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Das Buch ist die Fortsetzung von "Angst über dem Land". Eine fünfköpfige Familie, im Zeugenschutzprogramm des LKA, wird bis auf die junge Ehefrau und Mutter, Agnes, komplett ausgelöscht. Der Leidensweg der Familie wird aus Sicht der Eheleute und hier vor allem aus Sicht der Ehefrau beschrieben. Einfache Menschen aus Polen, Deutschland und Kaliningrad kreuzen den Weg der Familie, die auf der Flucht vor einer mörderischen Verbrecherbande, immer wieder zwischen Verzweiflung und Hoffnung schwebt. Dabei riskieren diese Menschen zum Teil ihr Leben. Aber nicht jeder ist der, der er zu sein schein.
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Seitenzahl: 299
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Agnes im Grauen gefangen
Fortsetzung von „Angst über dem Land“
von Maschlé
Teil 1
Kaliningrad
1. Verwirrung
Völlig benommen öffnete sie vorsichtig die Augen. Höllische Kopfschmerzen plagten ihren geschundenen Körper, während sie versuchte sich auf zu richten. Nachdem sie sich mühsam an dem ihr nächst stehenden Baum, eine kräftige Blutbuche, aufgerichtet hatte, versuchte sie ihre Umgebung zu erkennen. Sie befand sich in einem Waldgebiet mit Buchen-, Linden- und Ahornbäumen, überall durchdrungen von dornigen Büschen und halbhohen Grasbüscheln.
Wo zum Teufel war sie?
Vor allem, was war geschehen, wie und warum war sie im Wald?
2. Albtraum
Ganz langsam begann sich die Erinnerung wieder ein zu stellen. Sie war im Keller dieser angeblichen Jagdhütte gewesen, in dem Keller, in dem ihre Kinder auf die grausamste Weise ermordet worden waren. Ermordet auf Befehl eines skrupellosen Verbrechers, der nicht nur ein Verbrecher, sondern eine Bestie im wahrsten Sinne des Wortes war. Dieser Mann, Nikolai Wolkow, genannt der Skorpion hatte nicht nur einen Spitznamen, der dem Tierreich entlehnt war, nein, dieser Mann war ein Tier, auf schreckliche Art weit grausamer als ein Tier.
Es war ihr gelungen, die beiden Mordgesellen des Skorpion, unter Aufbietung aller Kräfte zu töten.
Während das Schwein Kasparow sich in übelster Weise an Anna vergriff, hatte sie seinem Kumpanen, der das gleiche mit ihr vorhatte, seine Waffe aus dem Schulterhalfter entreißen können und diesen mit zwei Schüssen getötet. Als Kasparow von Anna abließ, um sich der Gefahr in seinem Rücken zu stellen, versuchte Anna ihn daran zu hindern. Skrupellos und ohne zu zögern schleuderte dieser jedoch die Angreiferin mit voller Wucht zurück an die Wand, wo Anna wie leblos liegen blieb. Dieser kurze Moment gab Agnes jedoch die Gelegenheit um, voller Zorn und Angst, das restliche Magazin der Waffe auf den Kapo abzufeuern, der unter den Einschlägen der Kugeln zurückgeschleudert wurde und mit verwundertem Gesichtsausdruck zu Boden ging.
Jedoch hatte sie nicht vermocht den Tod ihrer geliebten Kinder zu verhindern. Dies würde sie sich ihr ganzes Leben lang, wie gering auch ihre Chancen waren diesen Albtraum zu überleben, nicht verzeihen können. Sie hatte dabei versagt, die Kinder, die sie unter Schmerzen auf die Welt gebracht hatte, vor dem zu schützen, was letztlich ihr Mann Pawel angerichtet hatte.
3. Erinnerung - Agnes
Er war es gewesen, der glaubte er müsse auf ganz schnellem Weg für sich und seine Familie immer mehr und immer schneller materiellen Besitz anhäufen zu müssen. Je mehr Einblick sie im Laufe der Jahre in die Geschäfte ihres Mannes erhielt, wobei er immer versuchte sie von diesen Geschäften fern zu halten, um so mehr versuchte sie ihren Mann von dem eingeschlagenen Weg abzuhalten. Immer wieder beschwichtigte Pawel seine Agnes und verniedlichte die Gefahr. Eine Gefahr die immer wieder aufblitzte, wenn sich durch unterschiedliche Ereignisse mal ganz kurz die Decke lüftete, unter der die Geschäfte des Skorpion abgewickelt wurden. Und ihr Mann war Teil dieser Geschäfte, er war der Buchhalter des Satan.
Die Tatsache, dass er nicht direkt an den kriminellen Aktionen der Verbrecherbande beteiligt war, diente Pawel auch immer dazu, seine Agnes zu beruhigen. Jede Diskussion bei der es um seine Tätigkeit für den Skorpion und der damit verbundenen Gefahr ging, würgte er dann mit dem Argument ab, dass er ja nur der Buchhalter sei. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Tätigkeit als Buchhalter des Skorpions eben doch nicht nur eine theoretische Gefahr war. Zuerst waren es kriminelle Konkurrenten des Skorpion, die Druck ausübten und Drohungen gegen die Familie Nowak richteten, die zu diesem Zeitpunkt noch unter dem Namen Gerassimov bekannt war. Diese Bedrohungen hatte der Skorpion in einem äußerst blutigen Machtkampf beseitigt. Vor allem durch seine besten Verbindungen zur politischen Machtelite, auf seiner Gehaltsliste standen praktisch alle, die an den Schalthebeln in Kaliningrad saßen, war es ihm gelungen seine Gegner zu beseitigen. Die korrupte Elite war jedoch keine in sich einige Gruppe, sondern durchaus mit einer gehörigen Portion an Neid und Gehässigkeit gegenseitig verbunden. Jeder, und jede, versuchte den Rivalen auszuschalten. Einigkeit bestand nur darin, sich nicht von Moskau in die einträglichen Geschäfte reinreden zu lassen.
Nachdem durch die Bandenkämpfe gehörig Staub aufgewirbelt wurde, der nicht nur in Moskau aufsehen erregte, forderte die korrupte Elite der Provinz Nikolai Wolkow auf, er möge sich für eine gewisse Zeit ins Exil begeben. Dieser lehnte solche Ansinnen empört und unter Androhung von massiver Vergeltung ab. Damit hatten allerdings die wahren Machthaber Kaliningrads gerechnet und bereits das Umfeld des Skorpions diskret ausspionieren lassen, wobei immer mehr die Familie Gerassimov in den Fokus der Überlegungen der Machtelite gerieten. Pawels Kenntnisse der illegalen wie der legalen Geschäfte von Nikolai Wolkow, sowie die persönliche Verletzlichkeit der Familie, führten dazu, dass diese korrupte Elite um Bürgermeister Morosow und der City Managerin Smirnow den Plan entwickelten durch mehr oder weniger subtile Drohungen gegenüber der Familie Pawel Gerassimov zu ihrem Handlanger gegen den Skorpion zu machen. Sie schreckten auch nicht davon ab, die älteste Tochter Anna in eine gefährlich Situation im Drogenmilieu zu verwickeln. Zusätzlich wurde Agnes zusammen mit dem jüngsten Sohn Michael in einen angeblichen Autounfall verwickelt, der jedoch tatsächlich ein Anschlag, durchgeführt von einem Kleinkriminellen aus Kaliningrad, war.
Nachdem sich diese Vorfälle immer mehr häuften und die Drohungen überbracht worden waren, dass es zu noch schlimmeren Situationen kommen könnte, waren sich die Eheleute darüber einig, dass ihr Leben so nicht weiter gehen konnte. Agnes bedrängte Pawel seine Arbeit für den Skorpion auf zu geben und mit der Familie das Land zu verlassen. Jedoch: Eine Kündigung im üblichen Sinne war bei einem Arbeitgeber wie Nikolai Wolkow nicht möglich.
4. Fluchtplan
Agnes und Pawel waren sich darüber im Klaren, dass es unmöglich sein würde ohne Hilfe von außen die Flucht zu wagen. Vor allem war ihnen bewusst, dass es ohne eine starke Unterstützung unmöglich sein würde eine sichere Zuflucht irgendwo zu finden. Aus dem direkten Umfeld, also von der Bande des Skorpions, war keinerlei Hilfe zu erwarten. Diese Kerle verachteten Pawel, der in ihrem Verständnis nur ein schwacher Buchhalter, eine Memme war. Also musste eine andere Quelle für die Unterstützung der Fluchtpläne gefunden werden. Wobei es ja so war, dass sie noch keinen Plan in dem Sinne hatten, es war ja erst nur die Erkenntnis und die feste Absicht, dieses kriminelle Umfeld schnell und möglichst unauffällig zu verlassen.
Es waren schon einige Tage nach ihrem Entschluss für die Flucht vergangen und es wollte ihnen kein vernünftiger Gedanke kommen, wer als Helfer in Frage käme. Professionelle Hilfe war wohl am ehesten aus den Reihen der Strafverfolgungsbehörden zu erwarten. Diese hatten die Möglichkeit Kronzeugen zu schützen und auch außer Landes zu bringen. Allerdings galt die gesamte Elite der Oblast Kaliningrad als korrupt und diese Korruption war tief eingesickert in alle Bereiche, nicht nur der Verwaltung, sondern auch der Sicherheitsbehörden. Es war also unmöglich einfach die nächste Dienststelle der Polizei auf zu suchen um ihr Anliegen vor zu bringen. Die Wahrscheinlichkeit war viel zu hoch, dass noch in der gleichen Stunden Nikolai Wolkow über die Pläne der Familie Gerassimov informiert gewesen wäre.
Es musste also ein Weg gefunden werden auf unauffällige Art und Weise Kontakt zu möglichen Helfern auf zu nehmen und diese möglichst diskret auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen Aber wie? Der Zufall wollte es, dass noch am Ende der Woche eine persönliche Einladung von Bürgermeister Konstantin Morosow an Herrn und Frau Gerassimov zum jährlichen Stadtfest eintraf. Dieses Fest fand jährlich statt, in der Park- und Seenlandschaft unweit des Stadtzentrums von Kaliningrad. Dazu waren immer alle Bürger eingeladen, die in unterschiedlichsten Zelten diverse musikalische und andere künstlerische Darbietungen erleben konnten. Der Eintritt zu diesen Zelten war kostenlos und jedem Bürger zugänglich.
Eine Ausnahme bildete jedoch ein stattliches wenn auch nicht ganz so großes Zelt im äußersten Westen des Parks gelegen. Dieses Zelt, auf einer künstlich errichteten Insel in Dreiecksform, war nicht für jeden Bürger zugänglich. Dem flüchtigen Betrachter wäre es nicht aufgefallen, aber die Zugänge zu diesem Zelt wurden bewacht durch Angestellte eines speziellen Sicherheitsdienst, gegründet und bestehend vor allem aus ehemaligen Mitarbeitern von KGB, bzw. FSB. Die Anweisung an diesem Abend an die Wachleute lautete, wie immer übrigens bei solchen Veranstaltungen, allen unbefugten Personen diskret aber bestimmt, den Zutritt zu dieser Insel zu
verwehren. Hier waren nur Menschen mit persönlichen Einladungen willkommen, wie nun, zum ersten Mal in ihrem Leben, die Eheleute Gerassimov.
Das diesjährige Fest zeichnete sich dadurch aus, dass es stattfand, als zum gleichen Zeitpunkt eine große internationale Konferenz der Ostsee-Anrainerstaaten durchgeführt wurde. Diese Konferenz mit Teilnehmern aus dem Skandinavischen Raum, also aus Finnland, Schweden und Dänemark; ebenso mit Teilnehmern aus allen baltischen Staaten sowie aus Polen und Deutschland. Gastgeber war die russische Föderation, die durch den Veranstaltungsort ganz besonders ihre Rechte an der Region Kaliningrad auch nochmals international bestätigt haben wollte. Um sich als besonders guter Gastgeber zu präsentieren, hatte die Regierung in Moskau den dringenden Vorschlag an die Regionalregierung gemacht, dass die Tagungsteilnehmer allesamt eine Einladung zu diesem Stadtfest erhielten. Diese ließ sich begeistert auf den Vorschlag ein, war es doch eine weitere Gelegenheit um Moskau die Zuverlässigkeit des Provinzregimes zu beweisen. Unter der Hand waren sich die Mitglieder der Oblastverwaltung aber auch einig, dass es eine weitere Gelegenheit war um einerseits weiteren Freiraum gegenüber Moskau sich zu verschaffen, um diverse Geschäfte ungestört abzuwickeln und auch um etwas Glanz auf die Nomenklatura Kaliningrads zu lenken.
Diese Überlegungen spielten für die Familie Gerassimov eher eine untergeordnete Rolle. Die Überlegungen der Stadtoberen waren zwar in gewissen Kreisen kein Geheimnis, der Skorpion hatte sich mehrfach in der Richtung, auch in Gegenwart von Pawel , geäußert; aber die Hoffnungen von Agnes waren groß, hier auf diesem Fest Kontakte zu knüpfen, die der Beginn der Rettung für die Familie sein sollten. Pawel teilte diese Zuversicht bei weitem nicht, hatte seine Bedenken jedoch nicht weiter gegenüber Agnes ausgesprochen, um ihrer Tatkraft und Zuversicht nicht im Wege zu stehen. Es war für Agnes schon schwer genug, die Last unter der sie standen, nicht an die Kinder ran kommen zu lassen. Diese Bürde hatte vor allem Agnes zu tragen und es war auch für Pawel nicht mehr zu leugnen, dass seine Frau, wenn es nicht bald zu einer radikalen Änderung ihrer Lebenssituation käme, unter dieser Last zusammen brechen würde. Und auch wenn ihre Liebe über die Jahre, den Alltag und besonders seine berufliche Situation gelitten hatte, so liebte er seine Frau immer noch so sehr, dass er bereit war, den Absprung von dem Skorpion und seiner Verbrecherbande zu wagen.
5. Die Veranstaltung
Als Pawel und Agnes nun, er in einem hellgrauen Anzug mit passender Krawatte, sie in einem rotbraunen Abendkleid, welches ihre Figur sehr vorteilhaft zur Geltung brachte, wozu auch der tiefe V-förmige Ausschnitt beitrug, das Veranstaltungszelt betraten, welches für die ganz speziellen Gäste der Führungselite vorbehalten war, konnte Agnes vor lauter Anspannung kaum noch richtig atmen. Sie wandte sich Pawel zu und sah die Anspannung in seiner ganzen Haltung, die auch ihn voll in Besitz genommen zu haben schien. »Hast Du jemanden entdeckt?«, flüsterte sie ihrem Mann zu, ohne den Blick von dem großen Saal abzuwenden. Es waren, vor einer breiten erhöhten Bühne, etwa 40 Tische aufgebaut, an dem jeweils ungefähr ein Dutzend Gäste Platz finden konnten. Bei ihrem verstohlenen Rundblick stellte sie fest, dass bereits an vielen Tischen eine große Anzahl von Männern und Frauen in festlicher Kleidung Platz genommen hatten. »Ich glaube vorne links an dem dritten Tisch, dass könnten auswärtige Gäste sein.« Pawel wandte sich bei diesen Worten zwar seiner Gattin zu, beobachtete jedoch über ihre Schultern das Geschehen im Saal und hier ganz besonders achtete er auf einen der Tische in der vordersten Reihe, an dem sein Chef mit Begleitung Platz genommen hatte. »Wir müssen erst einmal unseren Tisch aufsuchen«, flüsterte Pawel seiner Frau zu, »mein Chef hat schon nach uns gesehen.« Während er dies sagte, setzte er ein freundliches Lächeln auf und hob grüßend seine rechte Hand in Richtung des Tisches in der vordersten Reihe, an dem Nikolai Wolkow, der Skorpion, mit seiner Gattin und weiteren Gästen, unter anderem dem Bürgermeister Konstantin Morosow, sich niedergelassen hatten. Bevor Agnes zu einer Erwiderung ansetzen konnte, hatte sich inzwischen einer der Saalordner dem Ehepaar genähert und bot sich an die Gäste zu ihrem Tisch zu geleiten.
An diesem Tisch hatten noch keine weiteren Gäste Platz genommen. Agnes bedankte sich bei dem jungen Mann, der sie an den Tisch geleitet hatte und ihr den Stuhl galant zurecht gerückt hatte. Derweil war Pawel ein weiteres bekanntes Gesicht aufgefallen, es war Juri Kasparow, der gerade in weiblicher Begleitung den Saal betreten hatte. Pawel hoffte, dass Juri nicht für den Tisch an dem sie saßen eingeteilt sein würde. Sie saßen am rechten Rand des Festsaales, in der zweiten Reihe, schräg hinter dem Tisch an dem Wolkow saß. Die ausländischen Gäste waren allesamt auf der linken Saalseite untergebracht. »Pawel, ist es dir schon aufgefallen?« »Was meinst Du?« »Nun«, erwiderte Agnes, »wir sitzen ganz unglücklich, so weit weg von den möglichen Kontakten, da wird es ganz schwer unauffällig mit jemandem zu sprechen. Das klappt doch auf keinen Fall, wie wir uns das vorgestellt haben.« Während Pawel beruhigend Agnes Hand ergriff sprach er in beruhigendem Tonfall zu ihr: »Keine Sorge, wenn das Fest einmal in vollem Gange ist, dann ergeben sich sicher die eine oder andere günstige Gelegenheit.«
»Günstige Gelegenheit…. wofür?« wurden die beiden plötzlich von einer Stimme unterbrochen. Es war keine fremde Stimme, sondern die unangenehme Fistelstimme des Kapo, der mit seiner Begleitung an den Tisch herangetreten war. »Ach Du bist es, Juri, ich hatte gar nicht damit gerechnet Dich heute hier an zu treffen. Agnes hatte gehofft wieder mal tanzen zu können, ich hab‘ dafür ja kein Talent.« Agnes, geistesgegenwärtig: »Dann habe ich mich hier an den Nachbartischen umgeschaut und war jetzt schon recht enttäuscht, da ich nicht den Eindruck habe, gute Tanzpartner zu finden.« »Ach wenn es daran mangelt, ich stelle mich doch liebend gerne und jederzeit zur Verfügung«, feixend und unverschämt lange Agnes musternd bot sich der Kapo an und seine ganze Haltung drückte aus, dass er sich nicht nur für den geeigneten Tanzpartner hielt. Pawel sah es nun als geboten an ein zu schreiten, bevor die Situation noch unangenehmer werden würde. »Juri, das ist ja ein nettes Angebot, aber willst Du uns denn nicht erst Deine Begleitung vorstellen, ich nehme an es ist Deine Nichte, oder?« Diese Nichte, wasserstoffblond, nicht nur knapp volljährig, sondern auch äußerst knapp und spärlich begleitet war inzwischen näher getreten und stellte sich nun selbst vor. »Ich bin Olga, aber ich bin nicht die Nichte von Juri. Ich bin Studentin.« »Ja, dass ist die Olga. Ein richtig geile, gute Studentin«, feixte Juri Kasparow, um dann weiter zu erläutern, «wir haben wohl heute Abend den gleichen Tisch. Das ist für mich ein besonderes Vergnügen Agnes, ich darf Dich doch Agnes nennen?« Die Angesprochene bemühte sich, äußerlich ruhig und freundlich zu bleiben, wobei in ihrem Innersten sich die wildesten Kämpfe abspielten. Am liebsten hätte sie dem unverschämten Kapo eine gewaltige Ohrfeige verabreicht und wäre laut schreiend aus dem Raum gerannt. Statt dessen bemühte sie sich den Verbrecher und seine Geliebte an zu lächeln während sie erwiderte: »Aber sicher dürfen Sie mich Agnes nennen mein lieber Juri und wir beiden Frauen werden uns doch auch duzen und den Abend so richtig genießen.«
Während diesem kurzen Wortgeplänkel hatte Pawel so unauffällig wie nur möglich beobachtet wie weitere Gäste den Raum, sei es alleine oder in Begleitung, betreten hatten, dabei versuchte er ein vorläufige Einordnung dieser Gäste dahingehend vorzunehmen, ob diese seiner Familie behilflich sein könnten.
Der Saal hatte sich inzwischen weiter gefüllt und die Tische waren allesamt gut besetzt, mit vor allem älteren Herren mit ihren Begleiterinnen. Augenscheinlich war die Prominenz von Kaliningrad gerne und zahlreich den Einladungen gefolgt, aber viele der Gäste aus den Bereichen der Politik und den verschiedenen Zweigen der Wirtschaft waren wohl ohne ihre festen Partnerinnen erschienen. An einigen Tischen wurden die Herren von auffallend jungen Damen begleitet. Die drei Tische an der linken Saalseite war offensichtlich den ausländischen Gästen, den Teilnehmern der internationalen Tagung, vorbehalten.
Dann erklang eine Glocke, die Beleuchtung im Saal wurde gedimmt und der Gouverneur der Oblast Kaliningrad, Georgi Walentinowitsch Boos, betrat unter Fanfarenklängen die Bühne in deren Mitte ein Pult mit Mikrofon aufgebaut war. Die Gäste erhoben sich von ihren Sitzplätzen um dem offiziellen Gastgeber der Veranstaltung mit donnerndem Applaus den gebührenden Respekt zu erweisen.
An dem Tisch von Agnes und Pawel hatten inzwischen alle Gäste Platz genommen. Neben Juri Kasparow und der Studentin Olga waren noch die Brüder Berisow, Besitzer eines regionalen Logistikunternehmens mit eher zweifelhaftem Ruf, sowie deren Prokuristen. Allesamt unangenehme, Menschen, mit rüpelhaftem Benehmen und Begleiterinnen deren Kleidung Eindeutigkeit bezüglich ihres Berufs mehr als deutlich ausstrahlte. Diese, offensichtlich Nutten, benahmen sich äußerst vulgär, was allerdings ihre Begleiter nicht zu stören schien, Ganz im Gegenteil. Diese Begleiterinnen entsprachen in ihrem ganzen Auftreten nicht dem Niveau der Escortdamen, die wohl von der Veranstaltungsleitung für die wirklich prominenten Gäste engagiert worden waren.
Für Agnes war es eine absolute Zumutung an dieser Veranstaltung, an diesem Tisch teil zu nehmen. Nur die Hoffnung, sei es auch nur eine sehr wage Hoffnung, auf Hilfe bei der Flucht aus Kaliningrad und dem Entrinnen aus dem kriminellen Milieu, aus diesem Sumpf in dem sie sich befanden, gab ihr die Kraft den Wunsch, laut schreiend die Veranstaltung zu verlassen, zu unterdrücken.
Sie war ganz versunken in ihren Gedankengängen und der Beobachtung der Tische mit den ausländischen Gästen, so dass ihr gar nicht aufgefallen war, dass eine Person herangetreten war und wohl offensichtlich sie ansprach, denn Pawel hatte seine Hand auf ihren Arm gelegt und deutete mit einer leichten Kopfbewegung in Richtung von … Nikolai Wolkow, er war es, der herangetreten war und offensichtlich Agnes ansprach. »Oh, entschuldigen Sie Herr Wolkow, ich war dermaßen abgelenkt, dass ich Sie gar nicht bemerkt habe.«
Die Liebenswürdigkeit in Person antwortete dieser: »Aber liebe Agnes, Du brauchst Dich doch nicht zu entschuldigen«, dabei mit dem rechten Auge zwinkernd, »wir waren doch schon längst viel intimer, beim Du. Welche Gedanken spuken denn derzeit in Deinem hübschen Köpfchen rum und lenken Dich von diesem tollen Fest ab?« Agnes fühlte sich wie ein junges Schulmädchen bei sündigen Gedanken ertappt. Und ja, sie hatte auch geradezu verbotene, vor allem gefährliche Gedankengänge, von denen nichts nach außen und vor allem auf keinen Fall auch nur eine leise Andeutung an diesen gefährlichen Mann dringen durften. »Entschuldigung Nikolai ich war ganz vertieft in den schönen Anblick der Garderoben der vielen bezaubernd aussehenden Tischdamen hier im Saal. Es scheint so, dass ich wohl ein wenig ins träumen gekommen bin.« »Also wirklich Pawel, Du bist mir aber ein ganz besonderes Exemplar von Ehemann, Du kümmerst Dich ja überhaupt nicht um Deine Agnes. Ich glaube da muss ich mich darum kümmern, Agnes, dass Du nicht mehr zu kurz kommst.« Bei diesen Worten musterte der Skorpion in einer mehr als aufdringlichen Art und Weise Agnes und vor allem deren Figur, dass Pawel sich nur sehr mühsam beherrschen konnte um nicht auf zu springen und diesem schleimigen Kotzbrocken, der ja auch sein Chef war, die Faust mitten in die Visage zu schlagen. Agnes, die sofort bemerkte, wie aufgewühlt ihr Mann durch die Worte des Verbrechers war legte begütigend die linke Hand auf seinen Oberarm. Gleichzeitig bemerkte sie, welch hämisches Vergnügen diese Szene den weiteren Tischnachbarn bereitete. Während die Männer dabei waren Agnes mit verstohlenen Blicken geradezu aus zu ziehen und wohl gleichzeitig sich wünschten selbst so auf zu
treten. Frech, selbstbewusst, nein unverschämt.
Derweil gelang es den sogenannten Tischdamen kaum noch sich zu beherrschen. Das Kichern wurde immer lauter und drohte gleich in lautes Gelächter aus zu arten. Bevor es jedoch so weit kam zischte der Skorpion: »Was ist denn hier so lustig?« Dabei musterte er die Angesprochenen mit einem derart eiskalten Blick, dass sofort das tuscheln und kichern in betretenes Schweigen umschlug.
Dann, wieder jovial sich an die Männer wendend: »Was seid ihr denn für Kerle, eure Mädels langweilen sich wohl, kümmert euch Mal so richtig um die Damen. Teuer genug sind sie ja auch. Also, ich will keine Klagen hören. Ich muss jetzt weiter, für mich geht es hier um die Geschäfte. Und mit Dir, Pawel, will ich nachher noch sprechen und Dich auch noch ein paar Leuten vorstellen. Also amüsiert euch.« Nach einem letzten intensiven Blickkontakt mit Agnes und einem kurzen Rundblick begab sich Nikolai Wolkow zurück an seinen Tisch während sich so langsam die entstandene Spannung löste. Besonders das Ehepaar Gerassimov atmete unauffällig tief durch. Beide fragten sich jedoch auch sehr besorgt, was Wolkow von Pawel wollte. Wurden Ihre Pläne dadurch beeinträchtigt, oder wurde die Umsetzung ihrer Fluchtpläne erschwert, eventuell sogar zur Gänze unmöglich gemacht?
Pawel und Agnes entschuldigten sich bei Ihren Tischnachbarn, die dies kaum registrierten, war doch inzwischen auf der Bühne ein Unterhaltungsprogrammpunkt angelaufen, um nach draußen zu gehen, Luft zu schnappen, angeblich, aber vor allem um weitere Schritte ungestört zu besprechen.
Es war ein klare Nacht, der prachtvolle Sternenhimmel war einen Moment lang dazu angetan alle negativen Gedanken abzustreifen während sie eng umschlungen die kleine Parkanlage auf einem der Nebenwege entlang schritten.
Der Duft des sich ankündigenden Frühlings lag in der Luft. Jeder der aus einer größeren Entfernung heraus Pawel und Agnes beobachten würde, käme keinesfalls auf den Gedanken, dass hier zwei Menschen nicht in vollen Zügen ihr Beisammensein genießen würden, sondern in Wahrheit verzweifelt darüber sprachen wie es denn weiter gehen sollte mit Plan sich eine Fluchtmöglichkeit zu schaffen. Flucht aus den Fängen des »Skorpions«, dieses Verbrechers der wie ein Krebsgeschwür das Leben in Kaliningrad unterwandert hatte und der völlig skrupellos nur seinen Willen gelten ließ.
»Dieses Schwein, ich hätte ihn liebend gerne niedergeschlagen und so lange auf ihn eingeprügelt, bis er sich nicht mehr hätte rühren können. Wie gierig er Dich gemustert hat, dieser Hundesohn«, flüsterte er ihr leise ins Ohr. Sie hatten sich auf einer Bank am Rande des kleinen Parks niedergelassen, direkt an einer hohen Mauer, so dass es ihnen möglich war jeden zufälligen oder auch weniger zufälligen Zuhörer rechtzeitig zu bemerken. »Pawel, Du musst die Ruhe bewahren. Lass Dich von ihm nicht provozieren. Egal was er redet oder ob er mich so gierig angafft. So lange es nicht schlimmer wird, kann ich das aushalten.« »Ja, Du hast ja Recht. Was will er nur mit mir besprechen. Soll ich jetzt noch für seine »Geschäftsfreunde« die Geldwäsche organisieren?«
Während sie sich über die nächsten Schritte unterhielten hatten beide die nähere Umgebung unter ständiger Beobachtung. Ein Rascheln hinter der Bank schreckte sie auf, um dann jedoch erleichtert festzustellen, dass es sich nur um ein Wiesel gehandelt hatte, welches sich wohl im Gebüsch gestört fühlte. »Pawel, eines ist wohl klar, so direkt kommen wir im Saal nicht an die Tische der ausländischen Gäste heran. Es sind weit mehr Kumpane, Handlanger und Helfer von Wolkow hier anwesend als wir uns das vorgestellt haben.« Pawel schwieg einen Moment während er versuchte seine Gedanken so zu formulieren, wie er glaubte es Agnes zumuten zu können. »Also...«, Pawel suchte noch nach Worten, »Agnes, ich glaube es kann nur funktionieren irgendwo beim Tanz, oder auf dem Weg zu den Toiletten. Vielleicht ergibt sich jedoch auch eine Möglichkeit an anderer Stelle.« Agnes stimmte ihm zu: »Ich glaube auch, dass wir nicht zu einem der Tisch einfach hingehen können. Ist Dir eigentlich die Bar aufgefallen, die an der Wand rechts vom Eingang aufgebaut ist? Das Ganze ist ja durch Raumteiler etwas vom Saal abgetrennt, da sollte es doch möglich sein unauffällig Kontakt auf zu nehmen.« »Da könnte sich wirklich eine Chance ergeben, aber lass uns nun zurück in den Saal gehen, bevor unsere Abwesenheit zu sehr auffällt und unsere Kollegen sich dumme Fragen stellen. So schnell wie möglich, aber ohne durch zu große Hast aufzufallen, begaben sie sich wieder an ihren Tisch, wo sie offensichtlich jedoch noch nicht vermisst worden waren.
Inzwischen hatte Gouverneur Boos die Gäste mit huldvollen Worten begrüßt, wobei er insbesondere auf die Ehre der Anwesenheit der ausländischen Teilnehmer zur Ostseekonferenz Bezug genommen hatte. Als nächster Redner hatte Stadtrat Kropotnew, im modischen und sicher sehr teuren marineblauen Zweireiher gewandet, das Podium erklommen und das Rednerpult okkupiert. Bei seiner Begrüßungsrede, die er auch stellvertretend für den gesamten Stadtrat halten sollte, bedankte er sich untertänigst bei Gouverneur Boos, der in diesem Jahr der Schirmherr für die gesamte Veranstaltung war, für den wunderbaren Abend und die tolle Organisation. Auch er vergaß nicht, ganz besonders die internationalen Gäste zu begrüßen.
Pawel Gerassimov fiel allerdings auf, dass weder der Gouverneur noch Stadtratsvorsitzender Kropotnew anerkennende Worte für Bürgermeister Morosow noch für die City Managerin Smirnow gefunden hatte. Dies verwunderte Pawel sehr, zumal der Bürgermeister und noch mehr Mila Smirnow den gesamten Part der Organisation zu verantworten hatten. Der Gouverneur hatte nur finanzielle Unterstützung aus Moskau beschafft und der Stadtrat hatte überhaupt nichts zur Veranstaltung beigetragen.
»Agnes«, flüsterte er seiner Frau zu, »fällt es Dir auch auf, weder Kropotnew noch Boos haben die Arbeit der Stadtverantwortlichen für die Veranstaltung gewürdigt.« »Ja, stimmt, dass ist doch sehr unhöflich, oder sollte hier mehr dahinter stecken als nur fehlendes Feingefühl?« Bevor Pawel darauf antworten konnte setzte das Orchester zu der ersten schwungvollen Melodie an. »Lass uns gleich Tanzen, vielleicht...«, setzte Pawel an, wurde jedoch von Agnes unterbrochen, »Warte schau mal zur Bühne, da ist doch Bürgermeister Morosow.« Pawel Gerassimov wandte sich Richtung Bühne und tatsächlich sah er, wie Konstantin Morosow schnellen, energischen Schrittes in Richtung des Rednerpults eilte, es mit hochrotem Kopf geradezu stürmte.
Während sich die Blicke aller Gäste auf die Bühne, bzw. auf Bürgermeister Morosow richteten, war Agnes dabei sich auf die Beobachtung der Gäste an der linken Saalhälfte zu richten. Zum Glück war sie nicht gänzlich unvorbereitet zu dem Empfang gegangen, da in der Kaliningrader Presse die Ostseekonferenz ausgiebig besprochen und sogar bebildert wurde. So waren umfangreiche Berichte über die wichtigsten Konferenzteilnehmer, inklusive Porträtfotos, veröffentlicht worden. Nun versuchte Agnes den Tisch mit den Teilnehmern aus Deutschland zu identifizieren.
Als sie nun glaubte ihre Suche sei von Erfolg gekrönt, stellte sie überrascht fest, dass eben nicht alle Gäste im Saal sich auf die Bühne konzentrierten. Oh nein, auch am Tisch mit der deutschen Delegation waren mindestens drei Personen, die zwar möglichst unauffällig, aber doch erkennbar vom Geschehen auf der Bühne abgelenkt waren. Die drei saßen nebeneinander, wobei der älteste von ihnen zentral mit Blickrichtung auf die Bühnenmitte platziert war. Links neben ihm war eine brünette, etwa Mitte dreißig jährige Frau in einem dunkelblauen, weit geschnittenen Hosenanzug. Sie konzentrierte sich jedoch darauf, die Gäste im Saal, sowie das Servicepersonal zu beobachten; ebenso wie der links von ihr sitzende sportliche, braungebrannte Mann, mit einer modischen blonden Kurzhaarfrisur, dessen kräftige Oberarme von dem hellbraunen Sakko nur mühsam kaschiert wurden. Agnes wunderte sich einen Moment darüber, dass dieser Herr in dem warmen Saal sein Jackett anbehalten hatte. Bei näherem Hinschauen erkannte sie jedoch die Lederschnüre eines Schulterhalfters, ohne einen Blick auf eine Waffe werfen zu können. Was sonst aber hätte wohl von der Jacke verdeckt werden? Ein kurzer Rundblick belehrte sie jedoch darüber, dass der blonde mit der Ringerfigur keinesfalls der einzige im Saal war, der keinen Wert darauf gelegt hatte Anzugoberteile abzulegen. Mit einer kurzen gehauchten Bemerkung machte sie ihren Mann auf den Tisch mit den deutschen Gästen aufmerksam. »Pawel«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »das müssen die Sicherheitsbeauftragten aus Deutschland sein und zumindest der junge Mann hat vermutlich eine Waffe bei sich. Schau mal ganz unauffällig zu dem blonden Kraftprotz.« Während Pawel vorsichtig ihrer Aufforderung nach kam, sondierte Agnes das Geschehen im weiteren Umfeld. Dabei glaubte sie versteckte Blicke auf sich zu spüren, und ja, in dem Moment gewahrte sie aus dem Augenwinkel heraus wie die brünette Frau, mit einer leichten, kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung, ihren vermutlichen Vorgesetzten auf den Tisch an dem die Familie Gerassimov saß aufmerksam machte. Und als sie sich scheinbar rein zufällig in dessen Richtung gedreht hatte war ihr, also ob dieser sie mit einem leichten Lächeln und Kopfnicken gegrüßt habe.
6. Kontaktaufnahme
»Du hast richtig beobachtet, der Kerl scheint wahrhaftig bewaffnet zu sein. Wie ist der mit der Waffe hier rein gekommen? Das ist doch unglaublich.« Während sich Pawel immer noch leise murmelnd echauffierte, wägte Agnes schon ab, ob sich nun die erhoffte Gelegenheit für den ersten Schritt auf dem Weg in die Freiheit ergeben könnte. Wäre die vermeintliche erste, nonverbale, Kontaktaufnahme mit dem Leiter der deutschen Delegation ein Wink des Schicksals, eine gar göttliche Fügung? »Jetzt beruhige Dich Pawel. Schau Dich doch um hier sind scheinbar einige Personen im Saal, die bewaffnet sind. Wir haben aber auch noch keine Waffen gesehen, vielleicht wurden diese auch schon im Eingangsbereich sicher gestellt. Aber für uns ist es erst einmal unwichtig. Wichtig ist doch, ob wir hier unauffällig Kontakt zu den Deutschen aufnehmen können. Das haben wir uns doch erhofft. Ich hatte soeben den Eindruck, dass wir beobachtet worden sind und auch, dass mich der Leiter der Delegation gegrüßt habe.«
Derweil hatte der Bürgermeister das Podium verlassen und der Versammlungsleiter hatte wohl den Chef der deutschen Delegation auf die Bühne gebeten, um ihm die Gelegenheit zu einem Grußwort zu geben. Kriminalrat Berthold Richter begab sich mit raschen und energischen Schritten zu dem Rednerpult auf der Bühne und schon nach wenigen Worten war klar, dass Herr Richter hier nicht zum ersten Mal auf einer internationalen Bühne eine Rede in makellosem Englisch vortrug. Pawel und Agnes verstanden nur wenig, da Pawel überhaupt kein Talent für Fremdsprachen hatte. Im Gegensatz dazu war Agnes schon deutlich talentierter, sie hatte jedoch in noch jüngeren Jahren vor allem polnisch und deutsch gelernt. Dies war auch ein Grund dafür, warum die Eheleute Gerassimov planten nach Deutschland zu fliehen. Agnes wäre von der Sprach her auch in der Lage gewesen in Polen unter zu tauchen, jedoch versprach die größere räumliche Distanz zwischen Kaliningrad und Deutschland eine erhöhte Sicherheit vor einer zu erwartenden Verfolgung der flüchtigen Familie durch den Skorpion und seine Gesellen. Nachdem Richter seine kurze Ansprache, in der er sich wohl für die Gastfreundschaft bedankte, beendet hatte und an seinen Tisch zurück gekehrt war, wurde nun der offizielle Teil der Veranstaltung beendet und die Bühne wurde zu Tanzfläche umgebaut, die Band spielte auf, damit die Honoratioren der Oblast Kaliningrad und diejenigen die sich dazugehörend fühlten den Eröffnungswalzer tanzen konnten.
Auch Pawel und Agnes absolvierten einige Tänze, die jedoch von den beiden in keinster Weise genossen werden konnten. Agnes, aber auch Pawel waren begeisterte und auch begnadete Tänzer. Der Druck der auf ihnen lastete war jedoch geradezu unmenschlich hoch, gerade weil es unbedingt notwendig war nach außen hin jede Spur von Anspannung und Verkrampfung zu verbergen. Es galt auf der Bühne dieser Veranstaltung die wohl gelaunten Eheleute Gerassimov darzubieten. Nun waren sie auf dem Weg zur Sektbar. Agnes erhoffte sich nun die erste Gelegenheit um direkten Kontakt mit den Deutschen aufzunehmen. Vielleicht ergebe sich ja die Möglichkeit in der Bar mit der brünetten Deutschen ins Gespräch zu kommen. Optimal wäre es natürlich wenn einer der beiden Männer sie ansprechen würde, wobei das blonde Muskelpaket bei ihr eher negative Reflexe verursachte. Allerdings ging es hier um bedeutend Wichtigeres als irgendwelche banalen Vorurteile. Es ging um die Zukunft der ganzen Familie Gerassimov, nein, es ging um das Überleben.
Noch bevor sie jedoch die Sektbar erreicht hatten, ereilte sie aus dem Hintergrund der Ruf: »Heh, Pawel, der Boss will dich sehen.« »Okay, ich komme gleich, ich will meiner Frau erst noch ein Glas von unserem köstlichen Krimsekt spendieren.« »Agnes, darauf musst Du jetzt verzichten, der Boss will Deinen Mann sofort sehen!« »Verdammt...« »Bleib ruhig mein Schatz, ich gehe dann halt schon mal in die Bar vor. Du kannst ja später nachkommen wenn Du bei Nikolai abkömmlich bist. Ich komme schon alleine klar.« »Siehst Du Pawel, Deine Kleine kommt auch ohne Dich zurecht. Ich verspreche Dir, ich kümmere mich auch ausgiebig um Agnes«, erläuterte Juri Kasparow mit schmierigem Grinsen. »Du kümmerst Dich um gar nichts, schon gar nicht um Agnes !«, zischte Pawel Gerassimov dem Kapo zu. »Wir beide gehen jetzt zum Boss. Wenn Du nicht kommst, dann haue ich Dir eine rein, dass Du die Englein hörst. Wenn es hier zum Eklat kommt, wird sich Nikolai ganz sicher bei Dir bedanken. Du kennst ja seine Art von höllischem Dank, wenn einer aus der Reihe tanzt. Also los...« »Agnes, viel Spaß in der Bar.« Sich zu seiner Frau beugend und sich von ihr mit einem innigen Kuss verabschiedend, flüsterte Pawel ihr zu: »Wenn Du Kontakt bekommst, mach einen Termin für den Markt aus.« Und lauter: »Ich liebe Dich.« Ohne sich weiter um den Kapo zu kümmern hatte sich Pawel schon in Bewegung gesetzt, Richtung Bühne, bzw. zu dem Tisch, an dem sich der Skorpion mit einer Anzahl erlesener Gäste in angeregter Unterhaltung befand. Juri Kasparow, mit finsterem Gesichtsausdruck ihm folgend, war klar geworden, dass er sich wirklich in höchste Gefahr begeben würde, wenn er sich den Zorn des Skorpions zuziehen würde. Er war sich sicher, irgendwann würde sich die Gelegenheit ergeben dieser doofen und arroganten Votze zu zeigen wer das Sagen hatte.
Agnes verfolgte Juri und Pawel noch einen kurzen Moment mit ihren Blicken zu Tisch des Skorpions. Dabei bemerkte sie, dass sich die Begleiterinnen der sogenannten Geschäftsleute allesamt nicht mehr am Tisch befanden. Es ging wohl nun um die Geschäfte und sie vermutete, dass es sich um Verabredungen handelte, für die keine Zeugen erwünscht waren.
Die Bar war etwa zehn Meter lang und an der Rückseite waren mannshohe Regale aufgebaut, in die Unmengen von Getränken jedweder Art in Flaschen verschiedener Größe bevorratet wurden. Zwischen diesen Regalen und dem Bartresen war ein breiter Arbeitsgang an dem die Bedienungen mühelos aneinander vorbei sich bewegen und arbeiten konnten. Über die gesamte Thekenbreite zog sich eine aus mehreren Elementen bestehende Arbeitsplatte, in diese Arbeitsplatte waren in großzügigem Abstand zueinander, Agnes schätzte diesen Abstand auf etwa 5 bis 6 Meter, zwei Zapfanlagen für die gängigsten Getränke installiert. Etwa in der Mitte des Thekenbereichs waren unter dem Tresen offensichtlich die Spülmaschine, sowie auf die ganze Breite verteilt Kühlfächer und Regale untergebracht. Die Gläser konnten an den Zapfanlagen aber auch zentral in der Spüle auf die Schnelle gereinigt werden. Die vor dem Tresen in großer Menge aufgereihten Barhocker waren noch spärlich besetzt. Agnes war über den mittleren von drei Durchgängen, die die Wand aus schwerem Planenstoff durchbrachen, in die Sektbar eingetreten und bemerkte, dass sich nur fünf Gäste derzeit darin aufhielten. Ganz auf der rechten Seite hielt sich ein kleiner Pulk von drei jungen Frauen auf, die sich offensichtlich bestens amüsierten und auch sehr angeregt mit einer jüngeren, männlichen Servicekraft, offensichtlich der Barkeeper der für den Bereich zuständig war, unterhielten. Das Outfit der jungen Frauen und einige Gesprächsfetzen die Agnes beim Eintreten aufschnappte ließen sie vermuten, dass es sich wohl um Begleiterinnen von Honoratioren handelte, die für ihre Dienste, welche diese auch immer sein sollten, sich gut entlohnen ließen. Hinter dem mittleren Teil der Bar, am Spültisch, war eine junge, blonde Frau, in knappem Oberteil, welches ihre beachtliche Oberweite nur mit Mühe bändigen konnte, damit beschäftigt die Spülmaschine zu bestücken. Vor ihr am Tresen saßen zwei kräftige Männer in schlichten Anzügen, jeder ein Bier vor sich stehend. Die beiden Männer, sie hatten wohl ihre besten Jahre sowohl bezüglich des Alters als auch im Hinblick auf den Wohlstand hinter sich, waren in ein leise geführtes Gespräch vertieft. Allerdings, wie Agnes auf dem Weg zu linken Tresenseite bemerkte, wanderten die Blicke der beiden Männer immer dann zu der blonden Frau, wenn diese sich zur Spülmaschine bückte und dabei ungewollt, oder auch gewollt, ihre Reize noch provokanter zur Schau stellte.
Agnes nahm an der Bar Platz. Der wohl in diesem Bereich zuständige Barkeeper, ein etwa 40 bis 50 jähriger, etwa 1,90 m großer Mann mit mittlerem Bauchansatz, hatte gerade verschiedene Getränkeflaschen im verspiegelten rückwärtigen Schrank sortiert. Da er über den Spiegel den neuen Gast bemerkt hatte, wandte er sich Agnes zu, begrüßte diese und fragte, ob sie denn etwas trinken möchte. Agnes bat um einen großen Wodka, mit Wasser.