AFTERTASTE - Jenseits des guten Geschmacks - Andrew Post - E-Book

AFTERTASTE - Jenseits des guten Geschmacks E-Book

Andrew Post

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Beschreibung

AFTERTASTE liest sich so, als hätte man widerlichen Humor, schmieriges Fast-Food und psychedelische Amphibien in einen Mixer gestopft und bei höchster Stufe durchpüriert. Eine haarsträubende Mixtur aus Jim Butchers Dresden-Files und dem Zombie-Horror eines George A. Romero. Inhalt: Früher war Saelig Zilch ein Koch. Nun aber, nach seinem Tod, hat ihn eine geheimnisvolle Organisation rekrutiert, um jene Monster zu jagen, die die Welt der Lebenden bedrohen. Also klettert Zilch in North Carolina im Körper eines frisch Verstorbenen aus einem Grab. Ihm bleibt nur wenig Zeit, seine Mission auszuführen, bevor sein Körper auseinanderfällt und er wieder ganz von vorn anfangen muss. Nach wenigen wackeligen Schritten prallt er auch schon gleich in Galavance … beziehungsweise sie gegen ihn, mit ihrem pinkfarbenen Chevy. Ein Zufall? Wohl eher nicht, denn besagtes Monster wurde in der Nähe des Trailerparks gesichtet, den Galavance ihr Zuhause nennt. Und ebenso wenig zufällig scheint zu sein, dass sich ihr Freund in letzter Zeit gern nachts draußen herumtreibt … "Eine groteske Südstaaten-Gothic-Mär, halb Evil Dead, halb Tucker and Dale vs. Evil … mit einem Helden, dessen Einsamkeit nur noch von seiner Leblosigkeit getoppt wird." [Kirkus Reviews]

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AFTERTASTE

This Translation is published by arrangement with Andrew Post

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any electronic or mechanical means, including photocopying, recording, or by any information storage and retrieval system, without written permission of the publisher, except where permitted by law.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: AFTERTASTE Copyright Gesamtausgabe © 2018 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Andreas Schiffmann Lektorat: Diana Glöckner

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2018) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-324-4

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

AFTERTASTE
Impressum
Freitag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Samstag
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Sonntag
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Montag
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Über den Autor

Freitag

Kapitel 1

Der Geschmack erinnert an Kupfer und wird von Sekunde zu Sekunde intensiver. Es lässt sich mit Ertrinken in Kuchenmasse vergleichen, ist aber weder so schön noch so dekadent, wie sich das anhört. Als er partout nicht einatmen kann, wird ihm bewusst, dass er unter der Erde liegt, und er scharrt panisch, um an die Oberfläche zu gelangen.

Dass der Sarg aufgebrochen ist, erweist sich als Glücksfall wie Hindernis. Obwohl er sich die Hände aufschneidet, die erst wieder zu Kräften kommen, während er sich an dem zersplitterten Holz hochzieht, hätte es ihm größere Schmerzen bereitet, wenn der Deckel intakt gewesen wäre. Auch als er seine Beine befreit hat, lässt er nicht nach, sondern zieht weiter, obwohl sich die satingefütterte Kiste, in der er gerade noch lag, mit Erde füllt. Je länger er schaufelt und kratzt: Der Boden wird mit jedem Zoll wärmer, den er unter sich lässt …

Schon riecht er frische Luft, und die ohrenbetäubende Stille der Isolation weicht dem Getöse der überirdischen Welt. Dort muten ein Flugzeug hoch oben am Himmel, brummende Insekten und selbst ein schwacher Sommerwind laut an. Verflucht laut.

Kaum dass er den Grund mit seinen Fäusten durchstößt, fällt ihm das Tageslicht so grellweiß ins Gesicht, dass die Schmerzen hinter seinen noch heilenden Augen unerträglich sind. Der Reanimierte lässt sich in dem schäbigen schwarzen Anzug, im dem seine geliehene Hülle beerdigt wurde, aufs Gras fallen und rupft daran. Das Geräusch, das beim Abreißen einer Handvoll frischgrüner Halme entsteht, lässt ihn immerzu an Haare denken, die mit der Wurzel herausgezogen werden. Die Grube liegt zwar hinter ihm, doch weil er Angst davor hat, wieder hineinzufallen – was nicht zum ersten Mal geschehen würde –, kriecht er weiter, bis seine Arme nachgeben. Gibt es etwas Schlimmeres, als sich aus einem Grab zu befreien? Ja, es zweimal tun zu müssen.

Nachdem er ein paar Meter sicheren Abstand gewonnen hat, sackt er zusammen und dreht sich auf den Rücken. Er streckt einen Mittelfinger gen Himmel – während er den Blick weiterhin abwendet, denn Gott, was tut diese Helligkeit weh –, und würgt »Geschafft, ihr Wichser« heraus. Die Confab kann ihn vermutlich nicht hören. Oder vielleicht doch?

Er lässt den Kopf zurückfallen, da er nach dieser Tortur zu schwach ist, um sich irgendwie zu rühren. Offen gestanden hatte er schon kaum genug Kraft, um den Stinkefinger zu zeigen.

Wo die Haut vom Kopf des ehemaligen Toten abgeschürft ist, schimmert stellenweise kalkweiß der Schädel durch. In seiner linken Augenhöhle steckt ein Klumpen Erde. Er blinzelt, bis sie hinausfällt. Statt sich herumzuwälzen, bleibt er so liegen, entspannt seine Lider langsam und schaut sich gleichmütig am Himmel um. Mit jedem angestrengten Atemzug, mit jedem Röcheln regenerieren sich seine Lungenflügel. Er hat diesem Vorgang – wenn sich die ausgeborgte organische Hülle an ihn schmiegt, die Zellen sich wieder zusammenfügen – in Anspielung auf Zurück in die Vergangenheit einen eigenen Namen gegeben: SBP oder Samuel-Beckett-Prozess. Man mag es Assimilation, Rekombination oder wie auch immer sonst nennen. Heilung? Neukonfigurierung? Wiederaufbau dessen, was zusammengehört; Nanobugs, die ihren Dienst tun. Das ist weder annähernd so spektakulär wie in jener Serie, wo es immer zischte und brutzelte wie nichts Gutes, noch nimmt er die Gestalt der Menschen an, deren Körper er annektiert, aber es handelt sich um das gleiche Prinzip. Ungeachtet der Unterschiede hat er diese Bezeichnung dafür verinnerlicht.

Was von den blond melierten Haaren seiner Hülle übrig geblieben ist, wird bald braun und fettig sein. Auch behält er die schmale Mundpartie nicht, sondern bekommt wieder hohle Wangen wie ursprünglich, als er, dieser Körperentleiher, ein neuer Springer und noch er selbst war – nicht tot, ihr wisst schon. Knochen knacken, die braun gewordenen Mineralstümpfe in seinem Mund wachsen sich wieder zu richtigen Zähnen aus. Während er mit der Zunge am Gebiss entlangfährt, brechen sie so plötzlich hervor, wie hängen gebliebene Tasten eines Selbstspielklaviers hochschnellen, wenn sie sich lösen, einer nach dem anderen und schief wie ehedem, zwei vollständige Kauleisten.

Als er so in der Sonne liegt, holt er ruhig Luft und lässt sich den geschundenen Leib wärmen. In ihm klickt, knirscht und gurgelt es. Nicht lange aber, da wird es still, und er hört lediglich Zikaden zirpen, ein regelrechtes Trommelfeuer. Seine Haut schließt sich zuletzt, und unterdessen spürt er die Hitze nicht nur auf dem ungeschützten Fleisch an seinen Händen, im Gesicht sowie am Hals, sondern kann sie schmecken: Feuchtigkeit, schwer in der Luft und anschmiegsam wie ein nasser Lappen. Sie bedrückt und vermittelt ihm das Gefühl, sogar seine Seele triefe davon, weshalb er jeden Atemzug regelrecht hinunterwürgen muss.

Schließlich setzt er sich aufrecht hin und dreht sich nach dem Grabstein um, der die Stelle markiert, an der er eben emporgekommen ist.Jacob F. Stein, geliebter Vater und Ehemann.

»Ich sehe zu, dass du alles wieder zurückbekommst, Jake. Pfadfinder-Ehrenwort.«

Als er selbstbewusst sarkastisch vor Jacob F. Stein salutiert, schaut er auf die Innenfläche seiner Hand und beobachtet, wie sie immer weniger schrundig und rissig wie das Bett eines ausgetrockneten Sees aussieht, dafür elastischer und ledrig wird … wobei die Narben zuletzt verschwinden, als ob sie ihren Einsatz verpasst hätten. Der Nagel eines eingekerbten Zeigefingers wächst bis zur Hälfte heraus. Die rechte Daumenkuppe wird langsam von hellen Linien überzogen, gerastert wie mit einem Parkettmuster. Die Gelenkhöcker ragen sprunghaft auf, wobei sich die schwer verbrannte Haut flächig verfärbt, glänzende Flecke wie hingeschmiert. Einige der tieferen Löcher, die sehr stark bluteten, wenn er sich recht entsann, schließen sich wulstig, bleiben jedoch taub und völlig farblos. Alles nur, weil er zu oft achtlos in Öfen langte, wenn er überarbeitet, abgelenkt, high oder all dies auf einmal war.

Jetzt schaut der jüngst noch Begrabene, der nunmehr vollständig wiederhergestellt ist und überzeugend lebendig wirkt, auf seine Beine, die er in der schlottrig weiten Hose vor sich ausgestreckt hat. Die Knie stehen hubbelig hoch, doch das Material liegt dermaßen locker an, dass er wahrscheinlich mit dem ganzen Körper von Kopf bis Fuß in ein Hosenbein schlüpfen könnte.

Tief Luft holen. »Also gut, probieren wir die alten Gräten mal aus, oder?«

Sobald er aufgestanden ist, bringt ihn das Vestibularorgan in seinen Innenohren aus dem Gleichgewicht, als sei er seekrank, doch das Gefühl lässt rasch nach. Schon seltsam, dass die Sinne am längsten brauchen, um sich zu erholen.

Ein Schritt, dann ein zweiter, wacklig.

Er bewältigt den Pfad über den Friedhof mühelos, während der feinkörnige, graue Schotter unter seinen schwarzen Wildleder-Slippern knirscht. Im Vorbeigehen fällt ihm auf, wie einige der neueren Grabsteine funkeln, weil der Marmor erst kürzlich bearbeitet wurde, sodass die Beschriftung deutlich erkennbar ist, unberührt noch von Regen und Wind. Die Namen wecken teilweise vage Erinnerungen in ihm, Geistesblitze wie Sirenen, die meilenweit entfernt aufheulen. Und dann diese Daten, Geburts- und Todestage … Es liegt nahe, denn in der Zwischenzeit müsste er sie alle gekannt haben. Dennoch zwingt er sich dazu, es zu verdrängen.

Um dies zu schaffen, konzentriert er sich auf seine Umgebung. Immerhin dürfte es ihm helfen, zu erfahren, wo er ist.

Zwei Hinweise tun sich außerhalb des Friedhofsgeländes auf. Vorm Zaun wachsen Wildblumen, dicht gedrängt am begrünten Rand des unbefestigten Feldwegs neben dem Gottesacker. Hinweis eins ist die Farbe des Bodens der Straße: ein rostiges Orange wie die Graberde, also eisenhaltig. Hinweis zwei sind die Blumen selbst. Während er dem Pfad humpelnd folgt und das Klicken, das Einrasten in ihm weitergeht, ruft er ab, was ihm über Pflanzen im Gedächtnis geblieben ist.

Die klumpigen, borstigen Wirtel der … Zitronengoldmelisse.

Die buttergelben Blüten an den Stängeln von Carolina-Jasmin. Ja, das ist definitiv Carolina-Jasmin.

Und schließlich Goldglöckchen. Wie traurig lässt es seine Köpfe hängen. Kein anderes Gewächs sieht so herrlich leutselig aus.

Einen Moment lang denkt er an Salat aus wilden Blumen, Radicchio und geriebenen Möhren, den er widerwillig für eine Hochzeit gemacht hatte, nachdem er als Caterer engagiert worden war. Die Braut, eine Kanadierin, hatte eine Schwäche für Trends, und zu jener Zeit war dieses Rezept in, genauso der ach so verantwortungsvolle Kauf lokaler Erzeugnisse, also bestand sie darauf, nur Blumen aus der Gegend zu verwenden. Der Bräutigam, ein solider Typ, stammte aus Virginia, wo die Feier auch stattfand, und dort wachsen eben sowohl Zitronengoldmelisse als auch Carolina-Jasmin.

Daraus ergibt sich, dass ich im Süden sein muss. Angesichts der vielen Nadelbäume auf der anderen Straßenseite kann es allerdings nicht zu weit unten sein, keineswegs Florida oder so. Vielmehr irgendwo auf der Kante West Virginia, Tennessee. Die rote Erde grenzt die Möglichkeiten auf nur diese beiden Staaten ein.

»Erklärt auf jeden Fall, warum es so warm ist«, brummt er leise und wischt sich die Stirn ab. »Bitte lass es keinen der zwei Staaten sein, die ich vermute. Mehr verlange ich nicht.«

Wieder überfliegt er die Grabinschriften und ordnet seine Eindrücke von früher neu, sodass sie sich allmählich ineinanderfügen, als würde er unter einem Sturzbach aus saurem Regen stehend ein Puzzle aus Rasierklingen und Angelhaken zusammensetzen. Ein klares Bild will sich einfach nicht ergeben. Dennoch tauscht er die Teile weiter aus, schneidet und ritzt oder sticht sich daran.

Natürlich haben viele der Toten identische Namen. Das ist nicht ungewöhnlich, aber so viele, die ihm geläufig sind, an einem einzigen Ort wie diesem? Er grunzt und kehrt der stummen Steinansammlung auf dem Friedhof den Rücken zu. Vergiss es. Darum lässt er es auf sich beruhen und tritt unter dem ätzenden Wasserfall heraus, den er sich einbildet, woraufhin es ihm sofort besser geht. Sein altes Leben bedeutet nichts. Erinnerungen sind bloß Schmutzflecken.

Als er das Tor erreicht und hinausgehen möchte, knarren die rostigen Angeln beim Öffnen. Sich am Straßenrand zu halten, ohne in den Graben zu kullern, der halbhoch mit stinkend kaffeebrauner Brühe vollgelaufen ist, wird zu einem Drahtseilakt. Einmal verliert er die Balance, verlagert sein Gewicht zu stark zur Fahrbahn hin und betritt sie. Hupen, ein erschrockenes Glucksen. Ist er das selbst gewesen?

Ein Auto braust vorbei; weil es so knapp war und Lärm herausdrang, der wohl Musik sein sollte, bekommt er Herzklopfen. Er verzieht das Gesicht, während das Heck des Wagens in der aufgewirbelten Sandwolke verschwindet, windschnittig elegant und in geschmacklosem Grün lackiert, wie man es nur in tropischen Regenwäldern oder schlechten Drogentrips sieht. Er weiß weniger über Autos als die Flora, doch der Modellname steht rechts am Kofferraum: Accord. Mit zerzausten Haaren und feinem Schmutz an den Wimpern, gegen den er anblinzelt, bleibt er stehen und schlägt nach dem heißen Staub, der ihn umweht. Dabei beobachtet er, wie das Fahrzeug auf der Straße davonrast und hinter einer Kurve außer Sicht gerät. Nur den Namen konnte er lesen; um das Nummernschild zu erkennen, war es zu schnell, aber der Hip-Hop wummert länger, als er den Wagen sieht. Ein »Yo, Motherfucker« schnappt er noch auf, wütend gebellt und dabei durchaus glaubwürdig, weshalb er, der früher wohl nicht über die stärkste Pumpe verfügte, kurzzeitig verärgert neben der Straße weitergeht.

Hätte mich fast angefahren, der kleine Scheißer. Junge Leute … völlig rücksichtslos, nichts als laute Bässe und Vögeln in der Birne.

Er lässt Dampf ab, indem er einen dicken Stein in den Graben tritt, wo er einen Schwarm Stechmücken aufscheucht und mit einem Plopp versinkt. Um Rache zu üben, stürzen sie sich auf ihn. Ein paar landen mit ausgefahrenen Rüsseln, schwirren aber wieder ab, ohne von seinem Blut probiert zu haben. Nein. Der schmeckt wohl nicht. Er lacht, während sie fortfliegen und sich eine normalere Mahlzeit suchen. »Jawohl, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht allzu gut schmecke.«

Das Grinsen vergeht ihm schnell. Er regt sich immer noch darüber auf, beinahe wieder getötet worden zu sein. Eigentlich ist es aber irrelevant. Die Erwägung, sich Kennzeichen zu merken, sieht einem lebendigen Menschen ähnlich, aber niemandem unter der Fuchtel der Confab. Er darf mit niemandem sprechen, außer es lässt sich nicht umgehen, und kann sich irgendwie denken, dass es seine Vorgesetzten nicht unbedingt für notwendig halten, bei den örtlichen Behörden Anzeige gegen einen Raser zu erstatten. Den Beckett soll er hier machen, seine Aufgabe erledigen und die Hülle dort hinterlassen, wo er hineingeraten ist. Mehr nicht.

Damit – also dem Vermeiden von Gesprächen – hatte er nie ein Problem, weil er sich generell nie als umgänglicher Mensch verstand. In seinem alten Leben war es genauso, bloß dass er einen freien Willen und einen Job hatte, der sich indes erheblich von seiner jetzigen Tätigkeit unterschied: Koch und angehender Küchenchef. Das schloss einige Erfahrung mit ein. Er blickt auf Anstellungen in siebzehn verschiedenen Restaurants zurück (einige gut, die meisten nicht), und zwar vor seiner Bewerbung auf der Meisterschule. In jenen engen, heißen Küchen war es, wo er eingezwängt zwischen wohlmeinenden Einwanderern und Studienabbrechern schuftete, unerhörte Schichten schob und dabei inständig hoffte, minderwertige (oder schlicht kaputte Utensilien) würden gnädigst ihren Dienst tun, sich in Anbetracht unzuverlässiger Gehaltszahlungen auf die Zunge biss und doch nie aus den Augen verlor, worauf es ankam: Er zog es durch, führte das Leben eines Kochs, und der Rattenschwanz, den dieser Wandel nach sich zog, stärkte sein Rückgrat, sodass er sich bei all dem Scheiß seine Würde bewahren konnte. Kommt mir nicht mit Zutaten, sondern lasst mich machen, worin ich am besten bin. Er liebte das.

Freilich liegt es in der Vergangenheit, und dies ist die Gegenwart. Hier und jetzt soll er eine Art von Arbeit verrichten, in deren Rahmen es ihm selbst nach zahllosen Stunden Praxiserfahrung nicht gelingt, die ständigen Fettnäpfchen zu umgehen, obwohl es in der Theorie leicht klingt: Töte die Lusus naturae, oder krieg sie zumindest so weit unter Kontrolle, dass man sie festnehmen und dorthin abschieben kann, wo sie keinen Schaden anrichtet. Zu dem, was er früher gemacht hat, besteht ein himmelweiter Unterschied, klar, doch er erinnert sich oft an früher, als einmal falsch bestellt wurde und ein Hängebauchschwein aus dem Lieferwagen kam, aus eigenen Stücken wohlgemerkt, nicht zerstückelt, verdammt lebendig und schnaubend. Es kaltzumachen oblag dann ihm, weil man Koteletts als Tagesgericht anbot, der Chefkoch aber in Urlaub (auf Entzug) war und die Zeit fehlte, einen Schlachter oder auf Borstenvieh abonnierten Auftragskiller zu rufen. Müßig zu erwähnen, dass an dem Tag ausgiebig mit Messern hantiert wurde, und bei jedem Sprung, wenn unser Held heute den Beckett mimt, entsinnt er sich jener fürchterlichen Schicht mindestens einmal, weil die Arbeit für die Confab ihr stark ähnelt. Ganz richtig, du, dem jegliche Erfahrung im Töten abgeht – du sollst das für uns erledigen, und zwar dalli, Dummkopf.

Zu einem Job genötigt zu werden, der ihm nicht liegt, macht ihn fast glauben, er sei mit jemand anderem verwechselt worden. Gab es dabei allerdings eine andere Wahl? Nicht dass er wüsste, und er hat nachgefragt, verlasst euch drauf.

Ferner durfte er über jene Sau reden, die er durch die Küche gejagt hat. Sobald man aber unfreiwilligerweise von der Confab eingestellt wird, darf man niemandem davon erzählen – von den Lususnaturae, den Launen der Natur, die da draußen umgehen –, denn ansonsten bricht offensichtlich die Hölle los. Man sei aber mal so frei und kritisiere die Machenschaften, die Geheimniskrämerei der Organisation, da man selbst im Wissen darum leben könne, dass diese Abscheulichkeiten frei überall herumlaufen (diejenigen, die sich benehmen, dürfen dies tatsächlich), und eben nicht den Verstand verlieren. Der gemeine Pöbel erträgt nicht einmal die Vorstellung, ihre »Diät«-Erfrischungsgetränke enthielten womöglich doch eine Kalorie, geschweige denn die Tatsache, dass Geschöpfe existieren, die imstande sind, das Skelett eines erwachsenen Menschen mit einem gezielten Rotzer zu verflüssigen.

Nachdem er minutenlang nur sein eigenes Schlurfen und das unermüdliche Zirpen gehört hat, mit dem die Zikaden seine Wanderschaft begleiten, gelangt unser mit Erde verschmierter Geselle kleinlaut auf sein Los schimpfend an eine Einfahrt. Es handelt sich um eines jener Häuser, deren Bewohner dem Postboten gewogen sind, denn die Adresse steht vollständig ausgeschrieben in goldenen, kursiven Klebbuchstaben und -zahlen an der Mauer: Familie Miller, Kit Mitchell Road 7984.

Der Auferstandene bleibt abrupt stehen und dreht sich um. »Moment mal.« Er überlegt, und der Puls seines reanimierten Herzens setzt einmal ganz deutlich aus. »Bedeutet das jetzt etwa …«

Der Name der Besitzer spielt keine Rolle, jenen der Straße starrt er mit offenem Mund an.

Er vergewissert sich: Kit Mitchell Road.

»Nein, im Ernst, Mann. Nein.«

Er schaut zurück zu dem Stück Weg, auf dem er gekommen ist. Der Verlauf der Straße, die leichte Biegung, die Bäume am Rand. Die Landschaft ist zugewuchert, hat sich verändert und gibt ihm deshalb das Gefühl, er sei geschrumpft, seitdem er zuletzt hier war, bleibt jedoch ein und dieselbe. Er ist diese Strecke zu oft gegangen, als dass er mitgezählt hätte, wie oft. »Das kann nicht wahr sein.« Als er sich wieder ruckartig umdreht, muss er einen Schritt vorwärts machen, um sein Gleichgewicht zu halten, weil ihm schwindlig wird, entweder wegen der Hitze oder da er den Beckett-Prozess noch nicht lange hinter sich hat.

»Elender Mist«, flucht er, schnauft und lächelt verächtlich. »North Carolina, zum Donnerwetter.« Nach vorne gebeugt lässt er die Schultern hängen und steckt kopfschüttelnd die Hände in die Hosentaschen. »Arschlöcher.«

Schließlich trottet er weiter. Dabei lacht er schrill und tritt gegen jeden Stein, der auf dem Weg liegt. »Unfassbar«, stöhnt er immer wieder laut. Ein bisschen wehmütig denkt er an den Friedhof und die vielen Namen zurück, die Freunden seiner Eltern und Lehrern gehörten, einer auch jener alten Dame, die in einem Schnellimbiss arbeitete. Er schwänzte die Schule und lief Gefahr, erwischt zu werden, nur weil die Burger in dieser schmierigen Bude so verboten gut schmeckten. Kein Zweifel, er ist in North Carolina, und zudem nicht irgendwo, sondern in einer Gegend, die er persönlich kennt, da er hier aufwuchs.

»Als sei's nicht schon schlimm genug, Tag für Tag herumgeschickt zu werden, auf dass mir irgendwelche angepissten Freaks den Arsch abbeißen und ins Gesicht kotzen, muss es jetzt hier sein, wo an jeder zweiten Kreuzung und Ladentheke all die beschissenen Erinnerungen …« Er verliert seinen Schwung beim Zetern und wird immer leiser. Er hätte sowieso nicht gewusst, wie er diesen Satz zu Ende bringen sollte.

Beim Weitergehen mault und meckert er vor sich hin.

Kapitel 2

Als Galavance aufwacht, liegt sie auf einer Matratze ohne Laken und blickt an die Decke. Neben ihr surrt ein angeschalteter Ventilator, der immerzu hin und her schwenkt, als wache er über ihren zierlichen Leib. Gestern Nacht war es zu heiß für Decken oder nur ein Laken. Sie trägt ein T-Shirt der Band Papa Roach, das so oft gewaschen wurde, dass es wie mit Schrot beschossen aussieht. Als sie einen Finger durch eines der Löcher steckt, fühlt sie sich an ein Hammerspiel erinnert, bei dem Kinder auf Köpfchen klopfen müssen, und denkt kurz, dass sich das zerfledderte Oberteil von Jolby wie frische Pasta anfühlt.

Nudeln. Töpfe und Pfannen. Dampf. Küche. Stoppuhr. Zu spät. »Scheiße.«

Sie bemerkt ihren Kater nicht – hat gar keine Ahnung, dass er vielmehr wie eine eingerollte Schlange in ihrem Kopf lauert –, bis sie sich hinsetzt. Uff! Sie stöhnt. Wenig zu Abend zu essen und eine ganze Flasche Zinfandel der Marke Pennerglück zu trinken zählt nicht zu den klügsten Entscheidungen in ihrem Leben.

Der Ventilator ventiliert. Sie starrt in sein schnurrendes, weißes Plastikgesicht, während er seinen Kopf schüttelt. Tss, tss …

Die Klimaanlage des Trailers pfeift aus dem letzten Loch, und sobald sie den Ventilator ausschaltet, sodass die Luft zur Ruhe kommt, wird der schreckliche Gestank ringsum richtig penetrant. Wie überreifer Käse oder als habe jemand eine Zwiebel als Deoroller verwendet und sei in Zellophan gewickelt drei Meilen gelaufen. Übel.

Sie bleibt auf einer Ecke der Matratze sitzen und fleht das Biest mit den Krallen in ihrem Schädel an, zu verschwinden, während sie auf die Schmutzwäsche blickt, die sich in Häufchen am Boden auftürmt (und Ausläufer bildet, wo sie in die frischen Sachen übergeht). Dabei entdeckt sie etwas schrecklich Bloßstellendes: Eine seiner weißen Unterhosen, umgestülpt, mit einem erdfarbenen Fleck von der Größe eines Daumenabdrucks im Gewebe. Die Farbtöne überlagern einander, ein durchgängiges Punktmuster in Braun bis Dunkelgelb. Maiskörner vielleicht? Tatsächlich aß er neulich Abend mexikanisch. Mieser Lügner. Er behauptete, es sei Salat gewesen, doch kein Grünzeug der Welt nötigt Jolby, seine Wäsche so auszuziehen.

Sie erlebt das nicht zum ersten Mal, also was ihn betrifft jetzt – eingesaute Unterhosen, Zahnseide mit grauen Klumpen daran, die aussehen wie aufgefädelte Murmeln aus vorindustriellen Zeiten. Orangefarbene Spritzflecken an der Badezimmerwand nach Dauererbrechen um drei Uhr morgens, weil er es nicht mehr bis zum Klo schaffte. Man gewöhnt sich an solche Anblicke, wenn man sage und schreibe schon fast zehn Jahre mit jemandem zusammen ist.

Der Bursche weiß, was sie mit seiner Verdauung anstellen, doch dass diese extra-scharfen Chalupas und er wie Feuer und Wasser sind, ist ihm schnuppe. Wäscht er das dreckige Zeug? Nein.

Ach, wie stark die eigenen Skrupel mit der Zeit doch nachlassen … Früher auf der Highschool, als man sich auf dem Flur aufwendig gefaltete Zettelchen zusteckte wie Freiheitskämpfer in Gefangenschaft, die heimlich miteinander kommunizieren, war ein Furz oder selbst die Erwähnung dieses Wortes tabu, wohingegen jetzt das völlige Gegenteil zutrifft und die unverblümte Offenbarung aller Widerlichkeiten, die der männliche Körper abzusondern vermag, zum Alltag gehört. Etwa wenn er in seiner Nase bohrt, den Popel betrachtet und wegschnippt, während er tatsächlich neben ihr auf dem Secondhand-Sofa hockt.

Manchmal, wenn sie brutal ehrlich zu sich selbst ist, was ihre Beziehung mit Jolby angeht, deutet sie beiläufige Gesten wie diese als wortlose Frage: »Zu wem willst du sonst? Wir sind ja schon ewig zusammen.« Freiheitsentzug mit plumper, halboffener Faust – teils ihrerseits, teils seinerseits. Sie könnte sich jederzeit von ihm trennen, wobei die Betonung auf könnte liegt.

Während sie über Hände nachdenkt und Müsli in eine Kaffeetasse kippt, fällt ihr ein, dass sie sie manchmal gern zu Fäusten ballen und auf Jolby losgehen würde. Diese Vorstellung gefällt ihr sehr. Dann fallen ihr die Finger an sich ein und dass keiner der ihren einen Ring trägt, weder zum Zeichen persönlicher Bindung noch andere.

Er hat ihr nicht einmal seinen Siegelring zum Highschool-Abschluss geschenkt, sondern vorgeschoben, ihn wohl verloren zu haben. Keinen Freundschaftsring, ja nicht einmal einen billigen aus Zinn von Walmart. Mir wäre sogar egal, wenn er meine Finger grün färben würde. Ich willirgendwas. Das würde sie sagen, nicht wahr? Wenn es ihr so wichtig wäre. Ich bin aber eine moderne Frau. Solche Wertschätzung, solche Daseinsbestätigung sollte sie eigentlich nicht brauchen. Andererseits,ist er es mir verdammt noch mal nicht schuldig? Ich wasche seine dreckigen Unterhosen. Außerdem beschwere ich mich nicht … oder nicht oft. Im Ernst, er hat ja nicht mal 'nen Job.Außer man nimmt sein Geschwätz, er würde »Investoren suchen«, für voll. Es geht dabei um ein Grundstück in der Whispering Pines, das er gemeinsam mit seinem Kumpel Chev, noch so einem Gewinnertypen, gekauft hat, um ein Haus zu bauen. Ganz recht, Jolby, der nicht einmal ordentlich putzen kann, will ein Haus bauen. Sie kann es sich schon lebhaft vorstellen:

»Pass auf die dritte Stufe dort auf.«

»Ach ja, und das sieht zwar nach einer Tür aus, doch sie lässt sich nicht öffnen.«

»Das da im Boden ist kein Loch. Das nennt man unter Hausbesitzern Flair … oder so. Charme.«

Galavance schlüpft in ihre Arbeitshose, streift Jolbys abgewetztes T-Shirt ab, wobei sie kurz abwägt, ob sie es sich wie Hulk Hogan von der Brust reißen soll, greift sich einen BH und zieht das Polohemd mit dem gestickten Schriftzug Big Fat Frenchy's auf der Brust an, das sie von ihrem Arbeitgeber bekommen hat. Sie betrachtet sich im Badezimmerspiegel, wobei sie sich mit zwei Fingern die Nase zukneift, und lässt dann ihren wasserstoffblonden Haaren so etwas wie eine Frisur angedeihen. Hier drin riecht es wie Jolby – nach Old Spice, Mentholkippen und danebengegangenem Urin, der sauer geworden ist wie Essig. Sie könnte eine ganze Flasche Reiniger im Raum verteilen, doch sein Mief würde trotzdem alles überdecken, womit sie aufwartet. Sie schminkt sich hastig, aber gekonnt.

Beim Rausgehen in die Hitze ruft sie im Restaurant an und sagt ihrem Boss, dass sie ein paar Minuten später kommt. Der Kerl, der tatsächlich zwei Jahre jünger ist als sie, schweigt sie einen Augenblick durch die Leitung an. Er zuckt vermutlich mit den Schultern und erwartet, dass sie das errät, ohne ihn zu sehen.

»Egal«, entgegnet er schließlich und schnauft noch eine Minute lang in den Hörer. »Du weißt aber, dass Patty heute kommt, oder?«

Galavance reißt die Augen auf. »Was?« Hat sich ihr Magen gerade wegen dieser Neuigkeit oder aufgrund der plötzlichen Hitze umgedreht, die ihr auf die Brust schlägt?

»Ja-ha, Mann. Patty kommt. Weißt du nicht mehr? Der Quatsch mit den Testfilialen für neue Gerichte auf der Speisekarte. Sie sagt, sie will sichergehen, dass wir auf Draht sind und so, klar?«

Sie trennt die Verbindung und stapft über die schimmelige Matte aus Kunstrasen, mit der sie die Vorterrasse ausgelegt haben. Nachdem sie einen Tanz zwischen den Hundehaufen des Nachbarköters und Bierdosen vollführt hat, die den Hof zu einem Minenfeld machen, steigt sie in ihren Chevrolet Cavalier in der Einfahrt, der pink wie Kaugummi ist. Laut Ziffernblatt des Thermometers, das an einer Seite ihres extragroßen Trailers hängt, sind es fünfunddreißig Grad, doch in der Karre könnte es glatt dreimal so heiß sein.

Kaum dass sie den Motor gestartet hat, lässt sie alle vier Scheiben hinunter. Als sie ihre verchromte Gürtelschnalle mit einem Ellbogen streift, ist sie davon überzeugt, es zischen zu hören, weil das heiße Metall ihre Haut versengt. Beim Nachhausekommen am Abend zuvor hat sie vergessen, die Abdeckung über die Armaturen zu legen, weshalb sie sicher ist, dass ihre Finger am Lenkrad, einem schwarzen Ring, einsinken und sich nicht mehr ablösen lassen, falls sie den Mut aufbringt, es fest anzupacken.

Nachdem sie den Wagen so lange hat laufen lassen, wie sie noch warten kann, wagt sie sich vorsichtig ans Steuer, indem sie probehalber zugreift und gleich wieder loslässt. Einigermaßen abgekühlt. Sie setzt in der Einfahrt zurück, rollt hinunter und schließlich vom Hof, ohne das Winken nur eines der Greise zu erwidern, die armselige Blumenbeete in ihren Vorgärten gießen, obwohl diese ihr zuwinken und dabei freundlich ihre Gebisse präsentieren.

Glückliche alte Leute. Scheiß auf sie.

Die schrille Farbe von Galavances Chevy Cavalier rührt von Jolbys Unfähigkeit her, seine Freizeit sinnvoll zu nutzen, als er noch im Baumarkt Home Depot angestellt war und auf Schicht arbeitete. Nachdem er sein Auto, einen Honda Accord, aufgemöbelt hatte, floss das ganze Geld, das er beim nächtlichen Füllen der Regale verdiente, in Modifikationen am Wagen seiner Freundin. Er schraubt gern an den Kisten herum, und warum sollte sie sich darüber beschweren, dass er ihr einen hübschen Schlitten zurechtmacht? Dass er ihr Fahrvergnügen bereiten wollte oder wie auch immer man es nennen mag. Im Gegenzug verlangte er nur, dass sie hinterher mit dem Ding posierte. Sie willigte ein, weil sie wusste, dass er selten etwas zu Ende führte. Sie brauchte sich voraussichtlich keine Sorgen darüber zu machen, ihr kleiner Bruder entdecke einmal Fotos von ihr im Internet, auf denen sie sich im Stringtanga auf der Motorhaube rekelt.

Natürlich geschah das zu einer Zeit, als er noch Kohle reinbrachte, und sie ließ sich unter anderem aus dem Grund auf die Abmachung ein, weil sie ihn anspornen wollte, mehr freiwillige Schichten zu übernehmen. Leider beschloss er später, »gemeinsame Sache« mit seinem Spießgesellen Chev zu machen und ins Baugewerbe zu wechseln, was dazu führte, dass man bei Home Depot den Eindruck gewann, diese Nebentätigkeit lenke ihn ab, weshalb er entlassen wurde. Es stellte sich als Riesenkatastrophe heraus.

Aber wartet, es wurde noch schlimmer.

Chev und Jolby erhielten den Zuschlag auf den Bau eines Fertighauses in einem neu erschlossenen Siedlungsgebiet, doch ihr Freund behauptete dann, sie seien mit einem Trick zu diesem Auftrag verpflichtet worden. Die Ausschreibung sollte eine Finte gewesen sein, und man habe ihr Gebot mit Kusshand angenommen, weil das ganze Gelände andauernd, je nach wöchentlicher Niederschlagsmenge, ein bis zwei Fuß hoch überflutet ist. Zu spät, kein Rücktritt, es gehörte ihnen. Kauft ein Haus und versucht, es loszuschlagen, Herrschaften.

Das bedeutet, dass sie nur daran arbeiten können, »wenn sie daran arbeiten können«. Was den Rest ihrer Zeit angeht, die sie angeblich auf der Suche nach geregelten Jobs zubringen, ist sich Galavance zwar nicht sicher, hegt aber den ziemlich starken Verdacht, Jolby und Chev würden sie schlicht in jener halb fertigen, halb unter Wasser stehenden Bude verplempern, indem sie sich Psycho-Pilze einschmeißen und dabei Dialoge aus dem Drehbuch von Völlig high und durchgeknallt nachspielen. Sie macht ihm nie Vorwürfe, weil sie es nicht genau weiß, doch wenn er mit derart blutunterlaufenen Augen nach Hause kommt, dass man meinen könnte, er habe Bleichmittel mit Augentropfen verwechselt, erklärt es sich mehr oder weniger von selbst, was er tagsüber so getrieben hat. Ihn deshalb anzugreifen würde tierischen Streit verursachen, also hält sie den Mund. Es lässt sich unmöglich beweisen, außer sie beobachtet ihn mit eigenen Augen dabei.

Eines weiß Galavance aber definitiv: Drei ist für sie die magische Zahl, was Zigaretten angeht, denn so viele muss sie rauchen, um sich mental aufs Einstempeln vorzubereiten. Weniger, und sie hat das Gefühl, ihr Gehirn komme nicht richtig in die Gänge, doch werden es mehr, ist sie wiederum zu hibbelig. Drei, und zwar direkt aufeinanderfolgend, sind normalerweise genau richtig. Zu dumm nur, dass sie gerade ihr Feuerzeug nicht findet, um die erste anzuzünden …

Sie kennt die Kit Mitchell Road wie ihre Westentasche. Fünfmal die Woche – sechsmal, wenn sie außer der Reihe gerufen wird – nimmt sie diese nette Nebenstraße, die sich durch bestellte Felder und ehemaliges Ackerland schlängelt, Letzteres ausgebaut zu noch mehr Sackgassen, wo auf der Suche nach bescheideneren, ruhigeren Verhältnissen zugezogene Nordstaatler ihre Midlife-Crisis gemütlich hinter sich bringen können. Galavance glaubt, sie könne ihren Blick einen Sekundenbruchteil lang abwenden. Neulich abends lag ein Mini-Einwegfeuerzeug dort unten im Beifahrerfußraum. Gestern hat sie es noch gesehen. Da ist es ja.

Während sie die Flamme an die Kippe hält, schaut sie gerade lange genug auf, um einen blassen Mann in einem schwarzen Anzug zu sehen, dem sie sich schnell nähert.

Er steht ihr seitlich zugekehrt da, hat ein Bein angezogen und die Arme ausgestreckt, als wolle er geradewegs auf sie zulaufen oder einen Fastball werfen. Sie hört ihn – »Ahhhh …« – doch er stürzt weder los noch schmeißt irgendetwas, denn der Fastball ist in dieser Situation Galavance. Sie hat keine Chance, auch nur gegenzulenken.

Reifen quietschen, sie schreit, und er auch.

Wupp-wupp.

Kapitel 3

»Oh mein Gott, ich hab gerade jemanden angefahren.« Galavance hält das Lenkrad mit beiden Händen fest, nachdem sie intuitiv zehn und zwei Uhr gefunden hat, so wie sie es in der Fahrschule gelernt hat, und stiert durch die Windschutzscheibe, in der sich Risse wie ein Spinnennetz ausgebreitet haben, über die Motorhaube hinweg. Scherben aus durchsichtigem Plastik liegen herum, die Einfassung eines Scheinwerfers rollt davon wie eine Münze. Der verchromte Kunststoff des Kühlergrills ist zersplittert. All das Zeug, das Jolby angebracht hat, aber das ist im Moment unerheblich, denn – sie sagt es sicherheitshalber erneut laut, denn es könnte ihr ja beim ersten Mal nicht richtig klar geworden sein – »Ich hab gerade jemanden angefahren.«

Zum zweiten Mal an diesem Morgen kämpft Galavance dagegen an, sich übergeben zu müssen. Sie lässt das Lenkrad mit einer Hand los und langt nach dem Türriegel …

Und hinter ihrem Wagen, im Seitenspiegel, sieht sie ihn.

Als sei er schlicht beim Suchen von Markierungen im Sand auf der Straße gestört worden oder Ähnliches steht der Mann von der entgegengesetzten Fahrbahn auf und klopft sich Dreck von den Ärmeln. Einer hängt ein wenig herab, da er an der Schulter abgerissen ist. Seine Krawatte sitzt schief, und eine Hälfte seines Gesichts sieht zerdrückt aus, weil der Bodenbelag die Haut abgeschürft hat, doch es blutet kaum. Etwas krabbelt über seine Züge – oder sieht Galavance schwarze Punkte, die einen bevorstehenden Hirnschlag ankündigen? Dieses Etwas bewegt sich auf den Rand der Wunde zu, ehe es verschwindet … oder in ihn eindringt?

Sie bleibt, wo sie ist, erstarrt mit einer Hand am Türriegel. Er kommt vorne herum und besieht zunächst den Schaden. Dann schaut er sie streng mit zusammengekniffenen Augen durch die Scheibe an. Ihr ist schummrig zumute, weshalb sein Anblick immer wieder vor ihr verschwimmt. Er verzieht sein Gesicht, während er weiter Staub von sich klopft, und wirkt äußerst genervt.

»Ihr Kids müsst hier wirklich langsamer fahren.«

»I-ich … t-tut mir l-leid«, stammelt sie. »Hab Sie nicht gesehen.« Er kann sie wahrscheinlich nicht hören, also streckt sie ihren Kopf aus dem offenen Türfenster und entschuldigt sich erneut, indem sie bei den gleichen Buchstaben stottert wie zuvor.

Er zieht einen Splitter von einem Spiegel aus seinem Ohrloch, betrachtet ihn wie Jolby einen Popel und schnippt ihn weg. Dann geht er das restliche Stück zur Seite des Wagens – ihrer Seite –, ohne auch nur zu hinken.

Ist das denn die Möglichkeit? Ich hab doch gesehen, dass er durch die Luft geflogen ist wie eine lebensmüde Ballerina auf kaputten Sprungfedern, aber jetzt … quatscht er mich an: Unverletzt, wie es jemand, der gerade angefahren worden ist, nicht sein kann.

Er beugt sich zum Fenster hinunter und sieht Galavance an, die sich immer noch mit durchgedrückten Armen ans Lenkrad klammert wie an den Querbügel einer Achterbahn kurz vorm Sturz. Sie kann sich gut vorstellen, dass sie leicht grün um die Nase ist. »Geht es Ihnen gut?«, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen und gesenktem Kopf, ein Bild der Unsicherheit.

Nachdem sie die Tür aufgestoßen hat – sie schlägt ihm ins Gesicht, sodass sein Schädel mit einem dumpfen Knall gegen den Rahmen knallt –, übergibt sie sich auf seine Schuhe. So viel geschieht auf einmal: Er hält sich die Stirn, schaut auf die gelben Spritzer auf seinen Füßen und geht gleichzeitig rückwärts. Schließlich stolpert er über irgendwelchen Müll am Wegrand und plumpst mit seinem Hintern ins Gras. Dort bleibt er dann, und Galavance ahnt, dass er es wesentlich sicherer findet, als sich in ihrer Nähe aufzuhalten.

Sie wischt sich ihr Kinn ab. Dann, als sei der Auswurf Vorbote eines weiteren gewesen, eines reumütigen Wortschwalls: »Jesus, ich bin echt die Allerletzte, nun sehen Sie sich das an – ich meine, sind Sie schlimm verletzt? Ich hab nur eine Sekunde nicht aufgepasst –, und Ihre Schuhe, Mensch, die schönen Elvis-Treter, total versaut. Ist mir voll peinlich, Mister. Hey, müssen Sie ins Krankenhaus? Der Wagen läuft noch, oder soll ich mit dem Handy … also, was haben Sie jetzt vor?«

Kotze auf den Schuhen, ein dezent ruinierter Anzug, leichte Kopfschmerzen und ein Wehwehchen mehr am Körper, das die Krabbler beizeiten ausbügeln müssen, aber er schätzt sich dennoch glücklich, weil er früh genug wegspringen konnte und nicht überfahren, sondern nur gestreift wurde. Trotzdem ist das kein Morgen, wie er ihn sich wünscht.

Er hustet sich in die Hand und besieht sie. In den Speichelspritzern macht er drei schwarze Pünktchen aus: Nanobugs, die das Zeitliche gesegnet haben. Akku leer. Ovid, sein Confab-Betreuer, würde ungefähr jetzt sagen: »Irgendwann kriegst du keine mehr, Zilch.«

»Wo sind wir?«, fragt er automatisch, als er die Tropfen an seinem Hosenbein abwischt. Ihn beschleicht dieser Verdacht, doch er traut seinem Gedächtnis nicht vollends, also könnte – bitte, hoffentlich – im Zuge des Beckett-Prozesses etwas schiefgelaufen sein. Vielleicht erinnerte er sich nicht richtig an den Straßennamen, vielleicht ging bei der Umwandlung von Tod zu Nichttod etwas verloren. Er möchte es bestätigt haben.

»Kit Mitchell Road«, antwortete sie, als sei es ein zusammenhängendes Wort. Sie spricht mit einem niedlichen Akzent – leicht melodiös, ein Südstaaten-Singsang. Er rechnet fast damit, dass sie gleich Kautabak rotzt oder eine abgesägte Flinte vom Rücksitz zieht.

»Aber das ist North Carolina, richtig? Bezirk Franklin County?«, hakt er nach und begutachtet wieder seine besudelten Schuhe. Na ja, es sind ja sowieso nicht seine eigenen. Kein großer Verlust. Trotzdem, nasse Slipper? Kotznasse Slipper? An einem Sommertag? Fantastisch.

»Richtig«, erwiderte sie. Selbst dieses eine Wort äußert sie mit Zungenschlag. Nachdem sie ausgestiegen ist, tritt sie vorsichtig näher, als habe er eine Flasche Nitroglyzerin geschüttelt. »Und Sie kommen auch bestimmt wieder auf die Beine, ja?«

Als er zu ihr aufschaut, muss er der Morgensonne wegen blinzeln, die den Kopf des Mädchens mit einem Strahlenkranz versieht. »Ich bin von Natur aus so blass, falls Sie darauf anspielen. Schon vor meinem … Ach, vergessen Sie's.«

Er steht auf. Das war eindeutig, nicht wahr? Der Akzent, wie schnell man sich doch wieder daran gewöhnt. Sein letzter Sprung nach North Carolina ist Jahre her, und was das angeht: Wieso muss er gerade jetzt hierherkommen? Wie lautet die Vorgeschichte?

»Find's raus«, murmelt er und muss sich noch einmal abklopfen, nun da er sich aufgerafft hat. Es bringt nichts, er bleibt schmutzig.

»Verzeihung?«

Er sieht sie an. »Gibt es hier irgendwo ein Münztelefon?«

»Ein Stück weiter die Straße rauf. Werden Sie die Bullen rufen?« Er bemerkt, dass sie eine Hand auf einen breiten, flachen Gegenstand legt, der in einer der Taschen ihrer figurbetonten Kakihose steckt. Sie besitzt ein Handy, fürchtet sich allerdings sichtlich davor, was geschehen mag, falls die Polizei herbestellt wird. Große Angst hat sie. Und große Rehaugen.

»Ich sollte mich nicht mit Ihnen unterhalten«, meint er. »Ich muss aber jemanden erreichen, und als ich zuletzt hier war, gab es hier kein Internetcafé. So wie es aussieht – deutlich anders zwar –, scheint diesbezüglich alles beim Alten geblieben zu sein.«

Die Kleine sagt nichts dazu. Sie ist sprachlos. Bestimmt lässt sie die vielen Dokus über wahre Verbrechen Revue passieren, die sie in der Glotze gesehen hat, oder schlimmer noch, spielt mit dem Gedanken, ihm ein für alle Mal den Garaus zu machen, ehe sie ihn von irgendeinem Inzucht-Cousin hinterm Plumpsklo ihres Hauses verscharren lässt, der dann Katzenurin auf die Stelle gießt, um den Geruchssinn der Polizeihunde zu verwirren.

Ihr Auto, rosa wie Pepto-Bismol-Medizin gegen Verdauungsbeschwerden, schnurrt nach wie vor im Leerlauf.

»Ist das Ding noch fahrtüchtig, was meinen Sie? Der Motor klingt okay.«

»Mein Wagen?«

»Ja.« Er muss in die Gänge kommen. Selbst wenn er einen Onlineanschluss findet oder sich unmittelbar mit der Confab in Verbindung setzen kann, fällt ihm das Erledigen seiner Aufträge schwer. Jetzt hat er schon … wie viel Zeit auf dieser Straße vergeudet? Eine Stunde? Er wird der Confab sagen, dass es unvermeidbar war, mit jemandem zu sprechen. Musste er ja auch. Würden sie dann ein Auge zudrücken? Schwer zu sagen.

»Nur zu«, seufzt sie.

Er runzelt die Stirn. »Wie bitte?«

»Nehmen Sie ihn. Nach dieser Sache geschieht es mir recht, wenn ich beklaut werde.« Sie hält ihm ihren Schlüsselbund vor, dessen Anhänger, ein Hasenfuß, passenderweise pink ist. »Nur zu, nehmen Sie ihn, er wurde erst gestern Abend vollgetankt. Ich erstatte keine Anzeige. Dafür kriegen Sie bestimmt noch ordentlich Kohle von Hehlern, falls Sie alles abmontieren, was nicht original ist.«

»Nein, ich meinte, dass Sie fahren und mich mitnehmen.«

»Sie suchen 'ne Mitfahrgelegenheit?« Sie hält die Schlüssel immer noch hoch.

»Also, Sie haben sich auf meine Schuhe erbrochen, und vorausgesetzt, seit meinem letzten Besuch hier hat niemand Raleigh näher …«

»Sie wollen nach Raleigh?«

»Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht den Kopf gestoßen haben oder so? Ja, ich muss nach Raleigh.«

Am besten sollte er dort anfangen, sozusagen sein Lager aufschlagen, sich mit seinem Betreuer kurzschließen, die Details erfahren und sich seinen Weg hinausarbeiten. Hoffentlich handelt es sich bloß wieder um ein besessenes Eichhörnchen wie schon einmal, oder vielleicht eine ausgesprochen entgegenkommende Riesentarantel, die hübsch artig gemeinsam mit ihm den Beckett macht.

»Nein, ich wollte nur sagen … Das ist echt komisch. Die meisten Leute würden ohne mit der Wimper zu zucken sofort ihren Anwalt anrufen, aber wir zwei stehen hier und reden ganz normal miteinander, krass. Immerhin hab ich sie angefahren, aber … sie wollen nur mitgenommen werden?« Endlich nimmt sie die Schlüssel herunter.

»Ich habe weder ein Telefon noch einen Anwalt, den ich anrufen könnte, also ja, mitgenommen zu werden reicht mir.«

Das will er eigentlich nicht, doch hier draußen in der Provinz gibt es für ihn nichts zu holen. Wäre sie ein Mann, irgendein Cowboy mit einem Pick-up, hätte er kein Problem damit, sich kutschieren zu lassen. Der Grund dafür mag Ritterlichkeit oder sonst was sein, woran er lieber nicht denkt, doch zumindest bietet sie ihm kein Geld an.

»Also gut dann, ich komme zu spät zur Arbeit, also geben wir Gas, in Ordnung? Natürlich erst, wenn Sie soweit sind.« Sogleich schiebt sie hinterher, indem sie sich eine blonde Strähne hinters Ohr klemmt: »Ich will niemanden hetzen, der gerade angefahren wurde oder so, aber …« Sie bringt den Satz nicht zu Ende.

Er schmunzelt. »Ich bin soweit, falls Sie es sind.« Als er vortritt, wirkt sie wieder verängstigt, bis sie erkennt, dass er ihr nur die Hand geben will. Er weiß, wie sie aussehen, seine Kochhände, aber sie schüttelt die rechte trotzdem. Ihre ist feucht, was ihm jedoch nichts ausmacht.

»Saelig Zilch«, ergänzt er gewohnheitsmäßig und könnte sich dafür sofort selbst in den Hintern treten. Alte Laster … Triffst du 'ne süße Lady, stellst du dich vor.

»Saelig?«

»Ja, ja, schon klar. Machen Sie ruhig Witze, ich kenne sie alle.«

»Hatte ich nicht vor …«

Sie lassen einander los, gleichzeitig wie zuvor einstudiert. Galavance möchte ihre Hand naheliegenderweise abwischen, tut es aber nicht. Er geht hinüber zur Beifahrerseite, geräuschvoll über die verstreuten Kunststoffsplitter auf der Straße. »Haben Sie auch einen Namen?«

»Galavance«, sagt sie und kehrt zu ihrer Zuckerwattemaschine auf Rädern zurück.

»Wow. Das hört man nicht alle Tage. Jetzt verstehe ich, warum Sie mich nicht wegen meines Namens verarschen.« Im Wagen ist es angenehm kühl. Der Beifahrersitz schmiegt sich geradezu an.

Sie lächelt. »Nun ja, ich dachte, es sei unhöflich.«

Die hat Temperament.

Ihre Räder drehen im Sand durch, greifen dann aber, und die beiden brechen auf.

Kapitel 4

Während Galavance fährt, verschnauft Zilch und nimmt seinen Mut zusammen, um die Sonnenblende auf seiner Seite herunterzuklappen und in den Spiegel zu schauen. Er linst schräg von der Seite darauf und zwinkert ein paarmal, bevor er sich erleichtert direkt ins Auge fasst. Die Abschürfungen sind schon verschwunden, befanden sich aber an der rechten Wange. Zum Glück sieht das Mädchen beim Fahren nichts davon.

Zum Glück, weil er die Kleine nicht erschrecken möchte. Wir sind noch am Arsch der Welt, und ich muss in die Stadt. Dort verschaffe ich mir 'nen Überblick und bringe in Erfahrung, warum zum Geier ich hier bin. Dann mach ich halt mein Ding, damit ich fix wieder abhauen kann, und verdiene dabei vielleicht noch ein paar Bonuspunkte. Meine Bilanz ist nämlich echt bescheiden, wie mir Ovid jedes verdammte Mal genüsslich unter die Nase reibt, wenn ich zurückkomme. Kein Zweifel, der Arsch verteilt liebend gern passiv-aggressive Rüffel wegen schwacher Leistungen. Wenngleich Zilch nicht hundertprozentig sicher ist, ahnt er nicht nur vage, dass es kein Zufall sein kann, nach einer vergeigten Jagd auf eine Lususnaturae mit einem besonders schwierigen Fall betraut zu werden, der ihm den Arsch aufreißen soll, und ausgerechnet hierher geschickt worden zu sein ist nicht unbedingt das, was er unter einem Geschenk verst–

»Tut mir leid, aber ich muss fragen: Sie schwärzen mich nicht bei den Cops an, oder?«

Zilch lacht. »Bleiben Sie locker. Ich sagte Ihnen schon, ich habe keinen Anwalt.«

»Das heißt nicht, dass Sie mich nicht anzeigen. Die Leute ziehen einander täglich vor den Kadi, und ich müsste mich schon arg täuschen, würde es keine Anwälte geben, die herumsitzen und nur darauf warten, eine Geschichte wie diese zu hören.«

»Glauben Sie mir«, bekräftigt Zilch mit einem verhaltenen Grinsen, von dem er weiß, dass es ihn, ohne dass er weiter ausholen müsste, zugleich vertrauenswürdiger und weniger wie einen Denunzianten wirken lässt. Er spreizt die Finger einer Hand, schließt sie zur Faust und legt sie schließlich auf ein Knie. Pro Auftrag steht ihm nur eine begrenzte Anzahl von Nanobugs zur Verfügung, die ihn flicken können, um seine Hülle zusammenzuhalten – und der Kuss des Chevrolets hatte bestimmt weit mehr als die Hälfte von ihnen verbraucht. Fortan würde es wehtun. Genau genommen hat er sogar schon leichte Schmerzen.

»Womöglich bereuen Sie das später.« Als Galavance dies sagt, fällt ihm auf, dass sie hin und wieder herüberschaut, während er seine Blessuren begutachtet, als befürchte sie, er zähle sie für eine Vernehmung durch die Polizei zusammen. »Falls Sie das tun, wären Sie bitte so gut und würden bis zum ersten September warten? Dann bekomme ich mein Monatsgehalt, was das Ganze vielleicht etwas einfacher macht. Ich verdiene zwar nicht viel, aber trotzdem. Mag sein, dass sie mich auf Raten abbezahlen lassen.«

»Was tun Sie?«, fragt er.

»Wie meinen Sie das?« Sie ist immer noch von der Rolle. Zilch bemerkt zudem, dass sie jedes Mal, wenn er wieder spricht, nachdem ihre Konversation nur kurz ins Stocken geraten ist, leicht zusammenzuckt. Das Mädchen hat offensichtlich einen schweren Packen zu tragen.

»Was tun Sie, dass Sie so wenig verdienen und zur Ratenzahlung gezwungen wären, falls ich Sie anzeige?« Er fügt rasch hinzu: »Was ich, wie gesagt, nicht vorhabe. Was ich sage, ist rein theoretisch gemeint.«

»Ich arbeite bei Big Fat Frenchy's.«

»Was ist das, so eine Art Stripschuppen?« Er stellt sich dicke Frauen im Evakostüm vor, die mit den Innenseiten ihrer Oberschenkel an Messingstangen herunterrutschen, wobei ihr üppiger Speck auf dem Metall ein anhaltendes Quietschen erzeugt. Nicht dass er je in einem solchen Etablissement verkehrt hatte, aber …

Und als sehe sie dieses Bild in einer Gedankenblase über seinem Kopf schweben, stößt sie einen empörten Mischlaut aus, halb »Huch« und halb ersticktes Quäken. »Also wirklich!«

»Sorry«, entschuldigt er. »Ich wollte bloß … Im Ernst. Ihre Haare, die Schminke.« Er mustert sie – fett ist sie definitiv nicht –, woraufhin sie eine Grimasse zieht wie alle Frauen, die Männer beim Gaffen ertappen. Sie chauffiert dich, du Saftsack. Sei nett zu ihr. »Sorry. Wenn ich genauer darüber nachdenke, schätze ich, dass das Poloshirt eindeutig nicht zu einem Stripschuppen passt. Müsste dann schon ein Yuppie-Laden sein, wo nur Phil Collins gespielt wird, Fleischbeschau für die oberen Zehntausend.« Hält er das für ein … Kompliment?

»Yuppie-Laden?«, wiederholt sie. »Phil Collins?«

»Noch mal sorry, das war unüberlegt. Verzeihen Sie mir. Also, was ist Big Fat Frenchy's nun? Ein Waisenhaus, eine Kindertagesstätte, ein Altenheim? Eine Gemeindegruppe der Kirche? All das zusammen?« Und schließlich: »Mal so nebenbei, Phil Collins sagt Ihnen nichts? Genesis? Su-Su-Sussudio?«

»Nein, und Big Fat Frenchy's ist ein Speiselokal«, betont sie. »Ich teile die Bedienungen für ihre Schichten ein.«

»Oh, ein Speiselokal, meinen Sie? Na, dann muss ich mich ja umso nachdrücklicher entschuldigen.« Bevor sie zum Kontern kommt, fällt ihm wieder ein, dass er nett sein wollte. »Und gefällt Ihnen die Arbeit?«

Die Straße ist immer noch nicht asphaltiert, und weil sie die Kurven sehr schnell nimmt, sieht er kommen, dass der Wagen die Bodenhaftung verliert – das kann von einer Sekunde auf die nächste passieren – und sich überschlägt, sodass sie sich alle Knochen brechen und die Schädel zertrümmern, bevor sich die Mühle um einen Baum wickelt wie ein Teigfladen um eine mit Mehl bestäubte Rolle. Er entsinnt sich einer besonders heiklen Biegung, die erst noch kommt, doch Galavance macht keinerlei Anstalten, zu bremsen.

In der Kurve spürt Zilch dann, wie er vom Sitz abhebt. Der nicht serienmäßige Acht-Punkt-Sicherheitsgurt hält ihn fest, aber er langt dennoch nach einem gummierten Griff, der auf die Armaturen geschraubt wurde.

»Ich kann eben meine Rechnungen davon bezahlen«, erklärt sie lapidar. Sie fährt anscheinend immer wie der letzte Henker.

»Was steht auf Ihrer Speisekarte?«, fragt er weiter, sobald sie auf der nächsten Geraden sind.

»Französische Küche, aber auf die Staaten zugeschnitten.«

Das ergibt Sinn angesichts des Namens. Er möchte mehr von diesem Laden wissen, etwa inwieweit das Futter auf die USA gemünzt wurde und wie viele Sterne – falls überhaupt – er hat oder wie groß die Küche ist, doch da er sich nicht entscheiden kann, was er zuerst fragen soll, kehrt wieder Stille im Auto ein, und die wird ein wenig unangenehm.

»Was ist mit Ihnen? Womit verdienen Sie Ihre Kohle, Mr. Zilch? Oder sind Sie einer von diesen Zeitgenossen, die sich absichtlich anfahren lassen, um gemeinsam mit einem Anwalt Versicherungen übers Ohr zu hauen?«

»Um Himmels willen, was ist nur mit Ihnen los? Wurden Sie als kleines Mädchen von einem Rudel tollwütiger Anwälte gejagt, oder was?«

Jetzt lacht sie. »Schon gut, schon gut.«

Er grunzt und will sich in die Polster sinken lassen, doch die Riemen des Haltesystems bleiben unter seinen Achselhöhlen und im Schritt hängen wie bei einem Kindersitz. Außerdem spannen sich nicht einer oder zwei, sondern wirklich drei an seiner Brust wie Patronengurte. Er ist allerdings froh, sie angelegt zu haben. Keine Kurve, in der Galavance nicht schlittert.

»Ich bin Prokurist«, behauptet er und beißt sich sofort auf die Zunge. Halt besser die Klappe. Ihr haarsträubender Fahrstil verleitet ihn dazu, sich um Kopf und Kragen zu reden.

»Sie stecken Ihren Finger also hinten in anderer Leute …«

»Nein, Prokurist, nicht Proktologe.« Na, immer noch besser, als die Katze aus dem Sack zu lassen. Mit einem langen Seufzer fügt er hinzu, obwohl er sich selbst dafür hasst: »Vergessen Sie alles, was ich gesagt habe. Ich will Ihnen nicht das Ende verderben und dürfte im Grunde gar nicht …« Er bricht ab und schaut zum Fenster hinaus. Wenigstens hat er sich den Rest verkniffen.

»Welches Ende verderben?« Zu spät, sie ist neugierig geworden.

»Sie wissen schon, was später geschieht.« Er schnaubt und fährt brummelnd fort, sodass sie es schlecht versteht: »Was ich daraus mache jedenfalls.« Themenwechsel. Sofort.

»Welches Ende?«

»Das Ende des Lebens, zufrieden? Was am Ende Ihres Lebens geschieht.« Das spricht er laut aus, und offen gestanden würde es auch in seinen Ohren, wenn er so etwas zu hören bekäme, ziemlich unheilvoll klingen.

»Alles klar, ich glaube, ich halte dann jetzt besser mal an.«

»Warten Sie, ich wollte nicht … Nein, ich habe nicht vor, Sie umzubringen oder so …« Er stöhnt. »Hören Sie, immerhin haben Sie gefragt.«

»Richtig, aber da war noch keine Rede vom Ende des Lebens und solchem Scheiß. Ich denke, falls Sie mich jetzt anzeigen wollen, ginge das okay. Ich könnte wohl selbst Ansprüche geltend machen.« Sie setzt einen Blinker, woraufhin der Wagen erst mit einem Reifen, dann einem zweiten ins Gras am Straßenrand abdriftet. Zweige schlagen auf die Windschutzscheibe.

»Halten Sie nicht an«, sagt Zilch, keineswegs befehlshaberisch, sondern in einem flehentlichen Ton. Er rutscht im Sitz hoch, um sich ihr beim Sprechen weiter zuzuwenden, doch wieder hindert ihn der Gurt. Darum öffnet er ihn und entledigt sich der Tentakel aus Nylon. »Bitte«, fügt er mit zusammengeschlagenen Händen fort. Draußen ist es heiß, und er will nicht zu Fuß nach Raleigh. Da er die Entfernung kennt, würde er ohne Geld für einen Bus und weil er nicht so aussieht, als würde er das Mitgefühl derer erregen, die manchmal Tramper mitnehmen, noch länger in North Carolina festsitzen.

Sie rumpeln aber weiter, immer noch nur halb auf der Fahrbahn und mit ungefähr fünfundvierzig Meilen die Stunde. Er sieht, wie sie bemerkt, dass er nicht mehr angeschnallt ist. Sie grinst heimtückisch, was er von jemandem, der so niedlich aussieht, nicht erwartet hätte.

»Wissen Sie was? Ich könnte jederzeit auf die Bremse treten, dann würden Sie einen feinen Abflug hinlegen, Mister, denn mein Freund hat super gute eingebaut.«

»Tun Sie's doch«, provoziert ohne Bedenken. »Würde nur ein bisschen wehtun.« Damit dreht er seinen Kopf schwungvoll zur Seite, damit sie die rechte Gesichtshälfte sieht, die eben noch aufgeschürft war. Jetzt ist die Wange zugeheilt, die Haut nicht im Geringsten zerkratzt. Keine Narben, nichts. Er blufft jedoch nur. Vermutlich täte es mehr als nur ein bisschen weh. Sehr.

Er sieht, dass sie sich wundert. »Was zum …« Sie lenkt in die Gegenrichtung, bevor sie noch weiter von der Straße abkommt, bleibt aber von seinem wieder glatten Gesicht gebannt, also gerät der Wagen ins Schlingern. Zilch greift ihr ins Lenkrad, um dabei zu helfen, wieder geradeaus zu fahren, denn auf der Gegenspur nähert sich ein Van. Endlich reißt sie ihren Blick von ihm los und konzentriert sich wieder auf die Straße. Nachdem das andere Fahrzeug vorbeigezogen ist, nimmt sie seine Hand vorsichtig vom Steuer weg, als sei sie zum ersten Mal mit ihm ausgegangen, und er begrapsche eines ihrer Beine.

Während sie wieder die Fahrbahn im Auge behält, fragt sie: »Wie kann es sein, dass … ihr Gesicht …«

»Bringen Sie mich einfach nach Raleigh, mehr verlange ich nicht. Wo ist Big Fat Frenchy's, auch dort?

Galavance ist rot geworden, an ihren Wangen zeichnen sich vollkommen kreisrunde Flecke ab, als sei sie plötzlich eine Geisha. »Ja«, antwortet sie. »Es ist in Raleigh. Gegenüber der Crabtree Valley Mall.«

»Kaum zu fassen, aber genau dorthin wollte ich.«

»Zur Einkaufsmeile?« Sie schürzt angesäuert die Lippen. Ihre Stimme hört sich an, als sei sie nicht richtig bei der Sache. Als er sich ihr wieder zukehrt, zwinkert sie rapide. Sie tut sich nach wie vor schwer damit, zu begreifen, was sie gesehen hat: Sein sauber verheiltes Gesicht, nachdem es wenige Minuten zuvor noch aufgerissen war. Zilch denkt sich, einen Elefanten durch Umkehrosmose in einen Banktresor zu zwängen sei leichter.

»Irgendwo muss ich anfangen, und dazu eignet sich kein anderer Ort besser«, plappert er laut denkend. »Viele Menschen, viel Gemauschel. Vielleicht finde ich so in Rekordzeit heraus, wieso ich hier bin, und mit welcher Lusus ich mich auf dieser Tour herumschlagen muss.« Als er zum letzten Mal hier war – lebendig –, gab es zudem noch ein Internetcafé. Es würde die Kontaktaufnahme mit der Confab erheblich vereinfachen, denn die Verbindung zu ihnen über öffentliche Telefonzellen ist für gewöhnlich ein einziger Albtraum.

»Mit welcher was Sie sich herumschlagen müssen?«, hakt Galavance schrill nach, doch ehe Zilch erklären kann, folgen ein Kopfschütteln und: »Nein. Nein, nein. Passen Sie auf, Folgendes: Ich will nur zur Arbeit, kapiert? Und falls Sie nur mitfahren möchten, cool. Wiederholen Sie aber bitte noch einmal das Wort, das Sie gerade gesagt haben, denn …«

»Lusus. Lusus naturae, und Sie sollten es eigentlich nicht hören.«

»… denn das Leben ist zu kurz, um sich damit aufzuhalten, alle Leute verstehen zu wollen. Davon abgesehen, selbst wenn man es doch könnte und nachvollziehen würde, was jeder meint, wäre das sinnlos, solange man sich nicht selbst verstünde, oder? Und ich weiß nicht, vielleicht hab ich's mit dem Billigwein übertrieben und mir den Teil meines Gehirns weggesoffen, der für logisches Denken zuständig ist, aber na ja, ich lasse in dieser Angelegenheit mal einfach alles auf mich zukommen. Wir brauchen auch gar nicht erst damit anzufangen, darüber zu sprechen, dass Ihr Gesicht wieder total glatt ist, in Ordnung? Nein, darauf gehen wir nicht weiter ein. Keinen Ton dazu.« Sie nickt energisch. »Jepp, ich schwimme mit dem Strom.« Nick, nick. »Mit dem Strom.«

Zilch zuckt mit den Schultern. »Ich weiß wirklich nicht genau, was ich dazu sagen soll. Glückwunsch? Gute Besserung? Wie dem auch sei, danke fürs Mitnehmen. Da draußen ist es heiß wie in einer Sauna auf der Prostata des Teufels.«

»Sicher«, sagt Galavance unverbindlich. »Kein Problem. Toll. Großartig. Klasse. Ich nehm's einfach, wie es kommt.«

Kapitel 5

Galavances zenartige Gelassenheit löst sich in Wohlgefallen auf wie ein Kartenhaus bei einem Atomschlag, als sie in den vormittäglichen Verkehr gerät – und dies nur, weil ihr ein einzelner Arsch in einer Potenzschleuder die Vorfahrt nimmt. Dessen ungeachtet schafft sie es weiterhin, keinen Gedanken an Zilchs Gesicht beziehungsweise die Frage zu vergeuden, wie es zuerst praktisch Matsch war und dann … eben nicht mehr. Nein. Mist. Doch wieder dran gedacht. Deine Arbeit. Lenk dich damit ab.

»Das ist ätzend, so komme ich noch viel später«, seufzt sie, während sie durch die gerissene Scheibe starrt. Sie stellt sich vor, wie Patty, die Regionalleiterin, herumsteht und auf ihre Armbanduhr schaut, an dem zu engen Blazer nestelt, den sie immer trägt, wenn sie kommt, eingepackt wie die Fleischbällchen, die Frenchy's anbietet, und sich fragt, wo ihre Schichtführerin abgeblieben sein mag, während ihr metaphorischer Finger nach dem metaphorischen Abzug sucht, um Galavance nicht nur metaphorisch abzuschießen, sobald sie durch die Tür kommt. Der Beginn des haltlosen Absturzes einer Totalversagerin unter dreißig. Arbeitslosigkeit. Das Wohnmobil wird beschlagnahmt. Essensmarken. Zu ihren Eltern ziehen. Jolby weiterhin an der Backe … ständig und immer.

Sie schaudert. Im Grübeln findet sie keine Zuflucht. Es ist, als würde sie durch ein Labyrinth aus Weidenrohren laufen, die in Flammen stehen. Fahr einfach weiter zur Arbeit, und finde dich damit ab, redet sie sich ein. Egal ob gut oder schlecht: Nimm's hin. Am Ende wird wahrscheinlich doch alles gut. Hoffentlich.

»Macht es Ihnen was aus, wenn ich direkt zum Restaurant fahre und Sie von dort aus zum Einkaufszentrum gehen? Ich meine, es ist ja nicht weit, praktisch auf der anderen Seite. An der Stelle muss man aber aufpassen. Sie sollten sich umschauen, wenn Sie die Straße überqueren. Ich hab schon erlebt, wie so ein Typ fast überfahren – also, würde Ihnen das gleich zweimal an einem Tag passieren, wäre das sagenhaftes Pech, aber … Ich fühle mich seltsam.«

»Vielleicht fahre ich besser.«

»Haben Sie mir was untergejubelt?«

»Hm?«

»Es ist merkwürdig. Als hätte mir jemand irgendwelche Drogen verpasst. Ich stelle mir zumindest vor, dass es einem dann so geht.« Sie hält an einer Kreuzung mitten in der Einöde an, wo ein Saatguthandel mit angegliedertem Zuchtbetrieb stand, doch dieser ist mittlerweile geschlossen und verwahrlost.

»Nein, ich habe Ihnen keine Drogen untergejubelt. Und überhaupt, wie hätte ich das tun sollen? Sie trinken ja nichts.«

»Richtig. Ist ja wahr. Vergessen Sie's. Ich weiß nicht.« Sie stöhnt und neigt sich langsam vorwärts, bis ihre Stirn auf dem noch warmen Gummi des Lenkrads liegt. Jemand hinter ihnen hupt, sodass sie sofort aufs Gas tritt und der Wagen einen Satz nach vorn macht, doch dann bremst der nächste und Galavance muss voll in die Eisen gehen. Zilch stemmt gerade so beide Hände gegen das Armaturenbrett, sonst hätte er sich die Nase daran gestoßen. Sie entschuldigt sich, er lehnt sich in seinem Sitz zurück und zieht an den Riemen des Gurts, um die schmerzhafte Spannung zu lockern, die bei jeder abrupten Bremsung entsteht.

Indem er einen Daumen unter das Band hakt, vergrößert er den Spielraum langsam und lässt den Gurt dann wieder gegen seine Brust schnarren. »Soll ich nicht besser doch übernehmen?«

»Ich komm schon klar«, versichert sie in entschiedenem Ton. »Wir müssten einfach nur mal ankommen.«