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Anwältin Fentje Jacobsen, die ihre Kanzlei auf dem Schafshof ihrer Großeltern betreibt, erhält mitten in der Nacht einen Anruf. Der Mann am anderen Ende erklärt, dass er ihre Hilfe brauche, denn er werde demnächst des Mordes verdächtigt werden. Danach legt er auf. Kurz darauf hört Fentje, dass in einem benachbarten Ort zwei Tote gefunden wurden: Ihr neuer Klient ist selbst einem Verbrechen zum Opfer gefallen und wurde auf grausame Weise in seinem Haus stranguliert. Obwohl sie kein gültiges Mandat hat, beginnt Fentje mit dem Journalisten Niklas John Nachforschungen anzustellen. Doch als sie in dem kleinen Dorf zu tief graben, wird es auch für sie lebensgefährlich ...
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Seitenzahl: 468
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
Dank
Über das Buch
Anwältin Fentje Jacobsen, die ihre Kanzlei auf dem Schafshof ihrer Großeltern betreibt, erhält mitten in der Nacht einen Anruf. Der Mann am anderen Ende erklärt, dass er ihre Hilfe brauche, denn er werde demnächst des Mordes verdächtigt werden. Danach legt er auf. Kurz darauf hört Fentje, dass in einem benachbarten Ort zwei Tote gefunden wurden: Ihr neuer Klient ist selbst einem Verbrechen zum Opfer gefallen und wurde auf grausame Weise in seinem Haus stranguliert. Obwohl sie kein gültiges Mandat hat, beginnt Fentje mit dem Journalisten Niklas John Nachforschungen anzustellen. Doch als sie in dem kleinen Dorf zu tief graben, wird es auch für sie lebensgefährlich ...
Über die Autorin
Eva Almstädt, 1965 in Hamburg geboren und dort auch aufgewachsen, absolvierte eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Seit 2001 ist sie freie Autorin. Die Autorin lebt in Hamburg.
DAS SCHWEIGENDE DORF
KRIMINALROMAN
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Textredaktion: Dorothee Cabras Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de Covermotiv: © shutterstock/Steve Bower; shutterstock/ZoranKrstic; shutterstock/Pawel Kazmierczak; shutterstock/Andrii Spy_k; shutterstock/Alessandro Di Filippo; shutterstock/Rudmer Zwerver; shutterstock/Olaf Unger; shutterstock/yanishevska; © Silas Manhood/Trevillion Images Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, PößneckISBN978-3-7517-5587-0
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Ob er sie je finden würde? Fast vier Jahre waren seit ihrem Verschwinden vergangen, und was hatte er bisher erreicht? Volker Suhr kam einfach nicht so oft dazu, den Kanal abzusuchen, wie es nötig wäre. Er wagte es nur, wenn seine Frau Ruth abends etwas anderes vorhatte. Doch das war leider nicht allzu häufig der Fall. Sich am helllichten Tag auf diese verrückte Mission zu begeben riskierte er nicht. Die Leute aus Helenendeich hatten ihre Augen und Ohren überall.
Auch an diesem Abend schien er mit seiner Suche kein Glück zu haben. Wenn man denn bei so einer Aktion im Erfolgsfall von »Glück« sprechen konnte. Himmelherrgott! Wie viele halbwegs sinnvolle Möglichkeiten, eine Leiche zu verstecken, gab es auf der Halbinsel Eiderstedt? Oder jagte er einem Phantom hinterher, einem Auswuchs seiner Fantasie?
Während seiner Zeit als Polizist hatte Volker so einige Menschen kennengelernt, die Wahnvorstellungen nachhingen. Meistens war es um eingebildete Verbrechen gegangen. Und sie alle waren überzeugt gewesen, dass ihre Illusionen der Realität entsprachen. Jeder Polizist kannte die unterschiedlichen Ausprägungen des Wahnsinns …
Volker lachte bitter auf. Er schrak zusammen, weil das Geräusch, das vom Ufer widerhallte, im Dunkeln unheimlich klang. So, als würde er am Ende über die Suche und das Schicksal dieser Frau noch den Verstand verlieren.
Er stieß sein Schlauchboot sachte ab und dirigierte es sogleich wieder in Richtung Böschung. Hinter der Schleuse war das Ufer zum Teil dicht mit Schilf bewachsen. Auch Büsche und die herabhängenden Zweige alter Weiden erschwerten seine Suche. Für diesen Ort, den Kanal, sprach, dass man gut mit einem Fahrzeug an ihn herankam. Genau das sprach aber auch gegen ihn, denn der alte Wasserweg war nicht weit vom Naturschutzgebiet entfernt. Touristen und Naturschützer kamen her, Menschen interessierten sich für den alten Kanal, die sogenannte »Süderbootfahrt«, sodass die Gefahr einer Entdeckung der Leiche hoch war. Jemand, der hier aus der Gegend stammte und etwas ein für alle Mal verschwinden lassen wollte, wusste das.
Volker vergewisserte sich, dass er keine Zuschauer hatte. Oberhalb der Böschung vor der alten Schankwirtschaft brannten nur noch die zwei Außenleuchten. Die Lampen spendeten einen fahlen, gelblichen Lichtschein, der die sie umgebende Dunkelheit umso undurchdringlicher wirken ließ.
Der Wirt und seine letzten Gäste lagen sicher längst in ihren warmen Betten. Volker fröstelte. Die Temperaturen näherten sich nachts noch häufig dem einstelligen Bereich. Er hätte sich unter der Wachsjacke einen dicken Pullover anziehen sollen.
Volker Suhr richtete sich mit der Metallstange in der Hand auf. Sogleich glich er die Schaukelbewegung des Bootes mit dem Körper aus. Dann stach das angespitzte Ende mit Wucht in den morastigen Untergrund am Rand des Kanals. Es fühlte sich so an wie Hunderte Male zuvor. Er hatte sich schon oft ausgemalt, wie es wäre, wenn die Stange endlich auf Plastikfolie und darunter auf Kleidung oder verwesendes Fleisch und Knochen treffen würde. Vielleicht auch auf Steine, mit denen der Leichnam beschwert worden war.
Jeder Aufprall der Stange auf einen Stein war ihm durch sein Handgelenk über den Ellenbogen bis in die von Arthrose geplagte Schulter gefahren. Einmal hatte er einen alten Motorblock entdeckt. Der Schmerz war ihm einerlei gewesen, denn er hatte Hoffnung in ihm geweckt. Doch bisher hatten selbst seine verheißungsvollsten Funde nie einer näheren Prüfung standgehalten.
Wie oft hatte Volker versucht, sich die Aufgabe vorzustellen, eine Leiche so zu verstecken, dass sie unauffindbar blieb! Welche Optionen hätte er nach so einer Tat? Was wäre die ungefährlichste Möglichkeit, der Weg des geringsten Aufwands und Risikos?
Wieder hob er den Arm, glich das Schaukeln des kleinen Beiboots aus und versenkte den Stab, so tief es ging, in den Uferschlamm. Das Boot schob sich in die andere Richtung, sodass er sich mithilfe seines Speers wieder heranziehen musste. Nichts …
Er zog die Stange heraus, glitt ein Stück weiter, suchte systematisch Stück für Stück den für heute anvisierten Uferbereich ab. Trotz der Kühle der Nacht lief ihm inzwischen der Schweiß Rücken und Brust hinunter. Lange war nichts anderes zu hören als das Geräusch der Stange, sein schnaufender Atem, das Plätschern des Wassers und das Wispern der Schilfrohre im Nachtwind.
Als sich auf der Straße auf dem Deich ein Auto näherte, hielt Volker unwillkürlich die Luft an und duckte sich. Das Licht der Scheinwerfer glitt an ihm vorbei, das Motorengeräusch wurde leiser und der Wagen wieder von der Nacht verschluckt. Stattdessen huschte nun eine Ratte oder ein anderes nachtaktives Tier durch das Gras am Ufer. Waren Ratten ein gutes Zeichen, dass er sie heute endlich finden würde? Nein, dafür lag ihr Verschwinden schon zu lange zurück. Und immer noch konnte er nicht damit abschließen. Er stach wieder zu.
Immerhin, ich habe einen neuen Mandanten, dachte Fentje Jacobsen. Sie sah Kurt Regner nach, wie er in seinen Wagen stieg, schwungvoll wendete und dann rasch den schmalen Weg in Richtung Hauptstraße davonfuhr. Er hatte ein paar Geschwindigkeitsübertretungen angesammelt, die der aufbrausende Mann nicht mit einem Fahrverbot büßen wollte. Die Ausübung seines Berufs und damit das Wohl seiner Familie hingen davon ab, hatte er argumentiert. Doch das war recht weit hergeholt.
Für das Wohl der Allgemeinheit war es nicht einmal wünschenswert, wenn sie den Fall für den notorischen Raser gewann. Ein hohes Honorar sprang auch nicht dabei heraus, doch Fentje konnte es sich nicht leisten, bei der Auswahl ihrer Mandanten wählerisch zu sein.
Ihre finanzielle Zukunft sah zurzeit nicht allzu rosig aus. Ihre Kanzlei dümpelte auch nach knapp zwei Jahren ihrer Existenz so vor sich hin, sowohl was die Anzahl ihrer Mandanten als auch was ihre Einnahmen betraf. Fentje gab sich noch ein weiteres Jahr. Dann würde sie eine Entscheidung darüber treffen müssen, ob die Idee, die Kanzlei vom Schafhof ihrer Großeltern aus zu betreiben, zukünftig tragbar war.
Von ihrer erhöhten Position auf der Warft, dem Hügel, auf dem das Haus der Jacobsens stand, hatte Fentje einen guten Überblick. Das Grünland um sie herum war ansonsten platt wie ein Eierkuchen. Ihr neuer Mandant bremste scharf und hätte sein Auto dabei beinahe in den Graben bugsiert. Ihrem Großvater wäre es wahrscheinlich eine Freude gewesen, den Wagen mithilfe von »Tomme«, dem alten Trecker der Familie, aus einer solch misslichen Lage zu befreien.
Jetzt erkannte Fentje auch die Ursache des abrupten Fahrmanövers. Ihr Mandant war ihrer Nichte Sofia ausgewichen, die ihm offenbar auf dem Fahrrad entgegengekommen war. Jedenfalls bog diese nun freihändig radelnd auf den Hofplatz. Fentje gab ein leises Stöhnen von sich. Sofia tippte auf ihrem Tourenrad fahrend auf dem Handy herum. Doch sie wollte nicht quer über den Hofplatz brüllen. Sie wartete ungeduldig, bis ihre Nichte das Rad abgestellt hatte und auf sie zu getrottet kam. »Hi, Sofia. Du bist ja früh dran heute.«
»Die blöde AG habe ich ausfallen lassen«, antwortete das Mädchen, ohne den Blick zu heben.
»Warum das denn?«
»Nur so. Kein Bock.«
Normalerweise liebte Sofia ihre Schauspiel-AG. »Komm bitte einen Moment mit zu mir herein.« Fentje deutete in Richtung Küchenfenster.
Nun hob ihre Nichte doch den Kopf. »Warum?« Ein angedeutetes Augenrollen. »Na, meinetwegen.«
Sie wohnten alle zusammen mit Fentjes Großeltern und Sofias Vater Bendix auf dem alten Jacobsen-Hof. Es gab hier reichlich Platz, um sich auch mal aus dem Weg zu gehen. Den ehemaligen Stall hatte Fentje sich zu einer abgeschlossenen Wohnung mit Kanzleiräumen umbauen lassen. Vor einiger Zeit war auch Sofia zu ihr herüber in den anderen Teil des Hauses gezogen, sodass nur noch Fentjes Bruder Bendix das Obergeschoss bei den Großeltern bewohnte.
Fentje hatte sich gefreut, dass Sofia mit ihr zusammenleben wollte. Mit der Zeit war ihr aber auch klar geworden, welche Verantwortung sie damit übernommen hatte. Ihre Nichte war jetzt fast siebzehn, und aus dem fröhlichen, wissbegierigen Mädchen war ein auffallend launischer Teenager geworden.
Wenn Sofia an den Wochenenden immer öfter abends mit Freundinnen unterwegs war, war Fentje angespannt und besorgt, bis sie ihre Nichte wieder wohlbehalten im Bett wusste. Sehr oft spielte sie das Taxi, denn auf dem Lande fuhr in den Abendstunden kein Bus mehr, und mit dem Rad wollte sie Sofia so spät auch nicht unterwegs sein lassen. Ständig gab es Diskussionen deswegen.
Aber war das überhaupt ihre Aufgabe? Dass Bendix beruflich so viel reisen musste, war ein ständiger Streitpunkt zwischen den Geschwistern, während Sofia vorgab, dass es ihr nicht das Geringste ausmachte, dass ihr Vater des Öfteren nicht da war.
»Auf dem Betonstreifenweg freihändig Fahrrad zu fahren ist keine so tolle Idee«, sagte Fentje, als sie sich nun dem aktuellen Problem zuwandte. »Besonders, wenn einem ein Auto entgegenkommt.«
»Dieser Typ in dem Ford hätte doch auch mal ein Stück rechts rüberfahren können.«
»Dieser ›Typ‹ heißt Kurt Regner und ist mein neuer Mandant. Und er hätte sein Auto deinetwegen beinahe in den Graben gesetzt.«
»Dein Mandant ist zu schnell gefahren. Du sollst ihn bestimmt wegen eines Verkehrsdelikts verteidigen«, mutmaßte Sofia.
Fentje unterdrückte ein Lächeln. Ein Punkt für Sofia. »Und wenn schon. Er braucht einen Anwalt, und er ist zu mir gekommen. Das spricht von meinem Standpunkt aus gesehen für ihn. Aber mir geht es hauptsächlich um deine Sicherheit.«
»Das habe ich schon verstanden.« Sofia warf einen Blick auf ihr Smartphone. »Ich tue es nicht wieder. Großes Ehrenwort!«
»Hast du in der Schulmensa gegessen?«
»Jep, Eintopf. Kann ich jetzt nach oben gehen?« Mit besonderer Betonung auf dem Wort »jetzt«. Sie erhob sich.
»Nein. Ich möchte noch etwas mit dir besprechen.«
»Was denn?«
»Setzt du dich bitte noch einen Augenblick hin?«
Sofia ließ sich mit einem schweren Ausatmen auf den Stuhl zurücksinken.
»Du lässt in letzter Zeit ganz schön viel in der Schule ausfallen.«
»Ich habe es im Griff.«
»Aber die Schauspiel-AG?«, fragte Fentje. »Das Theaterspielen macht dir doch sonst so viel Spaß.«
»Ich hatte Kopfweh.«
»Hast du die Rolle der Seeräuber-Jenny bekommen?«
»Steht noch nicht fest.«
»Hm.« Fentje betrachtete ihre Nichte. Sie sah nicht krank aus. Eher missmutig und verschlossen. »Ich möchte es nur gern verstehen«, fuhr sie mit sanfterer Stimme fort. »Du machst in den letzten Tagen einen unglücklichen Eindruck. Ist etwas passiert?«
Sofia kniff die Augen zusammen. »Es ist nichts. Wirklich. Mach dir keine Sorgen, Tantchen …« Der Anflug eines ironischen Grinsens.
»Nenn mich nicht …«, erwiderte Fentje beinahe automatisch.
»… ›Tantchen‹. Du wirkst übrigens auch nicht gerade wie das strahlende Glück, Fentje«, konterte Sofia.
»Das täuscht«, gab sie zurück.
Sofia erhob sich wieder. »Weißt du, wen ich vorhin zufällig gesehen habe?«
»Keine Ahnung.«
Sofia legte den Kopf schief. »Den Journalisten aus St. Peter-Ording. Du erinnerst dich?«
»Niklas John?«, fragte Fentje mit gleichmütiger Miene. Wen sonst? Sie hatte wegen zwei recht spektakulären Verbrechen auf Eiderstedt gemeinsam mit Niklas John Nachforschungen angestellt. Sie jeweils für einen Mandanten, er für eine der Zeitungen, für die er schrieb. Im Laufe ihrer zweiten »Ermittlung« war sein Apartment in St. Peter-Ording ausgebrannt. Niklas hatte danach seine Rassekatze Blofeld in ihre Obhut gegeben, die auf dem Jacobsen-Hof dann auch noch trächtig geworden war. Der Vater der Katzenbabys war nicht sicher ermittelbar gewesen, doch Fentje hatte den unternehmungslustigen Hofkater ihres Nachbarn Hauke in Verdacht.
Das letzte Mal, dass Fentje Niklas John gesehen hatte, war gewesen, als er Blofeld, beinahe gegen ihren Wunsch, wieder bei ihr abgeholt hatte. Fentje hatte die verwöhnte Katze auf einmal nicht mehr missen wollen, doch Niklas war natürlich ihr Besitzer oder, wie er mal angedeutet hatte, eigentlich sogar seine Ex-Freundin Patricia.
»Wie viele attraktive Männer in deinem Alter kennst du?«, wollte Sofia wissen und riss sie damit aus ihren Erinnerungen.
»Da gibt es schon so einige …« Das war vielleicht ein wenig übertrieben.
»Und Journalisten?«
»Einer reicht.«
»Er lässt dich jedenfalls grüßen.« Sofia lächelte süffisant.
»Ach, tatsächlich?« Was sollte sie damit anfangen? Erst meldete er sich wochenlang nicht bei ihr, reagierte nicht einmal auf eine Textnachricht, und dann ließ er ihr über ihre Nichte Grüße ausrichten?
»Willst du gar nicht wissen, wo ich ihn getroffen habe?«, erkundigte sich Sofia.
»Nein.«
»Und du machst dir Sorgen um mich«, murmelte ihre Nichte, als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hochstapfte.
Niklas John schloss seine Wohnungstür auf und trat ein. Nach drei Wochen Abwesenheit war es ein seltsames Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Er ließ die verschmutzte Reisetasche und den Laptop-Rucksack direkt hinter der Eingangstür fallen und ging in den offenen Wohnbereich mit der mattschwarzen Einbauküche. Hatte er dieses Modell tatsächlich erst vor Kurzem so ausgewählt und gekauft?
Während seines Aufenthalts im Kriegsgebiet in der Ukraine hatte er zu viel gesehen und erlebt, was in absolutem Kontrast zu seinem Leben in St. Peter-Ording stand. Hier drinnen wirkte alles unbelebt, wie die nichtssagende Kulisse seines alten Lebens. Und niemand erwartete ihn.
Niklas nahm ein Glas aus dem Schrank, ließ kaltes Wasser aus dem Hahn hineinlaufen und trank. Er würde sich schon wieder hier eingewöhnen. Es gab Schlimmeres! Nach Nächten in behelfsmäßigen Unterkünften, manchmal auf nacktem Fußboden und einmal auch unter freiem Himmel, mit immer wieder aufflackerndem feindlichem Beschuss im Ohr, erschien ihm sein Apartment in St. Peter-Ording mit Dachterrasse und Blick auf die Nordsee wie ein unanständiger Luxus.
Als sein Smartphone klingelte, zog er es erfreut über die Ablenkung hervor. Er wusste nicht, wessen Anruf er erwartet hatte … Vielleicht den des Chefredakteurs der Zeitschrift, dem er am vergangenen Tag seine Reportage geschickt hatte? Oder, nachdem er vorhin unerwartet Sofia Jacobsen in der Fußgängerzone getroffen hatte, vielleicht sogar einen Anruf von Fentje? Doch es war Patricia, seine Ex-Freundin.
»Hi, Niklas, bist du zu Hause?«
»Ich bin gerade erst zur Tür hereingekommen. Was gibt es denn?« Ihm war nicht nach Small Talk zumute. Es ärgerte ihn immer noch, wie sie ihre Katze vor seiner Abreise wieder bei ihm abgeholt hatte. Zuerst hatte Patricia Blofeld ungefragt bei ihm zurückgelassen, als sie sich von ihm getrennt hatte. Dann hatte sie sich monatelang nicht dazu geäußert. Er hatte sich mit der Katze arrangiert, ja sogar angefreundet, wenn das denn möglich war, und sie aus seinem brennenden Apartment gerettet. Und nachdem er sogar Blofelds Niederkunft und die anschließende Vermittlung der drei Kitten in gute Hände gemeistert hatte, hatte Patricia ihre Katze wieder zu sich geholt.
»Ach, du warst weg?«, erkundigte sie sich.
»Ich war beruflich unterwegs … In der Ukraine.«
»Oh, ach so.« Eine kleine Pause entstand, in der sie offenbar nicht weiterwusste. Eine Seltenheit bei Patricia. »Wie auch immer. Ich habe es mir überlegt. Wenn du Blofeld wirklich so gern wiederhaben möchtest, könnte ich sie dir in den nächsten Tagen vorbeibringen.«
Niklas runzelte die Stirn. »Wie bitte? Als wir uns das letzte Mal gesprochen haben, warst du nicht davon abzubringen, dass sie deine Katze ist und ich absolut kein Anrecht auf sie habe.« Nach allem, was ich mit ihr durchgemacht habe, setzte er in Gedanken hinzu.
»Das hattest du nicht ganz richtig verstanden …«
»Doch, das hatte ich.«
»Willst du sie nun nehmen oder nicht?« Patricia klang wie gewohnt ungeduldig. »Sonst bringe ich sie ins Tierheim!«, setzte sie hinzu.
»Stopp. Warte! Das ist nicht dein Ernst. Du würdest Blofeld nicht ins Tierheim geben, Patricia?«
»Doch, es ist mein voller Ernst. Ich fliege morgen Nachmittag nach Barcelona, und ich weiß nicht, wo ich Blofeld sonst lassen soll.«
»Nimm dir einen Katzensitter«, schlug er vor, obwohl er bereits wusste, dass er nachgeben würde. Aber so einfach wollte er es ihr nicht machen.
»Für ein halbes Jahr? Unmöglich.«
»So lange bist du weg?«
»Voraussichtlich ein halbes Jahr. Vielleicht auch länger.« Sie klang noch selbstzufriedener als sonst. »Ich habe ein recht gutes Jobangebot.«
Er wanderte vor seiner Küchenzeile hin und her. Mattschwarz – wie seine Stimmung. Er traute Patricia durchaus zu, Blofeld ins Tierheim zu geben, wenn die Katze ihr lästig war. »Wenn ich Blofeld nehme, dann für immer«, sagte er deshalb. »Nicht nur zum ›Zwischenparken‹.«
»Ja, ja, das habe ich mir schon gedacht, dass du das fordern würdest, Niklas.« Sie klang zu allem Überfluss auch noch gekränkt, so, als versuchte er, sie über den Tisch zu ziehen.
»Es ist auch für das Tier das Beste.«
»Wenn du es sagst«, antwortete sie gelangweilt.
»Wann willst du Blofeld vorbeibringen?«, fragte er und bemühte sich, seine plötzlich aufkommende Vorfreude sorgfältig vor ihr zu verbergen. Wenn Patricia merkte, dass sie ihm damit einen Gefallen tat, ja dass der Gedanke ihn spontan in bessere Stimmung versetzte, würde sie es sich womöglich anders überlegen.
»Morgen im Laufe des Nachmittags?«, schlug sie vor.
Er tat, als müsste er nachdenken. »Na gut. Siebzehn Uhr. Aber ruf mich kurz vorher noch einmal an. Dann kann ich es schon irgendwie einrichten.«
Nach vier Stunden, die sie ununterbrochen an ihrem Schreibtisch gesessen hatte, stand Fentje auf, drückte die Schultern durch und streckte sich. Ihre Muskeln waren steif geworden, und ihre Konzentration war aufgebraucht. Mehr konnte sie gerade nicht für Kurt Regner tun. Die Sonne stand jetzt, im Mai, bereits hoch am Horizont und schien direkt in ihre Bürofenster.
Die Scheiben mussten dringend mal wieder geputzt werden, dachte sie. Zum Glück durfte man das laut ihrer Großmutter Gretje unter gar keinen Umständen bei Sonnenschein tun. Fentje stand sowieso mehr der Sinn nach einem Milchkaffee und ein paar Keksen an ihrem Aussichtsplatz im Garten. Beschwingt von ihrem Vorhaben, eine ausgedehnte Pause einzulegen, ging sie in die Küche.
Als sie den Auffangbehälter ihres Kaffeeautomaten ausleerte, fiel ihr Blick durch das Fenster über der Spüle nach draußen. Da stand ein ihr unbekannter schwarzer VW Bus auf dem Hofplatz. Manchmal verirrten sich Touristen hierher, die auf einem Ferienhof in der Nachbarschaft ein Apartment gebucht hatten.
Sie verließ das Haus und lief zu dem Wagen hinüber. Beim Blick durch das Fenster auf der Fahrerseite sah sie, dass niemand mehr in dem Fahrzeug saß. Das war nicht unbedingt das, was sie erwartet hatte.
»Suchen Sie mich?«
Fentje fuhr herum. Hinter ihr stand ein großer, recht massiv gebauter Mann in Jeans und einem Norwegerpullover.
»Nein. Ich wollte nur nachschauen, wer bei uns auf dem Hof hält. Kann ich Ihnen weiterhelfen?« Sein Kennzeichen verriet ihr, dass er aus Nordfriesland kam. Wohl doch kein Tourist …
»Ich bin mit Hinrich Jacobsen verabredet. Das sind Sie wohl nicht?« Er musterte sie wohlwollend.
»Hinrich Jacobsen ist mein Großvater.« Fentje blickte ihn misstrauisch an. Blondes, windzerzaustes Haar, helle Wimpern und Brauen, ein von Wind und Wetter rosiges Gesicht und hellblaue Augen … Ein Friese, wie er im Buche stand. Sicher wollte er ihrem Opa irgendetwas verkaufen. Wer konnte schon sagen, was der Mann in diesem schwarzen Bus durch die Gegend kutschierte? Mähroboter? Dampfreiniger? Thermomixe? »Was wollen Sie denn von ihm?«
»Gar nichts. Er hat mich angerufen.« Er streckte ihr seine Rechte entgegen. »Ich bin der neue Tierarzt. Onno von Venen.«
»Oh, okay. Fentje Jacobsen.« Sie schüttelte ihm kurz die warme, kräftige Hand, von der man natürlich nicht wusste, wo sie heute schon überall gewesen war. »Na, dann kommen Sie mal mit.« Während er neben ihr herging, fragte sich Fentje, was wohl aus ihrem alten Tierarzt geworden war.
»Ich habe die Praxis von Dr. Braun übernommen«, erklärte er sogleich freimütig. »Der Kollege will seine Zeit jetzt lieber in seinem Haus an der Costa del Sol verbringen. Schön für mich. Es ist eine gut laufende Praxis mit einigen größeren Schaf- und Milchvieh-Betrieben im Patientenstamm.«
»Zu den größeren Schafhöfen zählen wir wohl eher nicht«, entgegnete Fentje trocken.
»Das macht nichts.«
»Na, dann herzlichen Glückwunsch zur neuen Praxis und viel Erfolg!« Hier in der ländlichen Gegend Fuß zu fassen würde sicherlich nicht so einfach werden, wie er sich das vielleicht vorstellte.
Er ging neben ihr her und sah sich wohlgefällig um. »Ich finde, das ist ein sehr schöner Hof! Ist es Ihrer?«
»Nein«, antwortete Fentje. Genau genommen gehörte er ihren Großeltern.
»Wie viele Schafe haben Sie genau?«, fragte er sie weiter aus.
Ihr selbst gehörten gar keine …
»Ostfriesische Milchschafe, nicht wahr? Gute Rasse!«, fuhr er ungerührt fort.
»Warten Sie bitte hier«, wies Fentje ihn an. »Ich sage meinem Großvater Bescheid, dass Sie da sind.«
Hatte Hinrich den neuen Veterinär tatsächlich herbestellt? War er wirklich der Nachfolger ihres alten Tierarztes? Wenn es so war, würde sie den wortkargen, eher missmutigen Dr. Braun nicht sonderlich vermissen. Aber ein netter, gut aussehender Mann, der plötzlich auf dem Hof stand und etwas für sie tun wollte … Das machte Fentje misstrauisch.
Kurze Zeit später war Hinrich mit wichtiger Miene mit Onno von Venen in Richtung der Schafe verschwunden. Fentje hatte ihm angeboten mitzukommen, doch ihr Großvater hatte abgewinkt.
»Du hast doch Wichtigeres zu tun, Kind!« Und an Onno von Venen gerichtet: »Meine Enkeltochter ist Anwältin, müssen Sie wissen!«
»Ach, wirklich?«, hatte der Tierarzt leicht erstaunt erwidert.
Fentje hatte eine genervte Entgegnung heruntergeschluckt. Warum sollte sie keine Anwältin sein? »Dann gehe ich mal wieder zu mir rüber«, hatte sie stattdessen gesagt und sich abgewandt. Doch sie konnte nicht anders, als sich noch einmal umzudrehen und den beiden hinterherzuschauen, wie sie in Richtung Schafstall davongingen: ihrem drahtigen Großvater, tapfer humpelnd, seine Rückenschmerzen ignorierend, und dem weit ausschreitenden Mann neben ihm, der völlig entspannt im Hier und Jetzt zu sein schien.
»Fentje, kiek de Herrn Doktor doch nich so achter ran«, hörte sie die tadelnde Stimme ihrer Großmutter. »Dat deit en anstännige Fru nich!«
»Ich soll dem ›Herrn Doktor‹ nicht nachschauen? Oma, wo bist du gerade? In einem viktorianischen Roman? Und außerdem: Ich schau dem bestimmt nicht hinterher. Ich bin besorgt!«
Gretje lächelte verschmitzt und zog sie am Arm. »Kumm rin, mien Deern. Ik heff jüst Waffeln backt!«
»Das klingt verlockend.«
»Sofia hat sich auch schon zwei geholt.«
»Stimmt es, dass unser alter Tierarzt sich zur Ruhe setzt?«, fragte Fentje, als sie in der Küche ihrer Großeltern vor einem Berg Waffeln, Schlagsahne und roter Grütze saß.
»Der Gute … Ja, leider. Aber wer will es ihm verdenken, wenn er noch ein paar ruhige Jahre bei seiner Tochter in Spanien verbringen kann?«
»Die ist also auch dort?« Fentje erinnerte sich an Katrin Braun, die in etwa so alt wie sie war.
»Sie ist seit drei Jahren dort verheiratet.«
»Meint er denn, dass ihm die spanische Hitze bekommt?« Der alte Tierarzt hatte immer schon gestöhnt, wenn das Thermometer mal über zwanzig Grad geklettert war.
»Das wird man ja sehen. Er hat dort übrigens auch schon Enkelkindchen.« Gretje schenkte ihr von ihrem Filterkaffee ein.
»Schön für ihn.« Fentje versuchte, die Anspielung auf ihre Ehe- und Kinderlosigkeit zu ignorieren. Auch Gretje hatte schließlich »Enkelkindchen«. Nämlich ihren Bruder Bendix und sie. Ihrer beider Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Fentje zwölf Jahre alt gewesen war. Ihr Bruder und sie waren danach bei ihren Großeltern aufgewachsen. Das löste bei Gretje wohl manchmal das Gefühl aus, sie seien eher ihre Kinder. Mit Sofia, Bendix’ Tochter, hatte sie sogar schon ein »Urenkelkindchen«.
»Du möchtest bestimmt noch eine Waffel, Fentje.«
»Danke, aber mehr als eine schaffe ich heute nicht.«
»Unsinn. Nimm noch, wenn es schmeckt.«
»Ich möchte wirklich nicht, Oma.«
»Willst wohl deine schlanke Linie behalten«, bemerkte ihre Großmutter verschmitzt.
»Ich bin einfach satt.«
Gretje schaufelte sich gedankenverloren Sahne auf ihre Waffel. »Ist man erst mal verheiratet, dann werden gewisse Dinge einfacher«, verkündete sie.
»Meinst du?« Fentjes Beobachtungen nach wurde auch so manches komplizierter.
»Was hältst du denn von unserem neuen Tierarzt?«
»Onno von Venen? Der muss erst mal zeigen, was er so draufhat.«
»Aber ein Schnuckelchen ist er schon.« Sie musterte ihre Enkeltochter.
»Schnuckelchen? Also, ich weiß nicht …« Fentje schüttelte den Kopf.
»Und diese Landadeligen haben so hübsche Namen.«
»Findest du?« Fentje erhob sich.
»Fentje von Venen«, murmelte ihre Großmutter. »Gar nicht mal so schlecht.«
»Wie bitte?«
»Fentje von Venen – das schreibt sich auch gut. Habe ich schon ausprobiert.«
»Du hast was? Ich muss leider los. Ganz lieben Dank jedenfalls für den Kaffee und die Waffel!«
»Wo willst du denn nun schon wieder hin?«
»Arbeiten.«
Missbilligend schüttelte Gretje Jacobsen den Kopf. »Lass das mal sein. Geh doch lieber in den Stall … Es sind neulich noch zwei späte Lämmer geboren worden«, fügte sie hinzu, als wäre Fentje neun Jahre alt und würde deswegen sofort losflitzen.
»Ich war heute Morgen schon bei den Lämmern.« Fentje lächelte matt. Sie hatte nicht vor, dem Umweg durch den Stall zu nehmen.
»Und kämm dir vorher die Haare, Kind!«
Maren Harms beobachtete ihre Tochter Ylva, die mit ihrer besten Freundin Molly in der Sandkiste saß, beide in das Backen von Sandkuchen vertieft. Immerhin hatte Ylva eine Freundin in Helenendeich, während sie selbst mal wieder außen vor war.
Die anderen Mütter, Jeanette, Paula und Ina, saßen auf der Bank vor der Rutsche und schenkten Kaffee aus Thermoskannen in ihre mitgebrachten Becher aus. Jeanette war Mollys Mutter und noch die netteste der Frauen, die in Helenendeich Kinder im selben Alter wie Ylva hatten. Bunte Plastikdosen mit Keksen, Obstschnitzen und Müsliriegeln machten die Runde. Die drei hatten Maren sogar pflichtschuldig gefragt, ob sie sich nicht dazusetzen wolle. Doch erst, nachdem die Freundinnen die Bank komplett mit Beschlag belegt hatten, sodass kein Quadratzentimeter mehr für sie frei war. Um sich herum hatten sie die Bollerwagen, Laufräder und Buggys ihrer Kinder zu einer Wagenburg arrangiert.
Maren hatte höflich lächelnd abgelehnt und tat nun so, als wäre sie in das Lesen eines Romans vertieft. Sie ärgerte sich, wie selbstverständlich die Frauen, allesamt »Zugezogene« aus dem Neubaugebiet von Helenendeich, den Spielplatz für sich beanspruchten.
Ihr Mann Eike lebte schon lange hier. Er und seine Nachbarn und Freunde hatten in ihrer kargen Freizeit den Spielplatz mit angelegt, die Spielgeräte aufgebaut, den Bereich vor dem Schuppen gepflastert und die Hecke angepflanzt. Und diese Frauen kamen von sonst wo hierher, als wäre es selbstverständlich, dass dieser Spielplatz für die Kinder von Helenendeich existierte!
Doch insgeheim verspürte Maren auch ein wenig Neid auf die Frauen. Sie schienen sich in allem so ähnlich zu sein, dass es vermutlich kaum Konfliktpotenzial zwischen ihnen gab. Sie waren alle Anfang bis Mitte dreißig, mittelmäßig hübsch, ausreichend gebildet und finanziell gut versorgt, sodass sie es als ihr naturgegebenes Recht betrachteten, auf einen Großteil der Dörfler herabzublicken. Wenigstens vermutete Maren, dass das so war. Sie schien im Wertesystem dieser Frauen geradeso zwischen »tolerierbar« und »manchmal lästig« angesiedelt zu sein, je nachdem, ob eines ihrer Kinder mit Ylva spielen wollte oder nicht.
Zu allem Überfluss wohnten alle in neu erbauten Häusern, die in etwa gleich groß und wohl auch gleich teuer gewesen waren und gleichermaßen größtenteils noch einer Bank gehörten. Es sei denn – das wollte Maren nicht ausschließen –, dass bei der einen oder anderen nicht schon ein erkleckliches Erbe bei der Finanzierung geholfen hatte.
An jedes der Häuser war ein Carport angebaut, in dem der Familien-Van oder -SUV bereitstand, und es gab einen Ehemann, der bei Grillabenden und auf dem Fußballplatz eine gute Figur machte. Die Frauen waren im Homeoffice oder arbeiteten höchstens drei Tage die Woche, auch das hatte Maren mitbekommen.
Sie selbst konnte nur mittwochnachmittags und am Wochenende herkommen, wenn die Physiotherapie-Praxis, in der sie arbeitete, geschlossen war. An den anderen Nachmittagen musste ihre Mutter nach dem Kindergarten auf Ylva aufpassen.
Ihr Mann Eike verdiente als Koch zwar nicht schlecht, denn er war gut in dem, was er tat. Jedenfalls, solange er nüchtern blieb. Trotzdem konnten sie sich nicht so viel leisten wie die Frauen rechts von ihr. Sie benötigten dringend eine neue Heizung für ihr altes Haus, und ihre beiden Autos waren ständig in der Werkstatt. Sobald sie ihrer Tochter etwas Neues zum Anziehen kaufte, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Ylva war nicht Eikes leibliches Kind, sondern die Tochter ihres ersten Ehemanns Rainer.
Sie war eine Witwe mit einem kleinen Kind gewesen und froh, als Eike sich für sie interessiert hatte. Doch wenn er schlecht drauf war oder betrunken, ließ er sie manchmal spüren, dass er sich nicht als Ylvas Vater fühlte und ihre Tochter, zumindest in finanzieller Hinsicht, eine Last für ihn war. Er wollte unbedingt ein gemeinsames Kind mit ihr, am besten einen Sohn, doch das konnte sie sich unter diesen Umständen nun mal nicht vorstellen.
Wenn Maren ihre schwarze Daunenwinterjacke jetzt schon im fünften Jahr weitertragen musste, war das okay für sie. Doch Ylva wuchs schnell, da kam sie wohl nach ihrem Vater, der eins neunzig groß gewesen war; bei ihr ging das nicht. Und ihre Tochter sollte nicht unter den Problemen ihrer Eltern zu leiden haben. Eine Menge Probleme … die sie ängstlicher und einsamer machten, als Maren sich normalerweise eingestehen wollte.
Ihre einzigen Freunde im Ort – wenn man es denn so nennen wollte – waren ihre direkten Nachbarn, Wiebke und Ingmar Claussen. Ingmar kannte Maren schon ihr Leben lang. Eine Zeit lang hatte es sogar so ausgesehen, als könnte es zwischen ihnen mal etwas werden. Doch dann hatte Maren ihren ersten Mann Rainer kennengelernt. Als der schon kurz nach Ylvas Geburt an einem Hirntumor gestorben war, hatte Ingmar bereits Wiebke geheiratet.
Die resolute Rothaarige passte auch viel besser zu ihm als sie, Maren. Wiebke war wie gemacht für das Leben auf einem großen Bauernhof, und sie kam auch mit ihrem Schwiegervater Karl Claussen erstaunlich gut klar. Er war ein autoritärer, resoluter Mann, vor dem Maren sich insgeheim fürchtete … Leider hatte es bei Wiebke und Ingmar bisher nicht mit Nachwuchs geklappt.
Das verursachte eine Kluft zwischen Maren und Wiebke, besonders, weil sie sich nicht über Wiebkes unerfüllten Kinderwunsch und Marens Probleme mit Eike aussprachen, die Wiebke durchaus aufgefallen waren. Maren konnte sich nicht mit Wiebke über Erziehungsfragen oder die mangelnde Fürsorge austauschen, die Eike Ylva angedeihen ließ, während sie gleichzeitig wusste, wie sehnlichst sich die andere Frau nach einem Kind sehnte. Ganz zu schweigen von deren Ehemann Ingmar, deren Schwiegervater Karl und einer ganzen Dorfgemeinschaft, die wissentlich oder unwissentlich Druck auf Wiebke ausübten.
Drüben auf der Bank wurde laut und ausdauernd gelacht, doch die Mütter mieden den Blickkontakt mit ihr. Nur Paula warf ihr einen schuldbewussten Seitenblick zu. Maren fragte sich, ob der Witz vielleicht auf ihre Kosten gegangen war.
Als Fentje um zwanzig Minuten vor Mitternacht vor die Tür trat, bereute sie ihr Angebot, für ihren Großvater das Ableuchten zu übernehmen. Sobald sich Schafe und Lämmer im Stall befanden, drehte Hinrich Jacobsen vor dem Schlafengehen immer noch einmal eine Runde, um nachzusehen, ob bei den Tieren alles in Ordnung war. So weit, so gut.
Doch seine Rückenschmerzen waren noch immer nicht besser geworden. Fentje hatte ihm deshalb vorgeschlagen, sich ein paar Abende lang auszuruhen. Sie würde das Ableuchten in nächster Zeit übernehmen.
Den Vorschlag hatte sie ihm am Abend gemacht, als die Sonne tief am Horizont gestanden und das Land mit einem goldenen Schimmer überzogen hatte. Während sie später drinnen gemütlich in ihrem Wohnzimmer gesessen und einen skandinavischen Krimi angeschaut hatte, hatte sich das Wetter gewandelt.
Heftige Windböen fegten nun über die Warft. Vom schwach erleuchteten Hauseingang aus sah der Nachthimmel pechschwarz aus. Weder Mond noch Sterne spendeten etwas Licht.
Sie schlüpfte in ihre Gummistiefel und die Jacke, die neben der Haustür hing. Dann ergriff sie die große Taschenlampe und den Schlüsselbund und lief los. Außer Atem und mit zerzausten Haaren trat sie in den Stall. Der Wind hatte ihr die Kapuze vom Kopf gerissen, kaum dass sie den schützenden Eingangsbereich verlassen hatte. Fentje strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Immerhin, die Außenleuchte hatte ihr, als sie näher gekommen war, den Weg gewiesen. Fentje schloss die Stalltür hinter sich. Sofort war das Heulen des Windes leiser. Dafür hörte sie, wie die Fensterflügel klapperten.
Der Lichtschein ihrer Taschenlampe zuckte in der Stallgasse hin und her, ohne dass sie viel von ihrer Umgebung erkennen konnte. Sie tastete nach dem Lichtschalter und atmete unbewusst tief aus, als ein paar Neonleuchten fahles Licht spendeten. Sie schaltete die Stablampe aus und legte sie auf einem Fenstersims neben dem Eingang ab.
Etwas Kleines huschte im letzten Schlaglicht der Taschenlampe hinter einem Futtereimer an der Wand hervor und verschwand in einer dunklen Ecke. Wahrscheinlich eine Maus …
Sie musste nur kontrollieren, ob in diesem Stall alles in Ordnung war. Danach konnte sie zurück ins Haus und dann ab ins gemütliche Bett gehen, sagte sie sich.
Fentje blickte vom Stallgang in die abgeteilten Boxen, von denen nur wenige von Mutterschafen und ihren Lämmern belegt waren. Die meisten Tiere befanden sich draußen auf den Weiden. Zum Glück schien es hier keinerlei Probleme zu geben. Fentje war um diese Uhrzeit nicht unbedingt in der Stimmung, Geburtshilfe bei einem Schaf zu leisten.
Sie zuckte zusammen, als etwas auf das Blechdach krachte. Das Geräusch übertönte sogar das Heulen des Windes. Wahrscheinlich war es nur ein abgerissener Ast.
In diesem Moment erklang ein lauter Bass! Eine ganze Tonfolge. Sie erschrak nochmals, doch dann erinnerte sie sich daran, dass es einer der Klingeltöne auf ihrem Smartphone war.
Sofia hatte Fentje verschiedene Signaltöne einprogrammiert, aber diesen bekam sie nicht allzu oft zu hören. Es war ein umgeleiteter Anruf von ihrem Festnetztelefon. Wie kam ihre Nichte in diesem Fall eigentlich auf Heavy Metal? »Jacobsen«, sagte sie etwas argwöhnisch.
»Hallo? Ist da die Rechtsanwältin Fentje Jacobsen?«, hörte sie eine ihr unbekannte Stimme. Der Mann klang etwas heiser, ein wenig atemlos. Es war eher ein Flüstern.
»Ja. Und mit wem spreche ich?«
»Ich … Ich bin Sascha«, fiel er ihr ins Wort. »Wir kennen uns nicht. Aber ich brauche Ihre Hilfe!«
»Sascha? Und wie weiter?«
Er redete, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Ich habe gehört, Sie sollen gut sein. Können Sie nicht einfach herkommen?«
»Worum geht es?« Die aufgeregte Stimme des Anrufers und auch die ungewöhnliche Uhrzeit weckten ihr Interesse. Doch sie würde den Teufel tun und jetzt einfach auf den Zuruf eines Unbekannten irgendwohin fahren.
»Ich … Sie müssen mir helfen. Als Anwältin. Bitte!«, stammelte der Anrufer. Im Hintergrund meinte sie, schwach eine Art Wimmern zu hören. »Er ist tot. Tot! Ich glaube, ich habe gerade einen Mord begangen!«
»Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe, brauche ich …«, sagte Fentje noch, bevor das Gespräch unterbrochen war.
Stirnrunzelnd schaute sie auf die Anrufliste. Das Telefonat war von einer unterdrückten Nummer erfolgt. Sie schüttelte unwillig den Kopf, wartete einen Moment, ob sich der Anrufer wieder meldete. Doch nichts geschah. Was hatte er gesagt? Er habe einen Mord begangen? Das klang eher nach einem schlechten Scherz. Erlaubte sich jemand einen dummen Jux mit ihr?
Fentjes Stallrundgang war sowieso beinahe beendet. Sie schaute pflichtschuldig noch in die letzte Box. Auch hier war alles in Ordnung. Ein neugeborenes Lamm kuschelte sich eng an seine Mutter. Fentje steckte ihr Telefon wieder in ihre Jackentasche, griff nach der abgestellten Stablampe und verließ den Stall. Mit einer Hand die Kapuze festhaltend, lief sie durch den pfeifenden Wind zurück zum Wohnhaus. In der vertrauten Umgebung ihrer hell erleuchteten Küche rief Fentje nach kurzem Zögern die Polizei an.
»Was hat der Typ gesagt? Dass er einen ermordet hat? Ist ja krass!« Sofia saß am Frühstückstisch und bestrich sich ein halbes Brötchen dick mit Butter und Haselnuss-Schokocreme.
Irritiert blickte Fentje sie an. Der letzte Trend bei ihrer Nichte war doch die gesundheitsbewusste, fettreduzierte, vegetarische, wenn nicht gar vegane Ernährung gewesen. Und nun das? »Er hat gesagt, dass er einen Mord begangen hat«, erklärte Fentje einigermaßen ratlos. »Und dass er meine Hilfe will – als Anwältin.« Der Schrecken, nachts im Stall einen solch seltsamen und verstörenden Anruf zu bekommen, saß ihr doch ein wenig in den Knochen.
»Aber seinen Namen hat er nicht genannt?«
»Doch, ich habe Sascha verstanden. Wie viele Männer, die so heißen, mag es in der Umgegend geben?«
»Kam er denn von hier? Hat er was gesagt?«
»Er meinte, er habe gehört, dass ich gut sein soll. Warum sollte er sonst ausgerechnet mich anrufen, wenn er nicht von hier ist?«
»Und was hast du dann gemacht?« Sofia biss herzhaft in ihr Brötchen und leckte sich die Schokolade von der Unterlippe.
»Als ich wieder im Haus war, habe ich die Polizei angerufen. Die meinten jedoch nur, dass es bestimmt ein Spinner war, ein Scherzbold, oder eine geschmacklose Wette dahintersteckte … Oder dass ich mich verhört habe. Mit anderen Worten: Sie konnten oder wollten nichts unternehmen.«
»Da geht dir jetzt aber ein interessanter Mandant durch die Lappen.«
»Sind Scherzbolde interessant?«, fragte Fentje.
»Jedenfalls spannender als dein Raser gestern.« Sofia zog ihr Handy hervor und scrollte durch irgendwelche Seiten.
Fentje nippte an ihrem Kaffee und sah hinaus. Das Wetter war vielversprechend. Blauer Himmel und Sonnenschein. Doch an den Büschen vor dem Haus, die sich gen Osten bogen, sah sie, dass immer noch ein frischer Wind wehte. Aber laut Wetterbericht sollte sich das jetzt ändern. Angeblich standen ihnen ein paar warme, wolkenlose Tage bevor. Fentje hatte noch kein einziges Mal auf ihrer Terrasse im Strandkorb gesessen und ihr Gesicht in die Sonne gehalten, und wie es aussah, würde sie auch in den nächsten Tagen nicht dazu kommen. Sie hatte Bürokram und Steuersachen aufzuarbeiten, und in der Scheune war an einer Stelle das Dach undicht.
Fentje fragte sich, wie sie ihren Großvater daran hindern sollte, selbst auf die Leiter zu steigen. Sie musste unbedingt vorher einen Handwerker finden, der zuverlässig und nicht zu teuer war …
»Oh, ich glaube, ich habe die Lösung deines Rätsels gefunden«, verkündete Sofia, ohne von ihrem Handy aufzublicken.
»Was meinst du?«, wollte Fentje wissen.
»Einer von meiner Schule schreibt gerade, dass bei ihm im Ort ganz viel Polizei vorgefahren ist. Mit Sirene, Blaulicht und allem. Da muss etwas passiert sein.«
»Wo wohnt er denn?«, erkundigte sich Fentje zwischen zwei Bissen Käsebrötchen.
»Florian wohnt in Wellhusenkoog.« Sie schaute wieder in ihr Handy. »Moment, das ist gar nicht bei ihm im Dorf. Er ist nur mit seinem Roller daran vorbeigefahren. Die Polizei hat da ein Haus abgesperrt. Der Rettungswagen ist schon wieder weggefahren, stattdessen ist …« Ihr Mund verzog sich zu einem diabolischen Lächeln: »… nun noch ein Leichenwagen vor Ort.«
»Du nimmst mich auf den Arm, Sofia.«
»Nein. Schau doch, hier!« Sie hielt Fentje ihr Smartphone hin.
Fentje nahm es ihr aus der Hand. Das Foto gehörte zu einem Post auf Instagram. Der Benutzername hinter dem Post war »florzuske07x«. Fentje wischte sich durch mehrere Bilder. Bei einem zögerte sie. Sie zog Zeigefinger und Daumen auf dem Bildschirm auseinander, um das Foto zu vergrößern, und krauste die Stirn. »Ich glaube, ich weiß, wo das ist!«
»Tatsächlich?« Sofia kniff die Augen zusammen. »Woran erkennst du das?«
»An dem Kirchturm im Hintergrund.« Sie erhob sich. »Das ist in Helenendeich.«
»Was hast du vor?«
»Ich fahre dorthin.«
»Ist das nicht etwas voreilig?«
»Du hast doch eben selbst gesagt, dass mir ansonsten ein spannender Mandant durch die Lappen geht.«
»Wie willst du denn an den herankommen?«
»Ich sage, dass Sascha mich dringend sprechen will.«
»Sascha? Und weiter?«
»Der Ort hat nicht mehr als dreihundert Einwohner. So viele Männer namens Sascha wird es in Helenendeich nicht geben.«
So einfach, wie sie es ihrer Nichte gegenüber dargestellt hatte, würde es wahrscheinlich nicht werden, vermutete Fentje, als sie in ihren Pick-up stieg. Aber einen Versuch war es wert. Jemand, der möglicherweise in erheblichen Schwierigkeiten steckte, hatte sie gestern Nacht angerufen und um Hilfe gebeten. Was für eine Anwältin wäre sie, würde sie da nicht die Initiative ergreifen? Und außerdem: Alles, was zu Hause zu tun war, erschien ihr weit weniger verlockend als ein spontaner Ausflug nach Helenendeich …
Auf der Fahrt die schnurgerade Chaussee hinunter überlegte Fentje, wen sie in Helenendeich kannte? Es war ein kleiner Ort hinter dem Deich mit einem oder zwei größeren Bauernhöfen und einigen Einfamilienhäusern aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Mittlerweile war auch ein Neubaugebiet hinzugekommen. Es gab die überdimensionierte Kirche, einen verlassen aussehenden Dorfgasthof, einen Spiel- und Sportplatz und eine Bushaltestelle. Keine Einkaufsmöglichkeit, soweit Fentje es wusste, nur an der Straße manchmal Stände mit Eiern, Honig oder Kartoffeln.
Obwohl sie ihrer Großmutter ungern erzählen wollte, was los war, hielt sie es für ratsam, ein paar Insider-Informationen einzuziehen, bevor sie in Helenendeich aufschlug. Also rief sie sie über die Freisprechanlage an. »Guten Morgen, Oma. Sag mal, kennen wir eigentlich jemanden in Helenendeich?«, fragte sie so beiläufig wie möglich.
»Wo bist du, Fentje? Warum kommst du nicht rüber?«
»Ich fahre mit dem Auto.«
»Oh, ach so. Was ist denn mit Helenendeich?«
»Da wohnt ein neuer Mandant. Kennst du da wen?«
»Das meiste Land da gehört der Familie Claussen«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. »Es ist der große Hof, der an der Dorfstraße liegt.«
»Kennst du die Familie näher?«
Sie stieß eine Art Kichern aus. »Der alte Friedrich Claussen hat mir mal den Hof gemacht, als ich noch ein junges Ding war. Alle haben gesagt, dass ich hübsch bin und die freie Auswahl habe … Aber den Friedrich wollte ich nicht. Der hat dann später die Gertrud geheiratet. Beide schon lange tot … Der Friedrich war nur der jüngere Sohn, weißt du? Nicht der Vater von dem Karl Claussen, der jetzt da Bauer ist.«
»Kennst du Karl Claussen auch?«, hakte Fentje nach. Sie wollte ja keinen Friedhofsbesuch machen.
»Mein Hinrich war damals viel fescher als Friedrich. Und netter!«, fuhr Gretje unbeirrt fort. »Man sollte nicht zu sehr nach dem Aussehen gehen, Kind. Schon gar nicht als Frau. Schönheit vergeht …«
»… Hektar besteht. Ich kenne den Spruch, Oma. Was sind die Claussens für Leute?«
»Ich weiß es nicht mehr. Aber ich wusste es mal, glaube ich. An die alten Sachen kann ich mich nämlich viel besser erinnern, Kind.« Sie klang ein bisschen traurig.
»Schon gut, Oma. Nicht so wichtig«, versicherte Fentje ihr eilig.
»Wieso fragst du danach?«, erkundigte sich ihre Großmutter. »Haben die etwa etwas Unanständiges getan?«
»Wie kommst du nur darauf, Oma?«
»Ach, Kindchen. Wenn du deine Nase irgendwo reinsteckst …«
»Kennst du sonst noch jemanden in Helenendeich?«, Fentje überholte rasch einen Trecker. Die vergangenen Verehrer ihrer Großmutter schienen ihr nicht der richtige Aufhänger zu sein, um sich im Ort bekannt zu machen. »Vielleicht einen gewissen Sascha?«
»Nein, der Name sagt mir nichts. Aber ein Kollege von Ralph stammt ebenfalls aus Helenendeich. Ralph hat jedenfalls mal erzählt, dass er den anderen Polizisten ein paar Mal dort abholen musste, als sie Bereitschaft hatten. Der andere hatte einen über den Durst getrunken und konnte nicht mehr Auto fahren. Der Schluckspecht ist aber nun schon etwas länger in Pension. Hilft dir das weiter?«, erkundigte sie sich leutselig. »Ansonsten fällt mir leider niemand mehr ein.«
Ralph war der Mann von Fentjes Cousine Telse und mit Leib und Seele Polizist. Es gab Gretjes Erinnerungen zufolge also auch einen Polizisten a. D. in Helenendeich. Fentje fragte sich, ob dieses Wissen ihr nicht nützlich sein konnte. »Ich danke dir, Oma. Ich bin jetzt in Helenendeich angekommen. Bis später!« Sie beendete das Gespräch und rollte mit reduzierter Geschwindigkeit die Dorfstraße hinunter.
Als sie sich dem Ortszentrum näherte, sah Fentje schon von Weitem das Blaulicht der Polizeifahrzeuge, die kreuz und quer an der Hauptstraße standen. Sie hielt langsam darauf zu, wurde aber von einem Streifenpolizisten mit ungeduldigem Winken dazu aufgefordert, zügig weiterzufahren.
Fentje hatte jedoch schon gesehen, welches Haus von der Absperrung betroffen war: ein in die Jahre gekommenes Einfamilienhaus, in dessen Vorgarten eine alte Kiefer stand. Es befand sich nicht weit von dem Helenendeicher Gasthof entfernt, den Fentje von der Konfirmationsfeier eines Kindes von Freunden ihrer Oma her kannte. Sie erinnerte sich nun an das schmucklose, in Beige- und Grautönen gestrichene Gebäude, hatte es aber zunächst nicht gleich mit Helenendeich in Verbindung gebracht. Schräg hinter dem inzwischen verlassen wirkenden Gasthaus befand sich die alte Dorfkirche, deren Turm sie auf einem der Fotos auf Sofias Handy erkannt hatte.
Fentje war schneller am Ort des Geschehens vorbei, als ihr lieb war. Sie hatte ein ziemliches Aufgebot an Polizeifahrzeugen, Leichenwagen und, wie es aussah, auch zivilen Fahrzeugen passiert. Hinter dem mit rot-weißem Flatterband abgesperrten Bereich auf dem Fußweg hatten ein paar Leute gestanden und den Hals gereckt. Einige hatten miteinander geredet. Was war hier passiert? Und hatte es tatsächlich mit dem seltsamen nächtlichen Anruf zu tun?
Fentje bog kurz entschlossen nach rechts in die erste Querstraße ab, wo sich eine etwas ältere Siedlung befand. Wäre sie weitergefahren, wäre sie im Nu wieder aus Helenendeich hinaus gewesen und, wie der Name es schon sagte, am Deich gelandet. Sie fand erst nach etwa zweihundert Metern eine Parklücke für ihren Pick-up. Was immer hier passiert war: Es hatte für ein ungewöhnlich hohes Verkehrsaufkommen sowie für einiges Aufsehen in der Umgegend gesorgt. Auch in der Seitenstraße standen Leute in den Vorgärten oder auf dem Fußweg und redeten miteinander.
Fentje stieg aus, grüßte freundlich und sprach wie beiläufig zwei ältere Männer in Cordhose und kariertem Hemd an, die am Gartenzaun zusammenstanden. »Moin. Was ist denn nur da vorn an der Hauptstraße los?«
»Moin.« Der Blick des etwas Kleineren war neugierig, aber nicht freundlich.
»Da ist was passiert …«, wurde sie von dem zweiten Mann recht einsilbig informiert.
»Hat es einen Unfall gegeben?«, fragte Fentje nach.
»Unfall … wohl eher nicht, junge Frau.«
Innerlich vor Ungeduld aufstöhnend, doch mit einem freundlichen Lächeln erkundigte sie sich: »Ich wollte einen Bekannten besuchen. Er heißt Sascha. Kennen Sie ihn vielleicht?«
Sie sahen einander kurz an. »Nee, kennen wir nich’ …«, antwortete der etwas zugänglichere der beiden Männer. Er presste jedoch anschließend die Lippen zusammen und starrte zu seinen Blumenrabatten hinüber.
»Man sieht sich, Erich«, sagte der zweite, warf Fentje noch einen misstrauischen Blick zu und zog sich in Richtung seiner Haustür zurück.
»Wissen Sie vielleicht …«
Doch anstatt ihr zu antworten, schüttelte der Mann am Gartenzaun mitten in ihrem Satz den Kopf und trottete ebenfalls davon.
Nun habe ich den beiden auch noch ihren unterhaltsamen Vormittagsschnack verdorben, dachte Fentje. Hätte sie sie vielleicht besser auf Platt ansprechen und gleich duzen sollen? Doch die beiden hatten nicht wie alteingesessene Helenendeicher ausgesehen. Oder hatte sie sich da von den Wohnhäusern in dieser Siedlung täuschen lassen?
Mehr erstaunt als verärgert, dass sie aufgelaufen war, ging Fentje weiter in Richtung Dorfstraße. Auf dem Weg machte Fentje noch ein paar Versuche, mit Einwohnern, die sie auf der Straße antraf, ins Gespräch zu kommen, doch sie erfuhr nichts Neues.
Das war sie so nicht gewohnt.
Fentje ging auf einen der Polizisten zu, der den abgesperrten Bereich bewachte. Dabei überdachte sie rasch ihr weiteres Vorgehen. Sie könnte den unbekannten Beamten nach ihrem Cousin Ralph fragen. Da er ebenfalls Polizist war, war er wahrscheinlich bereits vor Ort oder hierher unterwegs. Er hatte ihr schon einmal geholfen, als sie für einen Mandanten ein paar Ermittlungen angestellt hatte. Nicht, dass er ihre Initiative, Verbrecher zu jagen, begrüßt hätte, doch im Nachhinein hatte er eingeräumt, dass sie der Polizei sogar ein klein wenig nützlich gewesen war.
Aber hier lag der Fall etwas anders. Sie hatte keinen Mandaten – noch nicht. Dazu musste sie erst mal herausfinden, wer dieser Sascha war, der sie in der vergangenen Nacht angerufen hatte. Sie wollte sich nicht einfach so auf Ralph und ihr Verwandtschaftsverhältnis berufen, um eine Sonderbehandlung zu bekommen.
Als Fentje auf den Uniformierten zutrat, breitete dieser andeutungsweise die Arme aus, als fürchtete er, sie würde das Absperrband ignorieren. Sie fragte ihn nach dem Kollegen vom Kriminaldauerdienst, mit dem sie in der vergangenen Nacht wegen des Anrufs telefoniert hatte.
Der Streifenpolizist, ein junger Mann mit pickeliger Haut und nervös umherblickenden Augen, runzelte die Stirn. Er überlegte kurz, sagte ihr, der sei noch nicht da, und schickte sie dann zu einem Kollegen in Zivil, der ein paar Meter weiter mit dem Rücken zu ihnen stand.
Der breitschultrige Mann in grellblauer Regenjacke steckte gerade sein Telefon in die Hosentasche, als Fentje auf ihn zutrat. Erkennen leuchtete in seinen kleinen Augen auf, und seine Mundwinkel bogen sich nach unten. Sie kannten einander von zwei früheren Ermittlungen her. Was hatte sie erwartet? Vielleicht, dass die Flensburger Kripo, die für Mord und Totschlag in dieser Gegend zuständig war, nicht ganz so schnell vor Ort sein würde?
Kriminalhauptkommissar Thorsten Reimers musterte sie von Kopf bis Fuß. »Sie sind doch Fentje Jacobsen. Die Anwältin.« Und an den Kollegen gewandt: »Jörn, warum schickst du sie zu mir?«
»Sie will mit einem Kollegen vom Kriminaldauerdienst sprechen. Mit Rick Stammer. Aber der ist meines Wissens nicht vor Ort.«
»Na gut, Anwältin Jacobsen …«
Etwas an der Art, wie er ihren Namen aussprach, gefiel Fentje nicht. Als würde sie sich etwas anmaßen, was ihr nicht zustand, und er sei gezwungen, dieses Spiel mitzuspielen. Er atmete schwer ein und aus. Sie war offensichtlich die letzte Person, die er an diesem Ort – höchstwahrscheinlich einem Tatort – zu sehen wünschte, da gab sich Fentje keinerlei Illusionen hin. Doch sie hatte einen guten Grund, hier zu sein.
»Stimmt, Herr Reimers. Wir hatten vor einiger Zeit wegen der Morde auf dem Fehnsen-Hof miteinander zu tun. Und davor im Fall der ermordeten Lehrerin«, antwortete sie. »Was ist hier passiert?«
»Dazu sage ich nichts. Kein Kommentar«, antwortete er ohne Umschweife.
Fentje warf einen raschen Blick zu dem unscheinbar wirkenden Haus hinüber, wo es von Polizisten nur so wimmelte. »Sind Sie über den Anruf bei mir heute Nacht informiert?«
»Ich habe davon gehört.«
»Besteht ein Zusammenhang? Was denken Sie?« Fentje bezweifelte, dass es sich hier um einen bloßen Zufall handelte.
»Möglicherweise«, räumte Reimers ein. »Wir hätten uns früher oder später sowieso mit Ihnen in Verbindung gesetzt, Frau Jacobsen. Sie hätten nicht herkommen müssen.«
Eine Frau in einem weißen Schutzoverall trat aus der Haustür und rief nach Reimers. Er signalisierte ihr mit einem Winken, dass er gleich kommen würde. »Aber da Sie nun schon einmal hier sind: Gehen Sie zu dem Mercedes-Bus, der ein Stück weiter die Straße hinunter steht, und melden Sie sich bei meiner Kollegin Scarpetta. Die wird Ihre Aussage aufnehmen, sobald Sie Zeit dazu hat.«
Wenn wenigstens der Pastor endlich verschwinden würde! Wiebke Claussen ging zum dritten Mal wie auf Samtpfoten an der Tür zu ihrem Wohnzimmer vorbei und horchte, ob erste Anzeichen eines nahenden Aufbruchs zu vernehmen waren.
Nein, nichts. Nichts als kaum wahrnehmbares Stimmengemurmel. Marens Stimme, unterbrochen nur von einem leisen Schluchzen, danach wieder Ruhe. Vielleicht das abschließende Gebet? Wenn es denn hilft …, dachte Wiebke und ging zurück in die Küche. Sie hatten ihren Glauben an die Kirche verloren – nicht den an Gott, nein, sie glaubte schon an ein höheres Wesen, nur den an die Institution.
Es hatte angefangen, als sie nach Helenendeich gezogen war. Schon das Traugespräch mit dem hiesigen Pastor hatte die wohl schon lange in ihr schlummernden Zweifel angestachelt. Sie hatte den armen alten Mann gefragt, ob es die Hölle gebe. Der Pastor war sichtlich überrascht gewesen und so konsterniert, dass er ihr eine Antwort schuldig geblieben war.
»Das ist wichtig! Er hat Theologie studiert. Er muss doch eine Meinung dazu haben«, hatte Wiebke sich später gegenüber ihrem Bräutigam Ingmar verteidigt, der nicht begeistert über den Verlauf ihres Traugesprächs gewesen war. Doch dann hatten sie gemeinsam darüber gelacht. War das wirklich schon fünf Jahre her?
Sie hörte, wie sich die Männer nebenan die Hände wuschen. Es war schon wieder Zeit für ein zweites Frühstück mit Brötchen und Wurst, Schinken und Käse. Frühmorgens gab es nur etwas Müsli und mittags beinahe immer ein warmes, frisch gekochtes Essen. Sie alle auf dem Hof standen früh auf und arbeiteten hart, da brauchten sie regelmäßige Mahlzeiten. Daher wurde auch ein zweites Frühstück verlangt, das Wiebke des Öfteren vor organisatorische Probleme stellte.
Der plötzliche und gewaltsame Tod ihres Nachbarn und die Betreuung der Witwe und ihres Kindes, noch dazu die Omnipräsenz der Polizei in Helenendeich, waren allerdings eine gute Ausrede, dass heute Mittag ausnahmsweise mal die Küche kalt bleiben musste. Selbst ihr Schwiegervater würde sich einen Kommentar dazu verkneifen … Zu tief saß der Schock über die Geschehnisse der vergangenen Nacht.
Als sie alle gegessen hatten und Wiebke den Männern gerade die zweite Tasse Kaffee einschenkte, erschien Maren im Türrahmen. Ihre dreijährige Tochter Ylva saß auf ihrer Hüfte und presste einen Plüschhasen mit langen Ohren an sich.
Das Kind war offensichtlich gerade von einem Vormittagsschläfchen aufgewacht. Auch Ylva musste bewusst oder unbewusst etwas von dem Drama mitbekommen haben. Ihre Wangen waren gerötet. Das dunkelbraune, weiche Haar stand ihr vom Kopf ab wie das eines kleinen Trolls. Der Anblick von Mutter und Kind versetzte Wiebke einen feinen Stich.
»Ist der Herr Pastor schon wieder weg?«, fragte Karl freundlich. Normalerweise würzte er alles, was er sagte, mit einer Prise Spott oder Ironie, doch der Ernst der Situation schien auch ihn für eine Weile handzahm gemacht zu haben.
»Ja, er lässt euch grüßen«, antwortete Maren nach einem leisen Räuspern. Ihre Stimme klang belegt. Auch ihre Wangen waren rot, jedoch nicht vom Schlaf, sondern weil sie geweint hatte.
»Willst du dich nicht zu uns setzen, Maren?«, bot Wiebke an. »Es ist noch reichlich genug für euch da.«
»Ich habe überhaupt keinen Hunger.«
»Wir stehen wohl alle noch unter Schock«, sagte Ingmar und zog einladend einen Stuhl für sie unter dem langen Tisch hervor. »Aber du musst versuchen, etwas zu essen, Maren. Sonst klappst du uns noch zusammen.«
Karl streckte die Arme nach Ylva aus: »Na, Lütte, komm doch mal zu mir, damit deine Mama einen Happen essen kann.«
Ihr Schwiegervater konnte gut mit Kindern umgehen. Ylva gesellte sich bereitwillig zu ihm und ließ sich mit einem Brot mit Marmelade füttern. Wiebke konzentrierte sich auf Maren. Sie schenkte ihr ungefragt Kaffee ein und gab Zucker und viel Milch hinzu. Dann schob sie den Becher zu ihr hinüber. »Konnte der Pastor irgendwas Hilfreiches beisteuern?«
Ingmar warf ihr einen strengen Blick zu.
»Es ist okay«, sagte Maren mit einem Seitenblick auf Wiebkes Ehemann. »Wiebke und ich sind beide nicht die größten Fans unseres Pastors … Aber ja, er war für seine Verhältnisse nett und verständnisvoll. Was heißt, dass ich beinahe die ganze Zeit über geredet habe.« Sie versuchte sich an einem schiefen Grinsen. »Entweder war das ein Teil seiner Methode, mit Traumatisierten umzugehen, oder ich habe ihn einfach nicht zu Wort kommen lassen.«
Wie tapfer sie ist!, dachte Wiebke. Ihr Ehemann und dessen Freund waren in ihrem eigenen Haus ums Leben gekommen. Noch dazu auf eine furchtbare Art und Weise …
Dass Maren so verhältnismäßig ruhig und gefasst war, war sicherlich auch auf das Beruhigungsmittel zurückzuführen, das der eilig herbeigerufene Hausarzt ihr verabreicht hatte. Wiebke hoffte, dass er genug von den Tabletten dagelassen hatte. Ein weiterer Grund für Marens Haltung war sicherlich, dass sie für ihre Tochter stark sein wollte. Es gab für sie einen Menschen, für den sich jede Mühe lohnte: ihr Kind. Sie hatte einen sehr guten Grund, ihr Leben neu zu ordnen und über alles hinwegzukommen.
»Wir müssen wieder raus in den Stall«, sagte Ingmar. Er erhob sich, sah Wiebke jedoch nicht in die Augen, sondern blickte knapp an ihr vorbei. Karls Aufmerksamkeit galt voll und ganz der kleinen Ylva, die er nur widerstrebend zurück zu ihrer Mutter gehen ließ.
Wiebke sammelte die gebrauchten Becher, Brettchen und das Besteck zusammen. Ihr Blick streifte das blasse, wie versteinert aussehende Gesicht ihrer Nachbarin. Nicht einmal das plappernde Kind konnte ihr eine Reaktion entlocken.