After Dark - Jayne Cowie - E-Book

After Dark E-Book

Jayne Cowie

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Beschreibung

Wie sicher können wir uns fühlen?

Seit die Bewegungsfreiheit von Männern gesetzlich stark eingeschränkt wird, können Frauen sich endlich sicher fühlen.

Trotzdem hat Sarah Angst, als ihr Mann aus dem Gefängnis entlassen wird. Denn sie ist der Grund, aus dem er verhaftet wurde. Und er ist wütend auf sie.

Die siebzehnjährige Cass hält die Vorsicht, die ihre Mutter Sarah Männern gegenüber walten lässt, für übertrieben. Sie ist in einer für Frauen unbeschwerten Zeit aufgewachsen und freut sich darauf, dass ihr Vater aus dem Gefängnis freikommt. So gefährlich, wie Sarah behauptet, ist er nicht. Oder doch?

Helens größter Wunsch ist es, ein Kind zu bekommen. Daher zieht sie schneller mit ihrem Freund zusammen, als ihr Bauchgefühl es ihr rät. Es wird schon gut werden. Immerhin liebt sie ihn.

Eine dieser drei Frauen wird sterben. Durch die Hand eines Mannes.

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Seitenzahl: 434

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Seit die Bewegungsfreiheit von Männern gesetzlich stark eingeschränkt wird, können Frauen sich endlich sicher fühlen. Trotzdem hat Sarah Angst, als ihr Mann aus dem Gefängnis entlassen wird. Denn sie ist der Grund, aus dem er verhaftet wurde. Und er ist wütend auf sie.

Die siebzehnjährige Cass hält die Vorsicht, die ihre Mutter Sarah Männern gegenüber walten lässt, für übertrieben. Sie ist in einer für Frauen unbeschwerten Zeit aufgewachsen und freut sich darauf, dass ihr Vater aus dem Gefängnis freikommt. So gefährlich, wie Sarah behauptet, ist er nicht. Oder doch?

Helens größter Wunsch ist es, ein Kind zu bekommen. Daher zieht sie schneller mit ihrem Freund zusammen, als ihr Bauchgefühl es ihr rät. Es wird schon gut werden. Immerhin liebt sie ihn.

Eine dieser drei Frauen wird sterben. Durch die Hand eines Mannes?

Die Autorin

Jayne Cowie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo sie viel Zeit in ihrem geliebten Garten verbringt. Schon immer war sie ein Bücherwurm und kritzelte ihre Ideen für neue Geschichten auf alles, was nicht niet- und nagelfest war. »After Dark« ist ihr Debüt.

Jayne Cowie

AfterDark

Roman

Aus dem Englischen von Anke Kreutzer

Wilhelm Heyne Verlag

München

Die Originalausgabe Curfew erschien erstmals 2022 bei

Berkley, New York.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 02/2025

Copyright © 2022 by Jayne Cowie

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: zero.media.net, München,

unter Verwendung von © Arcangel (Mohamad Itani), Shutterstock (Anatoliy Man, Poznukhov Yuriy, Virrage Images), Coverdesign Tom Sanderson/the-parish.com

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-29827-2V002

www.heyne.de

Für meine Familie

Prolog

Pamela

Gegenwart

6:20 Uhr

Zwei wichtige Lektionen habe ich als junge Frau an der Polizeiakademie gelernt. Erstens: Deine erste Leiche vergisst du dein Leben lang nicht. Zweitens: Hinter jeder toten Frau steht ein Mann, der beteuert, sie sei seine große Liebe, selbst dann, wenn er ein Messer in der Hand hat und ein blutgetränktes T-Shirt am Leib.

Aber in den letzten dreißig Jahren hat sich einiges geändert. Inzwischen können wir uns nicht nur zu Hause sicher fühlen, sondern auch leicht aus einer toxischen Beziehung entkommen. Sogar im öffentlichen Raum sind wir geschützt.

Deshalb fällt dieser Mord heute aus dem Rahmen.

Sie wurde an einem gewöhnlichen Oktobertag im trockenen Herbstlaub aufgefunden – im ersten Morgengrauen, noch während der Ausgangssperre für Männer. Die Meldung kam kurz nach sechs herein. Sie war knapp und sachlich. Ich war die älteste diensthabende Beamtin und daher als Erste am Fundort. Der Täter hatte die Leiche unter dem glänzenden, grünen Laub eines Lorbeergebüschs abgelegt, ziemlich stümperhaft, sonst hätte man sie vielleicht erst nach Tagen anstatt nach wenigen Stunden entdeckt.

Ich bin ungern hier. Bis zu meiner Pensionierung sind es nur noch wenige Wochen. Ich hatte gehofft, mich mit ein paar Ladendiebstählen und vielleicht dem ein oder anderen Fall von Vandalismus, einem ausgesetzten Welpen oder häuslichen Streitigkeiten aus dem Dienst zu verabschieden. Stattdessen nun dieser Fall.

Mit zwei Kolleginnen durchquere ich den Park. Unsere dunklen Uniformen und schweren Stiefel stehen in starkem Kontrast zu der saftigen Rasenfläche sowie den Stiefmütterchen und Veilchen, die in den Blumenbeeten sprießen. Es ist schön hier draußen, besonders in der Morgendämmerung. Es ist ruhig. Friedlich. Sauber.

Als wir am See auf einer Bank zwei Gestalten kauern sehen, beschleunigen wir unsere Schritte. Der einen, einer Frau im mittleren Alter, spannt die weiße Jacke um den fülligen Leib. Die andere ist viel jünger, sie trägt Leggings und leuchtend pinke Joggingschuhe, das Haar hat sie zu einem lockeren Dutt gebunden. Frühaufsteherinnen, die sich ihre tägliche Sporteinheit holen, bevor Männer um sieben Uhr aus dem Haus dürfen.

»Schätze, die beiden haben sie gefunden«, sagt Rachel.

Sie arbeitet erst seit ein paar Jahren bei der Polizei. Sie zeigt Engagement, doch jung, wie sie ist, kennt sie nichts anderes als die Ausgangssperre. Sie weiß nicht, wie es vorher war. So sehr sie sich um unaufgeregte Professionalität bemüht, sehe ich ihr an, wie aufgeregt sie ist. Das bereitet mir Sorgen. Für Rachel ist das hier neu, eine große Sache, die sie in einen Adrenalinrausch versetzt. Auch ich nehme es als Ausnahmesituation wahr, nur dass es mir keinen Kick gibt, sondern Angst macht.

»Lasst erst mal mich mit ihnen reden«, sage ich. »Die stehen zweifellos noch unter Schock.«

»Die müssen sich schrecklich fühlen«, sagt Rachel. »Aber … wie konnte so was passieren?«

»Keine Ahnung«, erwidere ich. »Ziehen wir also keine voreiligen Schlüsse. Vorerst müssen wir von einem Unfall ausgehen. Vielleicht ist es nicht weiter kompliziert.«

Meine Beschwichtigung klingt mir selbst hohl in den Ohren. Bei einem Unfall landen Frauen nicht im Park, halb unter Gebüsch verborgen.

Die jüngere Frau hat der älteren den Arm um die Schulter gelegt. Als die beiden uns kommen sehen, blicken sie hoch. Die jüngere richtet sich auf.

»Sie ist da drüben«, sagt sie und deutet zitternd zu einer Buschgruppe. »Ich … habe sie mit meiner Jacke zugedeckt. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.«

»Sie haben das Richtige getan«, lüge ich und bitte Alison, die andere Beamtin, die Personalien aufzunehmen und Trost zu spenden.

Ich hole mein Slate heraus und fange mit der Aufnahme an. Slates haben vor ein paar Jahren das Smartphone ersetzt. Heutzutage hat jeder eins. Sie erfüllen alle erdenklichen Funktionen – sind zugleich Segen und Fluch, weil man alles auf einem einzigen Gerät hat und aufgeschmissen ist, wenn man das verdammte Ding verliert oder sich keins leisten kann.

Ich wappne mich innerlich und gehe zu dem dichten Buschwerk hinüber. Das Erste, was ich von der Leiche zu sehen bekomme, sind die nackten Füße. Die Zehennägel sind pfirsichfarben lackiert. Eine hübsche Farbe, die mich an Blumen und Lippenstift erinnert und an die Sommerkleider kleiner Mädchen – die Farbe vermittelt eine unbeschwerte Schönheit, die hier nichts zu suchen hat. Die Leiche ist teilweise in ein weißes Laken gewickelt. Schultern und Gesicht sind von einer blauen Sportjacke bedeckt.

Als ich mich neben sie hocke, weiß ich, dass dieses Ereignis, genauso wie vor sechzehn Jahren die Morde an der Abgeordneten Susan Lang und vier weiteren Frauen – in einem Zeitraum von fünf Monaten in aller Öffentlichkeit verübt –, einen Wendepunkt markiert.

Damals wurden alle Frauen angehalten, das Haus nicht zu verlassen, bis der Mörder gefasst sei, als wären wir selbst schuld, wenn uns etwas zustößt. Aber wir waren es leid, unsererseits Vorsorge gegen die Gewalttaten von Männern treffen zu müssen. Wir weigerten uns. Wir fingen an, übers Internet Widerstand zu organisieren, gingen auf die Straße. Als das nichts brachte, streikten wir und hörten auf, all die unbezahlte Hausarbeit zu leisten, mit der wir die Gesellschaft am Laufen hielten. Wir verlangten Veränderung und bekamen sie. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass uns jene Morde die Ausgangssperre bescherten, und jetzt stellt sich mir die bange Frage, was uns das hier bescheren wird. Ich schiebe den Gedanken ganz schnell beiseite. Wir haben jetzt eine völlig andere Situation. Die Männer müssen heutzutage über Nacht zu Hause bleiben; ihr Bewegungsprofil wird von sieben Uhr abends bis sieben Uhr morgens mithilfe einer Art elektronischer Fußfessel überwacht, die uns sofort meldet, wenn sie die Ausgangssperre brechen. Hätte ein Mann etwas mit der Toten hier zu tun, wüsste ich das.

Auch wenn mein letzter derartiger Fall lange her ist, bin ich dafür ausgebildet worden und habe noch alles präsent. Ich richte mein Slate so aus, dass ich alles, was ich sehe, aufnehmen kann. Ich ziehe ein paar Latexhandschuhe hervor, streife sie über und hebe vorsichtig an einer Kante die Jacke an, die Gesicht und Schultern bedeckt.

Mir kommt die Galle hoch. Ich schlucke sie hinunter und habe sofort einen beißenden, sauren Geschmack im Mund. Ich richte mich auf, lege den Kopf in den Nacken und atme ein paarmal durch, während ich in den aufklarenden Himmel blicke. Dann rücke ich etwas zur Seite, damit auch Rachel einen Blick auf sie werfen kann.

»Das war jedenfalls kein Unfall«, stellt sie fest. Sie klingt wütend.

Ich habe keine Zeit, sie zu beruhigen. »Wir müssen den Park absperren«, sage ich zu ihr. »Stell Beamte an jedem Ausgang ab. Lass niemanden rein.«

Wir werden nicht lange Ruhe haben, jede Minute ist kostbar. Wir müssen die Leiche wegschaffen und im Park jeden Winkel durchforsten. Vor allem müssen wir herausfinden, wer die Frau ist, und ihren Angehörigen Bescheid geben. O Gott, ihre Angehörigen.

»Schon dabei«, sagt Rachel. Sie holt ihr Slate heraus und tippt mit zittrigen Fingern eine Nachricht ein. Zur Wache sind es nur wenige Minuten, es wird also nicht lange dauern, bis wir Verstärkung bekommen. »Wer übernimmt die Identifizierung?«

»Die Gerichtsmedizin.«

Ich kann leider nicht ihr Gesicht mit meinem Slate scannen, um an ihren Namen zu kommen. Wer auch immer das hier gewesen ist, hat sie unkenntlich gemacht. Aber wir werden sie identifizieren. Und dann ihn.

Kapitel 1

Sarah

Vier Wochen vorher

Zum Gefängnis war es eine lange Fahrt. Sarah hatte die Musik voll aufgedreht. Sie tippte mit dem Daumen den Takt gegen das Lenkrad und wippte mit den Schultern. Sie wollte an nichts anderes denken als ans Fahren, an ihre Hand am Steuer, die Anspannung der Oberschenkel bei jedem Fahrbahn- und Tempowechsel. Jedenfalls wollte sie nicht an ihn denken.

Tat sie aber doch.

Seit sie ihren Ex das letzte Mal gesehen hatte, waren fast drei Monate vergangen. Sie fragte sich, ob er sich verändert hatte. Von sich konnte sie das immerhin behaupten. Für einen kurzen Moment sah sie in den Rückspiegel und strich sich mit einer Hand durchs dunkle Haar. Den neuen Schnitt bereute sie schon. Den anstehenden Besuch hatte sie seit Wochen geplant. Sie wollte ihm zeigen, dass sie bestens ohne ihn zurechtkam. Dass er keine Macht mehr über sie hatte. Dafür standen die neue Frisur und das neue Outfit.

In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie doch lieber umdrehen und wieder nach Hause fahren wollte. Was hinderte sie daran? Sie musste nicht da hin und ihn besuchen.

Aber sie fuhr weiter.

Sie musste ihm ein einziges letztes Mal in die Augen sehen. Sie brauchte die Bestätigung dafür, das Richtige getan zu haben, um die Zweifel in Schach zu halten, die sie ab und zu überfielen, wenn sie wieder einmal mit ihrer Tochter Cass in Streit geriet oder wenn sie in den frühen Morgenstunden wach lag und sich in ihrem Kopf Erinnerungen abspulten, die sie liebend gern vergessen wollte.

Sie betätigte den Blinker, nahm die nächste Ausfahrt, ging vom Gas und fuhr langsam bis zur Ampel vor. Während sie auf Grün wartete und dann langsam wieder anfuhr, sah sie aus den Augenwinkeln, dass ihr vier weitere Fahrzeuge folgten, ein trauriger Tross Frauen, die ihren Mann besuchten.

Sie folgte den weißen Markierungen bis zur Haftanstalt. Die dichte Reihe hoher Nadelbäume am Straßenrand verstellte den Blick auf das Gebäude. Sie war dankbar für die riesigen orangefarbenen Schilder, die ihr sagten, wo es langging. Sie stellte den Wagen in der ersten freien Parklücke ab. Es kostete sie einige Mühe, sich abzuschnallen und die Wagentür zu öffnen, nur um dann festzustellen, dass sie viel zu eng eingeparkt hatte und sich kaum aus dem Wagen winden konnte. Sie wollte schon zurücksetzen und einen zweiten Anlauf nehmen, begriff aber, dass sie die Dinge damit nur künstlich verzögert und vielleicht doch noch im letzten Moment gekniffen hätte.

Sie hängte sich die Tasche über die Schulter und lief zum Eingang. Absperrungen sorgten dafür, dass die Besucher nur einer nach dem anderen durch die Automatiktür kamen. Sarah konnte hinter dem Milchglas nichts erkennen. Sie vermied den direkten Augenkontakt mit den anderen Frauen. Gesehen zu werden wäre das Eingeständnis, aus triftigem Grund hier zu sein.

Vor ihr wurde eine Frau in grüner Bluse durchgewinkt, und Sarah rückte vor. Ein Wachmann etwa in ihrem Alter, in marineblauer Uniform, mit einem Funkgerät an der Schulter, hielt sie zurück, bis die Tür wieder aufging. Drinnen wurde schnell klar, was man zu tun hatte. Trotzdem brachte sie es fertig, auf dem Weg zum Empfangstresen, hinter dem eine Frau mit gelangweilter Miene und einem großen Slate in der Hand auf sie wartete, zu stolpern.

»Wen wollen Sie besuchen?«

»Greg Johnson.«

Die Frau überprüfte den Namen auf dem Slate. »Und Sie heißen?«

»Sarah Wallace.«

»Ihre Beziehung zu Greg Johnson?«

»Geschiedene Ehefrau.«

Die Scheidung war schnell, schmerzlos und billig gewesen: vier Wochen, nachdem Greg die Ausgangssperre übertreten hatte, online eingereicht und binnen vierundzwanzig Stunden rechtskräftig vollzogen. Ein guter Tag in ihrem Leben.

Die Frau zeigte auf das Förderband zum Scanner. »Bitte die Tasche da drauf.«

Sarah gehorchte. Anschließend wurde sie durch einen Metalldetektor geleitet. Im Durchgang fühlte es sich so an, als ob sie eine Schwelle überträte, von draußen nach drinnen, von unschuldig zu schuldig. Sie wartete, bis der Gepäckscanner ihre Tasche ausspuckte. Als sie zum Vorschein kam, hielt ihr eine weitere Wärterin einen ausgebeulten gelben Ablagekasten hin.

»Da rein«, sagte sie und deutete auf die Tasche.

»Soll ich sie ausleeren?«

»Wenn ich bitten darf.«

Sie öffnete hastig die Tasche und stülpte sie über dem Kasten um, eifrig bemüht zu zeigen, dass sie nichts zu verbergen habe. Bei dem lauten Klirren von Kugelschreibern, Schlüsseln und Lippenstiften zuckte sie zusammen. Die Wärterin stocherte ein bisschen darin herum und leuchtete zuletzt die leere Tasche mit einer Stiftlampe aus. Ein kurzes Wedeln mit der Hand signalisierte Sarah schließlich, dass dieser Teil erledigt war. Sie sammelte ihre Sachen wieder ein und wurde in einen Korridor weitergeschickt – lang, blaugrau und fensterlos, mit einem quietschenden Bodenbelag. Sie folgte den abblätternden schwarzen Pfeilen, bis sie sich in einem stickigen Raum mit kleinen, quadratischen Tischen und Plastikstühlen wiederfand.

Sollte sie sich einen Tisch aussuchen oder warten, bis ihr einer zugewiesen wurde? Sie machte ein paar Schritte und hörte auf einmal ihr Herz in den Ohren hämmern. Sie hatte das Gefühl, dass sich die Luft verdichtete und die Wände enger um sie schlossen. Er war da.

Greg setzte sich an einen der leeren Tische, legte die Hände auf die Platte und sah sie an.

Sie öffnete die Lippen, und mit einem Mal fühlte sich ihre Zunge, eben noch ganz normal, zu groß für ihren Mund an. Sie bekam den Speichel, der sich sammelte, nicht hinuntergeschluckt. Sie wusste einfach nicht mehr, wie das ging.

Das da war der Mann, mit dem sie ihr Zuhause, ihr Bett, ihr Leben geteilt hatte. Der Mann, der, schwer und schwitzend, auf ihr gelegen hatte und in ihr gewesen war, als ihre Tochter Cass gezeugt wurde. Blitzartig zog ihr gemeinsames Leben an ihr vorbei, von ihrer ersten Begegnung bis zu dem Moment, wo er auf dem Rücksitz eines Streifenwagens weggefahren wurde. Der ganze Raum drehte sich um sie.

Jemand tippte ihr auf die Schulter. Sarah blinzelte und fand in die Gegenwart zurück. Es war die Frau in der grünen Bluse.

»Alles in Ordnung?«

»Ich …« Sie schluckte mühsam. »Ich weiß nicht.«

»Ihr erster Besuch?«

Sarah nickte.

»Scheiße, oder?« Die Frau hatte eine scharf geschnittene Nase und trug Seestern-Ohrringe. »Sagen Sie sich einfach, es sind nur zehn Minuten. Sagen Sie in diesen zehn Minuten, was Sie loswerden wollen, und gehen Sie dann. Zehn Minuten überleben Sie, egal was kommt.«

Sie hatte Greg achtzehn Jahre lang überlebt. »Mach ich«, sagte sie. »Danke.«

Die Frau klopfte ihr noch einmal auf die Schulter und ging dann zu einem Tisch hinüber, an dem ein junger Mann mit der gleichen scharf geschnittenen Nase saß und ins Leere starrte.

Zehn Minuten nur. Sarah wandte den Kopf und zwang sich, Greg anzuschauen. Er war ihr vertraut, und doch erkannte sie ihn kaum wieder. Er war abgemagert. Das Haar war vollständig ergraut und viel schütterer, als Sarah es in Erinnerung hatte. Die Kopfhaut schimmerte durch. Sein Sweatshirt war von der gleichen schmutzig gelben Farbe wie die Wände. Sie musste sich dazu zwingen hinüberzugehen.

»Sarah«, sagte er.

Sie hatte vergessen, wie er ihren Namen aussprach, so als hinterließe er einen sauren Geschmack auf seiner Zunge. Mit einem Schlag verflüchtigten sich all die Dinge, die sie ihm hatte sagen wollen. Sie suchte danach, griff jedoch ins Leere. Die Monologe unter der Dusche oder hinterm Lenkrad waren vergessen. Mehrere endlose Sekunden lang sahen sie einander einfach nur an. Als Erstes registrierte sie die in seinem stämmigen Körper aufgestaute Wut. Was sie nicht überraschte. Immerhin hatte er seinen Aufenthalt hier drinnen ihr zu verdanken.

Sie nahm Platz, wünschte sich aber sofort, sie wäre stehen geblieben.

»Ich habe beantragt, dass du nach deiner Entlassung einen Ortswechsel vornehmen musst«, erklärte sie. Eine Begrüßung schenkte sie sich. Oder auch die Frage, wie es ihm gehe. Sie wollte es gar nicht wissen.

Er ließ ihr das jedoch nicht durchgehen. »Hallo, Sarah«, sagte er. »Wie geht’s dir? Was macht meine Tochter?«

»Der geht’s gut. Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Ich hab’s gehört.«

»Und du hast nichts dazu zu sagen?«

Mit einem Seufzer lehnte er sich zurück. »Was soll ich da groß sagen? Danke, dass du es mich wissen lässt?«

»Ich wollte nur …«

Er fiel ihr ins Wort. »Wohin schicken die mich?«

»Keine Ahnung. Wo sie eine Wohnung für dich finden, vermute ich mal.« Jedenfalls nicht in Riverside, in dem Wohnblock, wo sie die Männer sonst nach ihrer Entlassung unterbrachten. Nur das zählte.

»Also von Cassie weg.«

Sie biss die Zähne zusammen. Sein Besitzanspruch gegenüber ihrer Tochter machte sie immer noch so wütend, dass sie ihm am liebsten eine reingehauen hätte. Erst zu lügen und zu betrügen und dann den liebevollen Vater zu spielen, das zog bei ihr nicht.

»Sie wird achtzehn.«

»Ich weiß, wie alt meine Tochter ist.«

»Das elterliche Sorgerecht endet mit achtzehn. Es ist also nicht nötig, dass du in unserer Nähe wohnst.«

»Demnach bist du den weiten Weg hergekommen, nur um mir zu sagen, dass du mich von meiner Tochter trennen willst?«, fragte er.

Sarah schluckte den Köder nicht. »Ja.«

»Wieso?«

»Man sollte meinen, du wüsstest das.«

Greg nahm eine Hand vom Tisch und inspizierte seine Fingernägel. Sie waren kurz und sauber.

»Das hätte mir bestimmt auch jemand hier ausrichten können.« Der bittere Unterton war nicht zu überhören.

»Ich wollte, dass du es von mir hörst«, sagte Sarah.

»So wie es immer nur darum ging, was du willst, ja?«

Achtung, Sarah, verkneif dir das besser. »Was soll das heißen?«

Er verschränkte die Arme. »Cass und ich haben dich gebraucht, aber das hat dich nicht interessiert. Du warst nie da. Du warst immer viel zu beschäftigt.«

»Das ist nicht wahr!«

»Ach ja?«

»Ich musste arbeiten«, entgegnete sie. Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß anlief, und die Worte sprudelten ihr über die Lippen. »Wir mussten Rechnungen bezahlen. Die Hypothek. Die Ausgangssperre …«

»Nur zu, schieb’s auf die Ausgangssperre. Ist auch viel bequemer, als der Wahrheit ins Auge zu sehen. Du taugst einfach nicht zur Ehefrau und schon gar nicht zur Mutter. Was glaubst du denn, warum ich das getan habe? Es wäre nie passiert, wenn du da gewesen wärst, wenn wir auch nur eine halbwegs gute Ehe geführt hätten.«

Sie atmete tief ein und aus. Sie zwang sich, ihn ein letztes Mal anzusehen, die Fältchen an seinen Augenwinkeln und die Haare an seinem Hals, da, wo er beim Rasieren eine Stelle ausgelassen hatte. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Leben ausgesehen hatte. Sie dachte an die heimlichen Tränen, die chronische Erschöpfung von den vielen Überstunden, dem ständigen Druck beim Gedanken an die Hypothekenzinsen und die nicht endenden Kreditkartenabrechnungen. Gegenüber Greg hatte sie sich davon nie etwas anmerken lassen, weil er wegen der Ausgangssperre so viel aufgegeben hatte. Wie hatte sie nur so blind sein können! Sie erinnerte sich allzu gut daran, was an jenem letzten Tag geschehen war, und fragte sich, woher er die Selbstgerechtigkeit nahm, es ihr in die Schuhe zu schieben.

Sie beugte sich zu ihm vor. »Um eins klarzustellen«, sagte sie im Flüsterton. »Ich gebe nicht der Ausgangssperre die Schuld. Ich gebe dir die Schuld, und ich bedauere einzig und allein, dass ich dich nicht früher vor die Tür gesetzt habe.«

Sie stand auf. Ihr Herz raste. Die Frau in der grünen Bluse warf ihr ein verhaltenes Lächeln zu. Die Wärterin am anderen Ende des Raums trat unruhig von einem Bein aufs andere, aber niemand sonst nahm Notiz.

»Leb wohl, Greg«, sagte sie und ging hinaus – froh, ihn nie wiedersehen zu müssen.

Kapitel 2

Cass

Dreißig Meilen entfernt, kämpfte Cass Johnson in der Schule mit der Frage, ob sie genug Geld auf ihrem Konto hatte, dass sie sich auf dem Heimweg im Antiquariat eine Zeitschrift kaufen konnte. Alte Ausgaben der Cosmopolitan waren ihre Leidenschaft, doch falls sie nichts anderes dahatten, würde sie sich auch mit einer Grazia aus der Zeit vor den Ausgangssperren zufriedengeben.

Noch zwanzig Minuten Unterricht waren durchzustehen. Offiziell hieß das Fach Frauengeschichte, auch wenn alle es Sperrstunde nannten. Außer Amy Hill, die mit ihrem teuren Slate und perfekten Haar ziemlich weit vorn saß und ihr auf die Nerven ging, nahm niemand das Fach so richtig ernst.

Ihre Lehrerin Miss Taylor ratterte zu einem Foto auf dem Bildschirm etwas über das Femizid-Präventionsgesetz von 2023 herunter, auch als Ausgangssperrengesetz bekannt. Sechs Monate nachdem die Abgeordnete Susan Lang auf offener Straße von einem Ex-Freund ermordet worden war, hatten sie das Gesetz eingebracht. Nach Auffassung der damaligen Regierung gab es nur die eine angemessene Konsequenz: die Männer über Nacht zu Hause einzusperren.

Schon seltsam, wie langweilig sich ein so wichtiges Thema anhören konnte. Sie öffnete auf ihrem Slate ein Katzenvideo und stieß ihren besten Freund Billy an. Er blickte herüber, aber nur für eine Sekunde. Sie knuffte ihn noch einmal und drehte das Slate zu ihm hin. Diesmal sah er sich das Video genauer an. Sie hielt das Slate ruhig, während sie die Aufmerksamkeit halb bei Billy und, um nicht erwischt zu werden, halb bei Miss Taylor hatte.

»Haha«, murmelte er, griff zu seinem Stift und schrieb etwas auf sein Slate.

Eine Botschaft für sie, vermutete sie. Falsch. Er machte sich einfach nur Notizen. Sie verdrehte die Augen und wollte ihn mit ihrem Stift piken, aber er wich im letzten Moment aus, sodass sie nur die Tischkante traf. Das Geräusch zog Miss Taylors Aufmerksamkeit auf sich. Sie setzte in ihrem Vortrag aus und starrte sie beide an.

»Gibt es ein Problem?«, fragte sie.

»Nein«, murmelte Billy und wurde rot.

Weil es nur noch zehn Minuten bis Unterrichtsende waren, beschloss sie, sich einen kleinen Spaß zu erlauben. »Doch, eigentlich schon«, sagte sie.

»Als da wäre?«, sagte Miss Taylor und runzelte die Stirn.

Cass lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ausgangssperre. Ich verstehe nur nicht so ganz, was die Gesellschaft eigentlich davon hat, Männern eine Fußfessel anzulegen und sie die ganze Nacht im Haus einzusperren.«

Quer durch die Klasse erhob sich Geraune. Miss Taylor brachte es mit einem strengen Blick zum Verstummen.

»Du bist nicht die Erste, die das hinterfragt, Cass. Viele, Männer wie Frauen, haben bei Einführung der Ausgangssperre ähnlich gedacht. Aber es ist nicht zu leugnen, dass die Zahl der Gewaltverbrechen danach dramatisch zurückgegangen ist.«

»Das muss aber nicht zwingend an der Sperre liegen.«

»Selbstverständlich ist die Sperre der Grund.«

Die Antwort kam in so festem Ton und mit solch inbrünstiger Überzeugung, dass Cass laut lachen musste.

»Das können Sie nicht beweisen.«

»Für Gewaltverbrechen sind nachweislich überwiegend Männer verantwortlich«, fuhr Miss Taylor unbeeindruckt fort. »Vor der Sperre waren sie für fast achtzig Prozent aller Morddelikte verantwortlich. Für fünfundsiebzig sämtlicher anderen Gewaltverbrechen. Selbst bei Kindern ist statistisch belegt, dass Jungen mehr tätliche Angriffe begangen haben als Mädchen.«

»Aber Statistiken können gefakt werden. Das weiß doch jeder.«

»Im Durchschnitt wurden damals jede Woche drei Frauen von Männern umgebracht.«

»Aber Frauen haben auch Männer ermordet!«

»Stimmt, ungefähr einen im Monat, aber aus anderen Motiven. Frauen töten aus Notwehr oder weil sie psychiatrische Probleme haben. Männer dagegen töten, weil sie es können.«

»Deswegen ist die Sperrstunde noch lange keine gute Lösung. Was soll das bringen, Männer in den eigenen vier Wänden einzusperren? Die meisten Frauen wurden von wem umgebracht, den sie kannten, und nicht von irgendwelchen Fremden, die abends nach sieben auf der Straße rumlungern.«

»Susan Lang wurde auf der Straße von einem Mann getötet, den sie kannte.«

Cass seufzte. Unweigerlich endete es jedes Mal bei der heiligen Susan und ihrem durchgeknallten Freund, der sich eingebildet hatte, er käme mit ihrer Ermordung davon, wenn er noch vier weitere Frauen umbrachte und die Polizei annehmen musste, es handle sich um Zufallsopfer.

»Was natürlich schrecklich war«, sagte sie. »Was niemand leugnet. Ich glaube nur nicht, dass die Gesetzgebung zur Ausgangssperre die richtige Antwort ist. Wegen einem einzigen Irren haben wir alle Männer eingesperrt.«

Ihren Vater inbegriffen, der im Gefängnis nichts zu suchen hatte und der nie hinter Gitter gekommen wäre, hätte er keine elektronische Fessel am Bein gehabt.

»Wie sehen das die anderen?«, fragte Miss Taylor die Klasse. »War die Ausgangssperre die richtige Antwort auf männliche Gewalt?«

»Ja«, antwortete Amy Hill und fügte mit erhobenem Kinn hinzu: »Funktioniert doch, oder?«

Einige Mädchen traten geradezu fanatisch für die Sperre ein. Miss Taylor bändigte ihren heiligen Zorn etwas. Einige Jungen sagten, im Prinzip seien sie für das Gesetz, aber dass die Frauen, wie von Miss Taylor behauptet, unbezahlt die größere Last der Gesellschaft getragen hätten, klinge reichlich übertrieben. Jeder wisse doch, dass viele Frauen nur behauptet hätten, vergewaltigt worden zu sein; und den geschlechterspezifischen Lohnunterschied hätte es in Wahrheit nie gegeben. Frauen hätten, besonders wenn sie Kinder hatten, einfach nicht so hart gearbeitet wie die Männer. Einen ursächlichen Zusammenhang sähen sie jedenfalls nicht. Und überhaupt. Schließlich seien nicht alle Männer wie Susan Langs Freund, männliche Gewalt sei eher selten. Sie konnten eben nicht verstehen, was sie noch nie gesehen hatten.

»Fest steht, dass das Femizid-Präventionsgesetz das Leben von Frauen revolutioniert hat«, fuhr Miss Taylor ungerührt fort. »Wie vielen von euch wurde schon mal von Männern auf der Straße hinterhergepfiffen? Wie viele haben schon mal einen Umweg gemacht, weil es die sicherere Route war, oder aus Vorsicht ein Taxi genommen, das sie sich eigentlich nicht leisten konnten, noch dazu in dem Wissen, dass auch die Taxifahrt nicht ungefährlich war?«

Die Mädchen wechselten vielsagende Blicke, aber niemand meldete sich.

»Außerdem war das Gesetz die Initialzündung für eine ganze Reihe weiterer Neuerungen«, fuhr Miss Taylor fort. »Zum Beispiel die Partnerberatung, die dabei hilft, das Zusammenleben vorausschauend zu beenden. Oder die finanzielle Unterstützung zum Fluchtfonds, damit eine Frau, die aus einer missbräuchlichen Beziehung entrinnen will, nicht aus Geldmangel in der Falle sitzt.«

»Eine Lebensgemeinschaftsbewilligung lässt die Frauen doch nur schwach aussehen«, hielt Cass dagegen. »Als wären wir zu blöd, die anständigen von den miesen Männern zu unterscheiden.«

Miss Taylor legte die Fernbedienung für den Projektor ab und kam zu Cass’ und Billys Tisch. Sie trug rote Samtschuhe mit aufgesticktem Tigergesicht, deren Anblick Cass mit einer Mischung aus Neid und Verachtung erfüllten.

»Wie ich sehe, hast du eine dezidierte Meinung zu dem Thema. Das ist gut. Es ist wichtig, sich klar zu positionieren. Aber genauso wichtig ist es, die Gründe für diese Entscheidungen zu begreifen.«

»Die sind uns bestens bekannt«, sagte Cass.

»Nein«, entgegnete Miss Taylor. »Ich glaube nicht. Wie wär’s mit einer praktischen Demonstration. Billy, ich möchte dich zum Armdrücken mit Cass einladen.«

»Was?« Billy wand sich auf seinem Platz.

»Na los«, ermunterte ihn Miss Taylor und ignorierte geflissentlich sein Unbehagen. »Eine Runde Armdrücken mit Cass.«

»Wozu das denn?«, sagte Cass. »Das beweist doch nichts.«

»Dann spricht aber auch nichts dagegen, oder?«

Es sprach alles Mögliche dagegen, nur dass ihr auf die Schnelle nichts einfiel. Und dass Billy wie ein Vollidiot stumm dasaß, machte die Sache nicht besser.

»Auf geht’s«, rief Amy Hill in die Klasse. »Lasst sehen!«

»Na schön.« Sie setzte den Ellbogen auf die Tischplatte. Sie trug eine hellblaue Bluse, die zu Hause im Spiegel noch hübsch ausgesehen hatte. Jetzt war ihr peinlich bewusst, dass alle den Schweißfleck unter ihrer Achsel sehen konnten, was sie nur noch wütender machte.

Auch Billy ging bedächtig in Position. Dann spreizte er mit abgewandter Handfläche die Finger. Er zuckte ein wenig, als sich ihre Handflächen berührten und sie die Finger verschränkten. Sie hatte einen Plan. Ganz langsam anfangen und ihm dann in einem Überraschungsangriff mit einem Ruck den Arm auf die Tischplatte knallen. Beweis erbracht, bitte schön, gern geschehen.

Seine Hand bewegte sich kaum einen Zentimeter, bevor er binnen Sekunden und scheinbar mühelos ihren Arm auf die Tischplatte bog. Alle Gegenwehr war für die Katz. Es fühlte sich an, als wollte sie mit bloßer Muskelkraft eine Ziegelwand zum Einsturz bringen.

Kaum hatte ihr Handrücken den Tisch berührt, ließ Billy los.

»Er hat gemogelt«, regte sie sich auf und sah sich nach den anderen Mädchen um. »Ihr habt’s alle gesehen.«

»Nein, das stimmt nicht«, rief er empört. Niemand protestierte.

»Ich denke, ihr habt verstanden, was ich euch zeigen wollte«, erklärte Miss Taylor, während sie wieder nach vorn ging. »Männer sind physisch stärker als Frauen, der entscheidende Faktor, der sie zu einer Bedrohung macht. Sie können nichts dafür, aber das ändert nichts an den Tatsachen.«

In diesem Moment läutete es, und Cass hatte keine Gelegenheit mehr zu protestieren.

Umgekehrt wollte ihr Miss Taylor jedoch noch etwas sagen. »Cass«, rief sie ihr leise hinterher, bevor sie zur Tür hinaus verschwinden konnte.

Sie rang mit sich, ob sie so tun sollte, als hätte sie nichts gehört, aber dann drehte sie sich doch um. Mit Höflichkeiten hielt sie sich allerdings nicht auf.

»Was ist?«

Miss Taylor saß auf der Ecke ihres Pults.

»Das war eine schwierige Stunde für dich.«

»Was mehr über Ihren Unterricht sagt als über mich, Miss.«

Sie hielt die Luft an und wartete gespannt auf Miss Taylors Reaktion. Wenn sie darauf gehofft hatte, dass sie die Stimme erhob oder rot anlief, wurde sie enttäuscht.

»Schade, dass du das so siehst«, sagte Miss Taylor ruhig.

Sie trug eine dunkelblaue Chino, die verflucht gut zu den Schuhen passte, und unter den Armen waren nicht die kleinsten Schweißflecken zu erkennen.

»Die Ausgangssperre ist idiotisch«, erklärte Cass. »Sie ist unfair, und wir sollten alles dransetzen, sie wieder loszuwerden.«

»Ich verstehe, weshalb du das so siehst.«

»Ach ja?«, sagte sie.

»Selbstverständlich. Aber ich hoffe, die kleine Demonstration mit Billy hilft dir dabei zu erkennen, wieso das Gesetz so wichtig ist. Wie gesagt, ist es nicht fair, dass Männer physisch stärker sind als wir, aber so ist es nun mal, und die Ausgangssperre dient dazu, die Waage einigermaßen auszugleichen.«

Ich hasse dieses Fach, dachte sie im Stillen, während sie ohne eine Antwort ging.

Die Flure hatten sich schon geleert, doch draußen, wo Eltern die jüngeren Grundschüler einsammelten, herrschte reger Betrieb. Sie wartete und ließ einen Mann in einem roten Ford Focus vorbei, der mit dem Fuß auf dem Gas das Tempolimit ausreizte. Spinnerstunde, nannte ihre Mum diese Tageszeit, wo die Männer auf die Tube drückten, um rechtzeitig nach Hause zu kommen. Am schlimmsten wurde es zwischen sechs und sieben Uhr abends, doch schon jetzt, gegen fünf, ging es allmählich los.

Wer hier spinnt, ist das ganze Land, dachte sie. Nirgendwo sonst legte man der halben Bevölkerung elektronische Fußfesseln an, nur weil sie das Pech hatte, mit einem Y-Chromosom auf die Welt gekommen zu sein. Als das Gesetz in Kraft trat, waren nicht wenige in Länder ausgewandert, wo Männer keinen Restriktionen unterworfen waren. Einmal hatte Cass ihren Dad gefragt, wieso nicht auch sie auswanderten. Er hatte geantwortet, ihre Mutter sei dagegen.

Billy wartete an der Bushaltestelle auf sie. »Wieso machst du das eigentlich?«, fragte er. »Wieso legst du dich ständig mit Miss Taylor an? Was versprichst du dir davon?«

»Einer muss es ja tun«, antwortete sie. »Oder willst du dein ganzes restliches Leben abends zu Hause eingesperrt sein, Billy?«

Er antwortete nichts darauf.

Kapitel 3

Sarah

Sarah liebte die Ausgangssperre. Sie hoffte, dass sie für immer in Kraft blieb. Sicher, anfangs hatte sie gewisse Schwierigkeiten damit gehabt, doch seit Greg aus ihrem Leben verschwunden war, fand sie es nur noch fantastisch. Sie war frei. Lange Zeit hatte sie nicht einmal begriffen, dass sie in der Falle saß. Sie war verliebt gewesen, dann hatten sie Hochzeit gefeiert, sie im weißen Kleid, wie es sich gehörte, und achtzehn Monate später, mit dem perfekten Timing, hatte sich ein winziges, rosafarbenes Baby eingestellt. Alles nach Plan, so wie es sich Sarah nicht besser hätte wünschen können.

Und dann war die Ausgangssperre gekommen. Greg hatte seinen Job aufgegeben, um zu Hause zu bleiben und sich ganztags um das Kind zu kümmern, während sie in Vollzeit ging und mehr Stunden als je im Leben arbeitete. Das Arrangement war ihnen logisch erschienen; er konnte keine Überstunden machen, Sarah schon, und auf diese Weise wäre immer jemand zu Hause, der sich um Cass kümmern konnte, was ihnen beiden wichtig war. Nur dass Sarah, obwohl sie wusste, wie patriarchalisch und antiquiert das war, diese Rolle gern selbst übernommen hätte. Sie konnte nicht mehr sagen, wann sie angefangen hatte, ihn dafür zu hassen.

Aus Scham hatte sie diese Gefühle verdrängt und Greg vieles nachgesehen, was sie lieber zur Sprache gebracht hätte. Greg hatte seinen Teil zu den Schwierigkeiten beigetragen, indem er sie bei jeder Gelegenheit belog, doch wenn sie ehrlich war, hatte sie ihm nur allzu willig geglaubt. Sie hatte vor dem, was da lief, die Augen verschlossen.

Dabei gab es auch positive Entwicklungen. Nachdem Greg ins Gefängnis gekommen war, hatte sie ihren Job gekündigt und sich für den elektronischen Überwachungsservice beim Frauenschutzamt umschulen lassen. Ihre Aufgabe war es, Männern ihre elektronischen Fußfesseln anzulegen, sie zu überprüfen, zu warten und zu wechseln. Es lief wirklich gut. Die einmonatige Probezeit hatte sie mit Bravour bestanden. Sie arbeitete jetzt nicht mehr so lange, wurde gut bezahlt und kam bestens mit ihren Kolleginnen zurecht. Darüber hinaus war es eine sinnvolle Tätigkeit, die etwas bewirkte.

Cass war da völlig anderer Meinung. Aber Cass war bei allem, was Sarah sagte oder tat, anderer Meinung.

Am Tag nach dem Besuch bei Greg hatte Sarah Frühschicht. Hadiya, die Leiterin des Überwachungsservicecenters, war schon vor ihr da. Sarah fragte sie nach ihrem neuen Wagen, und Hadiya erkundigte sich nach Cass. Sie wisse ja, wie Teenager seien, antwortete sie nur und verdrehte die Augen. Hadiya grinste und meinte, sie sei heilfroh, dass die eigenen Töchter aus dem Alter heraus seien. Sarah fragte sich kurz, wie Hadiya wohl reagieren würde, wenn sie ihr die Wahrheit sagte: dass sich ihr süßes, kleines rosafarbenes Baby in einen Feuer speienden Drachen verwandelt hatte.

Anschließend ging sie in ihr Dienstzimmer und öffnete das Fenster, um das Gezwitscher der Amseln hereinzulassen, bevor sie sich ihrem Slate zuwandte und sich in den Terminkalender des Servicecenters einloggte. Sie ging die Namen, Adressen und Geburtsdaten durch und stellte sich die passenden Männer dazu vor.

Jemand klopfte an die offene Tür, und Hadiya kam mit Mabel herein, der anderen neuen Controllerin, die ein paar Wochen nach ihr angefangen hatte. Sie beide hatten sich über ihre gemeinsamen Erfahrungen angefreundet.

»Ich muss deine Fesseln und Sticks überprüfen«, sagte Hadiya.

Sie deutete auf die oberste Schublade in ihrem Schreibtisch. Hadiya ging davor in die Hocke und machte sich daran, die unbenutzten Fußfesseln abzuzählen und die Sticks auszuprobieren. Es dauerte nicht lange.

»Passt«, sagte sie und tippte etwas in ihr Slate, bevor sie mit schwungvollen Schritten den Raum verließ.

Mabel setzte sich auf den großen, gepolsterten Stuhl in der Mitte des Raums, legte ein Bein auf die dafür vorgesehene Stütze und lehnte sich zurück. Sie trug goldene Kreolen und ein schwarzes Oversize-Sweatshirt.

»Wie läuft’s mit Cass?«

»Schwierig«, sagte sie mit einem Seufzen. »Sie löchert mich ständig, wann Greg endlich entlassen wird.«

»Weiß sie schon, dass er wegziehen muss?«

»Noch nicht. Und ich bin nicht scharf drauf, dass sie es rausbekommt. Sie ist Daddys Mädchen. War sie schon immer.«

»Selbst jetzt noch? Nachdem er die Ausgangssperre gebrochen hat?«

»Jetzt erst recht«, sagte sie. »In Cass’ Augen ist die Ausgangssperre die Wurzel allen Übels und einzig und allein daran schuld, dass man ihr den Vater weggenommen hat und sie jetzt bei ihrer Rabenmutter festhängt.«

Mabel lachte. »Vielleicht solltest du Hadiya fragen, ob du Cass mal für einen Tag mitbringen kannst, damit sie sieht, worum es überhaupt geht. Vielleicht ändert sie dann ihre Meinung.«

Sie nahm ihr Bein herunter, setzte sich gerade hin und blickte zur Wanduhr auf.

»An die Arbeit«, sagte sie.

Ihr Büro war nebenan, und nachdem sie gegangen war, hörte Sarah durch die Wand, wie sie vor sich hin sang. So wie Mabel war auch sie schlicht gekleidet. Waren sie alle. Sie legten Wert darauf, den Männern, die zu ihnen kamen, die Erfahrung so wenig einprägsam wie möglich zu machen. Ihre Uniform, wie Sarah die Kleidung im Stillen nannte, bestand aus einer dunklen Hose und einem lose fallenden Shirt. Sie sprach dabei nie mehr als nötig, selbst mit den einsamen Seelen, die gern ein bisschen geplaudert hätten. Ihr waren die Wütenden lieber, die ihren siedenden Groll nur mühsam verbergen konnten, sich aber durch zusammengebissene Zähne und ein rotes Gesicht verrieten. Denen die Fußfessel anzulegen war ein Kinderspiel. Sie bestätigten ihr jedes Mal, dass sie das Richtige tat.

Deutlich schwerer fiel ihr der Job bei denen, die ihren Nachwuchs im Schlepptau hatten. Oft erklärten sie ihr, die Sperre habe ihr Gutes, weil sie dadurch mehr Zeit mit den Kindern verbringen könnten, wohingegen ihr Sprössling danebensaß und sich mit finsterer Miene auf sein Slate konzentrierte. Während Sarah die Fußfesseln der Väter überprüfte, lächelte sie den Kindern jedes Mal zu. Wenn an ihrem zehnten Geburtstag die Jungen zu ihrer ersten Fußfessel hereinkamen, schenkte sie ihnen große Lollis in buntem Papier. Sie waren ja noch Kinder, zu jung, als dass sie begriffen, was die Fußfesseln mit sich brachten, und sie taten ihr jedes Mal ein bisschen leid. Für diese Jungs würde es keinen Schwimmunterricht nach sieben Uhr abends geben und keine Pfadfinderlager. Sie würden sich an ein Leben mit Beschränkungen gewöhnen müssen.

Aber die Sache war es wert. Aus netten, gutherzigen zehnjährigen Jungen wurden Männer, und Männern war nicht zu trauen.

Als wäre es erst gestern gewesen, erinnerte sie sich daran, wie sie in ihrem winzigen Wohnzimmer auf dem braunen Cordsofa auf der Kante gekauert und, das Gesicht in die Hände gestützt, im Fernsehen die denkwürdige Parlamentssitzung verfolgt hatte, bei der die Abgeordneten in Westminster das Ausgangssperrengesetz verabschiedeten. Schon seit Monaten hatte es Gerüchte gegeben, doch dass es wirklich dazu käme, hatte sie kaum zu hoffen gewagt. Ein Land, das schon eine halbe Ewigkeit über männliche Gewalt diskutierte, ohne etwas dagegen zu unternehmen, wäre zu einem solch drastischen Schritt sicher nicht bereit. Sie hatte sich geirrt.

Sie sah auf die Uhr und bestellte per Knopfdruck den ersten Mann auf ihrer Liste herein. Er war Ende zwanzig und hatte seine dichte, dunkle Mähne, passend zum Zweitagebart, so frisiert, dass sie ihm in die Stirn fiel. Sie kannte diesen Typ und verdrehte innerlich die Augen.

»Hi«, sagte er mit einem Lächeln.

»Setzen Sie sich.« Sarah sah auf ihr Display. »Können Sie bitte Ihren Namen bestätigen?«

»Tom Roberts«, sagte er.

Er ließ sich auf den Stuhl nieder, krempelte die Jeans auf und entblößte weiße Sportsocken unter einer gebräunten, behaarten Wade. Die Fußfessel saß direkt über dem Sockenbündchen. Sie inspizierte sie, inklusive Riemen und Schloss.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Seinem Ton war zu entnehmen, dass er die Antwort für selbstverständlich hielt und nur höflichkeitshalber fragte.

»Alles bestens.«

»Gut«, erwiderte er.

Er beugte sich so weit vor, dass ihr ein Hauch von seinem nicht unangenehmen Aftershave in die Nase stieg, und überprüfte die Fußfessel mit eigener Hand, bevor er das Hosenbein wieder hinunterließ.

»Wann brauche ich eine neue?«

»Warten Sie, ich sehe mal nach.« Sarah rollte mit ihrem Schreibtischsessel zur Seite und befragte ihr Slate. »Erst nächstes Jahr.«

»Dann sehen wir uns wohl in drei Monaten wieder.«

»Sieht so aus.«

Sie entließ ihn, aktualisierte sein Profil, wischte über den Sitz, griff zu ihrer Wasserflasche und stellte fest, dass sie leer war. Der Spender befand sich im Flur, nicht weit von ihrem Büro. Sie würde zum Nachfüllen nur eine Minute brauchen. Im Korridor stieß sie auf Mabel, die sich mit Tom Roberts unterhielt. Über seine Schulter hinweg fing Sarah Mabels Blick auf. Sie sah nicht glücklich aus. Er schlenderte zum Ausgang. Neugierig geworden, folgte Sarah Mabel in ihr Zimmer.

»Gott, so ein Arschloch«, sagte Mabel, bevor Sarah auch nur fragen konnte.

»Woher kennst du ihn?«

»Er ist der Freund von meiner besten Freundin.« Mabel plumpste in ihren Schreibtischsessel, nahm die Füße hoch und drehte sich ein paarmal um die eigene Achse. »Sie vergöttert ihn. Das Problem dabei: Blöderweise hat sich bei ihr der Kinderwunsch geregt, und sie sieht nur sein verführerisches Gesicht.«

»Hast du mal versucht, mit ihr zu reden?«

»Nein«, sagte Mabel achselzuckend. »Was sollte ich ihr auch groß sagen? Dass ihr die Hormone einen Streich spielen und sie nicht klar bei Verstand ist? Da würde sie nur einschnappen. Er ist eben der Mann ihrer Wahl, das muss ich wohl respektieren. Nur dass …«

»… er ein Arsch ist?«, half sie ihr auf die Sprünge.

»Genau. Witzigerweise könnte ich nicht mal sagen, wieso ich ihn nicht ausstehen kann. Helen betet ihn an, irgendwas muss er ja haben.« Mabel seufzte. »Liegt wahrscheinlich an mir.«

»Ach was«, sagte sie. »Ich hab gerade seine Fußfessel überprüft. Mir ist er auch nicht sympathisch.«

»Dir ist doch keiner von denen sympathisch.«

Sarah lachte. Sie kehrte in ihr Büro zurück und trank einen Schluck Wasser. So verging der Tag. Ein paar Männer hatten sich verspätet, aber sie schob sie dazwischen. Bis sie ihre Sticks aufgeladen, ihre Schublade mit neuen Fußfesseln gefüllt und einen letzten Blick auf ihren Terminkalender für den nächsten Tag geworfen hatte, war es zehn vor sieben.

Auf dem Heimweg ging sie in den Supermarkt und blieb dort ein bisschen länger, als für den Einkauf einer Tüte Salat und eines Hähnchens nötig gewesen wäre. Sie genoss die kurze Phase zwischen Arbeit und ihrem Zuhause. Die Gewohnheit stammte noch aus einer Zeit lange vor Gregs Verhaftung, und nur aus einem einzigen Grund hielt sie daran fest.

Cass.

Sie bezahlte, ohne auf den Preis zu achten. Sie warf den Einkaufsbeutel auf den Beifahrersitz und überlegte, ob sie noch einmal zurückkehren und eine Flasche Wein besorgen sollte, ließ es aber bleiben. Sie sollte jetzt lieber sofort zu ihrer Tochter zurück, auch wenn die Aussicht nicht gerade berückend war.

Als sie das Frauenhaus von Weitem sah, hellte sich ihre Stimmung auf. Sie und Cass waren zwei Monate zuvor in das Gebäude eingezogen. Die ehemalige Grundschule stammte aus viktorianischer Zeit und war zu Wohnungen umgebaut worden, nebst Gemeinschaftsküche, Speisesaal und Wäscherei.

Männern war der Zutritt streng verboten; es war ein Ort, wo Frauen unter sich sein wollten.

»Und was ist mit Dad?«, hatte Cass gefragt, als Sarah sie durch die ruhige Zweizimmerwohnung führte, die ihr angeboten worden war. »Wo soll er wohnen, wenn er entlassen wird?«

Die Wände waren weiß, die Teppiche in einem gedämpften Rosa gehalten. Die Badewanne war neu. Bei der ersten Besichtigung wäre Sarah am liebsten auf der Stelle eingezogen. Das Tüpfelchen auf dem i waren die Gemeinschaftsräume, wo die Frauen zusammen kochten und aßen. In dem Moment hatte sie entschieden, dass es ihr gleichgültig war, wo Greg unterkommen würde.

»Du kriegst deine eigene Dusche«, hatte sie zur Antwort gesagt und Cass das zweite Zimmer gezeigt, das mit dem eigenen kleinen Bad. »Sieh dir das an!«

Sie hatte die Kaution hinterlegt, und drei Tage später waren sie eingezogen. Das Frauenhaus bot alles, was sie sich nur wünschen konnte. Was dagegen Cass betraf, lag noch jede Menge Arbeit vor ihr.

Als sie nun die Wohnungstür öffnete, standen Cass’ Schuhe mitten im Flur. Sie schob sie beiseite und ging in die Küche, wo sie ein Laib Brot neben einem offenen Päckchen weicher Butter mit einer tiefen Messerkerbe darin auf der Arbeitsplatte vorfand und nicht weit davon einen dicken Marmeladenklecks. Cass saß in ihrem Zimmer mit dem Slate auf dem Bett und mampfte ihr Marmeladenbrot.

»Hühnchen und Salat zum Abendessen!«, rief sie ihr vom Flur aus zu. Cass stand auf und kam zur Zimmertür.

»Ich dachte, es gibt Chinesisch«, sagte sie.

Cass trug hautenge Jeans mit einem Riss im Knie zu Sarahs neuem roten Pullover. Sie zupfte am Saum, damit es ihrer Mutter ja nicht entging.

Sie hatte nichts dagegen, dass Cass sich den Pulli borgte. Er stand ihr gut. Aber sie hätte wenigstens um Erlaubnis fragen können.

»Mir war nicht danach.«

»Und worauf ich Appetit hab, ist egal?«

Sarah schlüpfte aus ihren Schuhen und spreizte kurz die Zehen.

»Du kannst dir gerne was anderes kochen«, sagte sie und bereute ihre Worte augenblicklich.

Sie wartete auf den Wutausbruch. Sie spürte, wie der Spannungspegel stieg. Cass schnappte hörbar nach Luft. Das wäre die Gelegenheit, zurückzurudern und ihnen beiden die Sache leichter zu machen. Sie entschied sich dagegen. Sie hatte Cass schon die Schweinerei in der Küche und den geliehenen Pullover durchgehen lassen.

»Ich muss Hausaufgaben machen«, antwortete Cass durch zusammengebissene Zähne. »Ich hab keine Zeit, mir auch noch was zu kochen.«

»Und ich habe einen Vollzeitjob«, sagte sie. »Trotzdem erwartest du von mir, dass ich mich ums Essen kümmere.«

»Dad hat immer gekocht.«

»Dad ist nun mal nicht da.«

»Dafür hast du ja gesorgt.«

Sie konnte förmlich zusehen, wie sich Cass in ihre Rage hineinsteigerte, und seufzte: »Muss das wirklich schon wieder sein, Cass?«

Cass machte den Mund auf, verkniff sich dann aber sichtlich, was ihr auf der Zunge lag, ging wortlos in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Wahrscheinlich schrieb sie Billy Nachrichten auf ihrem Slate und ließ sich darüber aus, wie schrecklich ihre Mutter mal wieder sei.

Es tat ihr weh, dass Cass schlecht von ihr dachte, aber sie kam nun mal ganz nach ihrem Dad. Sie hatte seine Augen, den spitzen Haaransatz und war ihm, wenn sie grollte, was der Normalzustand war, wie aus dem Gesicht geschnitten.

Sie ging in die Küche zurück, sah sich noch einmal die Schweinerei auf der Arbeitsplatte an, schnappte sich ihre Schlüssel und ging in den gemeinsamen Speisesaal hinunter. Eigentlich war sie an diesem Abend nicht an der Reihe, aber die anderen Frauen hätten sicher nichts dagegen. Sie brauchte ein paar freundliche Gesichter und eine nette Unterhaltung, was in den eigenen vier Wänden offenbar nicht zu haben war. Vielleicht fiel den anderen etwas ein, was bei Cass fruchten könnte. Sarah gingen langsam die Ideen aus. Sie würde ihrer Tochter gern nahestehen, und es wäre zu schön, wenn sie sich ihr anvertraute, wenn sie miteinander lachen könnten. Der Umzug an den sicheren Zufluchtsort für Frauen hier, so hatte sie gehofft, würde sie diesem Traum ein wenig näher bringen. Doch bisher hatte er sich nicht erfüllt.

Eher war seitdem alles nur noch schlimmer geworden. 

Kapitel 4

Helen

Am anderen Ende der Stadt öffnete Helen Taylor in ihrem Klassenzimmer ihre Tasche, steckte ihr Slate weg und sah sich dann noch einmal um. Sie fand einen zerbrochenen Eingabestift auf dem Boden sowie ein Buch, das jemand falsch herum ins Regal zurückgestellt hatte. Sie warf den Stift weg und drehte das Buch um. Alles musste seine Ordnung haben.

Als sie sich die Jacke überzog, klingelte ihr Slate. Es war Mabel.

Schon seit Jahren trafen sie sich jeden Mittwoch zum Abendessen. Manchmal gingen sie hinterher noch in eine Bar oder einen Club und tanzten sich in einer Menge anderer Frauen die Füße wund, auch wenn diese Gelegenheiten in letzter Zeit immer seltener wurden. 

Es bleibt bei heute Abend?

Na klar, antwortete sie.

Das Stadtzentrum lag nur einen Steinwurf von der Schule entfernt. Sie nahm die Abkürzung durch den Park und genoss die frühherbstliche Sonne, die alles in warmes Licht tauchte. In den Beeten verwelkten schon die ersten Blumen, von manchen Bäumen fielen die Blätter ab, doch noch überwog saftiges Grün. Eine Frau um die vierzig rannte in einem signalpinkfarbenen, hautengen Jogginganzug mit Kopfhörern in den Ohren an ihr vorbei und lächelte ihr zu. Helen erwiderte den stummen Gruß.

Eine Gruppe Frauen hatte sich zum Yoga versammelt, und nicht weit davon breitete eine Handvoll Teenager eine Picknickdecke aus. Nach der Sperrstunde erwachte die Welt zum Leben. Der öffentliche Raum gehörte den Frauen. Sie konnten tun und lassen, was sie wollten, in der Kleidung ihrer freien Wahl. Sie konnten auch um Mitternacht beschwipst nach Hause gehen, ohne angepöbelt zu werden.

Als sie durch das Tor am anderen Ende des Parks trat, klingelte ihr Slate wieder. Es war Tom.

Wo bist du gerade?

Zum Essen mit Mabel, antwortete sie.

Kann kaum erwarten, dich am Wochenende zu sehen. Nicht mehr lange bis zum Lebensgemeinschaftsschein! Viel Spaß mit M. Rufst du später zurück???

Sie hatte das Slate noch in der Hand, als auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig jemand auf sich aufmerksam machte. Es war Mabel, die den Arm hochreckte und wie wild winkte. Als ob Helen sie übersehen könnte, als ob irgendjemand sie überhaupt übersehen könnte mit ihren knapp eins achtzig plus Frisur.

Sie überquerte die Straße im Laufschritt und fiel Mabel in die Arme. Sie hakten sich unter, und Helen leistete keinen Widerstand, als ihre Freundin zielstrebig die Geschäfte ansteuerte. Sie sahen sich die Schaufenster des Schuhgeschäfts an, wo Helen ein paar blaue Wildlederstiefel bewunderte, die Auslagen des Juweliers, die der Buchhandlung. Sie fanden einen Tisch vor Puccino’s, ihrem Lieblingsrestaurant, wo ihnen die Kellnerin erst einmal einen Krug Wasser mit Zitronenscheiben und einen Korb mit Grissini brachte. Helen nahm sich eine Stange und zerbrach sie. Von den riesigen Heizpilzen strömte ihnen wohlige Wärme in den Rücken.

»Gott, wie ich die Sperrstunde liebe«, seufzte Mabel zufrieden und sah sich um. »Hast du dir damals träumen lassen, dass es uns mal so gut gehen würde?«

»Ich war da fünfzehn«, antwortete sie. »Ich wollte einfach nur vom Schwimmclub nach Hause laufen können, ohne mir jedes Mal die blöden Sprüche von den Jungs anhören zu müssen.«

»Apropos Jungs, ich hab heute Tom gesehen«, sagte Mabel. »War im Center, um die Fußfessel überprüfen zu lassen.«

»Ach ja, er hat erwähnt, dass das fällig ist«, sagte sie.

Als die Kellnerin wiederkam, bestellten sie einen einfachen Rotwein und eine Salamipizza mit extra viel Käse.

»War er bei dir?«

»Nein, bei einer Kollegin. Wieso?«

»Ach, nichts«, wich sie aus.

Sie wusste, dass Mabel Tom nicht mochte. Wenn sie sich sahen, war sie nett zu ihm, aber Tom ließ sich nichts weismachen und hatte Helen darauf hingewiesen. Es war letztlich so offensichtlich, dass sie sich fragte, wieso sie nicht selbst darauf gekommen war. Sie hatte beschlossen, es zu ignorieren. Eine andere Lösung fiel ihr nicht ein. Manche Leute kamen einfach nicht miteinander klar.

»Läuft wohl gut bei dir mit der Arbeit«, sagte sie. »Ist offenbar richtig dein Ding.«

Wieder meldete sich ihr Slate, und sie sah kurz nach. Tom. Du fehlst mir.

»Ja, schon«, sagte Mabel. »Allmählich hab ich den Bogen mit den Fußfesseln raus, und sie ist gut bezahlt. Außerdem gibt sie mir ein gutes Gefühl, etwas dazu beizutragen, dass – wie du sagst – die Mädchen heute nach dem Schwimmen heimgehen können, ohne dass ihnen irgendwelche verrückten Kerle nachsteigen.«

»Siehst du wohl«, sagte sie und tippte lächelnd eine kurze Nachricht für Tom ein. Du mir auch.

Sie aßen die Pizza, leerten den Wein und dann noch eine zweite Flasche – mehr, als sich Helen normalerweise genehmigte, wenn sie am nächsten Morgen Unterricht hatte, aber es war so ein herrlicher Abend nach einem anstrengenden Tag. Cass Johnson schien es sich in den Kopf gesetzt zu haben, ihr das Leben schwer zu machen. Klar, dass sein Vater seit Monaten im Gefängnis saß, war für das Mädchen nicht einfach, aber Helen hatte weiß Gott genug Nachsicht mit ihm gehabt. Es wurde langsam Zeit, dass Cass sich zusammenriss und erwachsen wurde.

Mabel hielt die leere Flasche über ihr Glas und sah zu, wie die letzten Tropfen herausrannen. Vom Alkohol waren ihre Wangen gerötet, und wenn sie Helen angrinste, zeigten ihre Zähne einen blauen Schimmer.

»Freut mich, dass es gut läuft«, sagte Helen. »Apropos, ich wollte was mit dir besprechen.«

»Was denn?«

Der Wein gab ihr ein wohlig warmes Gefühl im Bauch, und sie wagte es einfach. »Es geht um mich und Tom.«

»Worum genau?«

»Wir … wir tragen uns mit dem Gedanken zusammenzuziehen.«

Mabel drückte den Rücken durch. »So früh schon?«