Agnes Grey: Roman - Anne Brontë - E-Book

Agnes Grey: Roman E-Book

Anne Bronte

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Beschreibung

Agnes Grey ist ein autobiografischer Roman, in dem Anne Brontë ihre eigenen Erfahrungen als Gouvernante verarbeitet. Der Roman ist eine scharfe Kritik an den sozialen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts, in denen Frauen nur wenige Möglichkeiten hatten, sich zu verwirklichen. Agnes Grey ist eine starke und unabhängige Frau, die sich gegen die Unterdrückung durch die Männerwelt zur Wehr setzt.

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Seitenzahl: 345

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Agnes Grey

Anne Brontë 

Inhaltsverzeichnis
Erster Teil
Erstes Kapitel. Das Pfarrhaus.
Zweites Kapitel. Erste Lektionen in der Erziehungskunst.
Drittes Kapitel. Einige weitere Lektionen.
Viertes Kapitel. Die Großmama.
Fünftes Kapitel. Der Onkel.
Sechstes Kapitel. Wieder im Pfarrhause.
Siebentes Kapitel. Horton Lodge.
Achtes Kapitel. Der erste Ball.
Neuntes Kapitel. Der Ball.
Zehntes Kapitel. Die Kirche.
Elftes Kapitel. Die Häuseler.
Zweiter Teil.
Erstes Kapitel. Der Regen.
Zweites Kapitel. Die Schlüsselblümchen.
Drittes Kapitel. Der Pfarrer.
Viertes Kapitel. Der Spaziergang.
Fünftes Kapitel. Die Substitutin.
Sechstes Kapitel. Geständnisse.
Siebentes Kapitel. Freude und Trauer.
Achtes Kapitel. Der Brief.
Neuntes Kapitel. Das Lebewohl.
Zehntes Kapitel. Die Schule.
Elftes Kapitel. Der Besuch.
Zwölftes Kapitel. Der Park.
Dreizehntes Kapitel. Der Strand.
Vierzehntes Kapitel. Schluß.

Erster Teil

Erstes Kapitel.Das Pfarrhaus.

Alle wahren Geschichten enthalten Belehrung, wenn auch bei manchen der Schatz schwer zu finden sein mag und wenn man ihn findet, von so geringfügiger Quantität ist, daß der trockene, verschrumpfte Kern kaum die Mühe des Knackens der Nuß lohnt. Ob dies bei meiner Geschichte der Fall ist, oder nicht, bin ich kaum befähigt zu beurtheilen. Mitunter denke ich, daß sie für die Einen nützlich und für Andere unterhaltend sein dürfte, die Welt mag es aber selbst ausmachen — durch meine Dunkelheit und die seitdem verstrichenen Jahre und einige falsche Namen geschützt, fürchtete ich nicht, mich herauszuwagen und will dem Publikum dasjenige aufrichtig vorlegen, was ich meinem vertrautesten Freunde nicht enthüllen würde.

Mein Vater war ein Geistlicher im Norden von England, der von Allen, die ihn kannten, mit Recht geachtet wurde und in seinen jüngeren Tagen sehr behaglich von dem Einkommen einer kleinere Pfarrei, in Verbindung mit einem eigenen hübschen Vermögen, lebte. Meine Mutter, die ihn gegen den Wunsch ihrer Freunde geheirathet hatte, war die Tochter eines reichen Gutsbesitzers und eine Frau Von Muth. Umsonst stellte man ihr vor, daß sie, wenn sie den armen Pfarrer nähme, ihre Equipage und Kammerjungfer und alle Ueppigkeiten und Genüsse des Wohlstandes aufgeben müsse, welche für sie fast Lebensbedürfnisse waren. Ein Wagen und eine Kammerjungfer waren sehr bequeme Dinge, aber sie hatte, Gott sei Dank, Füße, die sie tragen und Hände, die ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen konnten. Ein elegantes Haus und geräumige Anlagen waren nicht zu Verachten, aber sie wollte lieber mit Richard Grey in einer Hütte, als mit einem andern Manne auf Erden in einem Palaste leben.

Da ihr Vater fand, daß alle Gründe nutzlos waren, sagte er endlich den Liebenden, daß sie einander heirathen könnten, wenn sie wollten, daß seine Tochter aber dadurch ihr Vermögen gänzlich verwirken werde. Er erwartete, daß dies die Gluth Beider abkühlen würde, hatte sich aber verrechnet.

Mein Vater kannte den hohen Werth meiner Mutter zu gut, um nicht zu wissen, daß sie allein schon ein großes Vermögen aufwog und sagte, daß er, wenn nur einwilligen wolle, seinen bescheidenen Heerd zu verschönern, froh sein würde, sie unter jeder Bedingung zu nehmen, während sie ihrerseits es vorzog, mit eigenen Händen zu arbeiten, als von dem Manne, welchen sie liebte, getrennt zu werden, für dessen Glück zu wirken es ihre Freude sein würde, und der bereits an Herz und Seele Eins mit ihr war. Das ihr bestimmte Vermögen vermehrte also das einer klügeren Schwester, die einen reichen Nabob geheirathet hatte und sie vergrub sich, zur Verwunderung und dem mitleidigen Bedauern Aller, die sie kannten, in der einfachen Dorfpfarre in den Hügeln von — und trotz alledem, und trotz der Hartnäckigkeit meiner Mutter und der Launen meines Vaters,« glaube ich doch, daß man ganz England hätte durchsuchen können, ohne ein glücklicheres Paar zu finden.

Von sechs Kindern waren meine Schwester Mary und ich die einzige, welche die Gefahren der Kindheit überlebten. Ich, die nur fünf bis sechs Jahre jünger war, wie jene, wurde stets als das Kind und das Spielzeug der Familie betrachtet — Vater, Mutter und Schwester, Alle vereinigten sich, mich zu verziehen, — nicht mich durch thörichte Nachsicht ungehorsam und Widerspenstig, sondern durch unermüdliche Güte mich zu hilflos und von Anderen abhängig, zu ungeeignet in dem Kampf mit den Sorgen und Mühen des Lebens zu machen.

Mary und ich wurden in der strengsten Abgeschlossenheit erzogen. Meine Mutter, die an Kenntnissen und Fertigkeiten reich war und die Beschäftigung liebte, nahm die ganze Last unserer Erziehung auf sich, mit Ausnahme des Lateinischen, welches uns mein Vater lehrte, so daß wir nicht einmal eine Schule besuchten und da die Nachbarschaft keine Gesellschaft bot, bestand unser ganzer Umgang mit der Welt in einer dann und wann stattfindenden, steifen Theegesellschaft mit den vornehmsten Gutsbesitzern und Geschäftsleuten der Umgegend, um zu vermeiden, als zu stolz, um mit unsern Nachbarn umzugehen, verschrieen zu werden, und einen jährlichen Besuch bei unserm Großvater, väterlicher Seits, wo er, unsere gute Großmama, eine unverheirathete Tante und zwei bis drei ältliche Damen und Herren, die einzigen Personen waren, die wir je erblickten. Zuweilen erzählte uns unsere Mutter Geschichten und Anekdoten aus ihrer jüngeren Zeit, die während sie uns ungemein belustigten, häufig, in mir wenigstens, einen unbestimmten, geheimen Wunsch, etwas mehr von der Welt zu sehen, erweckten.

Ich dachte, daß sie sehr glücklich gewesen sein müsse; aber sie schien die Vergangenheit nie zu betrauern. Mein Vater, dessen Gemüthsart von Natur nicht ruhig und heiter war, grämte sich jedoch oftmals übermäßig, wenn er an die Opfer dachte, welche seine liebe Frau für ihn gebracht und setzte sich eine Menge von Plänen zur Vermehrung seines kleinen Vermögens, um ihret- und unsertwillen, in den Kopf. Umsonst versicherte ihm meine Mutter, daß sie vollkommen zufrieden sei, und daß wir Alle, wenn er nur etwas für die Kinder bei Seite legen wolle, jetzt und in Zukunft unser reichliches Auskommen haben würden; aber das Sparen war meines Vaters schwache Seite. Er wollte keine Schulden machen — wenigstens sorgte meine Mutter dafür, daß er es nicht that — solange er aber Geld hatte, mußte er es ausgeben; er sah gern sein Haus behaglich und seine Frau und Töchter gut gekleidet und bedient, und überdies war er zur Wohltätigkeit geneigt und gab den Armen nach seinen Mitteln, oder, wie vielleicht Manche dachten, mehr als es diese erlaubten.

Endlich schlug ihm jedoch ein guter Freund ein Mittel vor, um sein Privatvermögen mit einem Schlage zu verdoppeln und es später bis zu einer unermeßlichen Höhe zu vermehren. Dieser Freund war ein Kaufmann, ein Mann von unternehmendem Geiste und unbezweifelten Talenten, der aus Mangel an Kapital in seinen merkantilischen Geschäften etwas gehemmt war, sich aber großmüthig erbot, meinem Vater einen billigen Antheil von seinem Gewinn zu geben, wenn er ihm nur das, was er entbehren könne, anvertrauen wolle und glaubte, daß er ihm sicher versprechen könne, daß jede Summe, die ihm Letzterer anvertraue, hundert Procent einbringen werde. Das kleine Erbtheil wurde schnell verkauft und der ganze Erlös desselben den Händen des freundlichen Kaufmanns anvertraut, welcher eben so schnell daran ging seine Ladung einzuschiffen und sich auf seine Reise vorzubereiten.

Mein Vater und wir Alle waren über unsere glänzenden Aussichten entzückt; für den Augenblick waren wir allerdings auf das geringe Einkommen der Pfarre beschränkt, aber mein Vater schien zu denken, daß es nicht nöthig sei, unsere Ausgaben skrupulös auf dieses zu beschränken, so daß wir eine Rechnung bei Mr. Jackson, eine andere bei Mr. Smith und eine dritte bei Mr. Hobson auslaufen ließen, und selbst noch behaglicher, als vorher, lebten, wiewohl meine Mutter behauptete, daß wir am besten thun würden, uns einzuschränken, da unsere Aussichten auf Reichthum doch nur precär seien und daß mein Vater sich, wenn er nur Alles ihrer Leitung anvertrauen wolle, nie beschränkt fühlen solle. Diesmal aber war er unverbesserlich.

Welche glückliche Stunden verlebten Mary und ich, wenn wir mit unserer Arbeit am Feuer saßen, oder auf den Haidehügeln umherwanderten oder unter der Trauerkirche — dem einzigen bedeutenden Baume im Garten — verweilten, von künftigem Glücke für uns und unsere Eltern und dem, was wir thun und sehen und besitzen wollten, sprachen, ohne für unser schönes Luftschloß eine festere Grundlage zu haben, als die Reichthümer, welche von dein Erfolge der Spekulationen des wackern Kaufmanns auf uns einströmen sollten. Unser Vater trieb es eben so schlimm, wie wir, nur daß er es nicht so ernstlich zeigte und drückte seine glänzenden Hoffnungen und sanguinischen Erwartungen in Scherzen und neckischen Einfällen aus, die mir stets ausnehmend witzig und angenehm vorkamen. Unsere Mutter lachte entzückt, als ihn so hoffnungsvoll und glücklich sah, fürchtete aber doch, daß er sein Herz zu sehr auf die Sache sitze und einmal hörte ich sie als sie das Zimmer verließ flüstern:

»Gott gebe, daß er sich nicht täuscht. Ich weiß nicht, wie er es ertragen würde.«

Er wurde getäuscht und das bitter. Es traf uns Alle wie ein Donnerschlag, daß das Schiff, welches unser Vermögen enthielt, gescheitert und mit seiner ganzen Ladung, einigen Mitgliedern der Mannschaft und dem unglücklichen Kaufmann selbst untergegangen war. Ich war über den Sturz aller unserer Luftschlösser betrübt, erholte mich aber mit der Elasticität der Jugend bald wieder von dem Schlage.

Wenn auch der Reichthum seine Reize hatte, so besaß doch die Armuth für ein unerfahrenes Mädchen, wie mich, keine Schrecken. Die Wahrheit zu gestehen, lag sogar etwas Erheiterndes in der Idee, in Bedrängnis zu gerathen und auf unsere eigenen Hilfsquellen angewiesen zu sein. Ich wünschte nur, daß meine Eltern und Mary desselben Sinnes sein möchten, dann konnten wir Alle, statt vergangenes Unglück zu beklagen, heiter ans Werk gehen, um ihm abzuhelfen, und je größer die Schwierigkeiten, je härter unsere gegenwärtigen Entbehrungen waren, desto größer sollte auch unsere Heiterkeit sein, um die letzteren zu ertragen und unsere Kraft, um gegen die ersteren anzukämpfen.

Mary klagte nicht, aber sie brütete beständig über unserem Unglück und versank in eine Niedergeschlagenheit, aus welcher ich sie durch nichts zu reißen vermochte. Ich konnte sie nicht so weit bringen, die Sache, wie ich es that, von ihrer hellen Seite zu betrachten und fürchtete so sehr, einer kindischen Frivolität beschuldigt zu werden, daß ich sorgfältig die meisten von meinen heiteren Ideen und ermunternden Ansichten für mich behielt.

Meine Mutter dachte nur daran, meinen Vater zu trösten und unsere Schulden zu bezahlen und unsere Ausgaben auf jede mögliche Weise einzuschränken; aber mein Vater wurde völlig von dem Unglück zu Boden geschlagen, Gesundheit, Kraft und Lebensmuth stürzten unter dem Streiche in Trümmern und er erlangte sie nie wieder. Umsonst bestrebte meine Mutter sich, ihn durch Berufungen an seine Frömmigkeit, an seinen Muth, an seine Neigung zu ihr und uns zu erheitern; gerade diese Neigung war seine größte Qual, — um unsertwillen, hatte er sich so glühend gesehnt, sein Vermögen zu vermehren — es war unser Vortheil, welcher seinen Hoffnungen solchen Schimmer verliehen hatte und dies erfüllte seinen gegenwärtigen Schmerz mit solcher Bitterkeit. Jetzt quälte er sich mit Reue über die Vernachlässigung des Rathes meiner Mutter, welcher ihn wenigstens vor der weiteren Last der Schulden gerettet haben würde — er machte sich fruchtlos Vorwürfe darüber, daß er sie von der Würde; der Behaglichkeit, dem Luxus ihres früheren Standes herabgezogen hatte, um mit ihm die Sorgen und Mühen der Armuth zu erdulden. Es war Galle und Uebermuth für seine Seele, die schöne, hochgebildete Frau in eine thätige, sparsame Haushälterin umgewandelt zu sehen, deren Hände und Kopf beständig mit häuslichen Arbeiten und Sorgen beschäftigt waren. Selbst die Bereitwilligkeit, womit sie diese Pflichten erfüllte, die Heiterkeit, womit sie ihren Glücksumschlag ertrug und die Güte, welche sie abhielt, ihm den mindesten Tadel hören zu lassen, wurden von dem scharfsinnigen Selbstquäler in weitere Verschlimmerungen seiner Leiden verwandelt. Und so nagte der Geist am Körper und brachte das Nervensystem in Unordnung, worauf dieses wiederum die Sorgen des Geistes vermehrte; bis durch Wirkung und Gegenwirkung seine Gesundheit ernstlich benachtheiligt wurde — und ihn keine von uns überzeugen konnte, das Aussehen unserer Angelegenheiten nicht halb so düster, noch lange nicht so ganz so hoffnungslos sei, wie es seine krankhafte Einbildungskraft ausmalte.

Der nützliche Pony-Phaëton wurde verkauft und ebenso der kräftige wohlgenährte Pony — der alte Liebling, den wir einst beschlossen hatten, seine Tage in Frieden beenden und nie aus unseren Händen zu lassen; die kleine Nemise und der Stall wurden vermiethet, der Aufwartsbursche und die nützlichere, aber kostspieligere von den beiden Mägden fortgeschickt. Unsere Kleider wurden bis an den äußersten Rand des Anständigen ausgebessert, gewendet und gestopft, unsere stets einfache Nahrung, mit Ausnahme der Lieblingsgerichte meines Vaters, bis zu einem unerhörten Grade vereinfacht, mit den Steinkohlen und Lichtern äußerst sparsam umgegangen — die zwei Lichter auf dem Tische auf eines reducirt, und dieses auf das Sparsamste gebraucht, die Kohlen sorgfältig in den halbausgebrannten Kamin zusammengescharrt, besonders wenn mein Vater in Amtsverrichtungen ausgegangen oder durch Krankheit auf sein Bett beschränkt war — wo wir dann mit den Füßen auf dem Kamingitter saßen, von Zeit zu Zeit die verlöschenden Kohlen zusammenscharrten und mit unter eine kleine Quantität von dem Staube und den zerbröckelten Kohlen darauf schütteten, um sie nur in Gluth zu erhalten. Was unsere Teppiche betraf so wurden sie mit der Zeit bis zur Fadenscheinigkeit abgetragen und selbst noch mehr ausgebessert und gestopft, als unsere Kleider.

Um die Kosten eines Gärtners zu ersparen, übernahm es Mary und ich den Garten in Ordnung so halten, und alle Küchen- und Hausarbeit, die nicht leicht von einer Magd besorgt werden konnte, wurde von meiner Mutter und Schwester verrichtet, wobei ich ihnen zuweilen einige Hilfe leistete, aber nur eine sehr geringe, weil ich zwar, meiner eigenen Schätzung nach, ein Weib, in ihren Augen aber doch noch ein Kind war, und meine Mutter, wie die meisten thätigen Hausfrauen, nicht mit sehr thätigen Töchtern begabt war, aus dem einfachen Grunde, daß sie, die selbst so Geschickte und Fleißige, sich nie versucht fühlte, ihre Angelegenheiten einer Andern anzuvertrauen, sondern im Gegentheil für Andere ebenso gern handelte und dacht, wie für sich selbst, und welches Geschäft sie auch vorhaben mochte, meistentheils doch glaubte; daß Niemand es so gut thun könne, wie sie. Wenn ich mich also erbot, ihr Beistand zu leisten; so erhielt ich Antworten wie: — Nein, liebes Kind, das kannst Du wirklich nicht. — Hier giebt es für Dich nichts zu thun, geh und hilf Deiner Schwester oder bewege sie dazu, mit Dir spazieren zu gehen — sage ihr, daß sie nicht so viel sitzen und nicht so fortwährend im Hause bleiben dürfe, wie sie es thut — es ist kein Wunder, daß sie mager und niedergeschlagen aussieht.

»Mary, die Mama sagt, daß ich Dir helfen oder Dich überreden soll, mit mir auszugehen. Sie sagt, daß es kein Wunder ist, daß Du mager und niedergeschlagen aussiehst, wenn Du so viel zu Hause sitzest.«

»Helfen kannst Du mir nicht, Agnes, und ausgehen kann ich mit Dir auch nicht, ich habe viel zu viel zu thun.«

»Dann laß mich Dir helfen.«

»Das kannst Du wirklich nicht, liebes Kind. Geh und übe Dich in der Musik oder spiele mit der Katze.«

Es war beständig sehr viel zu nähen, aber man, hatte mir kein einziges Kleidungsstück zuschneiden gelehrt, und ich wußte, außer dem Säumen und Steppen, selbst in dieser Beziehung nur wenig zu thun, denn Beide behaupteten, daß es weit leichter sei, die Arbeit selbst zu thun, als sie mir herzurichten und überdies war es ihnen viel lieber, wenn sie mich meine Studien verfolgen oder mich belustigen sahen, — es sei Zeit genug, über meine Arbeit gebeugt dazusitzen, wie eine gesetzte Matrone, wenn mein kleines Lieblingskätzchen eine gesetzte, alte Katze geworden sein würde.

Unter solchen Umständen war mein Müssiggang, wenn ich auch nicht viel mehr Nutzen brachte, als die Katze, doch nicht ganz ohne Entschuldigung.

Bei aller unserer Noth hörte ich meine Mutter doch nur ein einziges Mal über unsern Mangel an Geld Plagen. Als sich der Sommer näherte, bemerkte sie gegen Mary und mich:

»Wie schön würde es sein, wenn Euer Papa auf ein paar Wochen in ein Bad gehen könnte. Ich bin überzeugt, daß die Seeluft und die veränderten Umgebungen von unberechenbarem Nutzen für ihn sein würde. Leider aber seht Ihr, daß kein Geld da ist,« fügte sie mit einem Seufzer hinzu.

Wir wünschten Beide ungemein, daß sich die Sache thun lassen möge und beklagten sehr, daß sie unmöglich war.

»Nun, nun,« sagte sie, »das Klagen ist nutzlos, vielleicht ließe sich am Ende doch etwas thun, um den Plan zu befördern. Mary, Du zeichnest ja so schön; was sagst Du dazu, noch ein paar Bilder in Deiner besten Manier zu malen und sie mit den Aquarellbildern, die Du bereits gemacht hast, einrahmen zu lassen und sie wo möglich an einen freigebigen Bilderhändler zu verkaufen, der Verstand genug hat, um ihre Vorzüge zu erkennen.«

»Mama, ich würde es mit Freuden, wenn Du denkst, daß sie verkauft werden könnten und etwas der Mühe werthes dafür zu erhalten wäre.«

»Auf jeden Fall ist es der Mühe werth, einen Versuch zu machen, liebes Kind; schaffe Du Dir Zeichnungen und ich werde mich bemühen, einen Käufer zu finden.«

»Ich wollte, ich könnte etwas thun,« sagte ich.

»Du, Agnes! Nun, wer weiß! Du zeichnest auch so leidlich; wenn Du einen einfachen Gegenstand wählst, so wirst Du vielleicht nach im Stande sein, etwas hervorzubringen, was wir Alle stolz sein würden, aufzuzeigen.«

»Aber ich habe einen anderen Plan im Kopfe, Mama und zwar schon seit langer Zeit, ich wollte ihn nur nicht erwähnen.«

»Wirklich? — nun, laß hören, was es ist.«

»Ich möchte Gouvernante werden.«

Meine Mutter stieß einen Ruf des Erstaunens aus und lachte. Meine Schwester ließ überrascht ihre Arbeit fallen und rief:

»Du — eine Gouvernante. — Was träumst Du nur?«

»Nun, ich sehe nichts so sehr Außerordentliches darin; ich mache keine Ansprüche darauf, große Mädchen unterrichten zu können, aber sicherlich könnte ich doch kleine belehren — und ich möchte es so gern thun — ich habe die Kinder so lieb — bitte, laß mich Mama!«

»Aber, mein liebes Kind, Du hast bis jetzt noch nicht auf Dich sahst Acht heben gelernt, und die Leitung kleiner Kinder erfordert weit mehr Urtheilskraft und Erfahrung, als die der älteren.«

»Aber, Mama, ich bin schon Achtzehn gewesen und vollkommen fähig, mich und Andere in Ordnung zu halten. Du kennst nicht die Hälfte der Weisheit und Vorsicht. die ich besitze, weil ich noch nie auf eine Probe gestellt worden bin.

»Denke nur,« sagte Mary, was würdest Du in einem Hause voller Fremden anfangen, wo Du weder Mich noch die Mama hättest, um für Dich zu sprechen oder zu handeln — wo Du außer Dir noch auf eine Bande Kinder achten müßtest, und Niemanden hättest, von dem Du Rath erwarten könntest? Du würdest ja nicht einmal wissen, was für Kleider Du anziehen solltest.«

»Ihr denkt, daß ich kein eigenes Urtheil habe, weil ich stets thue, was Ihr mir heißt; aber versucht es nur mit mir, weiter verlange ich nichts, und Ihr sollt sehen, was ich thun kann.«

In diesem Augenblicke trat mein Vater ein und der Gegenstand unserer Diskussion wurde ihm auseinandergesetzt.

»Was, meine kleine Agnes seine Gouvernante?« rief er und begann, trotz seiner Niedergeschlagenheit, über die Idee zu lachen.

»Ja. Papa, sage Du nur nichts dagegen; ich würde es so gern thun und ich bin überzeugt, daß ich das Amt vortrefflich versehen könnte.«

»Aber mein Herzenskind, wir könnten Dich nicht entbehren,« und in seinem Auge schimmerte eine Thräne, als er hinzufügte:

»Nein, nein, so tief wir auch darniedergedrückt sind, so weit ist es mit uns doch gewiß noch nicht gekommen.«

»,O nein,« sagte meine Mutter, »es ist nicht die mindeste Nothwendigkeit für einen solchen Schritt vorhanden, es ist nur eine Laune von ihr. Du mußt als den Mund halten, Du böses Mädchen, denn wenn Du auch so bereit bist, uns zu verlassen, so weißt Du doch recht gut, daß wir Dich nicht hergeben können.«

Ich wurde auf jenen Tag und auf eine Menge anderer zum Schweigen gebracht, gab aber meinen Lieblingsplan doch nicht völlig auf.

Mary nahm ihr Zeichnungsmaterial vor und ging eifrig ans Werk, ich das meine ebenfalls; aber ich dachte während des Zeichnens an andere Dinge.

Wie herrlich würde es sein, eine Gouvernantenstelle zu bekleiden! In die Welt hinauszukommen, ein neues Leben anzutreten, für mich selbst zu handeln, meine ungebrauchten Fähigkeiten zu üben, meine unbekannten Kräfte zu priesen, meinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen und vielleicht noch etwas dazu, um es meinem Vater behaglicher zu machen und ihm beizustehen, und ihn, sowie meine Mutter und Schwester, von der Last zu befreien, mir Nahrung und Kleidung zu verschaffen, dem Papa zu zeigen, was seine kleine Agnes thun könne, der Mama und Mary zu beweisen, daß ich nicht ganz das hilflose, gedankenlose Ding war, wofür sie mich hielten; und dann, wie reizend mußte es sein, mit der Erziehung von Kindern betraut zu werden; Andere mochten sagen, was sie wollten, ich fühlte, daß ich für die Aufgabe vollkommen befähigt war, die klare Erinnerung an meine eigenen Gedanken und Gefühle aus meiner frühen Kindheit würden ein sicherer Führer sein, als die Unterweisung der gereiftesten Rathgeber. Ich brauchte mich nur von meinen Schülerrinnen zu mir selbst in ihrem Alter zu wenden, und dann mußte ich sogleich wissen, wie ich ihre Neigung und ihr Vertrauen erringen, wie ich die Reue der Irrenden erwecken, wie die Schüchternen ermuthigen und die Betrübten trösten konnte, wie ich die Tugend ausführbar, die Belehrung Wünschenswerth und die Religion liebenswürdig und verständlich darstellen konnte.

Von so vielen Beweggründen getrieben, beschloß ich auszuharren, wenn mich. auch die Furcht, meiner Mutter zu mißfallen oder die Gefühle meines Vaters zu verletzen, auf mehrere Tage verhinderte, den Gegenstand wieder aufzunehmen. Endlich erwähnte ich ihn nochmals Privatim gegen meine Mutter und brachte sie mit einiger Mühe dahin, daß sie mir versprach, mir, so viel sie konnte, beizustehen. Hierauf verschaffte ich mir die widerstrebende Zustimmung meines Vaters und dann sah sich meine liebe; gute Mutter, obwohl Mary immer noch mißbilligend seufzte, nach einer Stelle für mich um. Sie schrieb an die Verwandten meines Vaters und sah in den Zeitungsanzeigen nach — mit ihren Verwandten hatte sie längst schon allen Verkehr aufgehoben — sie hatte seit ihrer Verheirathung nur noch einige förmliche Briefe mit ihnen gewechselt und würde sich unter keinerlei Umständen in einem Falle dieser Art an sie gewendet haben.

Meine Eltern hatten aber so lange in völliger Abgeschiedenheit von der Welt gelebt, daß viele Wochen vergingen, ehe eine passende Stelle für mich zu erlangen war. Endlich wurde zu meiner großen Freude entschieden; daß ich die Aufsicht über die junge Familie einer gewissen Mrs. Bloomfield, die meine gute Tante Grey in ihrer Jugend gekannt hatte und; wie sie behauptete, eine sehr nette Frau war, übernehmen sollte.

Ihr Mann hatte sich von den-Geschäften zurückgezogen und ein recht hübsches Vermögen erworben, war aber nicht zu bewegen, der Lehrerin seiner Kinder einen höhern Gehalt als fünfundzwanzig Pfund zu geben. Ich nahm dies jedoch mit Freuden an, um nicht diese erste Stelle ausschlagen zu müssen, wozu mir meine Eltern eigentlich riethen.

Zuerst mußten aber noch einige Wochen auf Vorbereitungen verwendet werden. Wie ewig lang erschienen mir diese Wochen — und doch waren sie in der Hauptsache glückliche, hoffnungs- und erwartungsvolle. Mit welcher eigenthümlichen Freude half ich bei der Anfertigung meiner neuen Kleider und später dem Packen meines Koffers.

Mit der letzten Beschäftigung vermischte sich aber doch ein Gefühl von Bitterkeit — und als Alles beendet, als Alles zu meiner Abreise für den nächsten Tag bereit war und die letzte Nacht im Elternhause nahte, schien eine plötzliche Pein mein Herz zu erfüllen. Meine theure Familie sah so trübe aus und sprach so freundlich, daß ich mir kaum das Wasser aus den Augen zu halten vermochte; dessen ungeachtet aber that ich, als ob ich heiter wäre. Ich hatte mit Mary meinen letzten Spaziergang auf der Haide durch den Garten und um das Haus gemacht, ich hatte mit ihr zum letzten Male unsere Tauben gefüttert, die hübschen Geschöpfe die wie gezähmt hatten, daß sie ihr Futter aus unserer Händen pickten. Ich hatte ihnen, als sie sich auf Meinem Schooße zusammendrängten, zum Lebewohl den seidenweichen Rücken gestreichelt, ich harte zärtlich meine Lieblinge, das Paar rein schneeweißen Pfauentauben, geküßt; ich hatte meine letzte Melodie auf dem alten Familienklavier gespielt und dem Papa mein letztes Lied vorgesungen, nicht des letzte, wie ich hoffte, sondern das letzte auf, wie es mir vorkam, eine lange, lange Zeit, und wenn ich diese Dinge wieder vornahm so würde es vielleicht mit andern Gefühlen geschehen. Die Umstände konnten sich verändert heben und dieses Haus nie wieder meine feste Heimath sein.

Meine liebe, kleine Freundin, das Kätzchen, mußte sich dann sicher verändert haben; sie wurde bereits zu einer schönen Katze und hatte, wenn ich, sei es auch nur zu einem kurzen Weihnachtsbesuche, zurückkehrte, sicherlich schon ihre Spielkameradin und ihre lustigen Sprünge vergessen. Ich hatte zum letzten Male mit ihr gespielt und als ich ihr weiches, glänzendes Fell streichelte, während sie auf meinem Schooße lag und sich in den Schlaf schnurrte, that ich es mit einem Gesichte der Trauer, welches ich nicht leicht verbergen konnte. Und dann, als ich mich am Abend mit Mary in unsere stille, kleine Kammer begab, wo bereits meine Kommode ausgeräumt und mein Antheil am Bücherregale leer war, und wo sie von nun an, wie sie sich ausdrückte, in öder Einsamkeit schlafen mußte; fiel mir der Muth mehr als je; es war mir; als ob es selbstsüchtig und unrecht gewesen wäre, als ich darauf bestand, sie zu verlassen, und als ich noch einmal an unserm kleinen Bett kniete, betete ich für sie und meine Eltern inniger, als ich es je gethan hatte.

Um meine Bewegung zu verhehlen, begrub ich mein Gesicht in meinen Händen, die bald in Thränen gebadet waren. Als ich aufstand, bemerkte ich, daß sie ebenfalls geweint hatte; wir sprachen aber nicht, sondern begaben uns stumm zur Ruhe und schmiegten uns im Bewußtsein, daß wir so bald von einander scheiden müßten dichter an einander.

Der Morgen brachte aber neue Hoffnung und erhöhten Muth. Ich sollte zeitig abreisen, damit der Wagen, welcher mich fortbrachte, — ein von Mr. Smith, dem Tuch- und Spezereihändler des Dorfes, gemiethetes Gig — noch an demselben Tage zurückkehren konnte. Ich stand auf, wusch mich, kleidete mich an, genoß ein hastiges Frühstück, empfing die zärtlichen Umarmungen meiner Eltern meiner Schwester, küßte die Katze, zum großen Skandal Sally's der Magd, drückte dieser die Hand, stieg in das Gig, zog den Schleier über mein Gesicht herab und brach dann, aber erst dann, in einen Strom von Thränen aus.

Das Gig rollte vorwärts — ich schaute zurück — meine gute Mutter und Schwester standen noch an der Thür, schauten mir nach und schwenkten mit den Taschentüchern ihr Lebewohl zu. Ich erwiederte ihren Gruß und betete von Herzen, daß sie Gott segnen möge; wir fuhren den Hügel hinab und ich konnte sie nicht mehr sehen.

»Es ist ein kalter Morgen für Sie, Miß Agnes,« bemerkte Smith, »und der Himmel sieht häßlich aus. Vielleicht kommen wir oben hin, ehe es stark zu regnen anfängt.«

»Ja, ich hoffe es,« antwortete ich; so ruhig ich konnte.

»Es hat gestern Abend auch recht geregnet.«

»Ja.«

»Aber dieser kalte Wind wird es vielleicht nicht dazu kommen lassen.«

»Vielleicht wird er das.«

Hiermit endete unser Gespräch. Wir fuhren durch das Thal und begannen den entgegengesetzten Hügel zu ersteigen. Als wir langsam hinausfahren, blickte ich noch einmal zurück: der Dorfkirchthurm und das alte graue Pfarrhaus jenseits desselben wurden von einem Sonnenstrahle erhellt — es war nur ein schwacher Strahl, aber das Dorf und die es umgebenden Hügel lagen alle im dunkeln Schatten und ich begrüßte ihn als seine günstige Vorbedeutung für mein Elternhaus. Ich flehte mit gefalteten Händen Segen auf seine Bewohner herab und wendete mich hastig hinweg, denn ich sah, daß der Sonnenschein verschwand und vermied es sorgfältig, mich wieder umzuschauen, um es nicht in düsterm Schatten zu erblicken, wie den übrigen Theil der Landschaft.

Zweites Kapitel.Erste Lektionen in der Erziehungskunst.

Unterwegs belebte sich meine gute Laune von Neuem und ich wendete mich mit Vergnügen der Betrachtung des neuen Lebens, welches ich antrat, zu; wiewohl es aber noch nicht weit über die Mitte des Septembers hinaus war, verbanden sich doch die schweren Wolken und der heftige Nordostwind, den Tag äußerst kalt und traurig zu machen und die Reise schien sehr lang zu sein, denn die Wege waren, wie Smith bemerkte, sehr tief und sein Pferd war äußerst schwerfällig, es kroch die Hügel hinauf und schlich dieselben hinab und ließ sich nur dann herab, sich zu einem Trabe aufzumuntern, wenn die Straße völlig eben oder sehr sanft abhängig war, was in dieser gebirgigen Gegend selten vorkam, so daß es fast ein Uhr wurde, ehe wir an unsern Bestimmungsort gelangten. Als wir aber durch das hohe Eisenthor gelangten; als wir sanft den glatten, gut gehaltenen Fahrweg hinausfahren, wo zu beiden Seiten grüne Rasenplätze mit jungen Bäumen besetzt waren und uns dem neuen, aber stattlichen Herrenhause von Wellwood näherten, welches sich über seine winzigen Pappelhaine erhob, sank mir der Muth und ich wünschte, daß es noch ein paar Meilen weiterhin liegen möchte — ich mußte zum ersten Male in meinem Leben allein stehen — jetzt galt kein Rückzug mehr — ich mußte in jenes Haus und vor dessen fremde Bewohner treten — aber wie sollte es geschehen! Allerdings war ich beinahe Neunzehn, aber ich wußte recht gut, daß in Folge meines zurückgezogenen Lebens und der schützenden Fürsorge meiner Mutter und Schwester, manches Mädchen von fünfzehn und noch weniger Jahren. größere Fähigkeit, sich unter Fremden zu bewegen, und mehr Ruhe und Hoffnung besaß, als ich. Wenn Mrs. Bloomfield aber eine gute, mütterliche Frau war, konnte ich mich doch am Ende noch recht wohl befinden, und was die Kinder betraf, so hoffte ich natürlicher Weise, mich unter ihnen bald einheimisch zu machen — und mit Mr. Bloomfield erwartete ich nur wenig zu thun zu haben.

»Sei ruhig, sei ruhig; was auch geschieht!« sagte ich zu mir, und hielt diesen Entschluß so gut, und war so Ausschließlich bemüht, meine Nerven zu beruhigen und das rebellische Klopfen meines Herzens zu unterdrücken, daß ich, als ich in das Haue gelassen und zu Mrs. Bloomfield hineingeführt wurde, beinahe vergaß, auf ihre höfliche Begrüßung zu antworten und es mir später vorkam, als ob das Wenige, was ich gesagt hatte, im Tone einer halbtodten oder halb im Schlafe befindlichen Person gesprochen worden wäre. Auch die Dame war in ihrem Benehmen etwas eisig, wie ich entdeckte, als ich Zeit zum Nachdenken gewann. Sie war eine lange, magere, stattliche Frau mit dichtem schwarzem Haar, falkengrauen Augen und ins Graue spielenden Teint.

Sie zeigte mir jedoch mit geziemender Höflichkeit mein Schlafzimmer, und ließ mich dort, um einige Erfrischungen einzunehmen. Ich war, als ich in den Spiegel blickte, über mein Aeußeres etwas erschrocken — der kalte Wind halte meine Hände aufgeschwellt und geröthet, mein Haar in Verwirrung gebracht, und mein Gesicht purpurn gefärbt, hierzu kam noch, daß mein Halskragen abscheulich zerknittert, mein Kleid mit Koth bespritzt, meine Füße in dicke, neue Knöchelschuhe gekleidet waren, und da man meine Koffer noch nicht heraufgebracht hatte, ließ sich dem auch nicht abhelfen. Nachdem ich daher mein Haar, so gut ich konnte, glatt gestrichen und meinen hartnäckigen Halskragen zu wiederholten Malen zurecht gerückt hatte; trappte ich philosophisch die beiden Treppen hinab und fand mich mit einiger Mühe in das Zimmer, wo mich Mrs. Bloomfield erwartete.

Sie führte mich in das Speisezimmer, wo das Familienlunch aufgetragen worden war. Es wurden Beefsteaks und kalte Kartoffeln vor mich hingestellt, und während ich diese speiste, saß sie mir gegenüber, beobachtete mich, wie es mir schien, und versuchte, etwas einem Gespräche ähnliches zu unterhalten, was hauptsächlich aus einer Reihe von Alltagsbemerkungen bestand, die mit eisiger Förmlichkeit ausgedrückt wurden, — dies mochte aber wohl mehr meine Schuld sein, als die ihre, denn ich war wirklich nicht im Stande; mich zu unterhalten. Meine Aufmerksamkeit wurde nämlich fast ausschließlich von meinem Mittagsessen in Anspruch genommen, nicht in Folge eines heißhungrigen Appetits, sondern der Noth, die ich mit den zähen Beefsteacks hatte, und der Klammheit meiner Hände, die durch das fünfstündige Fahren in dem kalten Winde fast gelähmt worden waren. Ich würde gern die Kartoffeln gegessen haben, ohne das Fleisch anzurühren, da ich aber ein großes Stück des Letzteren auf meinen Teller genommen hatte so konnte ich nicht so unhöflich sein, es liegen zu lassen; nachdem ich daher eine Menge unbehilflicher und erfolgloser Versuche gemacht, es mit dem Messer zu zerschneiden oder mit der Gabel zu zerreißen, oder mit beiden auseinanderzuziehen, wobei ich stets von dem Bewußtsein verfolgt wurde, daß die schauerige Dame die ganze Scene mit ansah, faßte ich endlich in Verzweiflung Messer und Gabel mit den Fäusten, wie ein zweijähriges Kind, und begann mit aller geringen Kraft, die ich besaß, darein herumzuarbeiten. Dies bedurfte aber einer Entschuldigung, und ich sagte, mit einem schwachen Versuche zu lachen:

»Meine Hände sind der der Kälte so verklommen, daß ich kaum Messer und Gabel halten kann.«

»Ich denke wohl, daß Sie es kalt gefunden haben,« antworte sie mir einer kühlen, unveränderlichen Gravität, die mich keineswegs beruhigte.

Sobald diese Ceremonie beendigt war, führte sie mich wieder in das Wohnzimmer, wo sie klingelte und die Kinder kommen ließ.

»Sie werden sie nicht weit vorgerückt finden,« sagte sie, denn ich habe so wenig Zeit gehabt, selbst ihre Erziehung zu beaufsichtigen, und wir sie bis jetzt für zu jung gehalten, um eine Gouvernante anzunehmen; aber ich halte sie für sehr gute, lernbegierige Kinder, besonders der kleine Knabe, der die Blume von ihnen ist — sei trefflichen hochherziger Knabe, den man führen aber nicht treiben muß, und der sich besonders dadurch auszeichnet, daß er stets die Wahrheit spricht. Er scheint die Lüge zu verachten (Dies war eine gute Nachricht.) Seine Schwester Marianne wird Aufsicht nöthig haben, fuhr sie fort, aber im Ganzen ein sehr gutes Mädchen, wiewohl ich wünsche, daß sie so viel als möglich aus der Kinderstube fern gehalten wird, da sie jetzt fast sechs Jahr alt ist und von den Wärterinnen schlechte Gewohnheiten annehmen könnte. Ich habe ihr Bett in Ihr Zimmer zu stellen befohlen, und Sie werden so gut sein, sie beim Waschen und Ankleiden zu beaufsichtigen, und sich ihrer Kleider anzunehmen; sie braucht mit dem Kindermädchen nichts weiter zu thun zu haben.«

Ich erwiederte, daß ich dazu vollkommen bereit sei, und in diesem Augenblicke traten meine beiden jungen Schüler mit ihren beiden noch, jüngeren Schwestern in das Zimmer.

Master Tom Bloomfield war ein großer, siebenjähriger Knabe von etwas magerer Gestalt, Flachshaar, blauen Augen; kleiner aufgeworfener Nase und heller Gesichtsfarbe. Marianne war ebenfalls ein großes Mädchen, etwas dunkel, wie ihre Mutter, aber mit rundem, vollem Gesicht und rothen Wangen. Die zweite Schwester war Fanny, ein sehe hübsches, kleines Mädchen; Mrs. Bloomfield versicherte mir, daß sie ein ausnehmendes sanftes Kind sei, und Aufmunterung nöthig habe; bis jetzt haben sie noch nichts gelernt, aber in wenigen Tagen werde sie vier Jahre alt sein und dann könne sie ihre erste Lektion im Alphabete nehmen und in das Schulzimmer befördert werden. Die Letzte war Henriette, ein kleines; breites, dickes, munteres, neckisches, kaum zweijähriges Ding, nach dem ich mehr verlangte, als allen Uebrigen — mit ihr aber hatte ich nichts zu thun.

Ich sprach zu meinen kleinen Zöglingen so gut ich konnte, und versuchte, mich angenehm zu machen, aber wie ich fürchte, nur mit geringem Erfolg, da die Gegenwart ihrer Mutter einen unangenehmen Zwang auferlegte. Sie jedoch waren von Scheuheit auffallend frei. Sie schienen dreiste, muntere Kinder zu sein, und ich hoffte, bald auf einen freundschaftlichen Fuß mit ihnen zu kommen; besonders mit dein kleinen Knaben, der mir von seiner Mutter so sehr belobt worden war.

Marianne hatte ein gewisses affektiertes Lächeln und eine Sucht, sich bemerklich zu machen, die ich mit Bedauern wahrnahm. Ihr Bruder nahm aber alle meine Aufmerksamkeit für sich in Anspruch, er stellte sich kerzengerade, und mit aus den Rücken gelegten Händen zwischen mich und das Feuer, und sprach wie ein Redner, unterbrach aber zuweilen seine Perorationen mit einem scharfen Tadel seiner Schwestern, wenn sie zu viel Lärm machten.

»O, Tom, was für ein lieber Junge Du bist! Komm und küsse Deine Mama!« rief seine Mutter, »und willst Du nicht dann der Miß Grey Dein Schulzimmer und Deine hübschen neuen Bücher zeigen?«

»Ich werde Dich nicht küssen, Mama, aber ich will der Miß Grey mein Schulzimmer und meine neuen Bücher zeigen.«

»Und mein Schulzimmer —- und meine neuen Bücher! sagte Marianne; »ich habe auch Theil daran.«

»Sie sind mein,« antwortete er entschieden; »kommen Sie mit, Miß Grey, ich werde Sie eskortiren.«

Sobald das Schulzimmer und die Bücher gezeigt worden waren, wobei zwischen den Geschwistern einige Hakeleien stattfanden, denen ein Ende zu machen ich mich aufs Aeußerste bemühte, brachte mir Marianne ihre Puppe, und begann äußerst gesprächig über deren schöne Kleider. ihr Bett, ihre Kommode, und andere Besitzthümer zu werden; aber Tom sagte ihr, daß sie nur den Mund halten möge, damit Miß Grey sein Schaukelpferd sehen könne, welches er mit der wichtigsten Geschäftigkeit aus seinem Winkel in die Mitte des Zimmers zog, indem er mir laut zurief, darauf Acht zu haben. Dann befahl er seiner Schwester, die Zügel zu halten, stieg auf, und ich mußte zehn Minuten lang stehen bleiben, und zusehen, wie mannhaft er Peitsche und Sporen gebrauchte. Unterdessen bewunderte ich jedoch Mariannens hübsche Puppe und alle ihre Besitzthümer und sagte dann zu Master Tom, daß er ein trefflicher Reiter sei, ich hoffe aber, daß er Peitsche und Sporen nicht so stark gebrauchen werde, wenn er auf einem wirklichem Pferde reite.

»O ja, das werde ich,« sagte er, indem er mit verdoppeltem Eifer zuschlug. Ich werde es zusammen hauen, wie altes Eisen; ich gebe Ihnen mein Wort, daß es schön schwitzen soll.«

Das war abscheulich, aber ich hoffte mit der Zeit eine Besserung bewerkstelligen zu können.

Jetzt müssen Sie Hut und Shawl anlegen,« sagte der kleine Held, »und ich werde Ihnen meinen Garten zeigen.«

»Und meinen,« sagte Marianne.

Tom hob die Faust mit drohender Geberde und sie stieß ein lautes, schrilles Geschrei aus, lief aus meine andere Seite und zog ihm ein Gesicht.

»Ei, Tom, Du wirst doch Deine Schwester nicht schlagen? Ich hoffe, daß ich das nie von Dir sehen werde.«

»Sie werden es mitunter doch; ich muß es von Zeit zu Zeit thun, um sie in Ordnung zu halten.«

»Aber Du weißt, daß es nicht Deine Sache ist, sie in Ordnung zu halten — es ist für —«

»Nun, jetzt geh und setze Deinen Hut auf!«

»Ich weiß nicht — es ist so sehr bewölkt und kalt; es scheint regnen zu wollen — und Du weißt, daß ich lange zu fahren gehabt habe.«

»Gleichvieh Du mußt kommen, ich werde keine Entschuldigung erlauben,« antwortete der eigensinnige kleine Herr. Und da es der erste Tag unserer Bekanntschaft war, so dachte ich, ich könne ihm wohl darin nachgeben.

Es war für Marianne zu kalt um sich herauszuwagen, weshalb sie bei ihrer Mama blieb, zum großen Vergnügen ihres Bruders, dem es lieb war, mich ganz allein für sich zu haben.

Der Garten war groß und geschmackvoll angelegt; außer mehreren prächtigen Georginensorten blühten auch noch eine Anzahl von anderen schönen Blumen, aber mein Begleiter ließ mir keine Zeit, sie zu betrachten, ich mußte mit ihm über das feuchte Gras in einen abgelegenen Winkel gehen, der die wichtigste Stelle der Anlagen war — weil er seinen Garten enthielt. Zwei runde Beete waren mir verschiedenen Pflanzen besetzt. In einem davon stand ein hübscher, kleiner Rosenbusch. Ich blieb stehen, um seine schönen Blüthen zu bewundern.

»O, darum kümmern Sie sieh nicht,« sagte er verächtlich, das ist nur Mariannens Garten; sehen Sie, dieser ist mein.«

Nachdem ich jede Blume betrachtet und Abhandlungen über jede Pflanze angehört hatte, durfte ich Mich entfernen, vorher aber pflückte er mit großem Pomp eine Kreuzblume ab, und gab sie mir, als ob er mir eine ungeheure Gunst zu Theil werden lasse. Ich bemerkte im Grase um seinen Garten her gewisse Apparate von Stöcken und Bindfaden und fragte; was sie seien.

»Fallen, um Vögel zu fangen.«

»Warum fängst Du sie?«

»Der Papa sagt, daß sie Schaden anrichten.«

»Und was thust Du mit ihnen, wenn Du sie gefangen hast?«

»Mancherlei Dinge. Mitunter gebe ich sie der Katze, zuweilen schneide ich sie mit meinem Federmesser in Stücken, aber den nächsten gedenke ich lebendig zu braten.«

»Und warum willst Du etwas so Abscheuliches thun?«

»Aus zwei Gründen. Erstens um zu sehen, wie es schmecken wird.«

»Weißt Du aber nicht, das es äußerst gottlos ist, dergleichen Dinge zu thun? Bedenke, daß die Vögel eben so gut fühlen, wie Du; und wie es Dir gefallen würde.«

»O, das ist nichts, ich bin kein Vogel und kann Nicht fühlen, was ich ihnen thue.«

»Aber Du wirst es noch einmal fühlen müssen Tom — Du hast gehört, wohin die gottlosen Menschen kommen, wenn sie sterben, und wenn Du nicht aufhörst, unschuldige Vögel zu quälen, so bedenke, daß Du dorthin kommen und oben das leiden wirst, was Du sie hast leiden lassen!«

»O Pah, das werde ich nicht. Der Papa weiß wie ich sie behandle, und er tadelt mich nie dafür; er sagt, daß er es als Junge eben so gemacht habe. Vergangenen Sommer gab er mir ein Nest mit jungen Sperlingen und er sah, wie ich ihnen die Beine und Flügel und Köpfe abriß, und sagte nichts, als daß sie garstige Dinger wären, und daß ich mir von ihnen die Hosen nicht beschmutzen lassen dürfe, und Onkel Robson war auch da, und lachte, und sagte, ich wäre ein guter Junge.«

»Aber was würde Deine Mama sagen?«

»O, die kümmert sich nicht darum — sie sagt, es sei schade, die hübschen Singvögel todt zu machen; aber mit den häßlichen Sperlingen und Mäusen und Ratten kann ich anfangen, was ich will. Sie sehen also; Miß Grey, daß das nicht böse ist.«

»Ich denke immer noch, daß es das ist, Tom, und vielleicht würden Deine Eltern es ebenfalls dafür halten, wenn sie viel davon dächten. — Sie mögen aber,« fügte ich innerlich hinzu, »sagen, was sie wollen, ich bin fest entschlossen, Dich nichts derartiges thun zu lassen, so lange ich die Macht habe, es zu verhindern.«