Akte Nordsee - Am dunklen Wasser - Eva Almstädt - E-Book
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Akte Nordsee - Am dunklen Wasser E-Book

Eva Almstädt

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Beschreibung

Fentje Jacobsen entspricht nicht dem klassischen Bild einer Rechtsanwältin. Sie betreibt ihre Kanzlei vom Bauernhof ihrer Großeltern in Nordfriesland aus. Dort rauben ihr die beginnende Demenz der Oma, eine renitente 14-jährige Nichte und der leichtsinnige Bruder den letzten Nerv. Als Fentje beauftragt wird, einen jungen Mann zu vertreten, der des Mordes an seiner Freundin verdächtigt wird, stößt sie auf einen alten, sehr ähnlichen Fall. Fast zeitgleich verschwinden zwei Schülerinnen aus einem nahe gelegenen Internat. Bei ihren Nachforschungen lernt sie den weltgewandten, ehrgeizigen Journalisten Niklas John kennen. Trotz unterschiedlicher Ziele beginnen sie gemeinsam zu ermitteln ...

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Seitenzahl: 463

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. KapitelNachwort der Autorin

Über dieses Buch

Fentje Jacobsen entspricht nicht dem klassischen Bild einer Rechtsanwältin. Sie betreibt ihre Kanzlei vom Bauernhof ihrer Großeltern in Nordfriesland aus. Dort rauben ihr die beginnende Demenz der Oma, eine renitente 14-jährige Nichte und der leichtsinnige Bruder den letzten Nerv. Als Fentje beauftragt wird, einen jungen Mann zu vertreten, der des Mordes an seiner Freundin verdächtigt wird, stößt sie auf einen alten, sehr ähnlichen Fall. Fast zeitgleich verschwinden zwei Schülerinnen aus einem nahe gelegenen Internat. Bei ihren Nachforschungen lernt sie den weltgewandten, ehrgeizigen Journalisten Niklas John kennen. Trotz unterschiedlicher Ziele beginnen sie gemeinsam zu ermitteln …

Über die Autorin

Eva Almstädt, 1965 in Hamburg geboren und dort auch aufgewachsen, absolvierte eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Seit 2001 ist sie freie Autorin. Die Autorin lebt in Hamburg.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Karin Schmidt

Textredaktion: Dorothee Cabras

Titelillustration: © Rudmer Zwerver/Fesus Robert/warat42/Viesturs Jugs/janispalulis/shutterstock

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2066-3

luebbe.de

lesejury.de

Für Matthias

1. Kapitel

Ein warmer, sandig riechender Atem streifte seine Haut. Tobias blinzelte. Er sah die schattenhafte Kontur eines Kopfes, der sich über ihm bewegte. Bernsteinfarbene Augen mit schmalen, horizontalen Pupillen starrten ihn aus einem fremdartigen, dunklen Gesicht an. Was zum Teufel …

Er hob abwehrend einen Arm, der sich tonnenschwer anfühlte, und der Untergrund erbebte. Das »Etwas« wich zurück. Kurzzeitig machte er durch feuchten Nebel ein paar blasse Sterne aus. Die Farbe des Himmels war ein transparentes Graublau mit einer Spur Violett darin. Die Morgen- oder die Abenddämmerung?

Tobias versuchte, sich zu bewegen, doch seine Glieder gehorchten ihm nicht. Wie steif gefroren lag er in einem Bett aus nassem Gras. Etwas zog an seiner Hose, drückte hart in seinen Oberschenkel. Er stöhnte auf, und ein heftiger Schmerz gesellte sich zu dem Pochen in seinem Kopf.

Was sollte das? Wo befand er sich? Und wie war er überhaupt hierhergekommen? Je angestrengter er versuchte, sich zu erinnern, desto mehr dröhnte sein Schädel. Tobias war nach seiner Arbeit im Dune ins Auto gestiegen. So viel wusste er noch. Doch wo hatte er hinfahren wollen? Was war danach passiert? Die schattenhaften, irgendwie bedrohlichen Erinnerungen, die am Rande seines Bewusstseins lauerten, wichen zurück, sobald er versuchte, sie festzuhalten. Hatte er einen Unfall gehabt?

Ihm musste etwas so Grauenhaftes widerfahren sein, dass sein Gehirn sich weigerte, es preiszugeben. Das Schrecklichste, was er sich vorstellen konnte, war unzweifelhaft, dass er hier und jetzt im Sterben lag.

Bitte nicht!, dachte er. Ich bin doch noch so jung.

Die Zeit war mal wieder zu knapp. Fentje Jacobsen musste sich entscheiden: Die Schafe kontrollieren und Lämmer zählen stand ganz oben auf ihrer Agenda. Sie hatte es ihrem Großvater am vergangenen Abend versprochen.

Er hatte sich mal wieder aufgeregt, weil er nicht mehr so konnte, wie er wollte, und das war nicht gut für sein Herz. Ein Nachbar hatte ihm erzählt, dass bei den Schuberts zwei Lämmer gerissen worden waren. Wahrscheinlich von einem wildernden Hund oder den Raben … An Wölfe wollte Fentje jetzt nicht denken. Sie musste einfach nur kurz hinfahren und nachsehen, ob alles in Ordnung war. Doch wenn sie trotzdem um acht Uhr ihren Mandanten empfangen wollte, dann würde sie das entweder ungeduscht tun müssen oder ohne gefrühstückt zu haben.

Fentje stieg in die Gummistiefel und griff nach ihrem Parka.

Ihre Nichte Sofia kam wohlduftend und mit glänzenden Haaren die Treppe herunter. »Wo willst du hin? Du weißt schon, dass du gleich einen Termin hast, Tantchen?«

»Nenn mich nicht ›Tantchen‹. Du könntest meinen Mandanten schon mal in mein Büro führen und ihn mit einem Kaffee ruhigstellen, falls ich mich ein paar Minuten verspäten sollte.«

»Ein paar Minuten?« Sofia rollte mit den Augen, wie es nur Teenager konnten. »Dann verpasse ich den Schulbus. Ich komme heute übrigens später.«

»Was hast du denn vor?«

»Ich fahre nachher noch mit Chrissie nach Hamburg. Ihre Ma nimmt uns mit.«

»Na, dann viel Spaß.« Fentje griff nach dem Eimer mit Kraftfutter. Das war das ultimative Mittel, um ein Schaf anzulocken. Deshalb stand er praktischerweise im Eingangsbereich. »Ich bin trotzdem weg. Lass einfach die Haustür offen.«

Haus der offenen Tür und der offenen Kanzlei. Zu allem Übel war Carstensen zurzeit ihr einziger neuer Mandant. Der sollte sich nicht an einer verschlossenen Eingangstür die Nase stoßen. Doch wenn sie erst später zur Weide mit den Mutterschafen fuhr, würde Opa im Dreieck springen – sofern es ihm mit seinem Bandscheibenvorfall möglich war.

Fentje stieg in ihren Pick-up und raste die schmale Straße auf dem Deich entlang. Sie bog in einen Feldweg ein und stoppte an der Weide. Fentje sprang aus dem Wagen und lief durch das nasse Gras. Die Schafherde ihres Großvaters weidete friedlich im Morgennebel, der aus den Gräben aufstieg. Einunddreißig Mutterschafe, helle und dunkle, und ein paar erste Lämmer … Das Areal war provisorisch von einem orangefarbenen Netzzaun umgeben, den Sofia und sie am Wochenende gesetzt hatten – da Opa sich kaum hatte rühren können. Und ihr Nachbar Hauke hatte ihnen mit seinen zwei Border Collies beim Umtreiben geholfen.

Hauke Schubert war Fentjes Sandkastenfreund und ein Goldstück. Doch das System der Nebenerwerbslandwirtschaft hakte, wenn sie immer wieder auf die Hilfe von Außenstehenden angewiesen war.

Sie betrat die Weide. Hoffentlich stieß sie nicht auf ein totes Lamm oder gar mehrere. Da hinten lag tatsächlich etwas Dunkles im Gras. Oh nein. Hatte ihr Großvater mit seinen Befürchtungen etwa recht gehabt?

Nein, das war kein totes Lamm. Sie erkannte ein Bein in einer dunklen Jeans, einen Körper … einen Menschen, der in einer Senke in der Nähe des Weidezauns lag.

»Hallo?« Fentjes Herz begann, schneller zu schlagen, und sie hastete vorwärts. »Hallo! Kann ich Ihnen helfen?« Sie ging neben dem Mann auf die Knie, legte eine Hand auf seinen kalten Arm und rüttelte leicht daran. Der Mann blinzelte – er lebte!

»Wer sind Sie? Mein Kopf …«, stieß er hervor. Er hatte halblange, blond gelockte Haare und war braun gebrannt. Er mochte Mitte zwanzig, Anfang dreißig sein, also ungefähr so alt wie sie.

»Fentje Jacobsen. Was ist los mit Ihnen?«

»Keine Ahnung. Wo bin ich?«

»Auf unserer Schafweide.«

»Wie bin ich hierhergekommen?« Er stemmte sich ächzend hoch, und sie stützte ihn, bis er neben ihr saß.

»Kleiner Kneipenbummel gestern Abend?«, schlug sie vor.

Er kniff die Augen zusammen, schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Soll ich einen Krankenwagen rufen?« Fentje wollte ihr Handy hervorziehen, doch dann fiel ihr ein, dass sie auf dieser Weide keinen Empfang hatte.

»Nein! Nicht nötig. Ich kann aufstehen.«

Misstrauisch sah Fentje, wie er langsam und unter Stöhnen zum Stehen kam. Er war recht groß und muskulös, trug Jeans und einen schwarzen Sweater. Wenn er die Nacht hier draußen verbracht hatte, musste ihm entsetzlich kalt sein. Sie nahm jedoch keine Alkoholfahne bei ihm wahr. Nichts an ihm erklärte, wie er ausgeknockt auf einer abgelegenen Schafweide gestrandet war. Der Mann schwankte und fasste sich an den Hinterkopf. Sie stützte ihn vorsorglich am Ellenbogen. »Und wer sind Sie?«

»Oh, ’tschuldigung! Tobias … Tobias Asmus. Ich wohne in Husum.«

»Ist ja ’n kleines Stück zu gehen.«

Er blickte sich um. »So viele Schafe hier. Sind das Ihre?« Dann schaute er auf die Innenfläche seiner Hand. Eilig wischte er sie am Hosenbein ab.

»Bluten Sie am Kopf?«

»Das ist nichts … Sehen Sie hier irgendwo ein Auto? Einen … schwarzen Golf?«

»Nein. Nur meinen Pick-up da vorn. Kann man schwer verwechseln.«

»Ich weiß nicht, wo mein Auto ist.« Nun schlich sich ein Anflug von Panik in seine Stimme.

»Soll ich Sie irgendwo hinfahren?«, schlug Fentje vor. »Zu einem Arzt vielleicht? Oder zur Polizei?«

»Nein. Nicht zum Arzt«, sagte er entschlossen. »Das ist nicht nötig.«

Sie hatte keine große Lust, ihn um diese Uhrzeit nach Husum zu kutschieren. Und das war noch die Untertreibung des Tages. Fentje vermied es nach Möglichkeit, zur Rushhour in die Stadt zu fahren. Außerdem musste ihr Mandant jeden Moment kommen! »Ich kann Sie erst mal mit zu mir auf den Hof nehmen«, schlug sie vor. »Von dort sehen wir weiter.«

Er nickte und folgte ihr brav wie ein Hündchen. Ein eins achtzig großes Hündchen mit der Figur eines Olympiaschwimmers. Auf dem Weg richtete Fentje noch ein Stück des Zauns wieder auf, über den Tobias Asmus vergangene Nacht offensichtlich die Weide »betreten« hatte. Er ging so langsam und schleppend, dass sie auch noch die Schafe zählen konnte. Alles so weit in Ordnung – zumindest, was diese Herde betraf.

Ihr Mandant, Carsten Carstensen, stand an seinen goldbraunen Toyota gelehnt auf dem Hofplatz und checkte sein Handy. Er war der Vorsitzende des Sportvereins und hatte sich an Fentje gewandt, weil ein paar frischgebackene Ferienhausbesitzer den Verein wegen Ruhestörung durch sonntägliche Fußballturniere verklagt hatten.

»Komm doch schon mal rein«, sagte Fentje nach einer kurzen Begrüßung. »Ich muss mich noch kurz um diesen Mann hier kümmern, den ich auf der Schafweide aufgelesen habe. Bin gleich bei dir.«

»Immer mit der Ruhe, Fentje«, meinte Carstensen, ohne von seinem Handy aufzusehen. »Der Ärger läuft uns ja nicht weg!«

Zu dritt betraten sie die weitläufige Diele des Bauernhauses, von der Fentjes Kanzleiräume, ihr Wohn- und ihr Schlafzimmer sowie die Küche abgingen. Sie bewohnte den ehemaligen Kuhstall, während ihre Großeltern und ihr Bruder Bendix in den zwei Wohnungen auf der anderen Seite des Hauses lebten. Bendix’ Tochter Sofia hatte nach und nach die freien Räume im Obergeschoss des alten Kuhstalls annektiert, die jetzt nur noch »Prinzessinnenzimmer« oder »die verbotene Zone« genannt wurden.

Fentje streifte die Gummistiefel von den Füßen, warf den Parka auf einen Stuhl und ärgerte sich, dass sie nun tatsächlich sowohl ihr Frühstück als auch das Duschen hintanstellen musste.

»Geh doch schon mal in mein Büro«, sagte sie zu Carstensen. Und zu Asmus: »Und Sie kommen mit in die Küche. Ich schaue mir kurz Ihren verletzten Kopf an.«

Tobias Asmus ließ sich ergeben auf einen Stuhl fallen. Er betastete seinen Hinterkopf. Fentje musterte sein gebräuntes Handgelenk mit den hellen Härchen und einem Armband aus geflochtenen Lederstreifen. »Das ist nur ’ne Beule«, erwiderte er. »Es blutet schon gar nicht mehr.«

»Vielleicht haben Sie eine Gehirnerschütterung? Würde zu Ihrem Gedächtnisverlust passen.« Fentje hielt seinen Kopf mit beiden Händen fest und sah ihm in die großen hellblauen Augen, ohne genau zu wissen, worauf sie achten sollte. Kalter Schweiß? Blässe? Verengte Pupillen? Schielen? Immerhin brachte ihr Findelkind inzwischen wieder sinnvolle Sätze zustande.

Sie füllte ein Glas mit kaltem Wasser aus dem Hahn und reichte es ihm. Während er gehorsam daran nippte, stellte Fentje schon mal die Kaffeemaschine an. Sie musste Carstensen bei Laune halten, sollte das hier länger dauern.

Himmel, schick mir eine hilfreiche Assistentin!

»Wo in Husum wohnen Sie? Soll ich Ihnen ein Taxi rufen? Ich habe jetzt nämlich einen Mandantentermin. Oder vielleicht kann mein Großvater …« Nein, Hinrich sollte nicht fahren. Er musste seinen Rücken schonen, auch wenn er ansonsten gern Fahrdienste übernahm.

Asmus hatte sein Handy hervorgezogen und blickte stirnrunzelnd darauf. »Ich erinnere mich nun wieder«, sagte er.

»Wie schön.«

»Zumindest daran, dass ich gestern Abend mit Sabrina verabredet war. Das ist meine Freundin. Sabrina Dierks. Sie wohnt in Wediskoog.«

Das war in der Nähe der Schafweide. »Waren Sie dort? Haben Sie sich mit Ihrer Freundin gestritten?« Und danach Ihren Kummer in Alkohol ertränkt?, setzte Fentje stumm hinzu.

»Mehr als das weiß ich nicht. Nicht, wie ich auf Ihre beschissene Schafkoppel gekommen bin … Oh, ’tschuldigung. War nicht so gemeint.«

»Kein Problem. Was hier so riecht, ist übrigens die Schafscheiße. Sie haben sich darin gesuhlt.«

Tränen stiegen ihm in die Augen und hingen an seinen langen blonden Wimpern. Oh, Mist! Fentje drehte sich diskret zum Kaffeeautomaten und stellte den ersten Becher darunter.

»Wenn ich nur wüsste, wie ich dort hingekommen bin«, sagte Asmus in das Surren hinein. »Echt übel, wenn man sich nicht erinnern kann.«

»Rufen Sie Ihre Freundin doch einfach an. Dann klärt sich bestimmt alles«, schlug Fentje über die Schulter hinweg vor. Das musste ja ein ordentlicher Rausch gewesen sein! Sie schäumte Milch auf und stellte die gefüllten Becher auf ein Tablett. Nahm Carstensen eigentlich Zucker? »Ich gehe jetzt zu meinem Mandanten«, erklärte sie. »Wenn Sie auch Kaffee wollen …« Sie deutete auf die chromglänzende Maschine. »Feuer frei.«

Nachdem sich Fentje die Probleme des Fußballvereins von Carstensen hatte schildern lassen, die Schreiben der Ferienhausbesitzer kopiert und ihm versichert hatte, dass sie sich darum kümmern würde, verabschiedete sich ihr Mandant zufrieden.

Asmus saß immer noch in der Küche. Er hatte sich ebenfalls einen Kaffee genommen, und sein Gesicht sah unter der Bräune inzwischen schon weniger blass aus. »Ich erreiche Sabrina nicht.«

»Wo arbeitet sie denn?«

»Sie ist Lehrerin. Am Nordstrand-Internat.«

Fentje schaute auf die Küchenuhr. »Na, wenn sie unterrichtet, wird sie vormittags kaum an ihr Handy gehen können.«

»Ich habe ein ungutes Gefühl. Können Sie mich zu ihr fahren? Bitte!«

»Glauben Sie denn, dass Ihnen das weiterhilft?«

»Ich weiß nicht. Aber wahrscheinlich steht mein Auto noch dort.«

2. Kapitel

Ein sehr warmer Regenschwall prasselte auf ihn herab. Niklas John schloss die Augen. Er hatte sich schon während seines morgendlichen Strandlaufs darauf gefreut. Der aufwendige Badezimmerumbau mit einer bodentiefen Regendusche hatte sich doch gelohnt. Vorher hatte es in der Eigentumswohnung in St. Peter-Ording nur ein Wannenbad gegeben, und in der Badewanne zu duschen, das war, wie ein Steak in einer Suppentasse zu essen …

Niklas dehnte die Schultermuskulatur. Die letzten Tage hatte er mit dem Joggen ausgesetzt – nun ja, knapp zwei Wochen, um genau zu sein – und seine Abende mit Freunden in Restaurants und Kneipen verbracht. Das hatte sich bei seiner heutigen Joggingrunde bitter gerächt.

Sein Smartphone auf der schwarzen Granitfläche neben dem Waschbecken läutete. Bedauernd drehte er den Wasserschwall ab, griff nach dem grauen Duschhandtuch und dann nach dem Handy. »John!«

»Moin, Herr John, Schneider hier! Wie geht es Ihnen?«

»Hervorragend. Und Ihnen?«

»Stress, nichts als Stress …«

Das konnte dauern. Niklas trocknete sich ab. »Was gibt’s?«

»Ich brauche dringend noch was für den Lokalteil. Mindestens neunzig Zeilen.«

»Moment!« Niklas wickelte sich das Duschtuch um die Hüften und tappte barfuß in die Küche. Der Dielenboden, der im Sonnenschein lag, fühlte sich unter seinen Fußsohlen angenehm warm an. Er inspizierte die Obstschale auf der Arbeitsplatte. »An der Küste ist nichts los …« Die Bananen hatten schon ein paar braune Flecken. Die Kiwis waren endlich reif. »Gar nichts.«

»Kommen Sie, John. Lassen Sie mich nicht hängen. Sie sind meine letzte Rettung!«

»Ich habe gestern alle Polizeistationen abtelefoniert. Es ist hier so friedlich wie in Lummerland.«

»Lummer… was? Versuchen Sie es noch mal.«

»Was machen denn Bahr und Lafrentz?«

Schneider seufzte. »Der eine hat Urlaub und der andere Eheprobleme.«

Durch das bodentiefe Fenster sah Niklas den babyblauen Himmel und die bunten Segel der Kitesurfer, die in der Ferne rasant ihre Bahnen zogen. Nach einer längeren Schlechtwetterperiode zeigte sich die Nordseeküste endlich wieder von ihrer besten Seite. »Ich bin inzwischen freier Mitarbeiter«, erinnerte er den Lokalchefredakteur. Weniger Sicherheit, mehr Freiheit, das war der Deal.

»Aber Sie lassen mich doch nicht im Stich, John, oder? Wenn ich bis zur Konferenz nichts für den Lokalteil habe, hängt mich der Chefredakteur an den Eiern auf.«

»Der bellt doch nur, der beißt nicht.« Das jedoch in einer ordentlichen Lautstärke. Gefährlich wurde es allerdings erst, wenn der Alte nur noch flüsterte.

Schneider lachte unfroh auf.

»Na gut. Ich schau mal, was ich auftreiben kann. Vielleicht ist heute Morgen eine Touristin von der Yogamatte gefallen.«

»Bitte! Ich verlass mich auf Sie, John.«

Niklas beendete das Gespräch mit einem Augenrollen. Er zog sich an, mixte sich aus seinem restlichen Obst einen Vitamindrink und nahm das gelbgrüne Gebräu mit an den Schreibtisch.

Er telefonierte eine Polizeistation nach der anderen ab. Wie er bereits vermutet hatte, war nichts Weltbewegendes in der Gegend passiert. Niklas trank den Rest seines Drinks in einem Zug und wählte die letzte Polizeistation auf seiner üblichen Liste an. »Moin, Niklas John hier. Was ist denn so los bei euch?«, fragte er in lockerem Tonfall.

»Moin. Alles ruhig. Wir können nicht klagen …«

Er hörte eine Art behagliches Grunzen der Staatsmacht am anderen Ende der Leitung. »Ach, komm schon, Schorse. Keine Raubüberfälle, Prügeleien, nicht mal ein kleiner Betrugsfall?«, hakte Niklas nach und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück.

»Hey, wir sind hier in Büsum, nicht in Brooklyn.«

»Ja, schade an sich. Also nur Dolce Vita auf der Polizeistation?«, provozierte er den Polizisten.

»Schreib das bloß nicht! Immerhin gibt es reichlich Falschparker und den einen oder anderen Taschendiebstahl.«

»Verstehe. Das Verbrechen schläft nicht. Nicht mal in Dithmarschen. Dann seid mal fleißig. Und einen schönen Tag noch!« Niklas tippte auf das »Auflegen«-Symbol und nahm das Headset ab.

Er warf einen sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster. Normalerweise hatte er ja immer ein paar kleine Geschichten in der Hinterhand, mit denen er sich in der Saure-Gurken-Zeit aushalf. Doch das Sommerloch dauerte nun schon so lange, dass sein Vorrat aufgebraucht war. Wenn ihn in den nächsten paar Stunden nicht die »Gnade der Nachricht« ereilte, würde er sich für den Lokalchef auf der nicht vorhandenen Glatze eine Locke kraulen müssen.

Die Fahrt vom Hof der Jacobsens nach Wediskoog dauerte nur ein paar Minuten. Fentje kannte den Ort gut. Es war ein stilles Straßendorf zwischen den Deichen. Viel Reet, alte Bäume, schöne Gärten … Inzwischen bestand der Ort hauptsächlich aus Ferienhäusern. Nur vereinzelt wohnten hier Leute noch das ganze Jahr über. Die Lehrerin war eine von ihnen. Fentje kannte sogar noch das ältere Ehepaar, das früher hier gelebt hatte. Inzwischen sah das schmale Satteldachhaus aus rotem Stein ein wenig verwahrlost aus. Die Besitzer waren vor ein paar Jahren weggezogen. Wahrscheinlich hatten sie das Haus vermietet …

Fentje bremste ab. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand der Lieferwagen eines Paketdienstes. Neben der Eingangstür hing ein großes Holzschild, das in kindlicher Schrift mit dem Namen S. DIERKS beschriftet war. Ein Windrad im Beet neben der Straße surrte so schnell, als wollte es gleich abheben.

»Hier sind wir richtig, oder?« Ohne eine Antwort abzuwarten, bog Fentje in die gekieste Zufahrt neben dem Haus. Sie stellte den Pick-up schräg vor einen blauen Honda und einen schwarzen Golf.

»Der schwarze ist mein Wagen«, sagte Tobias Asmus.

»Der blaue gehört Ihrer Freundin?«

»Ja, das ist Sabrinas. Sie muss also zu Hause sein …« Er schüttelte ratlos den Kopf. Telefonisch hatte er sie immer noch nicht erreicht. Tobias Asmus stieg aus.

Fentje wollte zurücksetzen, doch ein Paketbote kam um die Hausecke aus Richtung Garten gelaufen und stürzte sich geradewegs in Asmus’ Arme. Fentje schaltete den Motor aus und öffnete die Fahrertür. »Was ist los? Ist was passiert?«

Der Bote sah hektisch über die Schulter zurück. Dann wankte er noch ein paar Schritte vorwärts und stützte sich auf der Motorhaube des Pick-ups ab.

Fentje sprang aus dem Wagen. »Was haben Sie?«

»Da … da unten. Ich fürchte …«

»Was ist los?«, fragte Tobias drängend.

»Sie ist da unten, glaube ich.«

»Meinen Sie Sabrina? Die Frau, die hier wohnt?« Tobias fasste den Paketboten an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. »Was ist mit ihr?«

Der Mann wandte den Blick ab.

Das Haus der Lehrerin lag im Schatten hoher Bäume. Fentje blickte in Richtung des düster aussehenden Gartens. Trotz des Sommermorgens fröstelte sie bei dem Anblick. Aber es nützte ja nichts.

»Kommen Sie mit.« Sie ging Asmus voraus den schmalen Plattenweg entlang und um die Hausecke herum. Sie passierten einige Rhododendren und kamen zu einer überdachten Terrasse. Auf dem Gartentisch lag ein Paket. Links von ihnen senkte sich eine Rasenfläche zu einem mit Weiden flankierten Graben hin ab.

Asmus blickte sich hektisch um. »Hier ist Sabrina auch nicht«, sagte er. »Ich verstehe das alles nicht …«

Fentje fasste ihn am Arm. »Was ist das?« Sie deutete zu einer alten Kastanie am Ende des Grundstücks. Die Zweige des Baumes wurden vom Wind bewegt. Licht und Schatten wechselten sich flackernd ab. Im Gras darunter hockten ein paar Möwen. Fentje kniff die Augen zusammen. Um einen der dicken Äste war ein Seil gewunden. Und es hing etwas an dem Seil … Darunter lag ein umgekippter weißer Plastikgartenstuhl. Asmus neben ihr gab einen erstickten Laut von sich.

»O Gott! Nein!« Sie ging wie ferngesteuert auf den Baum zu. Die Möwen flogen träge davon.

Die Frau hing mit den Füßen knapp oberhalb des Bodens. Ihr Hals wirkte wie lang gezogen. Als sie sich durch einen Windstoß ein wenig drehte, sah Fentje ihr Gesicht unter wirrem, dunkelbraunem Haar. Es war blau verfärbt, und statt Augen waren da nur noch blutverkrustete Höhlen. Aus der Unterlippe fehlte ebenfalls ein Stück, was die Frau so aussehen ließ, als würde sie schief grinsen. Es war ein makabrer und grauenerregender Anblick.

Fentje wusste sofort, dass sich ihr dieser Anblick für alle Zeit ins Gedächtnis einbrennen würde. So wie der ihrer Freundin Clara vor all den Jahren.

Über was in aller Welt sollte er an einem so friedlichen Sommertag schreiben? Während Niklas durch sein Handy scrollte, schlenderte er von seinem Schreibtisch in die Küche, auf die Dachterrasse und wieder zurück. Seine Katze erhob sich von ihrem Platz auf dem Sofa, machte einen Buckel, gähnte und reckte sich ausgiebig. Dann kam sie zu ihm und strich ihm um die Beine. Er fütterte sie und streichelte das weiche Fell der Birma-Katze.

»Alles gut, Blofeld. Mach dir keine Sorgen. Ich kann dein Futter auch weiterhin bezahlen, und ich verkaufe dich nicht, versprochen. Obwohl mir für ein so aristokratisches Geschöpf wie dich natürlich Höchstpreise geboten würden.« Er ging seine Kontakte im Telefon durch. »Ein Ass habe ich nämlich noch im Ärmel.« Sollte er wirklich? Das war eine Karte, die er nicht zu oft ausspielen konnte.

Der Pressestaatsanwalt war auf den üblichen Wegen telefonisch nicht erreichbar gewesen. Niklas blätterte durch die gespeicherten Nummern auf seinem Mobiltelefon. Da war sie ja! Er wählte die Privatnummer des Pressestaatsanwalts, die ihm dieser mal in einer Bierlaune auf dem Golfplatz gegeben hatte.

»Was ist denn, Sigrid?«, tönte es sogleich genervt an seinem Ohr.

»Nicht Sigrid. Hier ist Niklas John. Moin, Herr Borgholz. Im Büro habe ich Sie nicht erreicht.«

»Herr John?! Das passt gerade gar nicht. Ich bin hier in Wediskoog …«

»Ist was passiert?«

»Passiert? Könnte man so sagen.« Niklas hörte, wie der Staatsanwalt jemandem im Hintergrund zurief, er solle um Himmels willen niemanden durchlassen …

»Wo in Wediskoog?«, fragte er gespannt.

»Ich melde mich später bei Ihnen.«

Das Gespräch wurde weggedrückt. Doch was er gehört hatte, reicht Niklas fürs Erste. Na bitte! Wediskoog war nicht weit. Nur gute zwanzig Kilometer von St. Peter-Ording entfernt. Er griff nach den Autoschlüsseln und dem Handy und lief fröhlich pfeifend die Treppen hinunter in die Tiefgarage.

Schon auf dem Weg aus der Garage ließ er das Dach seines BMWs auffahren. Er kurvte, leise vor sich hin summend, durch St. Peter-Ording. Bei dem Wetter war hier Touri-Alarm. Da musste man höllisch aufpassen. Auf der Landstraße gab er Gas. Was für ein wundervoller Tag für eine spannende Story! Denn die hatte er, dem gestressten Tonfall des Staatsanwaltes nach zu urteilen, bereits in der Tasche.

Als er sich Wediskoog näherte, sah Niklas das Blaulicht, die Streifenwagen und den dunkelgrauen VW Bus eines Bestattungsinstituts. Weitere Fahrzeuge standen dicht an dicht hintereinander am Straßenrand. Einige neigten sich gefährlich dem daneben befindlichen Graben zu. Von den üblichen Verdächtigen, seinen Kollegen von der Presse, konnte er niemanden entdecken. Der weiße SUV direkt vor einem einfach und bescheiden aussehenden Haus gehörte jedenfalls dem Staatsanwalt Andreas Borgholz. Wenn der hier war, ging die Polizei von einem Verbrechen aus.

Niklas fuhr an den Polizeifahrzeugen vorbei, hielt nach der Hausnummer oder dem Namen Ausschau, wurde jedoch von einer Uniformierten ungeduldig weitergewinkt. Er parkte hundert Meter entfernt in einer Feldzufahrt. Vorn an der Straße entlangzugehen hätte keinen Sinn. Er hatte den Staatsanwalt ja schon am Telefon brüllen gehört, sie sollten niemanden durchlassen. Niklas holte seine Kamera aus dem Kofferraum, stieg über ein Gatter und lief über die Weide. Dieses war ein freies Land. Ein paar Jungbullen näherten sich ihm neugierig, stoben jedoch zurück, als er den Arm mit der Kamera hob.

Er überwand einen Elektrozaun, sprang über einen Graben und erreichte eine Wiese hinter besagtem Haus. Dieser Teil seiner Arbeit machte Niklas immer Spaß.

Unter einem Baum blieb er stehen. Von hier hatte er einen unverstellten Blick in den Garten. Ein Zinksarg schimmerte matt im Sonnenlicht neben einer alten Kastanie. Zwei Männer hielten sich im Hintergrund und rauchten. Ein Spurensicherungsteam in weißen Overalls suchte auf allen vieren den Rasen nach Hinweisen ab. Der Staatsanwalt sprach auf der Terrasse des Hauses mit zwei Uniformierten und einem Mann, der die Uniform eines Paketdienstes trug.

Als Niklas den Ast mit dem daran baumelnden Strick sah, sog er scharf die Luft ein. Mitten auf dem Rasen lag ein weißer Terrassenstuhl. Niklas wurde schwerer ums Herz. Also ein Suizid. Oder vielleicht ein Tötungsdelikt?

Wenn er seine Arbeit erledigen wollte, durfte er tragische Ereignisse nicht zu nah an sich heranlassen. Er musste sich zusammennehmen. Niklas schoss ein paar Fotos vom Garten und lenkte seine Gedanken auf sein weiteres Vorgehen. Über einen Suizid würde er nicht schreiben. Berufsethos. Bei einem Verbrechen lag die Sache anders. Und die Spannung, die in der Luft schwang, sagte ihm, dass es sich hier durchaus um ein Verbrechen handeln könnte. Er gab den Namen, den er im Vorbeifahren auf dem Schild neben der Tür gelesen hatte, und den Ort in sein Handy ein.

Niklas wurde schnell fündig: S. Dierks. Wediskooger Straße. Die Hausnummer passte ebenfalls. Wer war S. Dierks? Meistens kürzten Frauen ihren Vornamen ab, um nicht Opfer von Belästigungen zu werden. Wobei ein abgekürzter Vorname natürlich auf eine Frau hindeutete. Wer also war S. Dierks? Und war sie identisch mit der Person, die gleich in einen Leichenwagen geladen werden würde?

Er umrundete das Haus, doch wie erwartet wurde er vorn sogleich von der Polizistin weggeschickt. Der Wagen des Staatsanwalts fuhr gerade mit quietschenden Reifen davon. Zu spät …

Doch Niklas fühlte, wie sein Jagdfieber erwachte. Er ging die Straße entlang bis zum nächsten Haus. Dort war niemand. Beim übernächsten auch nicht. Erst beim dritten Haus wurde ihm geöffnet.

Niklas stellte sich einem älteren Mann mit Vollglatze vor, der ein Wurstbrot in der Hand hatte.

»Was mit meinen Nachbarn ist? Welchen Nachbarn?«, fragte der Anwohner kauend. Er trug einen schneeweißen Jogginganzug.

Niklas nannte ihm die Hausnummer. »Wissen Sie, wer in dem Haus wohnt? Oder ist es ein Ferienhaus?«

»Ich bin selbst nur in den Ferien hier. Ich kenne in Wediskoog niemanden.«

»Haben Sie vielleicht zufällig etwas beobachtet?«

»Nö. Und kein Interesse, mit Ihnen zu plaudern. Mein Tee wird nämlich kalt.« Die Tür knallte ins Schloss.

Niklas verdrehte die Augen.

Die Nachbarin schräg gegenüber öffnete ihm ebenfalls. »Ja, bitte?«, fragte sie mit kräftiger Stimme. Sie war Anfang sechzig, mit Jeans und bunt bedruckter Tunika bekleidet, und hatte den Kopf voller Lockenwickler.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, Frau … Zander.« Das handgeschriebene Klingelschild war kaum noch zu entziffern. »Wissen Sie vielleicht, was schräg gegenüber los ist? Wer dort wohnt?«

»Da wohnt ’ne junge Frau. Soll Lehrerin sein. Hab neulich kurz mit ihr geredet, als meine Katze verschwunden war.«

»Und haben Sie Ihre Katze wiedergefunden?«

»Oh ja, Gott sei Dank! Ich dachte schon, ein Auto hätte meine Minki erwischt, aber vorgestern saß sie wieder putzmunter vor der Terrassentür.«

»Das freut mich«, meinte Niklas. Das Herz der Leute erreichte man über ihre Haustiere. »Furchtbar für die Tiere, diese Raser auf den Straßen.«

»Sie sagen es, Herr …«

»John. Niklas John. Wie Sohn mit J.«

»Und warum fragen Sie nach meiner Nachbarin?« Die Frau musterte ihn mit gerade erwachendem Misstrauen.

»Wegen der vielen Polizeiwagen vor dem Haus. Da ist etwas passiert.«

»Wirklich?« Sie beugte sich vor und sah in die angegebene Richtung. »Und was interessiert Sie das?«

»Ich bin Journalist.«

»Was? Von der Zeitung?« Frau Zander fasste sich beunruhigt an die Lockenwickler.

»War die junge Frau verheiratet, oder hatte sie einen Freund?«

»Keine Ahnung. Also wirklich! Ich sage dazu nichts mehr. Gehen Sie bitte!«

»Haben Sie vielleicht zufällig ein Foto Ihrer Nachbarin?« Es schien höchst unwahrscheinlich zu sein, aber eine Fotografie wäre nützlich, wenn er dem Lokalchef den Kopf retten wollte.

»Gleich rufe ich aber die Polizei!«

»Da müssen Sie nur winken.« Er bedankte sich freundlich und ging zurück auf die Straße. Der Wagen des Bestattungsinstituts fuhr gerade mit seiner traurigen Fracht davon. Sollte er ihm folgen? Nein, das brachte nichts. Und das Fahrzeug des Paketdienstes stand auch nicht mehr am Straßenrand gegenüber. Mist. Sicher hätte ihm der Bote einiges erzählen können. Niklas wollte schon zu seinem Auto zurückgehen, als er hinter der nächsten Hecke eine Bewegung registrierte.

Er ging näher und blickte auf ein schmales Hinterteil in grüner Arbeitshose. »Entschuldigung.«

Ein Mann fuhr hoch. »Oh. Haben Sie mich erschreckt!«

»Tut mir leid.« Im ersten Moment sah der Latzhosenträger aus wie mindestens vierzig, doch bei genauerem Hinsehen erkannte Niklas, dass es der Vollbart war, der ihn älter wirken ließ als seine schätzungsweise Mitte zwanzig. Auf dem Latz seiner Hose prangte das Emblem einer Gärtnerei. »Ist wahrscheinlich sonst eine eher ruhige Gegend hier«, setzte Niklas hinzu.

»Klar. Nur heute fährt hier ein Auto nach dem nächsten vorbei, als ob jemand ’nen runden Geburtstag hätte oder so …«

»Ich vermute, es ist eher etwas Unerfreuliches.« Niklas senkte die Stimme. »Dahinten vor der Nummer vierundfünfzig steht haufenweise Polizei.«

»Ehrlich?« Der junge Mann reckte den Hals. »Ich mach hier nur den Garten für die Hansens. Ich will keinen Ärger mit der Polizei.«

Er musste seine Arbeit in tiefer, zenmäßiger Konzentration verrichten, wenn er die Polizeifahrzeuge bisher nicht bemerkt hatte. Oder er war bekifft. »Wissen Sie, wer dort wohnt?«

»Ja klar. Die Sabrina wohnt da«, antwortete der Mann arglos. »Ist ’ne Nette. Hab letzten Herbst für sie die Büsche geschnitten.«

Niklas’ Laune hob sich. »Können Sie sie beschreiben?«

»Lange braune Haare, tolle Figur …« Er unterbrach sich, weil er wohl plötzlich merkte, dass seine Bemerkungen unpassend waren. »Ist ihr was passiert?«

»Ich weiß auch nicht viel mehr«, antwortete Niklas wahrheitsgemäß. »Hatte sie einen Freund in der Nähe oder Verwandte, die verständigt werden müssen?«

»Tut mir echt leid, doch das weiß ich nicht. Ein Freund von ihr war tatsächlich mal da. Habe mich damals gefragt, warum der ihr nicht die Büsche schneidet. Das war aber so ’n Surfertyp, der sich wohl zu fein dafür war.«

»Verstehe. Die Sorte kennt man ja …«, sagte Niklas. »Die Frau war Lehrerin, oder?«

Der Gärtner krauste die Stirn. »Kann gut sein. Sie hatte jedenfalls einen großen Stapel Hefte auf dem Küchentisch herumliegen.«

»Wissen Sie, an welcher Schule Sabrina Dierks unterrichtet?« Dann käme er vielleicht über die Website der Schule an ein Foto.

»Wir haben mehr über Garten und Umweltschutz und so gesprochen.«

»Und ihr Freund heißt …«

Der Mann grinste. »Sie hat ihn Tobi gerufen. Daran erinnere ich mich, weil das irgendwie passte. Ich glaube, er ist wohl auch jünger als sie.«

3. Kapitel

Fentje machte sich Sorgen um Tobias Asmus. Er sah unter seiner Bräune sehr blass aus und war vollkommen in sich gekehrt. Sie saßen jetzt auf der Terrasse von Sabrina Dierks’ Haus am Gartentisch. Zuvor, als der Paketbote befragt worden war, hatte man sie bei den Autos warten lassen. Auf der Tischplatte lag unangetastet das kleine Paket, das der Zusteller dort abgelegt hatte, bevor er Sabrina Dierks’ Leiche im Garten entdeckt hatte. Asmus verbarg das Gesicht entweder in den Händen oder starrte auf einen Punkt, der irgendwo weit hinten in den Marschwiesen zu liegen schien.

Ein junger Polizist in makelloser dunkelblauer Uniform bewachte sie, während ein ganzer Tross an Ermittlern zwischen der Kastanie mit dem Seil und der Straße hin- und herlief. Zumindest hatten sie vor zehn Minuten die Leiche weggebracht, sodass Asmus der Anblick seiner toten Freundin mittlerweile erspart blieb.

Inzwischen war Sabrina Dierks’ Wohnhaus geöffnet worden, und auch drinnen wurden Spuren gesichert. Fentje sah die Kriminaltechniker hinter dem großen Wohnzimmerfenster hin- und hergehen. »Warum denken Sie, dass es kein Selbstmord war?«, fragte sie den Polizisten.

»Wie kommen Sie darauf?«

Sie deutete auf das Spurensicherungsteam und den Fotografen. »Bei diesem Aufgebot …«

»Alles Routine.«

»Wie lange müssen wir noch hier sitzen? Herr Asmus war der Freund, der Lebensgefährte der Toten. Er scheint unter Schock zu stehen und hat sogar eine Kopfverletzung, eventuell eine Gehirnerschütterung. Er braucht dringend ärztliche und psychologische Hilfe.«

»Wir kümmern uns darum.« Der Polizist wandte sich von ihnen ab und sprach in sein Funkgerät.

»Er braucht aber jetzt Hilfe«, beharrte Fentje.

»Ganz ruhig!«, sagte der Uniformierte, als randalierte Fentje.

»Ich bin ganz ruhig. Ist Ralf Mahnsen hier irgendwo? Ich möchte ihn sofort sprechen!«

»Sie kennen ihn?«

»Ja. Sehr gut sogar.«

Ralf war der Ehemann ihrer Cousine Telse und ebenfalls Polizist. Oder war Telse ihre Großcousine? Die Tochter einer Nichte ihrer Großmutter … Telse und Ralf zählten jedenfalls zum engeren Kreis ihrer weitläufigen Verwandtschaft.

Der Beamte sprach in ein Funkgerät und drehte sich dann wieder zu ihr. »Polizeiobermeister Mahnsen ist heute nicht hier. Aber Sie werden wohl gleich abgeholt und aufs Revier gebracht, um eine Aussage zu machen.«

»Und was ist mit einem Arzt?«

»Herr Asmus wird zuerst unter Polizeiaufsicht ins Krankenhaus zur Untersuchung gefahren und danach aufs Revier zu seiner Vernehmung.«

Tobias Asmus hob den Kopf. »Brauche ich etwa einen Anwalt?«

Der Polizist musterte ihn mit unbewegter Miene. »Das wissen Sie doch sicher am besten.«

Nadja Ohmsen stieg aus der Mercedes-S-Klasse und drückte auf die Fernbedienung. Der Wagen blinkte und hupte einmal. Ab und zu beschwerten sich Leute über die »Lärmbelästigung« beim Abschließen. Da machte es ihr umso mehr Spaß …

Sie ließ den Blick über die Dünen und das Watt schweifen und dann weiter zu den lang gestreckten Gebäuden des Hotel-Resorts Dune. Reich zu sein hatte Vorteile: Man konnte sich Liebe kaufen. Liebe in Form einer Ganzkörpermassage zum Beispiel. Nadja war im Nackenbereich mal wieder etwas verspannt.

Drei Minuten später war sie tatsächlich verspannt.

»Es tut uns sehr leid«, sagte die Frau an der Rezeption. Ein kleines Namensschild am Revers wies sie als Jennifer Hartlieb aus. »Heute klappt es nicht. Wir müssen Ihren Massagetermin bedauerlicherweise verschieben. Es ist ganz plötzlich etwas dazwischengekommen.«

»Ich bin extra hierhergefahren«, sagte Nadja Ohmsen sehr freundlich, wie sie fand. »Ich erwarte, dass ich die Leistung bekomme, die ich gebucht habe.«

Die Rezeptionistin, eine schlanke Brünette mit einem Zopf, der ihr beinahe bis zur Taille reichte, scrollte demonstrativ durch die Termine für den Wellnessbereich und schüttelte dabei den Kopf. »Nichts. Nichts. Hier auch nicht. Es ist alles voll belegt. Herr Asmus ist ganz plötzlich verhindert. Da kann ich nichts machen.«

»Dann nehme ich ausnahmsweise auch einen anderen Masseur. Es sollte aber ein Mann sein. Frauen haben nicht genug Kraft in den Händen. Ich bin wirklich sehr verspannt.«

Die Rezeptionistin lächelte gezwungen. »Ich verstehe Sie ja. Doch ich kann tatsächlich nichts für Sie tun. Alle anderen Mitarbeiter sind heute voll ausgelastet. Das Hotel ist ausgebucht.«

»Aber ich bin hier Stammkundin!«

»Möchten Sie vielleicht morgen wiederkommen? Da könnte ich ausnahmsweise einen Termin …«

»Nein. Ich will Ihren Chef sprechen. Sofort.« Ohmsen trommelte mit den Fingernägeln auf den Tresen.

»Tut mir sehr leid. Der ist nicht im Haus.« Das Lächeln der Frau hinter dem Rezeptionstresen war wie eingefroren. Sie schaute ihr starr ins Gesicht. Nadja kannte diese professionelle Haltung gut. Sie hatte jahrelang als Stewardess gearbeitet und war Passagieren mit unverschämten Forderungen mit ebensolcher Härte entgegengetreten. Doch dass es heute sie treffen musste, war nicht gerecht. Sie hatte einen Anspruch auf eine Massage. Inzwischen konnte sie kaum noch den Kopf drehen.

Nadja Ohmsen stellte das Trommeln ein und beugte sich ein wenig vor. »Ich hoffe nur, dass er wirklich verhindert ist und nicht gerade einen anderen Kunden an meiner Stelle behandelt.«

»Seien Sie versichert, dass wir den Termin nicht ohne Grund ab…«

»Ich will Ihre Versicherungen nicht. Ich brauche eine Massage.«

Jennifer Hartliebs Augen glänzten verdächtig. »Verstehen Sie doch: Es ist wirklich etwas passiert«, sagte sie.

Es war kurz nach elf, als Fentje aus dem Husumer Polizeirevier trat. Ihrer Meinung nach war es das hässlichste Gebäude der ganzen Stadt und bot zudem einen tristen Ausblick auf eine viel befahrene Straße und die Bahnbrücke.

Drinnen ging es hektisch zu, aber niemand hatte sich weiter für sie interessiert. Man hatte ihre Personalien aufgenommen und gesagt, es würde sich vielleicht noch jemand bei ihr melden, höchstwahrscheinlich aus Flensburg, denn die seien zuständig. Tobias Asmus wartete angeblich noch in der Notaufnahme des Krankenhauses auf eine Untersuchung. Von dort würde er hoffentlich ohne ihre Hilfe nach Hause kommen.

In Ermangelung freier Parkplätze hatte Fentje ihren Pick-up vorhin ein Stück die Straße hinunter geparkt. Im Gehen versuchte sie, den Autoschlüssel aus ihrer Jeanstasche zu ziehen. Er hatte sich in einem Rest Strohschnur verheddert. Davon benötigte sie hin und wieder was auf dem Hof oder für die Schafe.

»Gehört der Ihnen?«, hörte sie eine männliche Stimme.

Fentje blickte auf. Ein Mann zwischen Anfang und Mitte dreißig, in Jeans und schwarzem Polohemd, stieg aus dem Cabriolet, vor dem sie parkte. Er trug teure Sneakers und eine schwere Uhr am Handgelenk, die im Sonnenlicht blinkte. Und dann besaß er die Frechheit, sie von oben bis unten zu mustern.

»Ja, und?«, fragte sie gereizt.

»Schön, dass Sie Ihr Landfahrzeug endlich wegfahren. Sie haben mich nämlich zugeparkt.«

Tatsächlich endete ihre lehmverkrustete Anhängerkupplung nur wenige Millimeter vor seiner schwarz lackierten Stoßstange. Hinter dem BMW verwehrte ein Laternenmast das Zurücksetzen. »Lernen Sie lieber, Ihre Luxuskarosse auszuparken«, erwiderte Fentje, die sich über die Arroganz des Mannes ärgerte.

»Ich kann ein- und ausparken.«

»Ach ja? Der Laternenmast hinter Ihnen ist wohl auch zu dicht aufgefahren?«

»Ich hatte es eilig. Ich bin von der Presse«, sagte er von oben herab.

»Und ich hatte es ebenso eilig. Ich bin Anwältin.« Dachte dieser eingebildete Schnösel, sie würde zur Zierde vor der Polizeistation stehen?

»Ja, und?«, fragte nun er. »Was machen Sie hier?«

»Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht«, sagte sie kühl. Sie nahm inzwischen an, dass es sich bei dem Todesfall um einen Mord handelte. Sie hatte ein paar Bemerkungen der Beamten bezüglich eines fehlenden Abschiedsbriefs und eines vollen Kühlschranks aufgeschnappt. Dass sich ein Journalist vor dem Polizeirevier postiert hatte, sprach ebenfalls für ein Tötungsdelikt.

»Na ja, worum soll es schon gehen?«, meinte er mit einem lässigen Schulterzucken. Dann senkte er die Stimme. »Ich habe gehört, die haben ihren Täter schon. Höchstwahrscheinlich war es wie meistens der Freund oder Ehemann des Opfers«, fügte er in vertraulichem Tonfall hinzu.

»Woher wollen Sie das wissen?«

Er tippte auf sein Handy. »Kontakte.«

Der Mann sah verdammt attraktiv aus, nur leider wusste er das anscheinend auch ganz genau, so wie er sich aufführte. Er brauchte einen kleinen Dämpfer, fand Fentje.

»Vielleicht irren sich Ihre Kontakte«, erwiderte sie. »Oder sie wollen der Presse nichts preisgeben.«

»Ach ja? Wie kommen Sie darauf?«

»Ich habe auch meine Kontakte.«

»Vertreten Sie jemanden in dem Fall?«

»Das geht Sie ebenfalls nichts an.«

Er musterte sie interessiert. Der Verkehrslärm auf der Straße, das Dröhnen einer nahe gelegenen Baustelle … die ganze Welt schien einen Moment lang stillzustehen. »Also ja«, gab er sich lächelnd selbst die Antwort.

»Unsinn.«

Der Journalist hatte nur geraten, aber sie hatte mit dem Dementi offenbar einen Sekundenbruchteil zu lange gezögert. Nun ging der Mann davon aus, dass sie Tobias Asmus’ Anwältin war. Tatsächlich hatte sie selbst schon kurz überlegt, dass es interessant werden könnte … Doch so etwas kam eigentlich überhaupt nicht für sie infrage.

»Nichts für ungut, Frau …?«

Nicht zu glauben. Dachte er allen Ernstes, er käme jetzt auch noch so billig an ihren Namen? Sie zog eine Augenbraue hoch.

»Wen vertreten Sie hier ansonsten so?«, fragte er süffisant. »Bauer Piepenbrink wegen seiner Landübertragungen?« Der Mann lächelte, was ihm ärgerlicherweise gut stand. »Glauben Sie nicht, dass das hier vielleicht eine Nummer zu groß für Sie ist?« Er sah ihr direkt in die Augen.

»Das werden wir ja sehen«, gab sie unbeeindruckt zurück. »Ich kann es übrigens kaum erwarten zu lesen, was Sie in irgendeinem schmierigen, kleinen Käseblatt für einen Unsinn über den Fall schreiben. Wie hieß es noch gleich?«

4. Kapitel

Bendix’ Auto, ein grauer Audi, stand auf dem Hofplatz. Es war ein Firmenwagen mit Nürnberger Kennzeichen. Ihr Bruder arbeitete für eine IT-Firma und wurde europaweit für Projekte größerer Unternehmen eingesetzt.

Fentje hoffte, dass er zumindest bis Montagmorgen bleiben würde. Das wäre schön für Sofia. Hoffentlich kam ihre Nichte nicht auf die Idee, ihren Vater für seine häufige Abwesenheit zu »bestrafen«, indem sie nach ihrem Stadtbummel bei ihrer Freundin Chrissie übernachtete! Das könnte Bendix auf den Gedanken bringen, dass seine Tochter gar keinen Wert auf seine Gesellschaft legte.

Fentje wusste es besser: Sofia würde es zwar niemals zugeben, doch sie vermisste ihren Vater schrecklich. Eine Tante, noch dazu eine, die gerade mal vierzehn Jahre älter war, und Urgroßeltern, so engagiert und lieb sie auch sein mochten, konnten einem Kind nicht die Eltern ersetzen. Das wusste Fentje aus eigener, schmerzvoller Erfahrung. Und da auch Sofias Mutter in der Weltgeschichte umhergondelte, könnte wenigstens Bendix für etwas mehr Beständigkeit im Leben seiner Teenager-Tochter sorgen.

Auf dem Weg zum Eingang traf Fentje auf ihren Großvater.

»Opa, wo ich dich gerade sehe …« Sie stutzte. »Was willst du denn mit dem Gewehr?«

Hinrich Jacobsen hielt seine alte Jagdflinte fest in beiden Händen. »Warst du bei den Schafen?«, fragte er sie.

»Natürlich.«

»Und der Wolf?«

»Da war kein Wolf. Alles in Ordnung.«

»Es ist nur eine Frage der Zeit!«

»Du darfst keine Wölfe erschießen, Opa. Du sollst gar nicht mehr schießen. Das ist schlecht für dein Herz. Und überhaupt: Was ist mit deinem Rücken?«

»Ich darf ja wohl das Leben meiner Mutterschafe und Lämmer verteidigen!« Hinrich stapfte mit vorgerecktem Kinn und dem Gewehr wie ein Schutzschild vor der Brust in Richtung Stall. Da standen momentan nur die zwei Böcke Satan und Beelzebub. Hoffentlich wollte er die nicht erschießen! Aber ihr Großvater war im Grunde ja sehr vernünftig, sagte sich Fentje. Er regte sich nur manchmal zu schnell auf.

Sie schüttelte den Kopf und betrat die Diele. In ihrer Küche lümmelte sich Bendix barfuß und in Shorts auf dem Küchensofa, während ihre Großmutter mit gesenktem Haupt vor einer aufgeschlagenen Zeitschrift am Küchentisch saß. Im Gegenlicht schimmerte ihr weißes, krauses Haar wie Milchschaum. Gudrun, eine Nachbarin und Gretjes und Hinrichs Haus- und Hoffriseurin, hatte mal wieder bei der Dauerwelle alles gegeben. Sowohl Bendix als auch ihre Großmutter hatten einen hellblauen Becher vor sich stehen.

»Was macht ihr denn hier? Ist die andere Hälfte des Hauses abgebrannt?«, fragte Fentje.

»Bei dir schmeckt der Kaffee nun mal am besten«, sagte Bendix schmunzelnd.

»Und ich wollte meinem Enkel mit einer Tasse Tee Gesellschaft leisten, wenn meine Enkelin schon nicht da ist«, ergänzte Gretje.

»Sofia ist übrigens mit einer Freundin in Hamburg. Das hat sie dir sicher schon mitgeteilt, Bendix.«

»Hat sie. Aber wo hast du die ganze Zeit über gesteckt, Schwesterchen?«

»Ich war heute Morgen erst bei den Schafen, und dann saß ich stundenlang auf dem Polizeirevier fest.« Den Rest ließ sie vorerst unerwähnt.

»Was hast du angestellt?«, neckte Bendix sie.

»Fentje stellt doch nichts an«, sagte ihre Großmutter. »Die hat bestimmt einen netten Mann getroffen. Sie ist noch immer ganz rot im Gesicht.«

»Hab ich nicht und bin ich nicht.«

Bendix musterte sie. »Du siehst wirklich ganz verzückt aus.«

»Falls das nichts wird, habe ich hier noch einen attraktiven Jungbauern mit vierzig Hektar Land für dich.« Gretje Jacobsen deutete auf die Seite mit den Kontaktanzeigen im Bauernblatt.

Bendix reckte den Hals. »Oma, der Mann ist schon sechsundfünfzig.«

»Aber er wünscht sich noch Kinder. Das wär doch was, Fentje.«

»Kein Interesse! Übrigens: Falls ihr euch bei mir einnisten wollt: Die Kaffeemaschine ist mein Eigentum!« Fentje ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Dabei warf sie auch einen Blick in den Spiegel. Ihr lockiges braunes Haar brauchte dringend eine Bürste. Außerdem hatte sich ein Grashalm darin verfangen. Doch ihre grünen Augen glänzten, und ihre Wangen waren wirklich gerötet. Von wegen verzückt! Sie war schockiert und voller Adrenalin aufgrund des Leichenfunds und des mutmaßlichen Mordfalls. Wie musste es da erst Tobias Asmus gehen? Sabrina Dierks war seine Freundin. Sie so zu sehen … Das war ein grausamer Anblick gewesen.

Fentje hatte an diesem Vormittag zum zweiten Mal in ihrem Leben in leere Augenhöhlen gestarrt. Als sie vor ein paar Jahren die Leiche ihrer Freundin Clara hatte identifizieren müssen, war diese schon in der Rechtsmedizin gewesen und hatte auf einer Bahre aus Edelstahl gelegen. Sie hatte Claras Mutter damals begleitet, weil Birgit Sandberg sie darum gebeten hatte.

Es war das Schlimmste gewesen, das Fentje je erlebt hatte. Und es verfolgte sie heute noch in unregelmäßigen Abständen bis in ihre Träume. Manchmal dachte sie in Husum inmitten einer Menschenmenge oder am Deich, wenn dort Leute spazieren gingen, sie würde ihre Freundin Clara sehen. Ihr Herz machte dann regelmäßig einen Satz. Wenn sich die Frau dann umdrehte oder näher kam, erkannte Fentje, dass es jemand anders war. Dass meistens nicht einmal eine Ähnlichkeit bestand. Und sie grollte dieser fremden Person, obwohl sie nichts dafürkonnte.

Wie würde Clara jetzt, mit Ende zwanzig, wohl aussehen? Sie wäre sicher eine wundervolle Frau geworden … Doch ihr viel zu früher Tod hatte alles mit einem Schlag zerstört: Hoffnung, Liebe, Ehrgeiz und Schönheit.

Clara war beim Baden im Meer ums Leben gekommen. Dabei wusste jeder, der so nah an der Küste lebte, um die Gefahr. Ihre Leiche war nach ihrem Tod eine Zeit lang im Wasser getrieben, bis sie auf Süderoogsand angespült worden war. Fische oder auch Möwen hatten sie angefressen. Tiere gingen bei Leichen immer zuerst an vorstehende Körperteile wie Nase, Lippen, Finger, hatte sie gelernt. Ebenso an die Augen. Die Natur war grausam. Und die Menschen waren ein Teil dieser Natur.

Sie tat gut daran, sich das ab und zu bewusst zu machen.

Nein, das war doch nicht möglich. Nicht Sabrina Dierks! Hartmut Wolter, Direktor des Nordstrand-Internats, saß hinter seinem Schreibtisch und stellte ganz langsam und sachte das Telefon zurück in die Station.

Die Polizei hatte ihn gerade angerufen. Eine seiner Lehrerinnen war tot. Man hatte sie angeblich erhängt in ihrem Garten aufgefunden.

Wolter konnte es nicht glauben. Es kam ihm vollkommen irreal vor. Mit so etwas rechnete man nicht. Nicht bei einer jungen, engagierten Frau wie Sabrina Dierks. Doch es erklärte zumindest, warum sie heute, ohne in der Schule Bescheid zu sagen, nicht zum Unterricht erschienen war. Warum seine Sekretärin sie nicht erreicht hatte …

Er blickte mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster. Sabrina Dierks war eine der jüngsten Kolleginnen gewesen. Und sie hatte stets eine positive Einstellung zu Job und Privatleben gezeigt. Sie hatte … glücklich gewirkt. Andere Kollegen machten schon mal deprimierte Lebensphasen durch oder erlitten heftige Schicksalsschläge. So war das Leben.

Bei manch einem hatte er das eine oder andere Mal gedacht, dass es nun vorbei sei mit dem Unterrichten. Doch Sabrina Dierks hatte noch für den Lehrerberuf gebrannt. Sie schien ihm auch vollkommen gesund gewesen zu sein. Und sie hatte einen Freund gehabt. Was war nur in sie gefahren, sich das Leben zu nehmen? Noch dazu auf diese Art und Weise? Ihre Schüler liebten sie … Wie sollte er ihnen das nur beibringen? Und wie würden die Eltern reagieren? Das warf auch kein gutes Licht auf seine Schule.

Bei diesem Gedanken ging ein Ruck durch ihn hindurch. Wolter richtete seine Überlegungen auf das, was er tun konnte. Es lenkte ihn von den düsteren Bildern ab, die ihn bedrängten. Von der Frage nach dem Warum.

Es musste schließlich alles Mögliche umorganisiert werden. Sabrina Dierks hatte viel in der Oberstufe unterrichtet. Daniel Vorbach, der Oberstufenkoordinator, war seines Wissens noch im Haus. Wolter wählte seine Nummer.

Es dauerte unendlich lange, bis sich jemand meldete. Dann hörte Wolter heftiges Atmen. »Vorbach.«

»Herr Vorbach, Wolter hier. Würden Sie bitte ins Direktionsbüro kommen? Ja, sofort, wenn es möglich ist. Was? Ist mir egal, ob Sie gerade auf dem Sportplatz sind!«

Nach dieser Ansage stand er auf und wischte sich mit dem Taschentuch über den feuchten Kopf. Das Hemd klebte ihm am Rücken. Er öffnete eines der Fenster, die auf die Rasenfläche hinter dem Verwaltungsgebäude hinausgingen. Der Himmel war blau, kaum ein Lüftchen wehte.

An einem Freitag wie diesem, an dem die Schüler ihr Heimfahrwochenende hatten, waren kaum Kinder oder Jugendliche draußen zu sehen. Sein einziger Trost, denn so konnten sie sich mit allem, was nun anstand, bis Montagmorgen einer Gnadenfrist sicher sein.

Daniel Vorbach würde ihm einiges abnehmen müssen. Nach dem Unterricht waren eine Menge Lehrer schon ins freie Wochenende gefahren. Doch die Stundenpläne in der Oberstufe mussten umgestellt werden, und es musste sehr bald ein Ersatz für Frau Dierks her. Die Unterrichtseinheiten der Abiturienten würden sie besonders berücksichtigen müssen. Wenn es ums Abitur ging, kannten die Eltern kein Pardon. Wer Monat um Monat Tausende Euro für die schulische Ausbildung seines Kindes ausgab, erwartete einen Abschluss, mit dem dem Nachwuchs alle Türen offen standen.

Endlich betrat Daniel Vorbach nach kurzem Anklopfen das Büro. Er trug Shorts, ein weißes T-Shirt und Sportschuhe.

»Gut, dass Sie noch da sind, Vorbach. Ich habe sehr schlechte Neuigkeiten.«

Daniel Vorbach ließ sich auf der Tischkante nieder und fuhr sich durch das feuchte Haar. »Was ist los?« Er musterte sein Spiegelbild kurz in der Fensterscheibe.

»Sabrina Dierks ist tot.«

»Wie bitte?«

»Es tut mir leid. Ich weiß, es ist ein Schock. Doch die Polizei hat mich gerade angerufen.«

»Was ist ihr denn passiert? Ein Unfall?«

Wolter sah an Vorbach vorbei. »Sie soll sich in ihrem Garten erhängt haben«, sagte er leise.

Daniel Vorbach blieb der Mund offen stehen. »Das … ist nicht wahr«, entgegnete er schließlich.

»Leider doch.« Wolter seufzte.

»Aber … Oh, verdammt.« Vorbach sprang auf und ging vor dem Schreibtisch auf und ab. »Ich kann es nicht glauben. Nicht sie …«

Der Direktor musterte Daniel Vorbach. Der Lehrer war blass geworden, und sein Augenlid zuckte. Wolter hatte nicht erwartet, dass die Nachricht Vorbach so mitnehmen würde. Frau Dierks und er waren nicht gerade beste Freunde gewesen. »Benötigen Sie einen Moment, um es zu verarbeiten? Wir können auch später besprechen, wie wir alles hier umorganisieren.«

»Nein, nein, es geht schon«, sagte Daniel Vorbach schnell, doch sein Gesicht war zu einer leidvollen Grimasse erstarrt. Er ließ sich in den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch sinken.

»Tut mir leid, dass es Sie so hart trifft. Ich wusste nicht, dass Sie beide sich mochten. Ich dachte eigentlich, es hätte hin und wieder Differenzen zwischen Ihnen gegeben.«

»Was soll das heißen? Nur weil wir einmal nicht der gleichen Meinung waren, lässt mich ihr plötzlicher Tod doch nicht kalt. Noch dazu ein Selbstmord.«

»Ja, es ist wirklich kaum zu fassen.« Wolter musterte Vorbach nachdenklich.

»Weiß man schon, warum sie es getan hat? Gibt es so etwas wie einen Abschiedsbrief?« Daniel Vorbachs Stimme klang gepresst.

»Ich weiß nur das, was ich Ihnen gesagt habe.«

Der Lehrer schüttelte langsam den Kopf. Seine Hände umkrampften die Tischkante. Er war nicht sehr groß, einen halben Kopf kleiner als Wolter selbst, aber ein Kraftpaket. Sogar in dieser misslichen Situation kam Hartmut Wolter nicht umhin, die überdimensionierten Bizepse seines Mathematik-, Geschichts- und Sportlehrers zu bemerken. Und ihm deswegen zu grollen.

»Sie werden die Theater-AG ab jetzt alleine leiten«, sagte er, weil das die erste notwendige Veränderung war, die ihm einfiel.

»Ohne Sabrina gibt es keine Theater-AG mehr«, entgegnete Vorbach. »Das war ihr Projekt.«

»Die Eltern erwarten ein Theaterstück am Ende des Schuljahres.«

»Sie erwarten auch, die Akrobatik-AG zu sehen wie jedes Jahr. Damit bin ich voll und ganz ausgelastet.«

Aus den bewundernden »Ahs« und »Ohs« von Eltern und Schülern, wenn Vorbach als Letzter der Gruppe einen gestreckten Salto über den Kasten machte, saugte er offensichtlich Nektar für sein Selbstvertrauen.

»Zur Not fällt die Akrobatik weg«, erklärte Wolter.

»Das können Sie meinen Schülern nicht antun. Die trainieren seit Monaten dafür.«

»Wir werden sehen.« Wolter stand auf. »Die Polizei wird übrigens heute Nachmittag hier erscheinen.«

»Ach ja?«

»Sie sagen, es sei eine reine Routineangelegenheit. Aber ich denke … Ich vermute, dass sie sich nicht ganz sicher sind.«

»Sicher über was?«

»Dass es wirklich Selbstmord war.«

»He, Leonie! Kommst du mit zum Strand?«

Leonie vergrub die Nase tiefer in ihrem Buch. Wenn sie nicht reagierte, würden Torben, Jamel und Falko bestimmt weitergehen.

»Komm mit. Wir rollen dich auch ins Wasser!« Grölendes Gelächter folgte.

»Arschlöcher«, murmelte Leonie.

»Lasst sie doch …«, sagte Jamel. »Sie kann doch nichts dafür.«

Mitleid war noch schlimmer.

»Nein, die muss nur weniger Süßigkeiten futtern«, rief ausgerechnet Torben, der auch nicht schlanker war als sie.

Die Jungen zogen quatschend und lachend in Richtung Nordsee davon. Alle, die an diesem Wochenende im Internat geblieben waren, würden heute die meiste Zeit am Wasser verbringen. Außer den paar armen Socken, die dringend für die nächsten Klausuren lernen mussten. Doch die Schulnoten waren nicht Leonies Problem …

Sie las weiter. Es war eine Biografie über Maria Stuart. Die junge Königin war gerade in ihren Palast in Edinburgh zurückgekehrt, in dem das Leben so ganz anders war als am französischen Hof. Die Geschichte war spannend, doch Leonies Konzentration war dahin. Sie war so ein Feigling! Sie hätte doch mit Jette und Irma mitfahren sollen. Hier im Internat stand ihr ein langes, langweiliges Wochenende bevor.

Ihre Freundinnen und die meisten anderen Schüler des Nordstrand-Internats waren am Mittag abgeholt worden oder in den Zug gestiegen. Irma und Jette lagen vielleicht bald schon an irgendeinem Luxus-Pool herum? Die hatten sicher jede Menge Spaß und würden ihr am Montag damit in den Ohren liegen, was sie alles Tolles verpasst hatte.

Ihre Freundinnen hatten ihr Wochenende sorgsam geplant. Sie hatten Jettes Mutter erzählt, dass sie bei Irma in Kassel sein würden, und Irmas Eltern, dass sie das Wochenende gemeinsam bei Jette in Düsseldorf verbrachten. Und ihre Eltern waren nicht interessiert oder nicht clever genug, dem Betrug auf die Schliche zu kommen. Aber Leonie wollte niemanden belügen, wo sie sich am Wochenende aufhielt. Das war ihr alles zu riskant. Und nach Hause fahren konnte sie auch nicht.

Sie sah auf, als ein Schatten auf ihr Buch fiel.

»Hi, Leonie. Bist du gar nicht mit den anderen am Strand?«, fragte Daniel Vorbach. Er war ihr Sport- und Mathematiklehrer. Einige der Mädchen schwärmten für ihn. Nicht jedoch Leonie.

Was geht Sie das an?, wäre die passende Erwiderung. Wie Sie sehen …, war Leonies Meinung nach einem Lehrer gegenüber noch knapp vor unverschämt.

»Ich mache mir nur Sorgen um dich. Neulich hast du unseren Fünf-Kilometer-Lauf nicht geschafft. Du willst doch nicht, dass deine Sportnoten dir den Abi-Schnitt versauen, oder, Leonie?«

Verdammt, sie wusste, wie sie hieß! »Werden sie schon nicht«, murmelte sie und senkte den Blick wieder auf ihr Buch.

»Bewegung ist der Key!«

»Der Schlüssel zu was?«

»Zu einem erfüllten Leben.« Er lächelte überlegen.

»Herr Vorbach. Es tut mir leid, aber ich muss jetzt weiterlesen, damit mir meine schlechten Geschichtsnoten nicht den Abi-Schnitt versauen.«