wohl zu, von dem, was sie angespart hatte, ab und zu etwas für sich selbst zu verwenden! Sie war erst dreiundzwanzig, wollte leben, statt ständig an morgen zu denken. Der richtige Mann zum Heiraten würde schon noch kommen. Und einer, der nach der mitgebrachten Aussteuer schielte, konnte ihr sowieso gestohlen bleiben. Sonja wurde es jetzt noch heiß beim Gedanken an das versteinerte Gesicht ihrer Mutter, als sie gewagt hatte, ihre Wünsche auszusprechen. Und bei Elkes erster Berechnung war es ihr sogar regelrecht schwindelig geworden. Doch dann hatte Elke jeden einzelnen Posten geprüft und vor ihren Augen schrumpfen lassen, bis eine auch für Sonja erträgliche Summe übrig geblieben war.
»Wir brauchen kein Reisebüro, keine Zugfahrt, kein feines Hotel. Wer könnte uns besser nach bella Italia tragen als meine gute Bella? Mit ihr kommen wir überallhin: Rom, Venedig, Rimini! Die ganze Adria liegt uns zu Füßen.« Sie hatten im Café gesessen, und alle Köpfe waren herumgefahren, als Elke den Zündapp-Werbespruch durch den Raum schmetterte: »Herr sein – frei sein – erfolgreich sein! Wirst sehen, Sonja, das wird fabelhaft!«
Fabelhaft – so war die Fahrt bisher tatsächlich verlaufen. Am Ende des zweiten Reisetages und, wie sie hoffte, kurz vor dem Ziel, nach weit über tausend Kilometern auf dem Sozius, fühlte Sonja sich allerdings auch fabelhaft erschöpft. Auf sie wirkte die heiße, staubige Landschaft weniger verlockend als erhofft und die fremdartigen Bäume mit einem Mal düster und unheilvoll. Sie passierten ein einzeln stehendes Gehöft, wo ein Kettenhund anschlug und eine schwarze Katze die Straße von links nach rechts kreuzte. Ein Schaudern kroch über Sonjas erhitzte Haut. Hastig schloss sie die Augen und öffnete sie erst wieder, als Elke erneut den Motor drosselte und einen Fuß auf den Boden setzte.
Willkommen in Pesaro del Monte piccolo Cattolica. Das Schild am Ortseingang empfing Besucher gleich in mehreren Sprachen und war offensichtlich brandneu. Einzig ein Loch im letzten »o« des Wörtchens piccolo, das dadurch eher wie ein »a« aussah, störte den guten Eindruck ein wenig.
»Na bitte, willkommen sind wir schon mal.« Langsam steuerte Elke den Roller durch einen mittelalterlichen Torbogen aus mächtigen Steinen und ruckelte über unebenes Pflaster, vorbei an unverputzten Häusern, an denen Eisenbalkone wie Schwalbennester klebten. Blühende Topfpflanzen drängten sich dicht an dicht, und in den Seitengassen überspannten Wäscheleinen in mehreren Etagen übereinander den Durchgang. Als sie den Dorfplatz mit der Kirche erreichten, begann der Roller leicht asthmatisch zu husten, was Elke an ihre kränkelnde Tante erinnerte, der sie eine Postkarte versprochen hatte. Die Tanknadel stand jetzt deutlich jenseits des Minimums. Um die letzten Tropfen Sprit nicht unnötig zu vergeuden, paddelte Elke mit den Schuhspitzen über die Kopfsteine in den Schatten vor einem Barbier-Laden mit heruntergelassenem Gitter.
»Absteigen«, kommandierte sie.
Um den Brunnen rannte eine Schar barfüßiger Kinder, die sich wechselseitig nass spritzten und neugierig herüberguckten. Zwei fremde Frauen mit Moped, dazu noch eine strohblond, das sah man hier wohl nicht alle Tage.
Schnurstracks hielt Elke auf die Kinder zu.
»Was hast du vor? Wir können doch unsere Sachen nicht einfach hier stehen lassen.« Sonja flitzte ihr nach. »Wir sind in Italien!«, wisperte sie aufgeregt. »Mein Vater sagt, die Italiener klauen alles. Einfach alles, wenn man nicht aufpasst.«
»Dann halt mal schön deinen Schlüpfer unterm Rock fest, Sonjalein.« Elke lachte, als ihre Freundin rot wurde, und lief weiter. Wie oft hatten sie in den vergangenen Wochen gemeinsam von einem Urlaubsflirt mit einem heißblütigen Südländer geträumt? Selbstverständlich im Rahmen dessen, was sich gerade eben noch schickte. Die anderen Träume hatte Elke für sich behalten, aber sie hätte darauf gewettet, dass auch Sonja heimlich an mehr als nur Händchenhalten dachte. »Komm schon, war nur Spaß. Ist das nicht herrlich hier? Genauso habe ich es mir vorgestellt. Das ist alles so … malerisch.« Die Kinder, die Sonne und keine einzige Wolke. Fehlte nur noch eins. »Scusi. Wo ist das Meer?« Elke wedelte mit den Armen, während die Kinder sie umringten. »Il mare?«
Sonja blieb einige Schritte zurück, schaute nervös zwischen dem Brunnen und dem Roller hin und her, neben dem sich gerade ein Mann an die Wand lehnte. Seine Hose war einen Tick zu weit, Hosenträger hielten sie oben, das Hemd war leicht zerknittert. Es wirkte lässig, wie er die Schiebermütze am Schild in den Nacken rückte. Er war jung, kaum älter als sie, zwei Jahre vielleicht, so wie Elke. Weiße Zähne, sonnengebräuntes Gesicht, rabenschwarzes Haar. Das erste italienische Lächeln – wenn auch ein schüchternes – traf Sonja wie ein Blitz. Der Himmel wurde blauer, der Blumenduft süßer, und das ganze Dorf versprühte Charme, als habe sich ein Schleier gehoben. Sie blinzelte. So schnell, wie das Gefühl von drohender Gefahr sie beim ersten Anblick der Dächer von Pesaro del Monte piccolo Cattolica überfallen hatte, verflüchtigte es sich auch wieder. Was sollte an diesem wundervollen Ort schon Schlimmes passieren?
Sonja wischte sich eine Strähne hinters Ohr. Egal ob man ihr Haar rehbraun oder brünett nannte, sie fand die Farbe langweilig. Ein wenig neidisch beobachtete sie, wie Elke erst mit den Kindern diskutierte, dann auf den Hübschen zusteuerte und ihn in ein Gespräch verwickelte. Seine weiche tiefe Stimme entschädigte Sonja dafür, dass sie ihn nicht verstand.
»Zum Meer geht es da lang«, verkündete Elke schließlich. »Stell dir vor: Es gibt sogar einen richtigen Strand! Aber er meint, der Weg ist zu schlecht, um mit dem Gepäck auf dem Roller runterzufahren. Wir sollten besser zu Fuß gehen.« Die hinter der Sitzbank festgezurrten Köfferchen waren zum Platzen voll. Gut möglich, dass ein weiteres Schlagloch zu viel für sie sein würde. Grübelnd verzog Elke die Lippen, dann zuckte sie mit den Schultern. »Ach, was soll’s? Ich will trotzdem dort hin. Jetzt sofort. Ich frag ihn, ob er aufpasst.«
Und das machte sie, ehe Sonja Einwand erheben konnte. »Ich verspreche, dass wir nicht lange bleiben werden. Und selbstverständlich bezahle ich Sie dafür.« Auch Elke war nicht entgangen, dass der junge Mann offenbar die Kleider eines anderen auftrug.
»Si, Signorina. Niemand fasst etwas an.«
Dichte Wimpern umrahmten seine schönen Augen, die die meiste Zeit zu Boden gerichtet waren. Nun aber schaute er hoch und legte zur Bekräftigung die Hand aufs Herz. »Das schwöre ich.«
»Mille grazie!« Elke klatschte in die Hände und trieb Sonja zur Eile. »Lass uns loslaufen, bevor er es sich anders überlegt.«
»Mille grazie heißt danke?«, fragte Sonja, nachdem sie einige Meter gegangen waren.
»Vielen Dank«, präzisierte Elke. »Streng genommen sogar: tausend Dank.«
Ehe sie den Platz verließen, drehte Sonja sich noch einmal um. Die Kinder hatten ihr Spiel am Brunnen wieder aufgenommen. Von der Kirche konnte sie nur das Portal und die Turmspitze sehen, den Mittelteil verdeckten in Doppelreihe stehende Platanen. In deren Schatten saßen alte Männer an einer Bocciabahn, und aus der Trattoria an der Ecke drang leise Musik. Der hübsche Bursche lehnte wieder an der Wand neben dem Schaufenster des Barbiers. Die Schiebermütze hatte er abgenommen, wilde Locken fielen ihm in die Stirn. Verwegen sah er aus, wie ein Freibeuter, und natürlich wagte Sonja sich doch nicht, ihm auf Italienisch danke zuzurufen.
Noch war es heller Tag, obgleich die Sonne sich schon zum Horizont neigte und länger werdende Schatten übers Pflaster breitete. Die Straßen, in die sie einbogen, wurden immer kleiner. Im Dunkeln konnte man sich hier sicher schnell verlaufen, denn rechte Winkel schien es nicht zu geben. Elke kamen gerade erste Zweifel an der eingeschlagenen Richtung, als sie in einiger Entfernung ein Schild mit verschnörkelter Schrift ausmachte.
»Dort müssen wir entlang!« Sie hatte sich die Beschreibung genau eingeprägt, der zufolge es gleich hinter dem Ristorante Zaccardo bergab gehen sollte. Von der Gasse aus betrachtet, ähnelte das Haus aus mausgrauem Stein einer abweisenden Trutzburg, doch von vorn wirkte es freundlich und einladend. Die etwas über Straßenniveau liegende Terrasse stützte sich auf einen historischen Mauerrest, der so alt sein musste wie das Tor, durch das sie vorhin ins Dorf gefahren waren. Unmittelbar daneben zweigte der beschriebene Weg nach unten ab, die letzte Häuserreihe lag hinter ihnen und nichts mehr davor, was ihren Blick verstellte.
Ihre Entscheidung fiel so schnell, wie einmal mit dem Kopf zu nicken. Sie fiel genau in der Sekunde, als Sonja und Elke zum allerersten Mal in ihrem Leben das Mittelmeer erblickten. Vom unteren Ende des steil abfallenden Hügels, es mochte hundert Meter in die Tiefe gehen, erstreckte es sich bis zum Horizont. Ein hauchfeiner Strich im Übergang von Blau zu Blau, der Wasser und Himmel trennte. Für einen Moment sprachlos tastete Elke nach Sonjas Hand. Zu ihren Füßen raschelte trockenes Gras, über ihnen schrien Möwen, und auf dem leicht gekräuselten Türkis der Adria dümpelten Boote mit weißen Segeln.
»Wir bleiben hier«, sagte Elke. Leise, aber sehr bestimmt. »Wenigstens für eine Nacht. Wir werden schon was finden, wo wir unterkommen.«
Und Sonja nickte.
Nach den ersten zögernden Schritten, bei denen sie noch überlegten, ob es vernünftig war, was sie taten, und ob sie dem Hübschen mit der Schiebermütze wirklich trauen konnten, flogen sie den Hügel geradezu hinunter. Der wilde Lauf zum Strand dauerte keine zehn Minuten. Übermütig kickten sie die Schuhe von ihren Füßen. Sie schauten weder links noch rechts, rannten durch den Sand, quietschend wie die bambini vom Dorfplatz, und hinein in die kühlen Wellen, die an ihren Zehen und Knöcheln leckten.
Sie waren am Meer, Ziel erreicht!
Sonja wagte sich weiter und weiter vor, bis erst die Knie, dann die halben Oberschenkel und schließlich der Saum ihrer kurzen Hose nass waren. Die Unterströmung des abfließenden Wassers nahm den Sand unter ihren Sohlen mit, vermittelte ihr eine Ahnung der enormen Kraft, die darin steckte. Instinktiv wich sie zurück.
Elke raffte ihr getupftes Kleid bis zur Hüfte, hielt sich aber von Anfang an näher am Ufer. Von der atemberaubenden Landschaft abgesehen, steckten hinter der Entscheidung zu bleiben auch ganz pragmatische Gründe, die sie jedoch vor Sonja verbarg: Es gab keine Tankstelle im Ort, nur eine Werkstatt, wo man ihnen natürlich aushelfen konnte. Doch die öffnete erst am nächsten Morgen wieder. Zwar hatte der Hübsche ihr angeboten, den Besitzer herauszuklingeln, aber das hatte sie abgelehnt, schließlich war es Sonntagabend und ihr der Spritmangel ohnehin mehr als peinlich. Außerdem fand Elke den Gedanken nicht allzu verlockend, bis in die Dunkelheit hinein weiterzufahren – selbst mit vollem Tank –, um erst in Cattolica nach einer Unterkunft zu suchen. Und ohne nachzutanken drohten sie irgendwo auf der Strecke liegen zu bleiben. Nein danke, auf dieses Abenteuer verzichtete sie lieber.
Sie drehte sich im Kreis, um den Strand zu begutachten. Zwei Sonnenschirme, ein eher improvisiert wirkender Schutz aus in den glitzernden Sand gebohrten Ästen und einem darüber gespannten Tuch und alles in allem nur eine Handvoll Leute, die in der Sonne und im Schatten lagen. Unter einem der Schirme heraus wurden sie von einem älteren Herrn in langer Hose beobachtet, der umständlich eine Tageszeitung faltete. An seiner Seite saß eine Frau mit breitkrempigem Sonnenhut. Etwas weiter entfernt, am Ende der lang gestreckten Bucht, baumelten neben einem umgedrehten Ruderboot Fischernetze zum Trocknen über einer Stange.
»Wo sind denn die Buden, die Lokale, das wilde italienische Strandleben?«, rief Elke verblüfft und gleichermaßen enttäuscht. »Hier ist ja gar nichts!«
Eine Männerstimme lachte laut auf, und von einem der Laken erhob sich ein braungebrannter Hüne in Badehose.
»Scusi, Signorina – bitte verzeihen Sie, dass ich gelacht habe«, sagte er auf Deutsch, während er näher kam. Dort, wo sich der feuchte Sand dunkler färbte, blieb er stehen. »Wenn Ihnen jemand versprochen hat, Sie würden das in Pesaro del Monte piccolo Cattolica finden, hat er sich einen dreisten Scherz mit Ihnen erlaubt. Und wenn ich es so sagen darf: Das ist auch ganz gut so.«
Elke zog die Nase kraus. »Ach ja?«
»Verzeihung!« Er lachte wieder, schüttelte abwehrend die Hände und legte dann eine auf sein Herz. »Das war ungeschickt ausgedrückt. Dass hier das wilde Strandleben fehlt, halte ich für gut. Denn sehen Sie, Signorina – Signorinas« – sein Blick glitt zwischen den beiden Frauen hin und her – »die Schönheit dieses Ortes liegt in der jungfräulichen Unberührtheit. Der steilen Klippe sei Dank kommen nur wenige Touristen. So bleibt die Natur ganz Natur.«
»Aha, also sollten wir Ihrer Meinung nach am besten gleich wieder gehen?« Elke ließ das geraffte Kleid los und zeichnete mit einem Finger die Serpentinen nach, die sie gerade erst heruntergekommen waren. »Über die steile Klippe verschwinden?«
Sonja hielt die Luft an. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee zu verschwinden. Ihr war nicht wohl dabei, dass Elke den Fremden so kratzbürstig behandelte. Doch der schien sich darüber zu amüsieren.
»Nein, ganz gewiss nicht!« Sein Schmunzeln reichte von den gekräuselten Lippen über die tiefblauen Augen bis zu den fragenden Falten auf seiner Stirn. »Ich würde es vorziehen, wenn Sie noch ein wenig bleiben, Signorina – Signorinas. Erlauben Sie mir, Ihnen Gesellschaft zu leisten und etwas mehr über diesen Flecken Erde zu erzählen?« Beiläufig tupfte er mit dem Laken ein paar Tropfen von seinem muskulösen Oberkörper.
»Da bin ich aber gespannt.« Elke behielt den ironischen Ton bei. Was konnte es schon über einen Fleck zu erzählen geben, an dem es nichts gab außer Natur? Mit verschränkten Armen wiegte sie sich hin und her. Er war ihr ein bisschen zu alt, vierzig etwa oder sogar leicht drüber, aber trotzdem attraktiv und wirklich gut in Form. »Machen Sie hier Urlaub oder sind Sie ein Einheimischer aus dem Dorf da oben?«
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die Frau mit dem Sonnenhut inzwischen ebenfalls herüberschaute.
»Gott bewahre, nein.« Er lachte. »Weder, noch. Auch wenn es hier schön ist. Meine Heimat ist das Bozener Land, dem nichts auf der Welt gleichkommt. Aber mein Beruf hat mich nach Pesaro del Monte piccolo Cattolica geführt. Ich bin Lehrer, und im Augenblick versuche ich die Sommerferien mit Anstand totzuschlagen. Drei lange Monate bis Mitte September, von denen erst einer vorbei ist.«
»Sie Armer.« Elke schüttelte den Kopf. Drei Monate frei – da wäre ihr Besseres eingefallen, als zu jammern. »Warum sind Sie denn hiergeblieben, statt nach Hause zu fahren?«
»Vorsicht, Elke!«
Die Warnung kam zu spät. Eine hinterhältige Welle klatschte ihr in die Kniekehlen, schwappte hoch bis zu ihrem Hintern. Mit einem kleinen Aufschrei kämpfte sie um Balance.
»Darf ich Ihnen behilflich sein?« Der blauäugige Hüne hielt ihr die ausgestreckte Hand hin. »Genau vor Ihren Füßen liegt ein großer Stein.«
»Danke, aber das schaffe ich schon allein.« Schnippisch reckte Elke das Kinn und stakste demonstrativ ohne seine Hilfe ans Ufer.
»Ich kann Ihnen mein Handtuch anbieten, wenn Sie sich ein wenig abtrocknen möchten.«
Endlich dämmerte es Sonja, was da gerade vor sich ging: Ihre Freundin hatte den ersten Flirt an Land gezogen. Im Grunde wunderte es sie nicht, aber es war noch schneller gegangen als erwartet. Es lag in Elkes Wesen, andere mühelos um den Finger zu wickeln. Allerdings war Sonja sich dieses Mal nicht ganz sicher, wer bei wem angebissen hatte und an der Angel zappelte.
Als der Italiener, der so gar nicht italienisch aussah, auch ihr die Hand reichte, um sie aus den Wellen zu geleiten, griff Sonja zu.
»Kilian Rossi«, stellte er sich vor und hauchte einen Kuss über ihren Handrücken. »Sehr angenehm.«
»Sonja Mauer und Elke Wilk«, antwortete Sonja, wie es sich gehörte. Was für ein Rahmen, um eine so förmliche Bekanntschaft zu machen – ein Mann in Badehose und sie mit feuchten Klamotten, beide mit den Füßen im Mittelmeer. Sie unterdrückte ein Lachen und gönnte sich einen kleinen Augenblick diebischer Freude. Elkes verächtliches Schnauben täuschte sie nicht – deren Ablehnung war keine Frage der Emanzipation, nur reines Kokettieren.
Im zweiten Anlauf nahm Elke das angebotene Handtuch an und trocknete sich die langen Beine, nachdem sie den Rocksaum ausgewrungen hatte. »Danke, Signor Rossi«, sagte sie und drückte ihm das nasse Tuch wieder in die Hand. »Ist das nicht herrlich, Sonja? Ich glaube, ich könnte ewig aufs Meer gucken.«
»Wir sollten trotzdem besser aufbrechen.«
»Wieso so eilig, Signorina Mauer? Sie sind doch gerade mal fünf Minuten hier. Habe ich Sie verärgert? Das täte mir aufrichtig leid.«
»Nein, nein. Wir müssen«, bestätigte Elke widerwillig. Es war vernünftig, sie mussten sich schließlich noch eine Unterkunft suchen, gleichwohl fiel es schwer, sich loszureißen. Dieser erste Strandbesuch war viel zu kurz.
Die Freundinnen streiften den Sand von ihren Füßen und schlüpften in ihre Schuhe.
Rossi fasste sich an die Stirn. »Wie dumm von mir: Sie werden erwartet. Sind Sie mit der Familie im Hotel abgestiegen?«
»Im Gegenteil.« Elke setzte ihm knapp die Lage auseinander, die ihr dabei selbst wieder richtig bewusst wurde. Ihr Lachen schmeckte schal, und insgeheim schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, dass der hilfsbereite Signore mehr als nur ein Handtuch in petto hatte. Sie waren ohne Quartier, müde und hungrig, und all ihre Habseligkeiten – abgesehen vom Schlüssel des Rollers und ihren Papieren – befanden sich in der Obhut eines Fremden. Den konnten sie nicht ewig warten lassen und würden obendrein ein Trinkgeld zahlen müssen, über dessen Höhe sie dummerweise nicht vorher verhandelt hatten.
Signor Rossi ersparte ihnen eine Bemerkung zu ihrer Unvorsichtigkeit. Ihm war bei ihrer Beschreibung sofort klar, wen sie damit betraut hatten, auf den Roller aufzupassen, und er nannte Elke einen Lire-Betrag, den er in diesem Fall für angemessen hielt.
»Betrachten Sie auch Ihr anderes Problem als gelöst.« Kilian Rossi legte sich das Badelaken über die Schultern. »Meine Zimmerwirtin betreibt eine nette, kleine Pension mit einigen Fremdenzimmern. Dort logieren auch die Herrschaften, die da drüben unter dem Sonnenschirm liegen. Deutsche – genau wie Sie. Wenn es recht ist, werde ich Sie begleiten.« Seine Stimmung wurde immer besser. Die vorwitzige Welle, die Signorina Wilk erwischt hatte, hatte ihn zugleich davor bewahrt, auf die Frage nach seinem Zuhause antworten zu müssen. Diesen schönen Tag wollte er sich nicht verderben. Weder mit dem Gedanken, dass er bei seiner Familie unerwünscht war und sich bis auf Weiteres nicht blicken lassen durfte, noch mit dem Warum.
Während Elke auf dem Rückweg von Herzen erleichtert mit Signor Rossi plauderte, strich Sonja mit den Fingern durch blühende Gräser und sparte ihren Atem für den nach zwei Reisetagen doch beschwerlichen Aufstieg zum Dorf. Sie sah Vögel zwischen heidekrautartigen Pflanzen auf Felsen landen und Schmetterlinge, die über sattgelbem Ginster tanzten.
Auf dem Dorfplatz war Ruhe eingekehrt, und die Kinder waren verschwunden. Nur der junge Mann hockte noch brav auf dem Pflaster neben dem Roller und drehte seine Mütze zwischen den Händen. Sonjas Herz schlug einen Takt schneller.
*
Angelehnt an das Terrassengeländer ließ Federica Pellegrini den Rauch ihrer Zigarette entweichen. Ein angenehm warmer Wind streifte ihre nackten Schultern und spielte mit dem dünnen Stoff der ärmellosen Bluse. Unten am Strand strich die frische Meeresbrise durch den aufgeheizten Sand, stieg über die Stufen der felsigen Klippe auf und brachte neben der Wärme die wild-aromatische Note der Sträucher mit. Im Duft dieser besonderen Strömung – den Nuancen von Salz und Tang, Salbei und Thymian – spiegelten sich die Jahreszeiten und das Wetter: das, was war, und das, was kommen würde.
Federica schnippte die Asche ins Gestrüpp vor der Balustrade. Genau diese unvergleichliche Mischung hatte sie nach Matteos Tod zum Bleiben bewogen. Allerdings wäre ein Gärtner nett gewesen, der sich um eine anständige Bepflanzung ihres Grundstücks kümmerte, doch den konnte sie sich nicht leisten, und ihr selbst fehlten sowohl Talent als auch Geduld. Ihre Gäste mussten darüber hinwegsehen. So wie sie es auch tat. Federica richtete den Blick geradeaus. Das Meer entschädigte für vieles, und die Sonne tat ein Übriges, um die Touristen bei Laune zu halten. Vorausgesetzt, sie waren an guter Laune interessiert. Der eine oder andere Gast wäre von einer perfekten Unterkunft womöglich sogar enttäuscht gewesen, weil die seine Vorurteile über den unzivilisierten Süden zerstört hätte. Herr Schneider, der mit seiner Gattin angereist war, schien so einer zu sein. Seinen Vornamen Franz sprach er so hart und zackig aus, dass niemand seine deutsche Herkunft je bezweifelt hätte. Schon das Ausfüllen des Anmeldebogens hatte ihn puterrot und ärgerlich werden lassen. Der Grund erschloss sich Federica nicht, und sie war froh, dass ihr der Inhalt seiner dauernden Tiraden größtenteils erspart blieb. Kaum vorstellbar, dass er am Abend umgänglicher sein würde, wenn die beiden von ihrem Ausflug ans Wasser wiederkämen. Er war im Sonntagsanzug aufgebrochen – mit Jacke – und hatte das Strandgepäck seiner Frau überlassen. Eine zauberhafte und zurückhaltende Person, die vorsichtig einzelne italienische Worte aus ihrem Reiseführer ausprobierte. Außerdem hatte Signora Schneider ein Buch von Ernest Hemingway dabei, allein das nahm Federica schon für sie ein.
Im Großen und Ganzen mochte sie ihre Gäste, auch wenn sie sich die nicht aussuchen konnte. Dazu verschlug es zu wenige Besucher ins verschlafene Pesaro del Monte piccolo Cattolica. Nach dem Willen des Bürgermeisters und seiner Unterstützer sollte sich das bald grundlegend ändern, wogegen sich so selbstverständlich Widerstand erhob, wie jeder Kirchgang mit einem Amen endete. Veränderungen waren nicht jedermanns Sache, und über den richtigen Weg, den Tourismus zu stärken, ließ sich trefflich streiten. Meistens ging es dabei zivilisiert zu und blieb bei mit Verve vorgebrachten Beschimpfungen. Doch Ausnahmen bestätigen die Regel, und manche Faust saß locker in der Tasche.
Federica legte den Kopf in den Nacken. Sie hatte nicht vor, sich öffentlich auf irgendeine Seite zu stellen, das brachte nur Ärger. Ihr Haus lag am Rande des Plateaus, in einiger Distanz außerhalb der alten Mauer des Dorfes. Sehr symbolisch. Matteo war es recht gewesen, als er das Anwesen für wenig Geld erstanden hatte. Als Fremde, noch dazu als Frau, durfte sie sich ohnehin keinen Illusionen hingeben, dass ihre Meinung zählte. Sie lebte erst seit fünf Jahren hier, und es konnte schon ein bis zwei Generationen dauern, bis sämtliche Vorbehalte ausgeräumt waren. In diesem Punkt unterschieden sich die Einwohner der Provinz Marken kein bisschen von den Sizilianern. Nur dass die Marchigiani den Sizilianern mit noch größerer Skepsis gegenüberstanden als all ihren anderen Landsleuten.
Federica hielt das Gesicht in den streichelnden Wind und zog ein weiteres Mal an der bitteren Zigarette, dann konnte sie die kleine Gruppe Menschen nicht länger ignorieren, die der Pension entgegenstrebte. Bestimmt wollten sie zu ihr, denn die vom Dorf kommende Straße endete unmittelbar am Haus. Von hier führte nur ein Fußweg weiter, der knapp unterhalb der Terrasse verlief und sich in einiger Entfernung teilte: links runter, am Aprikosenhain der Collinas vorbei zum Strand, und oben weiter im leichten Bogen nach rechts zur Klosterruine. Ganz vorn erkannte sie einen hochgewachsenen Mann, dessen dichte Haartolle golden schimmerte. Der Widerstand höchstselbst, der sich zum Schutz der Natur gegen die Erweiterung des Tourismus stemmte. Wenn man vom Teufel spricht. Sie seufzte. Ihr Untermieter Kilian Rossi war geeignet, ihre gerade aufgestellten Thesen zu widerlegen: Noch besser als ein Sizilianer taugte so manchem im Dorf ein Südtiroler als Feindbild. Und Rossi tat wenig, um das zu ändern. Als Lehrer nahm er eine Sonderstellung ein, die er durchaus für sich zu nutzen wusste. Sein Beruf verschaffte ihm per se den Status eines Gelehrten, was seinen Worten größeres Gewicht verlieh, obwohl er erst vor wenigen Monaten ins Dorf gekommen war. Wie lange er bleiben würde, stand noch nicht fest, darum wohnte er vorläufig in ihrer Pension. An seiner Seite gingen zwei junge Frauen, die an seinen Lippen hingen. Und hinterher ein armer Tropf, der dazu verdonnert war, einen Motorroller zu schieben.
*
Es lag nicht nur an den Münzen, die die blonde Signorina ihm in die Hand drückte, dass Mimo eingewilligt hatte, an ihrer Stelle den vollgepackten Roller zu schieben. Auch wenn er nicht kapierte, warum er Gino nicht nach Benzin hatte fragen dürfen. Auf der schmalen, unbefestigten Straße außerhalb des Dorfes gingen die anderen voraus, und er folgte. Es machte ihm nichts aus. Was Signor Rossi erzählte, interessierte ihn sowieso nicht die Bohne. Nie. Und jetzt redete der natürlich auch noch die ganze Zeit Deutsch. Mimo betrachtete so lange einfach den leichten Sonnenbrand auf den weißen Waden der schönen Signorina mit den langen, hellbraunen Haaren, die ihn nicht verstand, wenn er Italienisch sprach.
Den Weg zu Signora Pellegrinis Haus kannte er im Schlaf und er musste nicht auf seine Schritte achten. Ein bisschen, fand er, ähnelte die Signorina vor ihm der Madonna auf dem Wandbild in der Kirche. Doch ihr Lächeln war viel netter, wenn sie ihn über die Schulter ansah, was sie häufig machte, und dabei guckte, als müsse sie sich für irgendwas entschuldigen. Mimo wurde es warm bei diesem Lächeln und statt der Waden betrachtete er als Nächstes ihren Popo in der kurzen Hose. Ja, der gefiel ihm auch.
Er zuckte zusammen, als Kilian Rossi sich umwandte und ihn halblaut anzischte: »Hör auf so zu glotzen!«
Mimo biss die Zähne aufeinander und packte die Lenkstange fester. Der konnte ihn mal gernhaben. Gernhaben konnte der ihn! Sein Blick heftete sich an Rossis Hinterkopf.
Und hätte der sich nochmal umgedreht, hätte er gesehen, dass Mimo ihn alles andere als gernhatte.
*
Von der schmalen Straße aus betrachtet glich Federica Pellegrinis Silhouette einem feinen Scherenschnitt und mit dem Haus, dem Himmel und dem ganzen Drum und Dran einer Aufnahme aus einem Reiseprospekt. An den Fenstern der Pension Vento del mare hingen hölzerne, in sattem Grün gestrichene Klappläden. Eine Hauswand war komplett von Kletterpflanzen mit leuchtend rot-orangefarbenen Blüten bedeckt, was einen charmanten Kontrast zu den groben Steinen des Gebäudes ergab. Die Terrasse ermöglichte eine Rundumsicht zum Dorf und dem Meer, dem Abhang zum Strand, wobei Letzterer nicht zu sehen war, sowie auf der anderen Seite zur Ruine, die auf einem noch steileren Felsen thronte.
Kilian Rossi nahm die Begeisterung der deutschen Fräulein mit Genugtuung zur Kenntnis.
»Da wären wir«, sagte er mit großer Geste. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim.«
Federica löste sich von der Balustrade, ließ die Zigarette fallen und trat sie mit einer leichten Drehbewegung aus, während Rossi Mimo anwies, den Roller abzustellen und das Gepäck abzuladen.
»Das können wir doch selbst machen.« Verlegen sah Sonja ihm zu, wie er mit den Spanngurten hantierte und sich an einem scharfkantigen Haken den Arm zerkratzte.
»Nein, nein, lassen Sie ihn nur.« Rossi schüttelte den Kopf. »Dafür haben Sie schließlich bezahlt.«
Einer der Koffer kam ins Rutschen und plumpste unsanft auf den Boden. Ein Spalt klaffte, aus dem geblümter Stoff quoll.
»Perdono«, murmelte Mimo und zuckte zusammen, als Rossi die flache Hand hob.
»Pass doch auf, stupido!«
Sonja bückte sich schnell. Das fehlte noch, dass sich ihre Wäsche vor allen Leuten verteilte! Sie presste ein Knie auf den Deckel, und Mimo ließ das aufgesprungene Schloss wieder einrasten. Seine Fingernägel hatten schmutzige Ränder, ihre einen frischen, roten Lack. Gemeinsam richteten sie sich auf.
»Nichts passiert«, sagte sie. »Mille grazie. Danke.«
»Danke?« Mimo wiederholte das ungewohnte deutsche Wort gleich mehrmals. »Danke. Danke!«
Federica begrüßte Kilian Rossi mit verhaltener Freundlichkeit. Es gefiel ihr nicht, dass er mit Mimo so ruppig umging. »Sie kommen genau richtig, das Abendessen ist bald fertig.« Im Ofen buk eine Lasagne, die sie am Nachmittag vorbereitet hatte. Frühstück und Abendessen für alle im Haus anzubieten, gehörte zu den ungeliebten Aufgaben, die ihre Pension mit sich brachte. Früher hatte Matteo gekocht.
Kilian Rossi war wortgewandt und gebildet und meistens ein angenehmer Gesprächspartner. Seine dauernde Anwesenheit hatte jedoch auch ihre Schattenseiten. Genau wie sein übergroßes Ego. Er hatte sich ausbedungen, den Service der regelmäßigen Mahlzeiten nutzen zu dürfen, und machte häufig davon Gebrauch. Ein Esser mehr bedeutete zusätzliche Einnahmen, und die kamen Federica sehr gelegen.
»Signora Pellegrini, darf ich Sie mit Fräulein Wilk und Fräulein Mauer bekannt machen? Diese bezaubernden Wesen brauchen eine Herberge für die Nacht. Wir haben doch noch Platz, oder?«
Im Ausschnitt seines nur halb zugeknöpften Hemdes kräuselte sich blondes Brusthaar. Das nasse Badetuch über der Schulter, ergänzt durch Badehose und Segeltuchschuhe, trug er mit der gleichen nonchalanten Selbstverständlichkeit, mit der er zwischen den Sprachen wechselte.
»Ich«, korrigierte Federica sanft. »Ich habe noch Zimmer frei, in meiner Pension.« Sie musterte die erhitzten und übermüdeten Gesichter der beiden jungen Frauen. Ein Magen knurrte laut. Sie lächelte. »Und ich habe reichlich gekocht. Sagen Sie ihnen das auch, Signor Rossi. Das Essen ist im Preis mit drin. Brauchen die Damen ein Zimmer oder zwei?«
»Eins, bitte.«
»Oh!« Überrascht hob Federica die Augenbrauen. »Sie sprechen Italienisch, Signorina Wilk? Wie nett.« Federica überging das nächste Magenknurren des blonden Fräuleins, das sich eine Hand auf den Bauch presste, um das peinliche Geräusch zu unterbinden. »Dann brauchen Sie ja gar keinen Dolmetscher, der an Ihrer Stelle spricht«, fügte sie hinzu, aber Rossi schien den kleinen Seitenhieb nicht zu bemerken.
»Sie haben es wunderschön hier, Signora Pellegrini. Und dieser Duft!« Elke atmete tief ein. In den Schwaden aus der Küche lag das Aroma von gebackenem Käse und reifen Tomaten. Sie wandte sich ihrer Freundin zu. »Einfach fabelhaft, das alles. Nicht wahr, Sonja?«
»Va bene.« Federica nickte. »Dann zeige ich Ihnen jetzt das Zimmer, oben unterm Dach. Und wenn Sie ausgepackt und alle sich ein bisschen frisch gemacht haben, wird gegessen.« Gemeinsam an einer großen Tafel, als wären sie eine Familie. Es war Matteos Idee gewesen, seine Definition von Gastfreundschaft, die sie beibehalten hatte. Dieser Abend versprach eine angenehmere Atmosphäre als der gestrige, an dem sie mit den Eheleuten Schneider allein gewesen war. Samstagabends ging Signor Rossi gern aus.
»Es ist genug für alle da«, betonte sie und lächelte Mimo zu. Dann deutete Federica auf das Gepäck. »Brauchen Sie Hilfe beim Tragen?«
Mimo packte links und rechts einen Koffergriff.
»Danke, das ist nicht nötig.« Elke schüttelte den Kopf. Wer auf einem Roller bis nach Italien fuhr, der schaffte es auch mit einem kleinen Köfferchen bis in den zweiten Stock. Andererseits wäre es schon nett gewesen. Sie biss sich auf die Zunge – ihre Arme fühlten sich lahm an und der Nacken verspannt –, aber sie wollte sich keine Blöße geben.
»Hast du nicht gehört, Mimo?« Rossi schnippte mit den Fingern vor dessen Gesicht. »Stell das wieder hin. Sie will nicht, dass du ihre Sachen anfasst«, fügte er leiser hinzu und nahm ihm die Koffer ab. »Wir brauchen dich nicht mehr.« Mit einer herrischen Kopfbewegung bedeutete er Mimo zu verschwinden. »Na, wird’s bald?«
Mimos Hände ballten sich zu Fäusten, die Nase bebte.
»Nicht doch, ganz ruhig.« Beschwichtigend senkte Federica die Stimme. »Warte, Mimo. Du kannst gern bleiben.«
Er schüttelte den Kopf, machte einen Schritt rückwärts, einen zweiten, blieb unschlüssig stehen und nahm die Mütze runter. »Ciao«, sagte er zu der netten Signorina. »Danke, Froilain.« Dann drehte er sich um und rannte.
Zufrieden hob Rossi die Koffer an, als hätten sie kein Gewicht. Seine Muskeln spannten sich. »Dann wollen wir mal. Ich erledige das schnell für Sie, Signorinas. Das ist doch selbstverständlich. Ich habe mächtig Appetit, und so wie es riecht, scheint mir die Lasagne langsam aus dem Ofen zu müssen, Signora Pellegrini.«
Federica zwang sich zur Freundlichkeit. »Gleich, Signor Rossi. Gleich.« Sie packte seinen Arm und schob ihn mitsamt den Koffern außer Hörweite der Frauen. »Ich würde es bevorzugen, wenn Sie es mir überlassen, wen ich an meinen Tisch einlade!«
»Er ist ein … Sie wissen, was er ist«, zischte Rossi zurück und rollte die Augen, weil er keine Hand zum Gestikulieren frei hatte. Er hielt Mimo für unberechenbar, latent aggressiv und dumm – sein Äußeres täuschte. »Und Sie beherbergen jetzt zwei alleinreisende junge Damen. Wollen Sie riskieren, dass es zu einem Zwischenfall kommt?«
Natürlich wollte Federica das nicht. Doch sie sah auch keinerlei Veranlassung, etwas Derartiges zu befürchten. Mimo war ein guter Kerl, ein wirklich lieber Junge, dem das Schicksal übel mitgespielt hatte. Seufzend schaute sie ihm hinterher, wie er mit langen Schritten in Richtung Dorf davonjagte, als sei eine Meute Hunde auf seinen Fersen.
*
Der Abend in der Pension Vento del mare verlief tatsächlich weitgehend harmonisch. Federica konzentrierte sich auf ihre Rolle als Gastgeberin, trug Essen und Getränke auf und überließ ansonsten Kilian Rossi das Feld. Trotz ihrer kleinen Unstimmigkeit zuvor. Sein Vorrat an Plauderthemen erwies sich einmal mehr als unerschöpflich, genau wie sein Charme und seine Komplimente, die er großzügig verteilte. Federica musste seine Worte nicht verstehen, um das zu bemerken. Ihre Sprachkenntnisse beschränkten sich auf das Allernotwendigste, das mit den Gästen zu klären war. Ein paar englische Halbsätze, nur wenig mehr Französisch und ein holpriger Wortschatz in Deutsch, den anzuwenden sie sich scheute. Vieles davon hatte erst Kilian Rossi ihr beigebracht. Alle am Tisch schienen das Gespräch zu genießen – ausgenommen Herr Schneider vielleicht. Aber der war wohl grundsätzlich kein Typ, der etwas vom Genießen verstand.
Federica hätte sich also zurücklehnen und ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen widmen können, aber es wollte ihr nicht gelingen. Warum, konnte sie sich nicht erklären. Und so beobachtete sie weiter die zusammengewürfelte Tischgesellschaft und nippte an ihrem Rotwein.
In aufgeräumter Stimmung fuhr Kilian Rossi am Montagmorgen die kurze Strecke ins Dorf. Die Sommerferien entwickelten sich plötzlich in überraschend angenehmer Weise. Ohne Herrn Schneider wäre er in der Pension sogar alleiniger Hahn im Korb gewesen. Wobei er sich nicht beklagen wollte: Schneider konnte ihm nicht das Wasser reichen. Er war guter Dinge, dass sämtliche Damen im Haus diese Einschätzung teilten. Seiner guten Laune verdankte es Signora Pellegrini, dass er sich spontan angeboten hatte, für sie eine Besorgung zu erledigen. Kleine Gefälligkeiten zahlten sich aus, das war nur eine Frage der Zeit.
Vor dem Dorfladen hob er seine Lambretta auf den Ständer und hängte die gefaltete Sonnenbrille in seinen Ausschnitt. Beim Eintreten schlug ihm eine vielfältige Geruchswolke entgegen, dominiert von Käse – würziger Pecorino marchigiano und Caprino, dem man die Herkunft aus dem Ziegenstall deutlich anmerkte – und dazu das reichlich aufgetragene Rasierwasser von Angelo Iannazzo.
Der Inhaber machte sich hinter dem Tresen zu schaffen und nahm keine Notiz von Kilian Rossi.
Rossi verrenkte sich den Hals. »Was tun Sie da?«
»Vorbereitung für die Gemeindeversammlung am Donnerstag.« Iannazzo drehte ihm ein auf einen Holzrahmen genageltes Plakat zu. »Daraus wird unsere Werbekampagne. Ob’s Ihnen passt oder nicht.«
Iannazzo besaß Talent, wie Rossi anerkennen musste. Nur stellte er es in den Dienst der falschen Sache.
»›Campen in idealster Lage fürs Meer‹«, las er laut. »Das ist sowohl sachlich als auch grammatikalisch verkehrt, mein lieber Iannazzo«, fügte er süffisant hinzu. Für das Meer war es besser, wenn keiner zum Campen kam, und ein gesteigerter Superlativ einfach lächerlich. »Wenn Sie damit Gäste ins Dorf locken wollen, sind Sie zum Scheitern verurteilt. Da hätten Sie Ihren Sohn Giuseppe fragen können. Sogar der hätte gewusst … Ach nein, ich will ehrlich sein, bei manchen ist wirklich alle Mühe vergebens. Der jüngere, Luigi, da sehe ich noch Chancen, vorausgesetzt, er erfährt eine klare Führung. Motivation durch liebevolle Strenge.«
Das Leben verteilte keine Bonbons, es galt, sich beizeiten abzuhärten, um vorbereitet zu sein. Jedes Dorf hatte seinen Trottel, den es durchschleppte, aber einer war genug, und dieser Platz war in Pesaro del Monte piccolo Cattolica schon besetzt. Harte Worte, doch er meinte es gut. Die Evolution kannte keine Gnade mit den Schwachen. Es ging darum, die Zukunft des Dorfes in eine sinnvolle Bahn zu lenken, indem er die Pläne der Gegner torpedierte. Vielleicht auch um seine eigene Zukunft, wenn alles schiefging und er länger dableiben musste. Noch war keine Entscheidung gefallen, und er sah sich bildlich als Zugvogel auf der Durchreise. Die Suche nach einem neuen Nistplatz in den steilen Felsen war nur sein ungeliebter Plan B.
Leider konnten diese einfachen Geister weder begreifen, dass er im Interesse der Kinder handelte, noch welchen Schatz ihnen Mutter Natur mit ihrem kleinen, abgeschiedenen Hügel anvertraut hatte. Der sanfte Hang auf der Landseite, die Klippen am Meer – eine solche Oase für Flora und Fauna war an der Adria eine Seltenheit. Ein schmaler, gerade mal zehn Kilometer langer Küstenstreifen erstreckte sich um den Monte San Bartolo, dem man bislang rücksichtslos mit der Axt zu Leibe gerückt war und dabei uralte Pinienbestände vernichtet hatte. Darin eingebettet lag dieses Dorf der Ahnungslosen. Es galt zu retten, was zu retten war. Doch ein Campingplatz, wie sie ihn zu bauen gedachten, erforderte eine Zufahrt von immenser Breite, schlug eine Schneise in die schöne Landschaft. Um darin einen nicht wiedergutzumachenden Fehler zu erkennen, genügte gesunder Menschenverstand, doch an dem mangelte es hier. Seine Liebe zur Natur ließ ihm keine Wahl, als gegen die Pläne Sturm zu laufen.
Kilian tippte auf die Stelle des Plakats, wo gelbe Ginsterbüsche blühten und Möwen kreisten. »Wie lange noch, wenn ihr Horden von Touristen anlockt?«
Pesaro del Monte piccolo Cattolica war nicht Rimini, und die empfindliche Tier- und Pflanzenwelt der Klippe musste anders behandelt werden als ein öder Sandstrand.
»Was wollen Sie, Signor Rossi? Niemand wird in den Felsen klettern – das tun nur Sie. Und unsere dummen Kinder werden es uns danken, wenn wir für Arbeit sorgen. Denn die Büsche und den Stein, die können wir nicht essen. Nur die Vögel, aber das gefällt Ihnen ja auch nicht. Wenn wir nichts tun, dann gehen die Jungen weg – viele sind schon fort –, und es wird bald niemand mehr hier sein. Auch niemand, den Sie unterrichten können.«
»Ein Dutzend Eier hätte ich gern«, sagte Rossi. Er zählte den Lire-Betrag passend ab, während Iannazzo diese einpackte, und verbiss sich eine Entgegnung. Irgendwo gab es immer eine Schule, die einen Lehrer brauchte, und er setzte alle Hebel in Bewegung, damit die nächste wieder näher an der Heimat liegen würde. Es war der Vorteil des Wanderfalken, frei zu sein und weiterfliegen zu können – genau wie die Touristen.
»Was ihr plant, zerstört sich selbst die Grundlage. Wieso wollt ihr das nicht begreifen?«, platzte es aus Kilian nun doch noch einmal heraus, und er klopfte sich an die Stirn. »Eure Kinder werden fremd sein im eigenen Dorf, ein Fotomotiv, Lakaien und Bettler. Va bene, wenn ihr das so haben wollt? Nur zu, baut neu-neu-neu, weg mit dem Alten. Die Touristen werden alles verändern. Und wenn sie sich satt gesehen haben, ziehen sie weiter, und was bleibt dann? Straßen, auf denen keiner fährt, abgeholzte Bäume, in denen kein Vogel singt – und dumme Kinder.« Alles dem schnellen Geld geopfert. Er richtete den Zeigefinger auf das Plakat. »Donnerstagabend? Ich werde da sein.«
»Nicht nötig«, knurrte Angelo Iannazzo und fluchte dann hinter Rossi her: »Vaffanculo!« Er scherte sich nicht darum, ob der die derbe Beleidigung noch hörte. Dieser Wichtigtuer hatte dem Bürgermeister persönlich damit gedroht, übergeordnete staatliche Behörden einzuschalten. Zum Schutz des Grundwassers, damit der Dorfbrunnen nicht trockenfiele, wenn der Campingplatz und einige neue Gebäude verwirklicht würden. Obendrein hatte er ein Szenario aus Abfallbergen heraufbeschworen. Und einige der Frauen hörten ihm sehr aufmerksam zu. Auch Signora Iannazzo. Weil Rossi studiert hatte. Und weil er die Kinder ins Spiel brachte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Männer vor ihnen kapitulierten.
»Giuseppe?« Vorm Eingang pfiff er zwischen den Zähnen, und der Kopf seines Ältesten hob sich aus dem Knäuel der unter den Platanen hockenden Murmelspieler.
»Fällt dir etwas auf?«, fragte er, als der Junge angerannt kam, und zeigte ihm das Plakat. »Ist da irgendwo ein Fehler?«
Giuseppe zog die sommersprossige Nase kraus, seine Zunge fuhr angestrengt über die Lippen, dann tippte er auf einen Buchstaben, Unsicherheit in den Augen. »Da vielleicht?«
Angelo strubbelte seinem Sohn durch die Haare und klemmte sich das Plakat unter den Arm. »Das ist jetzt dein Laden«, sagte er knapp. »Pass drauf auf. Bin gleich zurück.«
Ein Kind, was wusste schon ein Kind? Er würde den Bürgermeister fragen. Dem würde er glauben. Diesem Rossi war nicht zu trauen.
*
Vorsichtig befühlte sie die kleinen, runden Früchte, die auf Tüchern ausgebreitet in der Sonne lagen. Wie immer dauerte ihr die Trocknungszeit zu lange, ließ sich mit den einfachen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, aber nicht weiter beschleunigen. Ihr Vater hatte auf dem flachen Dach des Hauses ein Gestell gebaut, mit zwei Gittern übereinander, durch das die Luft ungehindert hindurchströmen konnte.
»Du kannst die Aprikosen nicht trocken gucken, Carmela«, neckte er sie oft. »Auch wenn du ihnen dreimal am Tag sagst, sie sollen sich beeilen, werden sie es nicht tun.«
Dabei war Cesare Collina kein bisschen anders als seine Tochter: Wenn es um ihre Aprikosen ging, entschied immer nur das Herz, und der Verstand machte Pause.
Jede neue Ernte war ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Wie hoch war der Ertrag, wie die Qualität? Was sie durch den Anbau einnahmen, reichte für ein kleines Zubrot, nicht zum Leben, und das würde sich auch niemals ändern. Doch die Bäume ihrer Familie waren etwas ganz Besonderes. Ein Schatz, den sie hüteten. Ein Geschenk der Natur, dem Carmela sich würdig erweisen wollte. Ein Geschenk verschwendete man nicht. Sie würde alles verwerten und alle Möglichkeiten ausprobieren. Marmelade, Likör, Gebäck. Zu experimentieren machte ihr Freude. In der Mischung lag das Geheimnis, wie bei so vielen Dingen.
Carmela rückte einen Schemel an den Holztisch in der geschützten Nische und setzte ihre unterbrochene Arbeit fort. Mit einem scharfen Messer schlitzte sie jene Früchte auf, die die erste Phase schon durchlaufen hatten, löste die Steine heraus, warf das Fleisch in separate Schüsseln. Der warme, mediterrane Wind und die Spur von Salz darin verliehen den süßen Früchten ein ganz eigenes Aroma. Und wie durch ein Wunder wurden immer gerade so viele Früchte gleichzeitig erntereif, dass sie die Menge bewältigen konnte.
Leise summte sie ein altes Kinderlied.
Morgen würde sie ihrer Tante einen Topf frisch gekochter Marmelade und einige der ersten fertig gedörrten Früchte in die Backstube mitbringen. Dann gesellten sich zu den wunderbaren lockeren Mandorlini und Amaretti morbi noch knusprige Cantuccini der besonderen Art. Und vielleicht – vielleicht – ein Blech mit Occhi di angeli. Das ganze Dorf war verrückt nach Süßigkeiten. Vor allem nach ihren.
Carmela lächelte. Völlerei war eine Sünde. Doch was sollte falsch daran sein, wenn sie mit den kleinen Köstlichkeiten alle glücklich machte? Wenn sie ihnen an einem gewöhnlichen Tag einen himmlischen Moment der süßen Seligkeit schenkte? Sie seufzte. Nur gut, dass niemand ihre Gedanken hören konnte. Eilig schlug sie ein Kreuz und leistete Abbitte: Auch Eitelkeit war eine Todsünde. Sie arbeitete schneller. Für die Ernte, die auf dem Gestell trocknete, hatte sie am Sonntag den Kirchgang ausgelassen. Der liebe Gott würde ihr beides hoffentlich nachsehen. Wer, wenn nicht er, hatte ihr die Idee für die Occhi di angeli – die Engelsaugen – eingegeben? Ihr Messer rutschte ab. Ein beißender Schmerz. Erschrocken betrachtete sie die Frucht und den Schnitt in ihrer Hand, aus dem hellrote Tropfen perlten. Sie ließ die Aprikose fallen. Ein kleines, besonders hartes Exemplar, das vom ältesten der Bäume stammte. Es kullerte neben der Schüssel auf ihren Schoß. Blut rann darüber. Carmela legte die Lippen an die Wunde, schmeckte süß und bitter zugleich, und den sauren Saft, der darin brannte. Und sie verstand. Den Baum, dem sie alles verdankte, durfte sie nicht verärgern.
Sie würde mehr als eine Kerze opfern müssen.
*
Im Schatten vor der Trattoria am Dorfplatz schlürfte Angelo Iannazzo einen Espresso. Seine Frau hütete heute den Laden, während er sich um Wichtigeres kümmerte. Von einer Seite schaute ihm Davide Tardelli über die Schulter, ein cleverer Bursche, der extra auf einen Sprung vorbeigekommen war, um ihm zu helfen. Auf der anderen Seite stützte sich Mimo auf seinen Reisigbesen. Das Werbeplakat lag vor ihnen auf dem Tisch. Seit Kilian Rossis gestriger Kritik zermarterte Angelo sich das Gehirn, um einen neuen Werbespruch zu finden, aber es fiel ihm keiner ein.
Davide brannte geradezu für das Projekt, mit dem der Tourismus angeschoben werden sollte. Feuer und Flamme war er, damit sich im Dorf endlich was bewegte. Er war mit Mimo zur Schule gegangen, der aber nur unregelmäßig anwesend war. Davide hatte gern gelernt und immer schon mehr gewollt. Auf die Fachschule in der Stadt oder besser noch aufs Gymnasium. Aber das war teuer, denn man brauchte eine Busfahrkarte. Pesaro war weit und Cattolica nicht zuständig, darum war auch für ihn mit vierzehn Schluss gewesen. Jetzt war er fünfundzwanzig und verdiente sein Geld damit, in der Werkstatt seines Vaters an Autos zu schrauben. Eine gute Arbeit. Doch für die eigenen Kinder, das hatte er sich geschworen, würde er alles möglich machen, was die sich wünschten. Sein bisher einziger Sohn konnte noch nicht mal laufen. Aber wenn er sich vorstellte, dass der eines Tages von Kilian Rossi unterrichtet werden sollte, dann kam ihm die Galle hoch. Wie sollte der Kindern etwas Vernünftiges beibringen? Ein Kerl, der über seltene Vögel ins Schwärmen geriet, von Schutzmaßnahmen in der Brutzeit faselte und um ein Haar einen Jungen verprügelt hätte, weil er ein Nest plündern wollte. Aus Hunger, um die Eier zu essen. Mimo war dazwischengegangen, und niemand außer ihm und ihrem Kumpel Enzo hatte von dem Vorfall erfahren. Da konnte er klug sein, wie er wollte, der Herr Lehrer – ein mieser Charakter blieb ein mieser Charakter. Rossi besaß keine Achtung vor einfachen Menschen und hatte offenbar auch keine Ahnung, wie es sich anfühlte, mit wenig Geld eine Familie über die Runden bringen zu müssen.
Mimo dagegen hatte ein gutes Herz. Schon als Zehnjähriger war er – ob er wollte oder nicht – von seinem Vater mit rausgenommen worden, wenn der auf dem Kutter Hilfe brauchte. So war das eben, Schule hin oder her. Bis Mimo um ein Haar beim Tauchen ertrunken wäre. Davide schauderte heute noch, wenn er dran dachte, wie sein Freund am Strand gelegen hatte. Als wolle er nie wieder die Augen öffnen. Seitdem blieb er an Land. Mimos Mutter war darüber schwermütig geworden, vielleicht auch verrückt. Sogar die alte Befana, die sich auf Heilkräuter, Salben und Beschwörungen verstand, hatte nicht helfen können. Eines Nachts war Mimos Mutter dann verschwunden. Weg, ohne ein Wort. Sein jüngerer Bruder fing noch immer Fische, und ihr Vater war als Fremdarbeiter nach Deutschland gegangen. Mimo schlug sich irgendwie durch. Er redete wenig und brauchte nicht viel.
Angelo wischte mit dem Finger Zucker vom Grund der Tasse auf. »Heute ist Dienstag, nur noch zwei Tage bis zur Gemeindeversammlung. Wie steh ich denn da ohne einen Text?«
»Mach du einen Vorschlag.« Davide stupste Mimo an, der nicht ganz bei der Sache zu sein schien. »Träumst du?«
Mimo schüttelte den Kopf, und Davide ließ den Blick über den Platz schweifen, wo gerade ein Roller mit zwei jungen Frauen vorfuhr. Das mussten die neuen Gäste aus Signora Pellegrinis Pension sein. Er grinste. Mimo bewies Geschmack, die waren alle beide hübsch anzusehen.
»Pesaro del Monte piccolo Cattolica«, sagte der jetzt. »Das ist viel zu lang. Pe-mo-ca wäre besser. Von allem ein bisschen. Pe wie Pesaro, Mo wie Monte …«
»Ja!« Davide schlug Mimo auf die Schulter. »Das finde ich gut. Also, nicht Pe-mo-ca, aber: Von allem ein bisschen. Und wir machen daraus: Von allem das Beste! Wir haben das Meer und die Klippe, und ein Rollertaxi wird beides verbinden, damit bringen wir die Leute ganz bequem vom Dorf zum Strand.«
Angelo kratzte sich den Schädel und sortierte im Geiste Buchstaben aufs Papier. Mimo dagegen hörte nicht mehr zu. Er hatte nur Augen für Fräulein Sonja, die sich am Brunnen mit kaltem Wasser erfrischte und ihm zuwinkte. Ihr Lächeln fuhr ihm in den Magen. Er vergaß den schmutzigen Besen, die Zeit und die Arbeit, die er tun sollte – und bewegte sich erst wieder, als die beiden Freundinnen wieder fort waren.
*
Franz Schneider rutschte auf dem Stuhl hin und her. Die vordere Kante der geflochtenen Sitzfläche presste sich in seine Oberschenkel, die Rückenlehne drückte ihm ins Kreuz.
»Was hast du denn?«
Auf die mitfühlende Frage seiner Frau antwortete er mit einem Schnauben und rutschte weiter. Unglaublich, wie lange sie gebraucht hatte, um sein Unwohlsein zu bemerken. Franz schob seinen Teller von sich und trank mit Todesverachtung einen großen Schluck Rotwein. »Ein Königreich für ein kühles deutsches Bier.«
Anneliese fasste seine Hand. »Gefällt es dir hier denn gar nicht?« Es war Franz’ Entscheidung gewesen, an ihrem Hochzeitstag nicht in der Pension, sondern im Ristorante Zaccardo zu Abend zu essen. Sie hatte zwei Gänge ausgesucht und er den Wein bestellt. »Ich finde es ganz wunderbar.« Jedes Detail bereitete ihr Freude: die mit weißen Tischtüchern und Kerzen hergerichteten Tische unter der Pergola, die leuchtenden Blumen in den Tonkübeln, die aufregend fremden Speisen. Gegrillter Fisch, Muscheln und lange Nudeln, die zugegebenermaßen schwierig zu bändigen waren. »Das ist genau so, wie ich es mir gewünscht habe.«
Ein Mann wanderte singend zwischen den Tischen hindurch und spielte dazu auf einem kleinen, dickbauchigen Instrument romantische Lieder.
»Der soll bloß verschwinden mit seiner jaulenden Schrumpfgitarre! Weißt du, warum er das macht? Damit wir ihm nachher was zustecken. Glaub nur nicht, der zwinkert dir zu, weil er dir schöne Augen machen will. Geld, das ist es. Den Italienern geht es immer nur darum, uns das Geld aus der Tasche zu ziehen. Wirst schon sehen, dass der nachher seinen albernen Hut abnimmt und ihn zum Sammeln herumreicht wie der Pfarrer seinen Klingelbeutel.«
Anneliese seufzte. Sie mochte den Klang der Mandoline und die weiche Stimme des jungen Italieners.
»Wie der schon aussieht! Ist hier Fasching, oder was? So ein albernes Kostüm.«
Der Musiker trug das quergestreifte Oberteil eines venezianischen Gondoliere und den dazu passenden Strohhut mit Schleife, was angesichts der Entfernung zur Lagunenstadt vielleicht nicht hundertprozentig passend sein mochte, aber dennoch landestypisch war. Anneliese ersparte es sich, ihren Mann darauf hinzuweisen, der dem Kellner einen skeptischen Blick zuwarf, als dieser an den Tisch trat.
»Was will der denn schon wieder? Frag ihn, Anneliese, du trägst doch die ganze Zeit dein schlaues Wörterbuch mit dir herum.« Es fuchste Franz außerordentlich, dass er es nicht fertig brachte, sich auch nur ein einziges italienisches Wort einzuprägen, das über si, no, per favore und grazie hinausging. Nicht dass er die je verwendet hätte. Auch jetzt hörte er nicht wirklich hin, während seine Frau sich abmühte, den Kellner zu verstehen.
»Möchtest du noch einen Nachtisch, Franz? Ich würde ja schon … Aber nur, wenn du auch noch etwas nimmst.«
»Bestimmt ist das viel zu süß und zu fett.« Franz zupfte an seinem eng sitzenden Hosenbund und warf dem verirrten Gondoliere einen bösen Blick zu, der gerade geschmeidig auf den Sockel einer weinumrankten Säule sprang, an der er sich mit einer Hand festhielt und verneigte. Dieser Kerl vereinte alles, was Franz diesem Land und diesem Urlaub ankreidete, dem er nur seiner Frau zuliebe zugestimmt hatte. Damit Ruhe war – nur deshalb war er über die Alpen und bis an die Adria in dieses gottverlassene Nest gefahren! Gut, er fuhr gern Auto und hatte auf diesem kleinen Dorf und der einfachen Pension bestanden, statt ihrem Wunsch, nach Rimini oder wenigstens in die Nähe von Rom oder Venedig zu fahren, nachzukommen. Es reichte, wenn sie Tagesausflüge dorthin machten, wo alles nochmal extra überteuert war, um die Touristen zu schröpfen. Dieser kleine Ort mit dem unaussprechlich langen Namen war preiswert und ein bisschen langweilig, was Anneliese die Flausen übers Fernweh schon austreiben würde. Außerdem gab es hier nicht reihenweise halbnackte südländische Gigolos am Strand, mit denen er sich weder messen konnte noch wollte. Nur Kilian Rossi, diesen verdammten Tunichtgut, der sich wohl einbildete, er könne alle Frauen haben, und seine Anneliese dauernd in Gespräche verwickelte, als sei er – Franz – gar nicht anwesend!
