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Anwältin Fentje Jacobsen ist auf die Hochzeit ihres Freundes aus Kindertagen eingeladen. Als eine Nachbarin am nächsten Morgen das frisch vermählte Paar auf dem Hof der Familie aufsuchen will, findet sie die Eltern des Bräutigams ermordet, den Sohn schwer verletzt vor. Nur die Schwiegertochter konnte sich retten.
War es ein Überfall oder ein Familiendrama? Als die Polizei Letzteres vermutet, will Fentje die Unschuld ihres Freundes beweisen. Dabei trifft sie auf den Journalisten Niklas John, der im Interesse der überlebenden Ehefrau ganz eigene Ziele verfolgt.
Dieses Mal werden sie bestimmt nicht gemeinsam ermitteln. Aber dann bricht ein Feuer aus ...
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Seitenzahl: 434
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Inhalt
Über das Buch
Über die Autorin
Weitere Titel
Titel
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
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Über das Buch
Anwältin Fentje Jacobsen ist auf die Hochzeit ihres Freundes aus Kindertagen eingeladen. Als eine Nachbarin am nächsten Morgen das frisch vermählte Paar auf dem Hof der Familie aufsuchen will, findet sie die Eltern des Bräutigams ermordet, den Sohn schwer verletzt vor. Nur die Schwiegertochter konnte sich retten.
War es ein Überfall oder ein Familiendrama? Als die Polizei Letzteres vermutet, will Fentje die Unschuld ihres Freundes beweisen. Dabei trifft sie auf den Journalisten Niklas John, der im Interesse der überlebenden Ehefrau ganz eigene Ziele verfolgt.
Dieses Mal werden sie bestimmt nicht gemeinsam ermitteln. Aber dann bricht ein Feuer aus ...
Über die Autorin
Eva Almstädt, 1965 in Hamburg geboren und dort auch aufgewachsen, absolvierte eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Seit 2001 ist sie freie Autorin. Die Autorin lebt in Hamburg.
Weitere Titel der Autorin:
Akte Nordsee – Am dunklen Wasser
Kalter Grund
Engelsgrube
Blaues Gift
Grablichter
Tödliche Mitgift
Ostseeblut
Düsterbruch
Ostseefluch
Ostseesühne
Ostseefeuer
Ostseetod
Ostseejagd
Ostseerache
Ostseeangst
Ostseegruft
Ostseefalle
Ostseekreuz
Ostseenebel
Ostseemorde
Ostseelüge – mit MP3-CD Kalter Grund
Dornteufel
Titel auch als Hörbuch und E-Book erhältlich
Eva Almstädt
Der Teufelshof
Kriminalroman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Dorothee Cabras Titelillustration: © Sandra Cunningham /Arcangel | Iwan Williams /Arcangel | warat42 / shutterstock; watcher fox / shutterstock; A Jellema / shutterstock Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-7517-4203-0
luebbe.delesejury.de
Diana Hoops klopfte an die Tür. Als niemand reagierte, kamen ihr Zweifel. In der Aufregung hatte sie gar nicht darüber nachgedacht, wie unpassend ihr unerwartetes Auftauchen sein könnte. Es war ja der Morgen nach Hennings und Annas Hochzeitsnacht. Wie peinlich, das frisch vermählte Paar so früh zu stören! Doch die Zeit drängte, und Hennings Eltern, Lucy und Gustav Fehnsen, waren ja auch noch da.
Sie hämmerte nochmals gegen das Holz und drückte dann die Klinke herunter. Die Hintertür war unverschlossen. Diana betrat den Vorraum zur Küche. An der großen Vordertür des Bauernhauses, die die Nachbarinnen, sie eingeschlossen, mit einer Girlande aus Eichenlaub, roten Rosen und winzigen Stramplern geschmückt hatten, war sie wie gewohnt vorbeigegangen. Die Babysachen würde das Paar definitiv bald gebrauchen können. Es hieß, Anna sei im vierten Monat schwanger, doch aus Gründen, die Diana nicht nachvollziehen konnte, wurde nicht offen darüber geredet. Sie verzog das Gesicht. Das war ihr zu kompliziert. Mit Hennings Braut war sie ohnehin noch nicht richtig warm geworden. Wie schade, dass Anna sich nichts aus Pferden machte.
»Moin! Ich bin’s, Diana«, rief sie beim Betreten der Küche.
Keine Antwort.
Dass Lucy, Hennings Mutter, um halb neun morgens noch schlief, schien ihr höchst unwahrscheinlich zu sein. »Ich brauche nur mal kurz eure Hilfe!« Zwei ihrer Pferde, noch dazu die Jährlinge, waren ausgebrochen, und ihr Mann Lennard, der ihr normalerweise geholfen hätte, sie wieder einzufangen, war in aller Frühe nach Hohenlockstedt gefahren.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als Henning oder an diesem besonderen Morgen vielleicht besser Gustav und Lucy zu bitten, ihr kurz zu helfen. Die Pferde tummelten sich sicher gerade auf einer der saftigen Weiden des Fehnsen-Hofs – zumindest hoffte Diana das. »Gustav? Lucy?«
Im Haus war es ungewohnt still. Die Küche sah so sauber und aufgeräumt aus, wie sie es erwartet hatte, bis auf ein paar bräunliche Schmutzflecken und ein winziges gelbes Blatt auf den hellen Fliesen. Über einer Stuhllehne hing Hennings dunkelgraues Jackett mit einer welken Blüte im Knopfloch. Eine Menükarte des Hochzeitsessens und etwas Tischschmuck hatten ebenfalls den Weg hierhergefunden und waren achtlos auf dem Esstisch abgestellt worden. Das frisch vermählte Paar war also heil nach Hause gekommen. Das war gut.
Die Eltern des Bräutigams hatten bereits um kurz nach elf Uhr das Fest verlassen, während das Brautpaar bis nach vier Uhr in der Früh im Gasthof geblieben war. Anna und Henning hatten jede Sekunde ihrer Hochzeitsfeier ausgekostet und beinahe den ganzen Abend getanzt.
Diana ging weiter in Richtung Diele und rümpfte unwillkürlich die Nase. Sie war weiß Gott nicht zimperlich, aber zu den normalen Gerüchen eines Landhaushaltes mischte sich ein anderer, ebenfalls vertrauter Geruch … Wie früher donnerstags bei Dianas Eltern. Seltsam, die Fehnsens schlachteten doch nicht mehr selbst.
»Lucy? Gustav? Wo seid ihr denn?« Diana fühlte sich mit einem Mal unwohl in ihrer Haut. Sie stieß die nur angelehnte Tür zum Wohnzimmer auf.
Ihr unsteter Blick streifte die zwei Sofas aus dunkelrotem Leder, den Couchtisch mit der Marmorplatte, die Messingstehleuchten. Alles sah hell und aufgeräumt aus, und der seltsame Geruch aus der Diele war hier kaum noch wahrnehmbar. Stattdessen roch sie dezent Möbelpolitur und Kaminholz.
Diana schüttelte den Kopf über ihren kleinen Panikanfall. Henning und seine frisch angetraute Frau Anna lagen sicherlich noch im Bett. Aber wo steckten Hennings Eltern? Gönnten sie dem jungen Paar nur ein wenig Privatsphäre an ihrem ersten Morgen nach der Hochzeit? Dann sollte sie das wohl auch besser tun.
Doch wenn Diana die Pferde nicht schnell wieder eingefangen bekam, musste sie die Polizei verständigen. Und der Dorfsheriff war sowieso nicht so gut auf sie zu sprechen. Lieber wollte sie die Angelegenheit mit Nachbarschaftshilfe lösen. Diana überlegte, wen sie sonst noch um Unterstützung bitten könnte, als sie ein Geräusch über sich hörte.
Ein leises Scharren, kaum wahrnehmbar, wenn es nicht so leise im Haus gewesen wäre. Merkwürdig.
»Hallo? Ist da wer? Ich bin’s, Diana!«
Nichts. Erlaubten die sich einen Scherz mit ihr? Schwer vorstellbar. Jetzt wieder zu gehen und so zu tun, als wäre sie nie hier gewesen, war allerdings auch keine Option. Diana blieb nichts anderes übrig, als das Risiko einzugehen, ihre Nachbarn nach ihrer Hochzeitsnacht gleich nackt oder spärlich bekleidet auf dem Flur zu überraschen.
Diana war jedoch nicht zart besaitet. Entschlossen stieg sie die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Der obere Flur hatte kein natürliches Licht, und im Dämmerlicht meinte sie, den seltsamen Geruch noch intensiver wahrzunehmen. Diana tastete erfolglos nach einem Lichtschalter. Vor ihr auf dem Boden lag etwas. Sie machte einen raschen Schritt darauf zu, rutschte weg, schrie erschrocken auf und fiel auf etwas. Auf einen leblosen Körper?
Entsetzt ertastete sie, auf was oder besser, auf wen sie gefallen war. Sie fühlte kühle Haut, feste Muskeln, strubbeliges, strohiges Haar. Hennings Haar? »O Gott! Nein!« Hastig rappelte Diana sich auf und hielt sich an der Wand fest.
Ihre Augen hatten sich inzwischen so weit an das Dämmerlicht gewöhnt, dass sie ihre eigenen Fingerabdrücke auf der weißen Raufasertapete sehen konnte, als sie die Hand sinken ließ. Wie peinlich!, war ihr erster, unsinniger Gedanke. Erst dann wurde Diana klar, dass das Klebrige, das sie an den Fingern spürte, Blut sein könnte – Hennings Blut.
Sie ließ sich mitten in die bereits angetrocknete Lache auf die Knie fallen und beugte sich zu dem jungen Mann, strich ihm über das Gesicht. »Henning? Mein Gott! Was ist passiert? Kannst du mich hören, Henning?«, stieß sie mit bebender Stimme hervor. »Ich bin’s, Diana!« Sie setzte noch ein optimistisches »Es wird alles wieder gut!« hinzu.
Diana nahm sein Handgelenk und ertastete Hennings Puls. Seine Haut war feucht. Sie beugte sich vor, hielt Ohr und Wange nah an seinen Mund und seine Nase. Erleichterung durchflutete sie. Sie vernahm Atemgeräusche, spürte einen leichten Lufthauch. Er war bewusstlos, doch er atmete, er lebte. Diana rief sich ihre Erste-Hilfe-Kenntnisse in Erinnerung und versorgte Henning, so gut es ging. Dann zog sie ihr Handy hervor und wählte mit zitternden Fingern den Notruf.
Eine nüchterne, vertrauenerweckende Stimme versprach ihr, dass gleich Hilfe kommen würde. Sie musste zuerst ihren Namen und die Adresse des Unglücksortes angeben. Mit bebender Stimme schilderte sie Hennings Zustand und was sie bereits unternommen hatte, um ihm zu helfen.
»Wissen Sie, ob es vielleicht noch mehr Verletzte gibt?«, wurde sie schließlich gefragt.
Der Schreck fuhr ihr nochmals in die Glieder. Noch mehr Verletzte? »Ich … nein … Weiß ich nicht!«, stieß sie hervor.
»Schauen Sie bitte nach, ob noch jemand Hilfe braucht.«
»Aber ich muss doch ihm helfen!«
»Schauen Sie zuerst überall nach.«
Diana rappelte sich mit zittrigen Knien auf, diesmal darauf bedacht, nicht wieder die Tapete zu berühren. Doch welchen Unterschied machte das noch? »Ich gucke jetzt in die Zimmer«, sagte sie. Der ruhig klingende Mann am anderen Ende der Leitung gab ihr die dazu nötige Entschlossenheit.
Diana stieg vorsichtig über Henning hinweg, der beinahe den gesamten Flur blockierte. Sie wusste nicht, welche Tür zu welchem Zimmer gehörte. Obwohl sie die Familie Fehnsen und deren Hof von Kindheit an kannte, war sie noch nie hier oben gewesen. Die erste Tür öffnete sich zu einem Raum mit einem großen, zerwühlten Doppelbett. Eines der Fenster stand offen. Das Geräusch, das Diana gehört hatte, musste von dem Fensterflügel verursacht worden sein. Dem Brautkleid, das wie ein Wasserfall aus Tüll und Seide über einen Sessel floss, nach zu urteilen, war es Hennings und Annas Zimmer. Doch von der Braut selbst gab es keine Spur. Wo mochte sie nur sein?
Diana wankte zurück, stieß nacheinander die Türen zu einem Badezimmer, hellblau gekachelt, zu einem Gästezimmer und einer kleinen Putzkammer auf. Vor der letzten Tür zögerte sie. Noch einmal rief sie zögerlich: »Lucy? Gustav?« Sie lauschte, erwartete längst keine Antwort mehr. Das Haus war still. Zu still.
Sie war nicht der Typ, der Unangenehmes hinauszögerte. Entschlossen drückte Diana die Klinke herunter. Direkt vor ihr befand sich das altmodische Doppelbett aus dunklem Eichenholz. Lucy und Gustav lagen nebeneinander. Sie auf der Seite, das lange Haar zu einem festen Zopf geflochten, er auf dem Rücken. Die Bettdecke sah zerwühlt aus, und zwei obszön anmutende dunkelrote bis schwarze Flecken befanden sich jeweils etwa in Brusthöhe. Es sah so aus, als wären sie im Schlaf erschossen worden. Das war doch nicht möglich! Nicht hier, in Nordfriesland.
Die blassen, starren Gesichter ihrer toten Nachbarn würde Diana nie vergessen. Denn Gustav und Lucy Fehnsen waren tot. Daran gab es keinen Zweifel.
Sie hielt noch immer das Handy umklammert und hob es nun langsam ans Ohr, als wöge es mindestens fünf Kilo. »Ich bin jetzt im zweiten Schlafzimmer«, sagte sie mit einem Schluchzen. »Hier sind zwei Tote. Es gibt einen Verletzten und zwei Tote auf dem Hof. Wo die Frau ist, die auch noch hier wohnt, weiß ich nicht.«
»Asyl?« Bendix stand barfuß, in Jogginghose und T-Shirt vor seiner Schwester und blickte sie treuherzig an.
Mit einem Schulterzucken ließ Fentje ihn eintreten. »Was treibt dich zu mir? Mein Kaffee oder meine Gesellschaft?«
»Beides natürlich!« Er grinste sie mit seinem unnachahmlichen Charme an und folgte ihr in die Küche.
Fentje Jacobsen bewohnte den Teil des Bauernhauses, der früher Stall und Diele gewesen war. Ihre Großeltern lebten im ursprünglichen Wohnbereich. Zwischenzeitlich war auch Fentjes sechzehnjährige Nichte Sofia in Fentjes Wohnung mit eingezogen. Ihr Bruder, Sofias Vater, der zu ihrem Leidwesen nur am Wochenende nach Hause kam, bewohnte noch sein altes Zimmer im Wohnbereich ihrer Großeltern, Gretje und Hinrich Jacobsen.
Sofias Mutter lebte im Ausland. Fentje wusste nicht einmal, wo genau sie sich gerade aufhielt. Sie kümmerte sich herzlich wenig um ihre Tochter. So war Fentje beinahe so etwas wie eine Ersatzmutter für Sofia. Sie tat, was sie konnte, und sie tat es gern, doch die Situation war für keinen der Beteiligten leicht. Auch nicht für ihren Bruder.
Fentje konnte sich bildhaft vorstellen, was Bendix am Sonntagvormittag hergetrieben hatte. »Gretje arbeitet wohl gerade die Hochzeit noch mal auf?«
Bendix ließ sich auf die Bank fallen. »Bitte, ich brauche einen richtigen Kaffee! Und du hast es erfasst. Sie redet aber nicht nur über die gestrige Hochzeit. Nein, die Familiengeschichten und Fehltritte sämtlicher Gäste sind ein Thema …«
»Es war aber auch eine tolle Feier«, sagte Fentje, während sie Kaffeebohnen in den Vollautomaten nachfüllte.
»Es war anstrengend! Ich habe noch nie so viel tanzen müssen wie gestern. Mit allen Frauen – eingeschlossen dir.«
»Na, besten Dank für diese Wohltat. Du hast doch die meiste Zeit an dem Tisch nahe der Bar gesessen und mit Hauke und den Martensen-Brüdern um die Wette getrunken.«
»Das war erst später.« Er rieb sich den Kopf. »Gretje hat übrigens mit Argusaugen überwacht, mit wem du wie oft getanzt hast, Schwesterlein. Gerade hat sie mal wieder den armen Hauke im Visier.«
»Wieso ist es der ›arme‹ Hauke?«
»Na, weil er dich seit Jahren anhimmelt, du ihn jedoch nie erhören wirst.«
»Er ist nur mein Nachbar und ein guter Kumpel.«
»Das sehen ein paar Leute hier auf Eiderstedt aber anders.« Er bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick.
Fentje reichte ihm den Becher mit Milchkaffee.
»Ich habe übrigens bewundert, wie geschickt du dem Brautstrauß ausgewichen bist, indem du spontan ein bisschen Unkraut gezupft hast«, sagte er. »Ansonsten hätte der Strauß dich direkt an der Brust getroffen.«
»Ich weiß.« Fentje ließ sich ihm gegenüber am Küchentisch nieder. »Gretje war so enttäuscht darüber, dass ich ihn nicht aufgefangen habe, sondern Hennings Cousine aus Dithmarschen. Sie hat es mir immer wieder vorgehalten. Ich weiß ehrlich gesagt bald nicht mehr, was ich machen soll.«
Bendix grinste. »Heiraten. Mit Ende zwanzig wird es ohnehin Zeit.«
»Mir ist seit Ewigkeiten kein interessanter Mann mehr über den Weg gelaufen. Außerdem brauche ich all meine Energie, um meine Kanzlei aufzubauen.«
Bendix blickte demonstrativ aus dem Fenster. Vor ihnen dehnte sich zwischen ein paar alten, windschiefen Bäumen das flache grüne Marschland bis zum Horizont. Dunkelbraune und hellbeige Tupfer zeigten an, wo Schafe grasten oder lagen. Die Straße oder der nächste Hof waren von hier aus nicht auszumachen. »Wo erwartest du, so einen Mann zu treffen, Fentje?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich treffe schon Leute.«
»Aber du triffst mehr Schafe, oder?«
»Ich mag unsere Schafe«, betonte sie.
»Langsam kann ich Gretjes Sorgen nachvollziehen«, spottete er. Oder schwang in seiner Stimme gar ein ernster Unterton mit?
»Was hast du heute vor?«, fragte Fentje, um wieder auf neutrales Terrain zu gelangen.
»Ich werde mit Sofia einen Strandspaziergang in St. Peter machen, wenn sie noch mag, mit ihrem Lenkdrachen, und dann dort irgendwo was essen gehen.«
»Klingt gut.«
»Willst du mitkommen?«
»Was? Nein! Das ist ein Vater-Tochter-Event. Da bin ich fehl am Platz.« Fentje strich sich eine verirrte braune Locke aus dem Gesicht. Der Gedanke an St. Peter-Ording hatte seit einiger Zeit den beunruhigenden Beigeschmack von etwas Ungeklärtem, dem sie nicht auf den Grund gehen wollte. »Ich muss noch ein paar Mandanten schreiben. Außerdem habe ich Opa versprochen, mit ihm die Melkmaschine zu reparieren«, sagte sie fest.
»Das Leben besteht nicht nur aus Arbeit, Fentje.«
»Willst du Kaffee bei mir trinken oder Lebensweisheiten verbreiten, Bendix?«
»Schon gut. Mach doch, was du willst.«
»Sowieso.« Aber der sonnige Sonntagmorgen war gerade ein bisschen trüber geworden.
»Wer kommt denn da?« Ein dunkelblauer, schlammbespritzter Kombi war schwungvoll auf den Hof gefahren und hielt vor der Brücke zu dem Graben, der den Jacobsen-Hof umgab.
Fentje reckte den Hals, um ebenfalls aus dem Fenster zu sehen. »Das ist doch Hauke. Und ich dachte, der läge noch in Sauer. Was treibt den denn so früh hierher?«
»Na, die Sehnsucht nach dir«, neckte Bendix sie.
Hauke kam eilig den Weg herauf zu Fentjes Eingangstür gelaufen. Er war blass und hatte den Blick starr geradeaus gerichtet.
Fentje stand auf, um ihn einzulassen. »Moin! Ist was passiert, Hauke?«
»Kann man so sagen.«
»Komm rein. Bendix und ich trinken gerade Kaffee.«
»Danke.« Hauke zog seine Clogs neben der Fußmatte aus und tappte auf bunten Wollsocken hinter Fentje in die Küche.
»Möchtest du auch einen Kaffee?«
»Nein, danke. Ich kann nicht lange bleiben.«
»Setz dich doch erst mal.« Fentje zog ihm einen Stuhl unter dem Tisch hervor und schenkte ihm ungefragt ein Glas Wasser ein. Ihr sonst so gelassener, beinahe stoischer Nachbar sah so aus, als hätte er es nötig.
Hauke setzte sich. »Die Fehnsens sind tot!«, platzte er heraus.
»Was? Das kann doch nicht wahr sein!«
»Meinst du die, bei denen wir gestern die Hochzeit gefeiert haben?«, vergewisserte sich Bendix.
»Lucy und Gustav sind beide tot. Und Henning geht es schlecht. Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht.«
»Hat es etwa gebrannt?« Doch Fentje hätte wohl mitbekommen, wenn ein Feuerwehrzug am Land der Jacobsens vorbei zum Fehnsen-Hof gefahren wäre. Er lag ja nur wenige Kilometer von ihnen entfernt.
»Jemand hat sie anscheinend im Schlaf erschossen!« Hauke starrte sie bei diesen Worten hilflos an. »Meine Ma hat’s von ihrem Cousin gehört. Der kennt einen der Rettungswagenfahrer, die vor Ort waren. Doch sie kamen wohl zu spät. Nur Henning lebt noch. Aber er ist verletzt. Sie wissen noch nicht einmal, ob er durchkommt.«
»Das ist entsetzlich«, murmelte Fentje. »Und das in Hennings und Annas Hochzeitsnacht!«
»Was ist mit der Braut, der Ehefrau, meine ich?«, wollte Bendix wissen.
»Anna? Tja ……«
»Wenn sie noch lebt, steht sie bestimmt unter Schock«, vermutete Fentje. »Kümmert sich jemand um sie?« Nicht, dass sie Hennings Frau besonders nahestand, doch jemand sollte Anna beistehen. Auf der Hochzeitsfeier waren nur ihre Freundin Iveta und ein paar Bekannte von ihr anwesend gewesen. Enge Familienangehörige besaß Anna anscheinend nicht.
»Das ist es ja«, gab Hauke kopfschüttelnd zurück.
»Was ist mit Anna?«, fragte Bendix drängend.
Fentje erinnerte sich, dass ihr Bruder ein paar Tänze mehr als üblich mit der Braut getanzt hatte. Sie war aber auch eine wunderschöne Frau. In ihrem Hochzeitskleid hatte sie geradezu fantastisch ausgesehen.
Hauke blickte ihn düster an. »Sie konnten Anna nicht finden.«
»Was? Ist sie verschwunden? Wurde sie etwa entführt?«
»Nein. Wurde sie nicht. Sie hatte sich in der Scheune versteckt.«
Niklas John hätte sich sein weißes Hemd am liebsten vom Körper gerissen. Der feine Baumwollstoff scheuerte auf seiner malträtierten Haut, als wäre er aus Brennnesseln gewebt. Doch das Hemd auszuziehen und den verbrannten Astralkörper zur Schau zu stellen war in den Redaktionsräumen von Der Tag natürlich keine Option. Da musste er jetzt durch.
Er war am vergangenen Abend später als geplant auf Sylt losgefahren und erst gegen dreiundzwanzig Uhr in Hamburg angekommen. Statt nach Hause nach St. Peter-Ording zu fahren, hatte er lieber in Hamburg übernachtet, um gleich am nächsten Morgen in die Redaktion gehen zu können. Auf der Nordseeinsel hatte er einen Politiker aus Berlin aufgespürt und interviewt, der sich dort wegen seines korrupten Verhaltens vor der Welt und insbesondere vor Reportern versteckt hielt. Nicht, dass die »Insel der Reichen und Schönen« ein besonders geistreiches Versteck wäre. Geistreich war das Verhalten des Mannes, Korruption in solch offensichtlichem und unverschämtem Ausmaß, im Übrigen auch nicht. Das Interview hatte Niklas am gestrigen Abend nach etlichen Schwierigkeiten gerade noch rechtzeitig abgesendet. Deshalb wunderte er sich, dass der Chefredakteur ihn nun in sein Büro zitierte.
Der Lokalchefredakteur, Norbert Schneider, hatte auf Niklas’ Frage, was das zu bedeuten habe, nur vage mit den Schultern gezuckt und war förmlich in seinen Computerbildschirm hineingekrochen.
Niklas straffte die Schultern und bereute es im selben Moment. Autsch. Wolfgang Beckmann sollte keinen Aufstand machen, sondern ihm einfach sagen, was er zu sagen hatte. Niklas war seit einiger Zeit freier Mitarbeiter der Zeitung, denn er war nicht mehr bereit gewesen, sich dem allgemeinen Speichellecken und der ängstlichen Dienstbeflissenheit dem Chefredakteur gegenüber anzuschließen. In den Redaktionsräumen von Der Tag gab es seit geraumer Zeit nur noch »Freunde« und vor allem »Freundinnen« von Beckmann. Er scharte seine Jünger um sich. Die tapferen Kollegen, die nicht um diese Art von »Freundschaft« buhlten, saßen mittlerweile auf wackligen Stühlen.
»Ist Roland schon da drinnen?«, fragte Niklas einen Kollegen, der im Großraumbüro in der Nähe des Glaskastens seinen Arbeitsplatz hatte, in dem Chefredakteur Beckmann residierte. Niklas war mit dem Fotografen Roland Kopp, der ihn nach Sylt begleitet hatte, in Beckmanns Büro verabredet.
»›Der rasende Roland‹? Ich denke schon.« Der Kollege deutete mit dem Kopf in Richtung des Chefbüros. »Ich weiß aber nicht, wer da drinnen gerade wem den Kopf abreißt.«
Roland Kopp war für sein Temperament berüchtigt. Niklas unterdrückte ein Grinsen und öffnete die Tür.
Der Fotograf mit der kräftigen Gestalt und dem zum Bürstenschnitt geschorenen grauen Haar stand breitbeinig mit dem Rücken zu ihm. Er trug ein buntes kurzärmeliges Hemd, das seinen unverschämt braunen Nacken und die ebenso gebräunten Arme betonte. Anders als er selbst musste Roland eine Haut wie Teflon haben. Das war Niklas tags zuvor zum Verhängnis geworden.
»Da sind Sie ja auch schon, John!«, begrüßte der Chefredakteur ihn. »Herr Kopp hat mir gerade von Ihrem Ausflug auf die Insel berichtet. Ihr Text ist ja ganz brauchbar, aber die Foto-Lage ist echt bescheiden.« Beckmann starrte Roland Kopp ärgerlich an.
Niklas stellte sich neben den Fotografen. »Nachdem er uns entdeckt hatte, hat der Herr Politiker sich den ganzen Tag am FKK-Strand inmitten einiger unbekleideter Strandschönheiten aufgehalten, die wiederum von ihren Bodyguards begleitet wurden. Dort die Kamera zu zücken hätte Herrn Kopp in Lebensgefahr gebracht.«
»Warum haben Sie dem Politiker nicht später in seinem Hotel aufgelauert?«
»Er wohnt im Ferienhaus seines Bruders. Da kommt man nicht an ihn heran.« Dies herauszufinden hatte Niklas einige Mühen gekostet.
»Das eine Bild in der Strandbar ist doch brauchbar«, verteidigte sich Roland. »Da habe ich den voll erwischt.«
»Auf dem Foto hat der Kerl aber ein Champagnerglas vor der hässlichen Visage.«
»Das war der einzige Moment, wo ich freies Schussfeld hatte.«
»Und es passt ja auch«, kommentierte Niklas.
»Sie können gehen, Kopp!« Der Chefredakteur winkte den Fotografen hinaus. »Und Sie setzen sich endlich, John! So, wie ich zu Ihnen hochschauen muss, bekomme ich ja Nackenstarre.«
»Ich bleibe heute lieber stehen.«
»Wieso das denn?«
»Ein ganzer Tag in praller Sonne am Strand«, sagte er nur.
»Hä?«
»Ohne Lichtschutzfaktor.«
»Ja, und? Sie wohnen doch in St. Peter-Ording.«
»Aber normalerweise turne ich nicht am FKK-Strand herum. Bringt ihr die Korruptionsgeschichte nun oder nicht?«, fragte Niklas, um seinen Boss von der Vorstellung abzulenken, was am Strand passiert war.
»Klar. Bei den Spesen!« Der Chefredakteur bleckte die Zähne. Dann senkte er die Stimme. »Aber wir haben ein altes Foto aus Berlin von dem Kerl genommen. Haben Kopp und Sie den echt nicht in einem besseren Moment vor die Linse bekommen?«
»Nein, das war nicht möglich.«
»Wo haben Sie den Mann denn dann interviewt?«
»Später, in einer Strandbar, als sein Gefolge weg war.«
»Und da stand er Ihnen auf einmal dann einfach so Rede und Antwort?«, fragte der Chefredakteur.
»Er hat mich zu spät wiedererkannt, um noch wegzulaufen.«
»Was?«
»Tut nichts zur Sache. Das Interview sagt doch alles.« Niklas verschwieg, wie der Politiker und er sich gegenübergestanden hatten, diesmal mit Badehosen bekleidet.
»Ach, Sie sind es. Sie waren doch schon mit dem Fotografen am Strand«, hatte der Politiker bemerkt und ihn gemustert. »So voll bekleidet habe ich Sie gar nicht erkannt«, hatte er grinsend hinzugefügt und sich dann tatsächlich dazu herabgelassen, ihm ein kurzes Interview zu geben. Wenn er später lesen würde, was er da in Sekt- und Sommerlaune von sich gegeben hatte, würde ihm das Grinsen allerdings vergehen.
»Ist sonst noch was?«, erkundigte sich Niklas.
»Sie haben in Ihrer Heimat Nordfriesland echt was verpasst, John. Schneider musste Lafrentz hinschicken, weil Sie sich unter den Nackedeis geaalt haben. Noch nicht davon gelesen?«
»Sprechen wir von dem Doppelmord auf dem Bauernhof auf Eiderstedt?« Niklas hatte den Artikel des Kollegen bisher nur überfliegen können. Er war erleichtert gewesen, dass der Hof niemandem gehörte, den er kannte.
»Genau. Wollen Sie nicht die Nachdrehe schreiben?«
»Das überlasse ich Lafrentz. Das ist seine Geschichte.« Einem Kollegen ins Handwerk zu pfuschen, danach stand Niklas nicht der Sinn.
»Hm. Wie Sie meinen.« Der Chefredakteur sah ihn lauernd an.
»Sonst noch was?« Niklas wollte hier raus, am besten irgendwo unter eine kalte Dusche.
»War ein toller Trip nach Sylt mit dir, John!« Der Fotograf wartete vor der Tür auf ihn. Er hob schwungvoll den Arm. Niklas trat zur Seite, sodass der freundschaftliche Schlag auf seinen verbrannten Rücken gerade so eben noch ins Leere ging. »Wollen wir darauf einen trinken gehen?«, fragte Roland.
Niklas sah auf die Uhr. »Geht leider nicht. Ich hab es eilig. Ein andermal wieder.«
Blitzschnell knuffte der Fotograf Niklas mit der Faust auf den Oberarm. »Geht klar.«
Niklas verzog das Gesicht, beherrschte sich aber, einen Schmerzenslaut von sich zu geben. Er wollte dringend zurück an die Nordsee. Der Sylt-Trip hatte ihm einiges an Organisation abverlangt. Seit einer Weile lebte er mit einem Kater, den seine Ex-Freundin ihm hinterlassen hatte. Das Tier hatte während seiner Abwesenheit gut versorgt und mit Streicheleinheiten bedacht werden müssen. Eine Nachbarin hatte sich dazu bereit erklärt, das zu übernehmen. Aber sie bewohnte in dem Apartmenthaus, in dem er lebte, nur eine Ferienwohnung und reiste heute nach München zurück. Es war Zeit, dass er sich wieder selbst um alles kümmerte.
Auf der Fahrt wanderten Niklas’ Gedanken beim Anblick der flachen Marschlandschaft mit den vereinzelt liegenden Höfen wieder zu dem Artikel seines Kollegen. Ein Ehepaar war am Sonntagmorgen erschossen im Bett auf ihrem Hof aufgefunden worden. Der erwachsene Sohn, der am Tag zuvor geheiratet hatte, war ebenfalls angeschossen worden und hatte bewusstlos im Flur vor dem Schlafzimmer seiner Eltern gelegen. Soweit Niklas es verstanden hatte, war es der jungen Ehefrau gelungen, vor dem Angriff zu fliehen. Als sie Schüsse gehört hatte, war sie aus dem Fenster geklettert und hatte sich außerhalb des Wohnhauses auf dem Gelände versteckt. Die Frau hatte sich angeblich erst wieder herausgetraut, als die Polizei vor Ort erschienen war. Es war eine haarsträubende Geschichte, die zu allen möglichen Spekulationen anregte.
Die betroffenen Menschen und ihre Angehörigen taten ihm leid. Und doch war er, als er den Artikel seines Kollegen gelesen und festgestellt hatte, wo der Hof lag, erleichtert gewesen, dass es sich nicht um den Jacobsen-Hof handelte.
Während der Recherchen zu einem anderen Kriminalfall hatte Niklas Fentje Jacobsen kennengelernt. Sie war eine junge Rechtsanwältin, die ebenfalls auf einem Hof auf der Halbinsel Eiderstedt wohnte. Dem Foto nach zu urteilen, bestand eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Gebäuden. Er war froh, dass Fentje und ihre Familie nicht in den Fall involviert waren. Obwohl er Fentje seit Monaten nicht gesehen hatte, musste er doch ab und zu an sie denken. Was unsinnig war. Diese Frau war gar nicht sein Typ. Er fand sie faszinierend und ihre Lebensweise überaus spannend, doch für eine kurze Affäre war sie bestimmt nicht die Richtige. Und zu mehr war er, nach seinen letzten Erfahrungen mit seiner Ex-Freundin, Patricia van Meeren, noch nicht wieder bereit. Würde er das je sein? Zum Teufel mit den Frauen … Er freute sich auf Blofeld, seinen Kater.
»Frau Fehnsen, Sie haben Besuch!«
Anna richtete sich im Krankenhausbett auf und strich sich eine Haarsträhne, die noch immer fest und klebrig von Haarspray war, aus dem verquollenen Gesicht. Trotz ihrer Verzweiflung und Trauer fühlte sie sich wie betäubt. Doch sie war nicht krank. Ihre Anwesenheit hier beschämte sie zusätzlich. Sie sollte gar nicht mehr im Krankenhaus sein. Sie musste ihr Bett für Menschen räumen, die ärztliche Hilfe benötigten. Ihr konnte hier sowieso keiner helfen.
Die Krankenschwester zog sich mit einem Nicken zurück.
Jorne und Gina Fehnsen traten ins Zimmer. Anna hatte ihre Freundin Iveta erwartet, nicht ihren Schwager und ihre Schwägerin. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Hennings Bruder Jorne Fehnsen und seine Frau Gina hatte sie erst kurz vor der Hochzeit einen einzigen Nachmittag lang kennengelernt. Henning und sie hatten mit ihnen in der beklemmenden Atmosphäre einer Neubauwohnung in der Hamburger HafenCity mit Blick auf die Elbe gesessen und stundenlang gewartet, bis der Kaffeeautomat einen einzigen Latte Macchiato ausgespuckt hatte. Als sie mit dem Fahrstuhl zurück in die Tiefgarage gefahren waren, hatte Henning gesagt: »Das wäre geschafft!«, und sie lange und innig geküsst.
Gina, eine zierliche Frau mit hellblonden Haaren, trat zu ihr ans Bett. »Wie geht es dir heute, Anna?«, fragte sie in dem falsch mitfühlenden Ton, den Menschen anschlugen, wenn sie verunsichert waren. Sie deutete auf die Beule an Annas Kopf. »Tut es sehr weh?«
»Es geht. Sie haben mir ein Schmerzmittel gegeben. Aber ich kann immer noch nicht fassen, was passiert ist …«
»Das ist doch verständlich. Du stehst unter Schock.« Gina setzte sich graziös auf einen Stuhl, der neben dem Bett stand, und nahm ihre steife Designer-Handtasche wie ein Kleinkind auf den Schoß.
Jorne blieb stehen. Er hob eine dunkelblaue Sporttasche hoch. »Wir haben dir ein paar Sachen zum Anziehen mitgebracht. Das ist dir doch recht?«
»Natürlich. Danke!« Nichts könnte ihr gerade weniger wichtig sein.
»Ich räume das mal in den Schrank.« Er wandte sich um.
»Können wir sonst noch irgendwas für dich tun?«, fragte Gina.
»Wie geht es Henning?«, wollte Anna wissen.
»Sie …« Gina sah Hilfe suchend zu ihrem Mann, der ihr den Rücken zugewandt hatte und Annas Sachen in den Spind legte. »Er hat viel Blut verloren und ist noch sehr schwach. Aber er wird wohl durchkommen. Jorne hat gerade mit dem Oberarzt auf der Intensivstation gesprochen. Henning soll heute noch auf die normale Station verlegt werden.«
»Henning wird doch wieder ganz gesund?«, fragte Anna flehend.
Jorne fuhr herum. »Das kann uns niemand sagen. Du hast enorm viel Glück gehabt. Aber mein Bruder ist schwer verletzt, und unsere Eltern sind beide tot. Erschossen in ihrem eigenen Bett!« Er funkelte sie an.
»Das tut mir sehr leid. Ich weiß nicht, was passiert ist. Es ging alles so schnell.«
»Die Polizei wird bestimmt noch mal mit dir reden wollen«, sagte Gina und strich Anna über den Handrücken.
»Noch einmal?«
»Die haben den ganzen Hof abgesperrt. Sichern immer noch Spuren und so.«
»Weißt du, wo du jetzt hinkannst?«, fragte Jorne kühl. »Auf unseren Hof jedenfalls nicht.«
Er ist jetzt mein Zuhause, dachte Anna trotzig. Henning hat es so gewollt. Wir sind verheiratet. »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht«, wich sie aus. Dann schaute sie demonstrativ aus dem Fenster. Sie ertrug Jornes anklagenden Blick keinen Moment länger.
»Spätestens morgen entlassen sie dich«, kündigte Gina an.
»Ich bin ja auch nicht krank«, antwortete Anna gleichgültig.
»Vielleicht kann deine Freundin dich eine Weile aufnehmen, bis alles geklärt ist? Diese …«
»Iveta? Sie wollte sowieso nachher noch im Krankenhaus vorbeikommen.«
»Dann hätten wir das ja geklärt.« Jorne lehnte sich gegen die Fensterbank, sodass er im Gegenlicht stand.
»Wie schön, dass du eine so gute Freundin hast«, sagte Gina.
»Ich verstehe immer noch nicht so ganz, wie du als Einzige dort rausgekommen bist.« Jorne sah sie mit schief gelegtem Kopf an. »Erklär es mir bitte!«
Anna blinzelte. »Ich bin aufgewacht, als Henning das Zimmer verlassen hat. Er hat mir an der Tür noch ein Zeichen gemacht, im Bett zu bleiben und leise zu sein. Als er draußen war, hörte ich die Schüsse. Ich bekam Panik und bin zum Fenster gelaufen und rausgesprungen.«
»Raus…gesprungen?«, echote Gina.
»Unter dem Schlafzimmerfenster ist doch dieses Vordach. Darauf bin ich gelandet. Von dort habe ich mich am Regenrohr runtergelassen. Es war alles so furchtbar, ich wusste nicht, wohin …«
»Du hättest die Polizei rufen können.« Jorne klang aufgebracht.
»Mein Handy befand sich noch oben im Schlafzimmer auf dem Nachttisch. Und der Hof liegt so einsam! Es war unheimlich … Ich hatte furchtbare Angst.«
»Hast du irgendwelche Leute gesehen? Oder Autos?«
»Nein.«
»Das kann doch nicht wahr sein!«
»Ich bin einfach, ohne mich umzuschauen, zur Scheune hinübergelaufen. Dort habe ich mich versteckt. Das habe ich aber auch alles schon der Polizei so gesagt.«
»Versteckt – bis zum Morgen?« Jornes Stimme triefte nur so vor Unglauben. »Und du hast also niemanden gesehen? Und es kam dir nicht in den Sinn, nach Henning zu schauen? Oder unseren Eltern?«
Anna schossen Tränen in die Augen. »Ich habe mir in der düsteren Scheune irgendwo den Kopf angestoßen. Ich muss bewusstlos geworden sein. Jedenfalls erinnere ich mich nicht mehr …«
»Das ist schwer zu glauben, Anna. Einfach schwer zu glauben.« Er starrte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht an. Dann wandte er den Blick ruckartig von ihr ab, als könnte er ihren Anblick keinen Moment länger ertragen.
Anna wischte sich übers Gesicht. Sie wusste, wie das alles klang. Und sie machte sich selbst die schlimmsten Vorwürfe.
»Jorne, Anna hat eine leichte Gehirnerschütterung erlitten, sagt der Arzt.« Gina versuchte wohl, die Situation zu entschärfen. »Du kannst ihr nicht die Schuld an alldem geben.«
Jorne gab ein schnaubendes Geräusch von sich.
»Ich bin müde. Ich möchte, dass ihr jetzt geht.« Anna schloss demonstrativ die Augen. Sie konnte die Anwesenheit von Hennings Bruder, der ihm zwar äußerlich ähnlich war, charakterlich jedoch überhaupt nicht, nicht länger ertragen.
»Natürlich. Du bist erschöpft, Anna. Du hast Schlimmes durchgemacht.« Gina erhob sich bereitwillig.
»Danke für deinen Besuch, Gina«, sagte Anna. Sie ließ die Augen geschlossen, bis sich die Tür hinter ihren Besuchern schloss.
In seiner Wohnung angekommen, riss Niklas sich als Erstes das Hemd vom Körper. »Schau nicht so entsetzt, Blofeld. Mein Nacken brennt wie Feuer. Du hast Fell, du kennst bestimmt keinen Sonnenbrand …«
Der Kater neigte den Kopf und sah ihn aus blauen Augen sinnierend an.
Niklas ging ins Bad und verdrehte den Hals, um die Ursache seines Elends im Spiegel zu betrachten. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf tiefrote Haut, die sich bald in großen Placken schälen würde. Auf den Anblick hin holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank, um sich wenigstens von innen zu kühlen.
Wie hatte er sich nur dazu hinreißen lassen können, ohne Sonnenschutz einen Tag am FKK-Strand zu verbringen? Das Interview war zwar nicht schlecht geworden, doch auf die Verbrennungen hätte er gern verzichtet. Er war davon ausgegangen, dass das, was der Fotograf an Sonne vertrug, auch ihm nicht schaden würde. Dabei hatte er nicht mit Roland Kopps Feuerbeständigkeit gerechnet.
Sein Handy auf dem Küchentresen klingelte. »John.«
»MacGraw hier«, ertönte ein grollender Bass. »Sind Sie der Reporter?«
»Worum geht’s?«
»Um den zweifachen Mord auf Eiderstedt. Worum sonst?«
»Darüber berichtet ein Kollege von mir.«
»Ich will aber Sie!«
»Wer sind Sie? Und warum mich? Ich kann Ihnen sofort die Kontaktdaten des zuständigen Kollegen in der Redaktion durchgeben.«
»Ich spreche nur mit Ihnen. Sie wohnen doch hier, oder? Man hat Sie mir empfohlen. Können wir uns treffen?«
Niklas versuchte, sich die kühle Bierflasche in den Nacken zu legen. Als er in die Nähe der betroffenen Hautregionen kam, hatte er den Eindruck, dass es zischte. »Wer sind Sie?«, fragte er erneut.
»Ich bin dabei gewesen – bei der Hochzeit. Und ich habe Fotos!«
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu den Opfern?«
»Zu den Fehnsens? Meine Frau kennt die Familie … Ziemlich gut sogar. Ich weiß, was da passiert ist!«
Niklas kniff die Augen zusammen. War es möglich, dass der Mann tatsächlich etwas wusste? »Warum wenden Sie sich damit nicht an die Polizei?«
»Da war ich schon. Die ist nicht interessiert.«
Niklas merkte auf. Der Anrufer hatte ihm soeben einen winzigen Haken ins Fleisch getrieben. Die verlockende Chance, etwas wirklich Wichtiges in Erfahrung zu bringen, was die Polizei übersehen hatte. Und er musste sowieso noch etwas essen. Nach ein paar Tagen auf Sylt war sein Kühlschrank bis auf ein paar Grillsoßen leer. Er seufzte. Die Ankunft zu Hause hatte er sich anders vorgestellt. »Können Sie in einer Stunde im Restaurant Strandgarten in St. Peter-Ording sein?«
»Frau Jacobsen? Fentje Jacobsen. Ihr Name kam mir doch gleich so bekannt vor«, bemerkte Kriminalhauptkommissar Thorsten Reimers, der Fentje gegenüber in ihrem Büro Platz genommen hatte. »Sie sind doch die Anwältin.« Sein Gesichtsausdruck legte nahe, wie wenig er davon hielt.
»Wir haben bei den Mordermittlungen im Fall ›Sabrina Dierks‹ miteinander zu tun gehabt«, antwortete Fentje. Ihre Erinnerungen an die Vernehmungen ihres Mandanten Tobias Asmus, der des Mordes an seiner Freundin verdächtigt worden war, waren nicht die besten. Immerhin war es ihr gelungen, Asmus’ Unschuld zu beweisen, weil ein anderer des Mordes überführt worden war. Und das war nicht zuletzt dem Journalisten John und ihr zu verdanken gewesen. Niklas John. Ob er über den Mord an den Fehnsens berichtete?
»Ein spektakulärer Fall war das«, sagte der Kommissar. »Nun ja, und jetzt sind Sie schon wieder in einen Mordfall verwickelt, Frau Jacobsen.«
»Ich bin in nichts verwickelt.«
»Sie waren doch auf der Hochzeit von Henning und Anna Fehnsen. Sie stehen jedenfalls im Gästebuch und auf der Gästeliste.«
»Ja, ich war dort. Zusammen mit einhundertzwanzig weiteren Gästen. Die gesamte Nachbarschaft war eingeladen.«
Er verzog das Gesicht. »Das stimmt. Wir arbeiten daran.«
»Gibt es Neuigkeiten über Henning Fehnsen? Wie geht es ihm?«
»Darüber darf ich keine Auskunft geben.«
»Redet die Polizei mit jedem Gast?«
»Werden wir wohl, ja. Aber nun zu Ihnen: In welchem Verhältnis stehen oder standen Sie zu dem Brautpaar?«
»Die Fehnsens sind im weitesten Sinne Nachbarn von uns. Ich kenne Henning von Kindheit an. Wir waren schon im selben Kindergarten. Seine Eltern, Lucy und Gustav, kenne oder kannte ich natürlich auch.«
»Und Henning Fehnsens Frau, Anna Fehnsen?«
»Nicht so gut. Ich habe sie erst zwei- oder dreimal gesehen. Einmal haben wir uns zufällig in Husum getroffen, da hat Henning sie mir als seine Verlobte vorgestellt. Und dann habe ich sie erst wieder auf dem Polterabend und anschließend auf der Hochzeit gesehen. Ich finde sie sympathisch. Die beiden scheinen gut zueinanderzupassen.«
»Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Henning Fehnsen beschreiben?«, fragte Reimers.
»Nicht besonders eng. Wir hatten nach unserer Schulzeit wenig Berührungspunkte.«
Er starrte sie kurz an, machte sich eine Notiz. »Ist Ihnen am Polterabend oder während der Hochzeitsfeier irgendetwas aufgefallen, was mit dem Mordanschlag in Zusammenhang stehen könnte? Gab es Streit, Drohungen? Hat sich eines der Opfer dahingehend geäußert, dass es sich vor jemandem fürchtet?«
»Mir ist nichts dergleichen aufgefallen oder auch nur zu Ohren gekommen.«
»Hatten die Fehnsens Feinde?«
»Darüber weiß ich nichts.«
»Und Anna Fehnsen? Sie ist eine geborene Strode und kommt aus Lettland.«
»Auch darüber, ob Anna Fehnsen Feinde hatte, ist mir nichts bekannt.«
»Gab es Gerede darüber?«
»Also bitte. Ich sagte doch schon, dass ich nichts dergleichen gehört habe.« Fentje verschränkte die Arme vor der Brust. Die Art und Weise, wie Reimers die Befragung durchführte, missfiel ihr.
»Ich war auch schon bei Ihren Großeltern.« Der Kommissar sah sie intensiv an. »Wir müssen ja mit jedem sprechen.«
»Was haben sie denn gesagt?«, fragte Fentje mit einem leicht mulmigen Gefühl. Ihre Großeltern hörten wesentlich mehr Nachbarschaftsklatsch als sie und gaben das eine oder andere Detail auch gerne weiter.
»Warum wollen Sie das wissen?«, hakte Thorsten Reimers nach.
»Weil Sie es gerade so betont haben. Es hörte sich so an, als hätten meine Großeltern Ihnen etwas erzählt, dem Sie nachgehen wollen.«
»Darüber kann ich auch nichts sagen.«
Fentje nickte. »Also gut. Sonst noch etwas?«
»Wo finden wir Ihren Bruder und Ihre Nichte?«
Fentje blickte auf die Uhr. »Sofia hat nach der Schule noch Volleyballtraining. Mein Bruder Bendix ist sonst wohin unterwegs. Die kommen beide erst heute Abend wieder.«
Er seufzte. »Richten Sie ihnen bitte aus, sie mögen sich umgehend bei uns melden.« Er legte seine Karte auf den Tisch.
»Die Gäste einer Landhochzeit zu befragen ist sicher eine mühsame Angelegenheit«, bemerkte Fentje mit einem Anflug von Mitgefühl. »Ein Drittel der Leute hat wahrscheinlich nicht mal mehr klare Erinnerungen an den Abend. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von den Gästen etwas mit den Morden zu tun hat. Ich meine, hier kennt man einander doch. Warum sollte jemand so etwas Schreckliches tun?«
»Das genau ist die Frage.«
»Mit was für einer Waffe ist denn geschossen worden?«, Fentje wurde erst jetzt so richtig klar, dass das Böse in diesem Fall nicht unbedingt von außen kommen musste. Bisher war sie davon ausgegangen, dass es Einbrecher gewesen waren und der Einbruch aus irgendeinem Grund eskaliert war. Doch soweit sie gehört hatte, waren Lucy und Gustav ja im Bett erschossen worden. Wie passte das zusammen?
Der Kommissar zögerte. Dann erwiderte er: »Darüber darf ich Ihnen eigentlich auch nichts sagen. Nur so viel: Es war ein Jagdgewehr. Eine Büchse. Noch dazu ein von Jägern häufig verwendetes Kaliber.«
»Oh, Mist«, entfuhr es ihr. Viele der Gäste waren Jäger. Bestimmt befand sich hier auf jedem zweiten Hof ein solches Gewehr im Waffenschrank. Ihr Großvater besaß mehrere Jagdwaffen.
»Sie haben es erfasst, Frau Jacobsen. Einen schönen Tag noch.«
»Iveta, ich brauche deine Hilfe?« Anna umklammerte die Hand ihrer besten Freundin. Sie war wunderbar warm und kräftig, mit Kunstfingernägeln, die sich in ihre Handflächen bohrten. Anna fühlte sich wie betäubt, sodass sie diesen kleinen Schmerz als angenehm empfand. »Hennings Bruder, dieser Jorne, der denkt anscheinend, dass ich etwas mit dem Überfall auf seine Eltern und Henning zu tun habe!«
»Wie bitte? Wie kommt der denn darauf?«, fragte Iveta Mertens entsetzt.
»Ich weiß es nicht. Er war vorhin mit seiner Frau Gina hier. Und er hat so merkwürdige Fragen gestellt: Warum ich aus dem Fenster geklettert bin. Und warum ich nicht sofort Hilfe geholt habe …«
»Wie will er das nachempfinden können? Er ist nicht nachts in einem Haus gewesen, in dem geschossen wurde.«
»Das Schlimme ist …« Anna zitterte. »Ich kann mir selbst nicht erklären, warum ich so gehandelt habe. Ich war einfach in Panik!«
»Das ist doch nur verständlich. Lass dir von dem kein schlechtes Gewissen einreden, Anna. Hast du schon etwas Neues von Henning gehört?«
»Sie haben mich eben ganz kurz zu ihm gelassen, aber er hat nicht viel gesprochen. Er sieht so schrecklich blass aus, Iveta!«
»Er schafft es bestimmt. Henning wird wieder gesund. Er ist doch jung und kräftig. Hast du mir nicht immer vorgeschwärmt, er sei stark wie ein Löwe?« Sie versuchte, ihre Freundin mit einem Lächeln zu beruhigen.
»Habe ich. Ist er auch. Er schafft es bestimmt. Er muss es schaffen«, wiederholte Anna. Es klang wie ein Mantra. Und dann, nach kurzem Nachdenken: »Die Polizei sagt, ich kann noch nicht wieder zurück auf den Hof, solange sie dort Spuren sichern.«
»Wann sind die denn damit fertig?«
»Ich weiß nicht, ob ich ohne Henning und seine Eltern überhaupt dort wohnen möchte … nach dem, was da Schreckliches passiert ist. Schon die Vorstellung, allein in dem Haus zu sein, macht mir Angst.«
Iveta sah unbehaglich drein. »Aber wo willst du denn sonst hin? Deine eigene Wohnung hast du aufgegeben. Und du willst doch nicht wieder zurück nach Lettland?«
»Nein. Solange noch ermittelt wird, muss ich sowieso in der Nähe bleiben. Kann ich nicht mit zu euch kommen?«
»Auf die Hallig? Denkst du, dass du dort wohnen darfst, solange die Polizei dir Fragen stellen will? Das wäre doch sehr aufwendig, immer mit der Fähre rüber und so. Und wer kümmert sich währenddessen um den Fehnsen-Hof?«
»Da hast du recht. Ich darf gar nicht weg.« Anna sackte in sich zusammen. »Aber ich möchte nicht dorthin zurück. Die Erinnerungen sind zu schrecklich. Noch dazu wäre ich ganz allein. Und ich kann mich doch auch nicht ohne die anderen um die Kühe und so kümmern.«
»Ich habe gehört, dass in so einem Fall ein Betriebshelfer auf dem Hof ist, um vorerst alles am Laufen zu halten.«
»Das ist gut.« Anna nickte ergeben. »Eine Sorge weniger.«
»Bleibt die Frage, wo du unterkommst, meine Liebe …«
»Kann ich das nicht morgen entscheiden?«, murmelte Anna. »Es ist mir gerade alles zu viel.«
»Okay, ruh dich aus«, gab Iveta sanft zur Antwort. »Ich schau mal, was ich tun kann, okay?«
Anna seufzte. »Du bist die Beste.«
»Nicht doch.« Iveta lächelte schwach. »Ich bin die männermordende Gefahr …«
»So etwas solltest du zurzeit nicht allzu laut sagen.«
Iveta Mertens verließ das Krankenhaus mit einem noch schlechteren Gefühl als dem, das sie auf der Fahrt hierher erfüllt hatte. Ihre Freundin Anna tat ihr entsetzlich leid. Sie waren vor mehr als fünfzehn Jahren zusammen aus Lettland nach Deutschland gekommen, über eine Organisation, die Praktikanten für landwirtschaftliche Haushalte vermittelte.
Anna und sie waren ausgerechnet auf der Nordseeinsel Föhr gelandet. Zunächst waren sie enttäuscht gewesen, weil die kleine Insel so weit ab von allem lag, was ihnen als junge Frauen wichtig war. Geschäfte, Sehenswürdigkeiten, Konzerte, Clubs, Gelegenheiten, neue Leute kennenzulernen.
Sie hatten sich zu dem Zeitpunkt nicht vorstellen können, wie gut es ihnen auf Föhr gefallen würde. Anna war auf einem Reiter- und Ferienbauernhof untergekommen, wo sie auch Gästekinder betreut hatte. Da Annas Großeltern selbst zwei Ponys gehabt hatten, konnte sie mit Pferden umgehen und war deshalb für diese Stelle ausgewählt worden.
Iveta hatte keinerlei Vorkenntnisse dieser Art vorweisen können. Sie war zuerst auf einem Hof gewesen, auf dem sie sich überhaupt nicht wohlgefühlt hatte. Ihre Arbeitgeberin hatte sie vom ersten Moment an nicht gemocht, weil sie gedacht hatte, eine junge Frau mit guter Figur, blondiertem Haar und langen Fingernägeln könne nicht richtig arbeiten … Was absolut nicht stimmte, denn Iveta konnte von jeher zupacken. Doch sie hatte das Glück gehabt, danach auf die Hallig Hooge vermittelt zu werden, auf den Hof der Mertens’.
Zuerst hatte es sogar Tränen gegeben, als die Entscheidung für die Hallig gefallen war, denn der Abschied von Anna war ihr schwergefallen. Aber dann hatte Iveta dort ihren heutigen Ehemann Ove kennengelernt. Und obwohl sie sich niemals hätte vorstellen können, einmal auf einer Hallig zu leben, war sie nun mit ihrem Ove und den gemeinsamen Kindern dort mehr als glücklich. Auch ihre Schwiegereltern waren von Anfang an freundlich und hilfsbereit gewesen. Sie hatte das große Los gezogen. Anna hingegen hatte mit ihrem ersten Mann anscheinend keine glückliche Ehe geführt. Trotzdem war ihr die Scheidung von ihm nicht leichtgefallen.
So war Iveta froh gewesen, als ihre Freundin ihr im vergangenen Jahr verkündet hatte, dass sie ihren neuen Freund Henning Fehnsen heiraten würde. Alles hatte sich so wunderbar angehört: Der gut aussehende und nette Henning schien wirklich ein Schatz zu sein, und er brauchte für den Hof mit dem großen Haus, den er übernehmen wollte, eine fähige Ehefrau an seiner Seite. Und da hatte er mit Anna einen Glücksgriff gelandet. Einzig Hennings Eltern hatten gewisse Vorbehalte gegen Anna gehabt. Doch fröhlich und optimistisch, wie sie war, war Anna davon überzeugt gewesen, die Schwiegereltern auch noch für sich gewinnen zu können.
Iveta und Ove waren mit ihrem jüngsten Sohn für die Hochzeitsfeier extra von der Hallig aufs Festland gekommen und hatten den Betrieb für zwei Tage einem Nachbarn anvertraut. Sie wohnten in einem Gasthaus. Doch nun mussten sie dringend zurück. Aber wie könnte sie ihre Freundin Anna allein lassen, ohne einen Ort, an dem sie bleiben konnte?
Iveta stieg in den Mietwagen und knallte die Tür hinter sich zu. Nein, das konnte sie nicht! Anna und sie hatten immer zusammengehalten. Wenn ihre Freundin nicht mit ihnen auf die Hallig kommen durfte, würde sie eine andere Bleibe für sie finden, wo sie gut aufgehoben sein würde.
Nur, welche?
Der Strandgarten war ein von Niklas sehr geschätztes Restaurant unweit seiner Wohnung. Er war oft hier und wurde seit geraumer Zeit wie ein guter alter Bekannter empfangen.
»Hi, Niklas. Schön, dich wiederzusehen? Bist du allein?«
»Hi … Nein, ich erwarte heute noch jemanden«, antwortete er dem Kellner.
»Der Strandkorb hier vorn ist noch frei.«
»Ich möchte lieber einen normalen Tisch weiter hinten unter einem der Sonnenschirme.« Die Vorstellung, mit dem mysteriösen Anrufer eng Seite an Seite in einem Strandkorb zu sitzen, behagte ihm nicht. Er bekam einen Zweiertisch im Außenbereich und bestellte sich ein Bier.
MacGraw tauchte auf, als das frisch Gezapfte gerade serviert worden war. »Herr John?«
Niklas schaute auf und nickte.
»Ich sehe, hier bin ich richtig! Noch mal das Gleiche!«, rief der Mann dem Kellner zu und ließ sich auf den zweiten Stuhl fallen.
MacGraw war mehr Stimme als Köpervolumen. Nach ihrem Telefonat hatte Niklas einen Hünen erwartet. Doch der Anrufer war ein drahtiger, mittelgroßer Mann mit rotgrauem Haar und Bart, hellen Augen und ebensolcher Haut. Er war schätzungsweise Anfang sechzig – älter, als Niklas vermutet hatte.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte Niklas.
»Nicht Sie mir. Ich Ihnen«, erwiderte MacGraw großspurig.
»Das wird sich zeigen. Sie meinten am Telefon, dass Sie mir etwas über die Morde auf dem Fehnsen-Hof zu sagen haben.«
»Das ist ’ne Riesengeschichte.«
»Das wird sich herausstellen. Was wissen Sie denn?«
»Moment!« MacGraw hob eine Hand. »So eine Auskunft ist doch etwas wert, oder?«
Niklas hob die Schultern. »Sie sind zu mir gekommen, nicht ich zu Ihnen. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, oder lassen Sie es bleiben.« Er trank einen großen Schluck Bier.
MacGraw nickte. »Aber wenn Sie schreiben, was ich Ihnen erzähle, dann hätte ich gern eine gewisse … Aufwandsentschädigung dafür.«
»Das kläre ich gegebenenfalls mit dem Chefredakteur.«
MacGraw trommelte unzufrieden mit den Fingern auf dem Tisch herum. Dann blickte er Niklas in die Augen. »Ihr Wort darauf?«
»Klar.«
»Mir bleibt wohl keine andere Wahl.«
»Tja, wenn es nicht mal die Polizei interessiert …«
»Ich bin mit meiner Lebensgefährtin hier. Sie war früher eine Nachbarin der Fehnsens. Ist hier auf Eiderstedt aufgewachsen und so … Karoline Pohlmann. Sagt Ihnen der Name Pohlmann etwas?«
Niklas krauste die Stirn. »Es gab doch mal ›Pohlmann Farben und Lacke‹.«
»Genau!« MacGraw grinste zufrieden. »Das sind die.«
»Aber die Firma existiert schon lange nicht mehr. Sie wurde aufgelöst.«
»Nein. Verkauft. Nach dem Tod des alten Pohlmann, Karolines Vater. Die waren sich alle nicht grün in der Familie. Doch nun lebt Karo ganz gut von dem Erlös. Und es gibt auch noch ihren Sohn. Frederik Pohlmann. Von dem haben Sie vielleicht auch schon gehört?«
»Ich kenne nicht jeden in Nordfriesland.«
»Er wohnt jetzt wieder in Karolines Elternhaus, in direkter Nachbarschaft der Fehnsens.«
»Was wollen Sie mir sagen?«
»Ich war im Haus, als der Bräutigam vor der Hochzeit bei Frederik gewesen ist. Dieser Henning sollte ja das Brautkleid nicht vor der Trauung sehen – alter Brauch und so –, und die Braut war bei denen zu Hause. Also hat der Bräutigam sich bei uns umgezogen. Frederik hat Henning dann zur Kirche gefahren. Als Überraschung hat eine andere Nachbarin das Brautpaar nach der Trauung mit einer Kutsche abgeholt.«
Niklas trank sein Bier aus. »Kommen Sie bitte zur Sache.«
»Ich war schon umgezogen für die Feier, während Karo sich noch zurechtgemacht hat. Ich hatte nichts zu tun und saß im Garten herum. Da kam ein Auto angebraust, und ein älterer Mann stieg aus. Heute weiß ich, dass es der Vater des Bräutigams war: Gustav Fehnsen.« Er bekreuzigte sich tatsächlich. »Der Mann war puterrot im Gesicht und rief nach Henning. Der kam runter, schon geschniegelt und im Anzug, und der Alte überreichte ihm eine Ansteckblume. Sie standen vor der Haustür, deshalb konnte ich jedes Wort hören, das sie sagten.«
MacGraws Bier wurde serviert, und Niklas bestellte sich etwas zu essen. Wer weiß, wie lange das hier dauern würde? Außerdem waren die Burger ausgezeichnet und sein Kühlschrank immer noch leer.
»Und nun kommt’s!« MacGraw hob sein Bierglas. »Der alte Herr sagte: ›Wir sind nicht sehr glücklich darüber, dass du Anna heiratest, deine Mutter und ich. Das weißt du. Und er warf ihm die Ansteckblume quasi vor die Füße.‹ Und Henning antwortete vollkommen ruhig: ›Vati, Anna und ich sind gestern auf dem Standesamt gewesen. Wir sind schon Mann und Frau. Was soll das jetzt noch?‹«
So ähnlich könnte mein Vater sich auch aufführen, dachte Niklas, der sich daran erinnerte, wie respektlos sich Alexander John im vergangenen Sommer Fentje Jacobsen gegenüber benommen hatte.
»Typisch Familie. Finden Sie nicht?«, feixte MacGraw. »Da schlummern die gefährlichsten Emotionen, die dann zu Mord und Totschlag führen. Ein guter Grund, Abstand zu halten.«
»Was passierte dann?«, fragte Niklas, der sich nicht über dieses Thema auslassen wollte. Mit der Tatsache, dass die Schwiegereltern die Braut nicht mochten, war noch kein Blumentopf zu gewinnen. Schließlich waren die Eltern des Bräutigams, nicht die Braut erschossen worden.
»Es kam noch dicker: Der Vater sagte zu seinem Sohn …« MacGraw beugte sich vor und senkte theatralisch die Stimme.
»›Wir denken ja von niemandem etwas Schlechtes. Aber wir beide wissen, dass der Ex-Mann deiner Braut kriminell ist. Deine Mutter und ich fürchten, dass wir eines Tages noch tot in unseren Betten liegen werden. Tot in unseren Betten‹, hat er gesagt. Ich meine … Hä?« MacGraw hob die Augenbrauen.
»Ich habe es verstanden«, antwortete Niklas.
»Henning fehlten wohl die Worte bei diesen Anschuldigungen. Doch der Vater ließ nicht locker. Er fragte noch: ›Henning, warum konntest du nicht ein nettes Mädchen von hier heiraten?‹›Weil ich Anna liebe und kein nettes Mädchen von hier‹, hat der vollkommen ruhig erwidert. Obwohl ich denke, dass der innerlich gekocht haben muss, oder? ›Und dass Anna geschieden ist, macht mir überhaupt nichts aus. Mit ihrem Ex-Mann haben wir nichts zu tun‹, sagte Henning dann.