Alabasterball. Der Fluch der letzten Küsse - Beatrix Gurian - E-Book

Alabasterball. Der Fluch der letzten Küsse E-Book

Beatrix Gurian

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Beschreibung

Sechs Tänzer gehen auf den Ball ihrer Träume. Fünf haben die Chance auf das große Glück. Einer bezahlt dafür mit seinem Leben … Als Amy die Einladung für den sagenumwobenen Alabasterball in den Händen hält, glaubt sie, ihrem Ziel einen Schritt näher zu sein. Sie möchte Ballkönigin werden. Vor allem aber muss sie dort, auf der abgelegenen Insel Kallystoga, ihre Schwester finden, die vor einem Jahr an der märchenhaften Ballnacht teilnahm - und nie wieder zurückkam … Um die Nacht des Alabastermondes ranken sich zahllose Legenden: Nur sechs Auserwählte werden zur Insel Kallystoga in Thousand Island Pond geladen - drei Mädchen und drei junge Männer. Zusammen mit der Einladung erhalten sie traumhafte Ballkleider, schicke Anzüge und ein Flugticket auf die einsame Insel. Glänzende Ballsäle, rauschende Kleider, mitreißende Musik - es gibt nichts Vergleichbares auf der Welt! Dass ausgerechnet sie, die schüchterne Amy, an dem Märchenball teilnehmen darf, erscheint ihr wie ein einziger Traum, und voller Erwartungen und mit sehnsüchtigem Herzen macht sie sich auf den Weg nach Kallystoga. Tief in ihrem Inneren ahnt Amy jedoch, dass der Alabasterball ihr Leben für immer verändern könnte - und möglicherweise tödliche Gefahren birgt: Für sie, für ihre fünf Mitstreiter - und womöglich auch für ihre Schwester, die Amy immer wieder auf der Insel zu hören glaubt … Mit jedem Tanz, den Amy auf Kallystoga tanzt, deckt sie ein neues Geheimnis auf. Ein Geheimnis, das nicht nur den Ball selbst infrage stellt, sondern auch ihre Gefühle zu dem attraktiven Matt, der ihr Herz wie kein anderer zum Schmelzen bringt … So romantisch wie "Selection", so magisch wie "Rubinrot": Beatrix Gurian erzählt eine packende Mystery-Geschichte voller Glanz, Glamour und Gänsehaut - eine Geschichte, die wie ein Traum ist, aus dem man nie wieder aufwachen möchte.

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Seitenzahl: 346

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Beatrix Gurian

Alabasterball

Der Fluch der letzten Küsse

© Erol Gurian

Beatrix Gurian studierte Theater- und Literaturwissenschaften und arbeitete dann als Redakteurin beim Fernsehen. Heute ist sie freie Autorin und schreibt Romane für Jugendliche und Erwachsene. Außerdem gibt sie ihre Schreiberfahrungen in Workshops für alle Altersstufen weiter.

Mehr Infos unter www.beatrix-mannel.de

Schreibworkshops mit Beatrix Gurian:

www.münchner-schreibakademie.de

Für Paula

1. Auflage 2019

© 2019 Arena Verlag GmbH, Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Alexander Kopainski, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © Helen Tordenvejr, © MG SG, © Dima Fadeev, © Filip Warulik, © Ron Dale, © Dimitriy Rybin, © Irina Alexandrovna, © SWEviL, © Natalie Morgacheva, © elwynn, © Benjamin Clapp

Innenillustrationen: Alexander Kopainski, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © ch123, © santoelia, © Shpak Anton, © Gluiki, © TTphoto, © Julia Murchenko, © Laurentiu Timplaru, © iSKYDANCER

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

E-Book ISBN 978-3-401-80833-8

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»Zwischen Tanzen und Sichverlieben lag nur ein beinahe unvermeidlicher Schritt.«

Jane Austen: Stolz und Vorurteil

Amy blieb nicht mehr viel Zeit. Heute Abend oder nie, das spürte sie tief in ihrer Magengrube. Alles in ihr wollte zwar so schnell wie möglich weg von hier, aber sie durfte es nicht vermasseln und musste den richtigen Moment abwarten. Unruhig zupfte sie an der Seide ihres Ballkleides und starrte hinunter zum Landungssteg, wo die ahnungslosen Gäste unablässig von ihren Jachten auf die Insel Kallystoga strömten. Von so weit oben wirkten die Männer in ihren Smokings wie dunkle Käfer zwischen den bunt schillernden Roben der Damen, die wie Schmetterlinge in ihren bauschigen Kleidern voranflatterten.

Überall glitzerte es, die Pailletten der Stoffe, der Schmuck und die Abendsonne auf dem Meer, sogar die Luft schien durchsetzt von einer vibrierenden Aura aus Lichtreflexen.

Alle wollten sie zum berühmten Alabasterball, den sie für das glamouröseste Ereignis des Jahres hielten. Für Amy war es jedoch nur der Tanzball, von dem ihre Schwester Sunny vor einem Jahr spurlos verschwunden war.

Sie versuchte, das immer schnellere Pochen in ihrer Brust zu ignorieren, und konzentrierte sich auf das leise Brummen der Boote. Zu spät, wisperte eine gnadenlose Stimme in ihrem Kopf, zu spät, wisperte sie und vermischte sich mit dem Gemurmel der Gäste, zu spät, zu spät, zu spät.

Nervös suchte sie nach Matt, und als sie ihn unten am Steg entdeckte, schöpfte Amy wieder Hoffnung. Bis jetzt lief alles nach Plan. Vertrau mir, hatte er gesagt und vielleicht hatte er recht.

Vielleicht gab es noch eine letzte Chance für sie alle.

Bester Stimmung lief Amy vom Schwimmtraining nach Hause. Jetzt wollte sie sich nur noch aufs Sofa werfen und ihre neue Lieblingsserie anschauen. Mom hatte sich mal wieder für eine Doppelschicht gemeldet und ihre Schwester war unterwegs, aber nicht mit ihrem Freund Jonas, vielmehr hatte sie ein Date mit Max. Jedenfalls hatte Sunny ihr das heute Morgen mit einem bedeutungsvollen Augenzwinkern erzählt.

Umso besser, denn ohne Sunnys Gemaule konnte Amy sich die Folgen sogar auf Englisch ansehen und dabei in Frieden Chips und Pizza mümmeln.

Doch kaum hatte sie die Haustür geöffnet, tänzelte Sunny aufgeregt auf sie zu.

»Moonie, super, dass du endlich kommst!«, rief ihre Schwester so begeistert, als hätte sie Amy seit hundert Jahren nicht mehr gesehen.

Obwohl das ihre Pläne über den Haufen warf, musste Amy lachen.

»Was machst du denn schon hier?«, fragte sie. »Ich dachte, du gehst mit Max aus? Oder hat Jonas Wind davon gekriegt und dir ordentlich die Hölle heißgemacht? Ich finde, ehrlich gesagt, das hättest du verdient.«

Sunny verdrehte die Augen und stöhnte. »Wie nett. Aber ich vergebe dir, weil du keine Ahnung hast, wovon du redest«, sagte sie und schlug gut gelaunt ein Kreuzzeichen über Amy. »Und weil ich weiß, wie sehr dir Jonas gefällt, und weil ich so ungemein großherzig bin. Apropos großherzig, erinnere mich daran, dass ich dir nachher verrate, warum ich mich überhaupt mit Max getroffen habe, ja? Und jetzt komm endlich mit, Moonie! Ein total irres Paket ist für dich gekommen! Das musst du dir ansehen!«

Sunny zerrte Amy in die Wohnküche und zeigte auf ein flaches, rechteckiges Paket, das fast so lang war wie der Küchentisch.

Es sah wirklich merkwürdig aus. Statt Karton bestand die Oberfläche aus einem cremefarbenen Stoff, in den Amys Name und ihre Adresse in purpurnen Buchstaben eingewebt war.

Verblüfft betrachtete Amy das Ding. Wer schickte ihr so ein Paket? Und wo sollte man das öffnen? Wo war der Deckel? Laschen oder Klebekanten? Nirgends war ein Absender zu erkennen.

Als sie mit ihrer Hand darüberstrich, fühlte sich das Material an, als wäre es aus kühlem Damast. Dann, plötzlich, als hätte ihre Berührung etwas ausgelöst, verschob sich die gesamte Längskante zur Seite wie eine Art Schublade.

»Hammer!«, sagte Sunny. »Abgefahren! Wieso kriegst du so was und ich nicht?«

Sunny liebte Geheimnisse, Rätsel und Codes und hätte sich zu gern selbst an dem Paket zu schaffen gemacht. Das konnte Amy deutlich daran erkennen, dass Sunny auf ihrer Unterlippe herumkaute, was sie nur dann tat, wenn sie sich ärgerte – wobei das nur selten vorkam, denn ihre Schwester konnte den allermeisten Dingen etwas Positives abgewinnen. Und weil Sunny so ein Sonnenschein war, nannte sie auch kein Schwein Diana.

»Lass mich das doch für dich aufmachen«, schlug Sunny eifrig vor.

»Auf gar keinen Fall!«, widersprach Amy. »Ich möchte es erst noch ein bisschen anschauen. Es sieht so besonders aus.«

Sonny raufte sich das Haar, was sehr theatralisch wirkte, weil ihre blonden Haare bis zum Po reichten. Seit ihre Mutter ihnen das Märchen von Rapunzel vorgelesen hatte, hatte Sunny sich geweigert, auch nur einen Millimeter abzuschneiden. Dabei war Rapunzel ja wohl das ödeste Märchen überhaupt. Im Turm sitzen und auf einen Befreier warten – na danke!

»Hast du es dir jetzt genug angeschaut?«, fragte Sunny wieder etwas ruhiger. »Oder willst du gar nicht wissen, was drin ist?«

»Doch … aber ich öffne es in meinem Zimmer!« Amy nahm das Stoffpaket an sich und ging los. »Offensichtlich ist es nämlich für mich!«

»Hey, warte!« Sunny stürmte hinter ihr her, doch Amy warf die Tür vor ihrer Nase ins Schloss und sperrte ab.

Schon fühlte sie sich mies. Auch wenn Sunny die Tendenz hatte, alles an sich zu reißen, tat sie es ja nie, um Amy zu ärgern. Sie konnte bloß nicht anders und das fing meistens frühmorgens an, wenn Amy sich noch eher tot als lebendig fühlte. Sunny wachte auf und begann, überall im Haus zu summen und zu singen. Sie war immer gut gelaunt. Kein Wunder, dass die Jungs bei ihrer kleinen Schwester Schlange standen.

Sunny hämmerte gegen die Tür. »Wieso benimmst du dich plötzlich wie die letzte Bitch? Manchmal bist du echt gemein, Amy. Lass mich rein! Ist es, weil du glaubst, ich würde Jonas mit Max betrügen?«

Nein, stellte Amy überrascht fest. Dieses Treffen fand sie zwar ziemlich mies von Sunny, aber das war es nicht. Eigentlich wusste Amy auch nicht so genau, warum sie das Paket unbedingt für sich alleine haben wollte. Natürlich gefiel es ihr, endlich mal selbst interessant zu sein. Denn ihre Schwester verstand sich meisterhaft darauf, abgefahrene Dinge zu tun, wie zum Beispiel ihre neueste Idee mit den »Unsingsworten«.

Sunny hatte Songs aus Fantasieworten kreiert, die schön klangen, aber keinerlei Bedeutung hatten. Mit denen hatte sie einen Kanal bei YouTube eröffnet und plante nun eine große Karriere als Sängerin. Und Sunny war davon überzeugt, dass es klappen würde, weil sie dazu ihren magischen Glückscode verwendete. Sie reihte die Unsingsworte nämlich nicht einfach nur so aneinander, sondern nach den Zahlen ihres Geburtstages, dem 3.7.2002, den sie für ein mystisches Datum hielt.

Amy fand das vor allem deshalb etwas lächerlich, weil sie am selben Tag Geburtstag hatten. Nur dass Sunny eben ein Jahr jünger war, auch wenn sie leider meistens für die ältere gehalten wurde.

Ihre Schwester sang also dreimal Ommm-sa-mianda oder so was, dann siebenmal irgendein anderes Unsingswort und dieses Muster wiederholte sie viermal, weil das die Quersumme von 2002 ergab. Auf diese Weise baute sie ganze Lieder auf, was Amy wenig originell und reichlich faul fand. Ihre Schwester hatte nämlich gar keine Lust, sich echte Worte oder gar einen Text zu überlegen oder darüber nachzudenken, was sie mit einem Song eigentlich sagen wollte.

Sunny behauptete, es wäre für sie nur wegen ihrer Rechtschreibschwäche zu mühsam, aber Amy nahm ihr das nicht ab, denn ihre Schwester wollte ganz einfach nur auf Teufel komm raus immer etwas ganz Besonderes sein.

»Wenn du nicht meine Schwester wärst, würde ich denken, du bist tatsächlich in Jonas verknallt!«, rief Sunny wieder durch die Tür.

»Schwachsinn!«, gab Amy zurück, obwohl ihr sofort die Röte ins Gesicht stieg. Sunny musste ziemlich sauer auf sie sein, denn sonst fuhr sie nie derart gemeine Geschütze auf. Dabei würde Amy lieber sterben, als mit Jonas auch nur ein Wort zu wechseln!

»Dann beweise mir das Gegenteil«, brüllte Sunny, »indem du mich reinlässt!«

»Ich muss dir gar nix beweisen!«

»Jonas weiß übrigens, dass ich Max nur getroffen habe, weil ich euch verkuppeln wollte«, erklärt Sunny nun wieder versöhnlicher.

Amy erstarrte. Sunny hatte wohl den Verstand verloren! Wie dämlich stand sie denn jetzt vor dem Freund ihrer Schwester da? Und erst recht vor diesem Max!

»Du hast sie doch nicht mehr alle«, murmelte Amy hinter der Tür.

»Hey, Moonie, das hab ich gehört!« Sunny rüttelte an der Klinke. »Dabei hab ich Max erzählt, was für ein Sprachgenie du bist und dass du sogar Altgriechisch lernst. Das fand er echt total … cool.«

Amy unterdrückte ein Stöhnen. Super. Da war ja eine Rechenaufgabe mit Sunnys Geburtstagscode noch interessanter.

»Und wie toll du Delfinschwimmen kannst und dass du beim DLRG letztes Jahr im Sommer schon Leben gerettet hast. Natürlich habe ich deine Nähkünste erwähnt …«

Oh ja, na klar. Amy sah es direkt vor sich. Max starrte sabbernd ihre hübsche, vor Freude sprühende Schwester an und schaltete auf Durchzug, in der Hoffnung, nicht einzuschlafen, bis sie mit den Mutter-Teresa-Geschichten über ihre öde große Schwester fertig war. Nicht mal in den Ohren eines Heiligen klang Amys Leben irgendwie sexy.

Sunny räusperte sich. »Und dann hab ich ihn gefragt, ob er dein großes Geheimnis wissen will.«

Angespannt trat Amy näher zur Tür, hoffte aber stark, dass ihre Schwester keine Ahnung hatte, welches Geheimnis sie wirklich vor ihr verbarg.

»Natürlich war er da dann total heiß drauf, und damit er dich nicht für eine Langweilerin hält, habe ich ihm verraten …« Sunny legte eine Kunstpause ein und Amy merkte, dass sie unwillkürlich die Luft anhielt. »Also, ich hab ihm verraten, dass du die Nationalhymne furzen kannst, das allerdings nur für gute Freunde bei Fußballländerspielen zum Besten gibst …«

Sunny fing an laut zu kichern und Amy hätte vor Erleichterung beinahe mitgelacht, aber sie beherrschte sich, denn sie fand diese Verkupplungsaktion trotzdem reichlich bescheuert. Vor allem, weil es nicht das erste Mal war, dass Sunny so etwas machte.

Ja, Amy sehnte sich schon danach, sich zu verlieben, aber doch nur in jemanden, den sie sich selbst aussuchte!

»Haha, wie lustig!«, sagte Amy deshalb streng. »Hörst du dir eigentlich manchmal selber zu? Du musst komplett verrückt sein! Wann kapierst du endlich, dass du dich aus meinem Leben raushalten sollst? Verschwinde!«

Damit wendete sich Amy wieder dem Paket auf ihrem Bett zu. Es fühlte sich gut an, etwas zu haben, auf das Sunny so scharf war. Na ja, und auch ein bisschen gemein. Ihre Schwester hatte das mit Max bestimmt gut gemeint.

Als Amy das Paket nun wieder berührte, öffnete sich diese seitliche Lade ein Stückchen weiter und enthüllte ihren Inhalt.

In dem Paket lag ein Kleid und obendrauf eine schwarze Karte. Auch wenn es ihr schwerfiel, ignorierte Amy das Kleid zunächst und nahm stattdessen die Karte in die Hand. Das Schwarz verwandelte sich sogleich in ein sehr helles, glänzendes Weiß, was Amy kurz zusammenzucken ließ. Reagierte das Papier etwa auf Lichteinfall? Ja, das musste es sein. Und dann, plötzlich, traten auch noch purpurne Buchstaben hervor.

Einladung zum Alabasterball

Verehrtes Fräulein Amy,

Sie sind für den diesjährigen Alabasterball auf der Insel Kallystoga auserwählt worden. Beglücken Sie uns mit Ihrer Anwesenheit auf dem elegantesten und berühmtesten Tanzball des Universums und erleben Sie eine unvergessliche Nacht, die Ihr Leben für immer verändern wird.

Drei junge Frauen und drei junge Männer tanzen vor den klügsten und mächtigsten Menschen der Welt und kämpfen um den Titel der Ballkönigin und des Ballkönigs. Den beiden Siegern erfüllen wir ihren innigsten Herzenswunsch.

Wir laden Sie und Ihre fünf Mitstreiter schon drei Tage vor dem Ball auf unsere Insel ein, wo es Ihnen an nichts mangeln wird. Sie durchlaufen gemeinsam die Präliminarien und rüsten sich so für das einzigartige Ballfinale unter dem Alabastermond.

Unsere Einladung gilt ausschließlich für Sie und ist nicht übertragbar.

Voller Vorfreude sehen wir Ihrem Kommen entgegen!

Mit den besten Empfehlungen sowie ergebensten Grüßen,

Thre Familie Strandham

PS: Sehen Sie das beiliegende Ballkleid als kleinen Ausdruck unserer Wertschätzung. Bitte bringen Sie es mit auf die Insel, denn es wird Ihnen im Wettstreit um den Sieg geradezu magische Kräfte verleihen.

PPS: Sämtliche Erste-Klasse-Reisekosten für die An- und Abreise werden selbstverständlich von uns übernommen.

Amy las die Karte einmal, dann noch mal und schließlich noch ein drittes Mal.

Sie sollte an einem Wettbewerb teilnehmen und Königin werden, auf einem Tanzball. Und das Ballkönigspaar bekam jeweils einen Wunsch erfüllt – ernsthaft? Einen Wunsch. Einen Herzenswunsch. Amy schüttelte den Kopf. Das war doch völlig verrückt! Alabasterball? Das klang, als hätte da jemand zu viele Märchen gelesen. Oder hatte sich Sunny einen Scherz mit ihr erlaubt?

Amy warf die Karte aufs Bett und nahm stattdessen das Kleid hoch. Es knisterte leicht, als das hauchzarte Seidenpapier, in das es eingeschlagen war, herunterfiel, und bei diesem Anblick wurde ihr sofort klar, dass Sunny auf keinen Fall dahinterstecken konnte. Das Kleid war bodenlang und eine Sinfonie aus glitzernden Kupfer- und Grüntönen. Das Grün kam ihr bekannt vor, und als Amy sich das Kleid anhielt und in den Spiegel neben ihrem Bett blickte, wusste sie auch, warum: Es war genau das Grün ihrer Augen.

Woher hatten die Strandhams das gewusst – oder war das nur ein Zufall?

Jetzt konnte sie nicht mehr anders, sie musste dieses Kleid anziehen. Sofort!

Und tatsächlich: Es passte wie angegossen. Als ob die Strandhams auch ihre Kleidergröße kannten. Der schulterfreie Ausschnitt brachte ihre vom Schwimmen trainierten Schultern und Arme perfekt zur Geltung. Es schmiegte sich eng an Hüften und Po und fiel dann in weiten, tüllähnlichen Schwüngen bis zum Boden. Aber das Beste war dieses schimmernde Kupfergrün, denn es schmeichelte ihrem Teint und ihre kinnlangen Haare sahen nun nicht mehr aus wie tot gekochte Karotten. Zum ersten Mal in ihrem Leben wirkte sie nicht gespensterbleich, sondern einfach nur … zart.

Amy bewegte sich verträumt vor dem Spiegel hin und her. Einen Moment lang war sie davon überzeugt, wenn Jonas sie so sehen könnte, dann würde er sogar ihre Schwester vergessen und sich sofort in sie verlieben. Aber natürlich war er für immer tabu, denn so etwas Mieses taten sich nur böse Stiefschwestern an.

Im selben Moment hämmerte Sunny schon wieder gegen die Tür.

»Amy, ist alles okay bei dir? Es ist so still. Nicht, dass nachher eine Spinne oder eine giftige Schlange in dem Paket versteckt war. Jetzt mach schon auf!«

Amy betrachtete sich in dem Kleid und musste lachen. Definitiv keine giftigen Schlangen oder Spinnen. Sie öffnete die Tür.

Ihre Schwester erstarrte. Dann ging sie einen Schritt zurück, als stünde sie vor dem achten Weltwunder, und blinzelte, als könnte sie es nicht glauben. »Was … was ist das?«, hauchte sie. »Mir fehlen die Worte. Du siehst aus wie … ich habe keine Ahnung, lass mich überlegen …« Sunny tanzte um sie herum. »Doch! Jetzt fällt es mir ein, wie eine Mondprinzessin. Geradezu mondmirakulös!« Sie klapste Amy spielerisch auf ihren Allerwertesten. »Und sogar von hinten der Hit. Sag schon, woher kommt das Paket? Hast du einen heimlichen Verehrer?« Sie setzte sich auf das Bett und schnappte sich die Einladungskarte.

»Abgefahren«, sagte Sunny nach wenigen Sekunden. Fasziniert betrachtete sie das Auftauchen und Verschwinden der Buchstaben, je nachdem, wie sie die Karte im Licht drehte. »Das ist wie bei diesen komischen Gefühlsringen, die ihre Farbe ändern und anzeigen, ob man wütend oder traurig ist. Alabasterball? Klingt megaspannend! Wo soll das sein? Thousand Islands? Ich dachte, das wär bloß ein Salatdressing?«

Sunny hielt plötzlich inne und warf Amy einen übertrieben hilflosen Blick zu. Amy unterdrückte ein Grinsen, weil sie Sunny durchschaute – denn die wusste genau, wie sehr Amy es mochte, von ihr für allwissend gehalten zu werden. Es gab schließlich sonst kaum etwas, das Sunny an ihr bewunderte, außer ihre Schwimmkünste vielleicht.

»Die Thousand Islands liegen im Grenzgebiet zwischen Kanada und den USA«, erklärte Amy also geduldig. »Im Sankt-Lorenz-Strom. Der fließt vom Ontariosee Richtung Atlantik. Ich glaube, die Niagarafälle sind da auch irgendwo in der Nähe.«

»Aber was will denn jemand von dort ausgerechnet von dir? Wieso schicken die dir so ein Traumkleid? Ich meine, stell dir doch mal vor, wie ich in einem YouTube-Video damit rüberkäme.« Aufgeregt durchsuchte Sunny das Paket und fand tatsächlich noch einen Umschlag.

Sie fing schon an, ihn aufzureißen, als Amy sich lautstark räusperte.

»Ist ja gut!«, sagte Sunny, hielt inne und gab ihrer Schwester den Umschlag.

Amy öffnete ihn vorsichtig und hielt ein Hin- und Rückflugticket nach Toronto in den Händen. Sie musste zweimal hinsehen. Nicht Economy, nicht Business, nein, es war tatsächlich ein First-Class-Ticket. Sie musste sich setzen und tief durchatmen.

»Das gibt’s doch nicht, daran muss irgendwas faul sein«, murmelte sie. »Das ist Fake, garantiert. Ein Pishingbrief für … irgendwas.«

Sunny sprang auf, grapschte sich das Ticket und starrte es an. »Boah, das wird ja immer besser«, sagte sie und wedelte begeistert mit dem Ticket durch die Luft. »Was sollte daran bitte faul sein? Ein Mädchenhändler würde doch garantiert kein Rückflugticket mitschicken!«

Das klang logisch, machte das Ganze aber nicht weniger unglaublich.

Jetzt wollte Amy auch mehr wissen. Sie griff nach ihrem Handy und gab die Worte Alabasterball und Strandham in die Suchmaschine ein. Doch noch bevor sie lesen konnte, was angezeigt wurde, entriss Sunny ihr das Smartphone.

»Wow, das sind ja jede Menge Artikel«, erklärte sie und scrollte weiter. »Gott, ist das cool! Einige Zeitungen schreiben, dass die Strandhams praktisch die ganze Region fördern. Es gibt auch Interviews mit Ehrengästen und den ehemaligen Ballköniginnen und -königen, die werden von den Strandhams ihr ganzes Leben lang unterstützt.« Sunny hielt inne und betrachtete Amy mit glänzenden Augen. »Moonie, so unglaublich, wie du in dem Kleid aussiehst – und du bist ja noch nicht mal geschminkt –, würdest du sofort die Ballkönigin sein. Und du bist auch noch so klug und hast in Englisch immer eine glatte Eins, das ist sicher kein Hindernis …« Sie seufzte schwer. »Mann, ist das unfair!«

»Was steht denn in den Interviews?«, fragte Amy, um davon abzulenken, wie sehr ihr Sunnys Komplimente schmeichelten.

Sunny überflog ein paar Seiten. »Nur Gutes. Ballkönig und Ballkönigin bekamen je einen Wunsch erfüllt und wohl auch viel Geld und eine top Ausbildung.«

»Lies weiter, da muss doch irgendwo ein Haken sein. Das klingt mir viel zu schön, um wahr zu sein.«

Sunny wischte sich durch die nächsten Seiten. »Hm, es gibt nur ein paar vereinzelte negative Stimmen – aber wenn du mich fragst, stammen die von Menschen, die nur deshalb sauer sind, weil sie nicht eingeladen wurden. Aus lauter Neid entwickeln genau solche Leute dann Verschwörungstheorien. Die hier gefällt mir besonders gut.« Sunny grinste und schüttelte den Kopf. »Ein gewisser Greggg mit drei g – na, der kann ja wohl nur bescheuert sein, oder? –, also, der schreibt, Kallystoga sei in der Hand des Teufels und der Ball das Fest einer Sekte von Teufelsanbetern.« Sunny hielt inne. »Ich meine, selbst wenn das wahr sein sollte, würde ich dorthin fliegen. Das wär mir so was von egal. Oder würdest du nicht gern mal mit dem Teufel plaudern? Der ist in jedem Fall kein Langweiler, so wie dieser Greggg mit drei g. Und sexy ist der Teufel sicher auch!«

Amy gelang es endlich, Sunny das Smartphone abzunehmen. »Hm, du hast wohl recht. Greggg schreibt für ein Sensationsblatt, während alle anderen Artikel von seriösen Zeitungen sind. Anscheinend dürfen nur ausgewählte Journalisten dorthin. Die Insel ist sonst für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.« Amy biss sich auf die Unterlippe. »Findest du das nicht alles ziemlich … mysteriös?«

»Ja, aber das größte Mysteri-ööösum ist ja wohl die Frage, wieso du gefragt wurdest und nicht ich!« Sunny betrachtete wieder das Kleid und zog dabei einen Schmollmund. »Dieser Stoff ist der reine Wahnsinn, Moonie.«

Amy strich über die kleinen Rosen am Ausschnitt. Es war unfassbar, wie gut sich das anfühlte. Sie drehte sich einmal um sich selbst, ungläubig, wie schön sie aussah. So traumhaft, dass man beinahe glauben konnte, dass diese Strandhams auch wirklich Wünsche erfüllen konnten.

»Ich meine, klar bist du toll und die beste Schwester der Welt«, fuhr Sunny fort, »aber das muss trotzdem ein Irrtum sein, denn zu mir würde so eine rätselhafte Einladung doch viel besser passen, oder?«

Leider hatte Sunny recht, aber das würde Amy auf keinen Fall zugeben. Sie fing an, das Kleid vorsichtig wieder auszuziehen.

»Kann ich das auch mal anprobieren?«, bettelte ihre Schwester.

»Wozu?«, fragte Amy, um nicht Nein sagen zu müssen. Es wunderte sie selbst, dass sie das auf gar keinen Fall wollte. Schon bei dem Gedanken daran, dass Sunny ihr Kleid tragen würde, bekam sie eine Gänsehaut. Da erinnerte sich Amy an die Sage von Medea, die sie letzte Woche in der Griechischstunde durchgenommen hatten. Medea hatte ihre Rivalin Glauke mit einem vergifteten Kleid ermordet. Amy wurde es plötzlich ganz heiß. Unsinn, sagte sie sich, warum sollte ihr jemand ein vergiftetes Kleid schicken?

»Jetzt sei nicht so zickig!«, maulte Sunny. »Wir haben doch immer alles geteilt!«

Amy verschluckte sich beinahe. Immer alles geteilt? Es war wohl eher so, dass Sunny sich alles von Amy nahm, wonach ihr der Sinn stand. Das würde sie nicht unbedingt teilen nennen!

Sunny streichelte mit einer Hand über das Kleid, das jetzt auf Amys Schoß lag. »Na gut, vielleicht war das mit Max doch keine so gute Idee«, gab sie schließlich zu.

»Natürlich nicht«, stimmte Amy zu. »So was ist einfach nur peinlich! Tu das nie wieder, okay?«

»Versprochen«, sagte Sunny mit diesem Unterton, bei dem Amy sofort wusste, dass sie ihr nur recht gab, weil sie schon etwas anderes im Schilde führte.

»Also – lässt du mich endlich das Kleid probieren?«

»Nein.« Jetzt krampfte sich sogar Amys Magen zusammen. Es fühlte sich an, als ob sie das um jeden Preis verhindern musste.

Sunny wirkte ernsthaft beleidigt. »Du bist doch sonst nicht so stur!«

»Es gibt immer ein erstes Mal.«

»Gott, du hörst dich schlimmer an als Mom!« Sunny verdrehte die Augen, was sie so gut konnte, dass – wie in einem Horrorfilm – fast nur noch das Weiß ihrer Augäpfel zu sehen war.

Amy blickte zurück auf die Einladungskarte. »Was meinst du, was Mom wohl zu alldem sagen wird?«

»Na, dass du hinfahren sollst!« Sunny richtete ihren Blick wieder auf Amys Kleid. »Seit Papas Unfall arbeitet sie sich krumm, damit es uns gut geht, und trotzdem redet sie immer davon, dass man sein Leben genießen soll. Und wenn du gewinnst, kannst du dir auch noch alles wünschen, was du willst. Was gibt es denn da zu überlegen? Das ist besser als ein Sechser im Lotto.«

»Aber … Überleg mal. Wie wollen diese Strandhams das bitte machen? Nur mal angenommen, ich würde mir einen Tag mit Paps wünschen. So etwas kann niemand erfüllen – niemand kann Tote wiederauferstehen lassen.«

»Stimmt«, flüsterte Sunny und wirkte auf einmal seltsam nachdenklich. »Aber so etwas würdest du dir nicht wirklich wünschen, oder? Es würde dich doch nur traurig machen. Und was hätten Mom und ich davon? Es wäre viel normaler, wenn du dir, so wie ich, einfach einen Haufen Schotter wünschen würdest – dann könnte Mom ihren Job im Krankenhaus schmeißen und wir könnten meine YouTube-Videos professionell angehen.« Sunny suchte ihren Blick und Amy hatte das dumpfe Gefühl, dass keine von ihnen gerade die ganze Wahrheit über ihre Wünsche gesagt hatte.

Sosehr Amy ihren Vater manchmal auch vermisste, sie wollte ihn in Erinnerung behalten, wie er gewesen war. Sunny hatte recht, allein den Wunsch auszusprechen, ihn wiedersehen zu wollen, würde ihr nur das Herz brechen. Sie hatte mit diesem Beispiel Sunny ja nur klarmachen wollen, dass die Versprechungen der Strandhams unmöglich real sein konnten. Das alles war eine einzige Lüge!

»Ich frage mich schon, warum ausgerechnet ich so eine Einladung bekommen habe«, sagte Amy und legte das Kleid wieder zurück in das Paket. »Dafür muss es einen Grund geben.«

»Na klar, weil du die Ältere bist.« Sunny klang ungewohnt bitter. »Und weil du gerade siebzehn geworden bist!«

Amy musste sich beherrschen, um ernst zu bleiben. »Schwesterchen, auf der ganzen Welt sind, ich weiß nicht wie viele Mädels, gerade siebzehn geworden. Aber laut Google kriegen nur drei diese Einladungskarten.«

»Da verstehe ich erst recht nicht, was es da zu überlegen gibt!«

»Eine Menge. Wir könnten Ticket und Kleid einfach verkaufen und von dem Geld mit Mom ans Meer fahren.«

»Du spinnst doch!« Sunny tippte sich an die Stirn. »Mom würde wollen, dass du so eine Chance nutzt. Und jetzt lass mich endlich das Kleid anprobieren!«

»Später vielleicht. Ich muss noch ein bisschen was fürs Abi lernen.«

»Dazu brauchst du doch das Kleid nicht.« Ihre Schwester verdrehte die Augen, diesmal nur genervt und nicht wie im Horrorfilm.

»Nee, aber ich möchte es dabei im Blick haben.«

Prompt ging Sunny zur Tür und warf sie knallend hinter sich ins Schloss. »Manchmal hasse ich dich wirklich!«, brüllte sie durch den Flur.

Amy nahm das Kleid wieder aus der Schachtel und befühlte den Stoff. Seit sie einen Faden durch ein Nadelöhr ziehen konnte, nähte sie leidenschaftlich gern und sie wusste einiges über Stoffe. Doch das hier war weder Seide noch Baumwolle, es war kein Taft, kein Musselin, kein Damast – was zur Hölle war es dann? Vielleicht eine neue Bambusoder Kunstfaser?

Sie beugte sich vor zu dem Ausschnitt, der mit all diesen kleinen kupfernen Rosen verziert war, die ihr vorhin schon so gut gefallen hatten. Einer spontanen Eingebung folgend, schnitt sie eine der Rosen ab, so vorsichtig, dass man sie später wieder drannähen könnte. Die wollte sie mit in ihren Lieblingsstoffladen nehmen und nachfragen.

Wieder fiel Amys Blick auf die merkwürdige Einladung und sie fasste einen Entschluss: Auf gar keinen Fall würde sie überstürzt auf diese Insel fliegen, denn so schön dieses Kleid auch war, auf diesen Protz und das altmodische Getue fielen so gutgläubige Menschen wie Sunny natürlich sofort rein. Nein, sie musste erst ganz sicher sein, dass es bei dieser traumhaften Einladung mit rechten Dingen zuging. Sie betastete noch einmal den zarten Stoff des Kleides und seufzte.

Träume sind was für Kinder, ermahnte sich Amy und genau deshalb musste sie für ihre Mom und ihre Schwester da sein … um sie zur Not vor sich selbst zu beschützen.

Das war es also: Kallystoga. Nervös starrte Amy auf die näher kommende Insel. Von beiden Seiten spritzte das Wasser des Thousand Island Pond über die Reling des kleinen Motorbootes und Amy musste sich gut festhalten, um nicht über Bord zu gehen. Stürmischer Wind pfiff ihr um die Ohren und sie war froh, dass sie den schwarzen Fransenponcho angezogen hatte, den Sunny ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte.

Wie dumm sie damals gewesen war! Amy hätte ahnen müssen, dass Sunny sich ihre Einladung und das Kleid »ausleihen« würde, um Ballkönigin zu werden. Und dass es schiefgehen würde. Denn seit Sunny Kallystoga betreten hatte, fehlte jede Spur von ihr.

Deshalb würde Amy ihre Suche hier beginnen. Um sich zu beruhigen, betrachtete sie den Ring an ihrer linken Hand. Sie hatte sich aus der kupfernen Rose, die sie damals von ihrem Ballkleid abgeschnitten hatte, und winzigen Perlen einen Talisman gemacht, und zwar genau so, wie Sunny es getan hätte. Drei grüne Perlen, sieben blaue und das Ganze viermal. Damit wollte Amy sich nicht nur Mut für ihre Mission machen, sondern sich auch daran erinnern, dass sie hier als Loreley Schillinger antreten musste.

Es war fast unmöglich gewesen, eine der diesjährigen Alabasterball-Kandidatinnen ausfindig zu machen. Erst durch einen Instagram-Beitrag, auf dem Loreley das Paket fotografiert hatte, war Amy auf sie aufmerksam geworden.

Die echte Loreley lebte zwar auch in Deutschland, also hatten sie sich treffen können, aber sie dazu zu bringen, auf ihre Einladung zum Alabasterball zu verzichten, war alles andere als einfach gewesen. Als Amy ihr verraten hatte, warum sie unbedingt nach Kallystoga musste, war sie dabei in Tränen ausgebrochen. Das hatte Loreley zwar gerührt, allerdings nicht so sehr, dass sie bereit gewesen wäre, auf all das Geld zu verzichten, das die Strandhams ihr in Aussicht stellten.

Also hatte Amy ihr das Kleid und die Tickets abgekauft, und ihr noch dazu einen dicken Bonus ausgezahlt. Dafür war ihr gesamtes Erspartes draufgegangen sowie ein Zuschuss von Jonas, der sich genauso um Sunny sorgte wie sie.

Zudem musste sie Loreley versprechen, ihr nach dem Ball das Kleid zurückzugeben. Professionell gereinigt, natürlich.

Im Austausch dafür hatte Loreley ihr alles über sich erzählt, damit Amy ihre Rolle auf Kallystoga auch perfekt spielen konnte. Und um ganz sicherzugehen, hatte Amy sich dann auch noch wie Loreley ihre Haare schwarz gefärbt. Falls einer der anderen Kandidaten ebenfalls recherchiert hatte.

Als ihre Mutter über diese Veränderung ziemlich erstaunt war, hatte Amy mit sehr schlechtem Gewissen behauptet, sie fände, es wäre jetzt, nach dem Abi, Zeit für eine Veränderung. Und sie hatte ihre Mom gefragt, ob es okay für sie wäre, wenn sie ihre Freundin Martha besuchen würde, die in New York als Au-pair arbeitete.

Ihre Mutter hatte nichts dagegen. Sie fand, Amy hätte nach allem, was passiert war, eine Auszeit verdient, und sie war stolz, dass ihre Tochter das Abi geschafft hatte. Und natürlich musste man es einfach ausnutzen, wenn man in New York eine Freundin hatte, bei der man wohnen konnte.

Amy hatte sich schon Bilder von New York runtergeladen, die sie ihrer Mutter per WhatsApp schicken wollte, damit die sich keine Sorgen machte. Schlimm genug, dass Sunny verschwunden war. Ein Grund mehr, dafür zu sorgen, dass sie alle beide wieder gesund zurückkamen.

Alles war also perfekt vorbereitet. Jetzt galt es nur noch, keine Fehler zu machen, sobald sie den Strandhams begegnete.

Je größer die Insel vor ihr wurde, desto kleiner fühlte sich Amy. Natürlich hatte sie seit Sunnys Verschwinden immer wieder Bilder von Kallystoga und dem Schloss angeschaut. Aber es war ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Schloss auf einem Monitor und dem mächtigen Ungetüm, das sich vor ihr auf der Insel erhob.

Das also war der Ort, von dem Sunny spurlos verschwunden war.

Nicht ganz spurlos, korrigierte Amy sich, es gab immerhin ihre Postkarten. Die erste war eine Woche nach dem Ball gekommen. Dabei hatte ihre Schwester, die es hasste, mit der Hand zu schreiben, Postkarten als unverantwortlichen, baumfressenden Oldschool-Blödsinn abgelehnt – wozu gab es schließlich WhatsApp? Doch nach dem Ball waren auf einmal aus der ganzen Welt Karten von ihr eingetrudelt. Karten mit der leicht chaotischen Schrift ihrer Schwester und mit exakt denselben Fehlern, die Sunny wegen ihrer Rechtschreibschwäche gemacht hatte.

Amy konnte trotzdem nicht glauben, dass sie wirklich von Sunny waren. Warum sollte die Königin der Selfies plötzlich Postkarten schicken? Immer wieder hatte Amy sie nach verborgenen Hinweisen oder Codes abgesucht. Leider hatte sie nichts dergleichen gefunden. Keine geheimen Botschaften. Kein Hilferuf. Keine Entschuldigung fürs Weglaufen. Nichts.

Das Einzige, was Amy irgendwann auffiel, waren die »pfeifenden Schmetterlinge«, von denen Sunny immer wieder schrieb. Was bitte schön sollten pfeifende Schmetterlinge sein? Sunny meinte, sie wären gelb und schwarz wie Bienen. Sogar auf der Karte aus Nuuk in Grönland hatte sie davon erzählt. Daraufhin hatte sich Amy wochenlang mit der Fauna Grönlands beschäftigt, aber pfeifende Schmetterlinge hatte sie keine gefunden. Falls das also doch so etwas wie ein Code sein sollte, konnte sie ihn nicht knacken.

Ansonsten stand da meistens nur belangloses Blabla. Hier war das Wetter so, da war das Wetter anders, diese Sehenswürdigkeit war toll, diese eher nicht – keine einzige Karte gab ihr die alte Sunny zurück, ihre quirlige, nervige und verrückte Schwester, die sie über alles liebte und ohne die es ihr zu Hause wie in einem Grab vorgekommen war.

Ihre Mutter jedoch klammerte sich eisern an Sunnys Karten. Es hatte Monate gedauert, bis sie akzeptieren konnte, dass ihre flatterhafte jüngste Tochter die Schule geschmissen hatte und nun durch die Welt reiste. Natürlich waren sie bei der Polizei gewesen, immerhin war Sunny bei ihrem Verschwinden noch nicht volljährig. Doch man hatte ihnen wenig Hoffnung gemacht. So ein Abtauchen würde bei jungen Erwachsenen oft vorkommen und in aller Regel würden sie schnell wieder auft auchen. Aktiv könnte man nur werden, wenn Hinweise auf ein Verbrechen vorlägen. Da ja aber die Karten eindeutig von Sunny geschrieben waren, sah niemand Handlungsbedarf. Niemand außer Amy, die es kaum ertragen konnte, ihre Mutter so traurig zu sehen.

Nach ein paar Wochen hatte Amy sogar versucht, einen Privatdetektiv anzuheuern, aber ihr Geld reichte hinten und vorne nicht. Also hatte sie sich zusammen mit Jonas an die Recherche gemacht, und nachdem sie mit vereinten Kräften herausgefunden hatten, wo sie nachfragen mussten, waren sie ziemlich weit gekommen. Das Ergebnis war jedoch ernüchternd: Es gab nirgends auch nur den kleinsten Beweis, dass ihre Schwester wirklich in irgendeines ihrer »Postkarten-Länder« ein- oder ausgereist war, nie hatte sie dort ein Visum beantragt, nie war sie in einem Hostel aufgekreuzt, nie hatte sie etwas über Airbnb gebucht oder sich beim Couchsurfen gemeldet.

Kallystoga war der letzte Ort, an dem andere Menschen Sunny nachweislich gesehen hatten, dort verlief sich ihre Spur. Also hatte Amy alles getan, um eine zweite Einladung zum Alabasterball zu bekommen.

Denn selbst wenn sie hier keine Hinweise zu Sunnys Verbleib fand, könnte sie sich immer noch ihren Herzenswunsch von den Strandhams erfüllen lassen.

Und sie würde sich wünschen, ihre Schwester Sunny zurückzubekommen.

Das Einzige, was Amy dafür tun musste, war, die anderen zwei Mädchen auszustechen und an der Seite von einem der Jungs Ballkönigin zu werden. Und das würde sie … denn sie hatte sich akribisch auf das Tanzen vorbereitet.

Das monströse Schloss rückte immer näher, der Wind wurde stärker, als wollte er das Boot am Vorankommen hindern. Es war eine seltsame Mischung aus Neuschwanstein, Disneyland und mittelalterlicher Ritterburg. In einem Moment wirkten die kitschigen runden Türmchen mit ihren spitzen goldenen Dächern hochromantisch, dann plötzlich traten die finsteren Zinnen aus Ziegelstein mit den schwer vergitterten Fenstern und achteckigen Schießscharten in den Vordergrund.

Beklommen drehte Amy an ihrem Talisman-Ring, musste sich dann aber sofort wieder festhalten, um nicht aus dem Boot zu fallen. Was würde sie hier erwarten? Wer waren diese Strandhams? Konnte sie nach Sunny fragen, ohne ihre Tarnung zu gefährden? Was musste sie tun, um die anderen beim Wettbewerb zu besiegen – und wer waren die anderen überhaupt?

Das Schloss stand etwas nach links versetzt auf einer kleinen Anhöhe, zu der breite Steintreppen mit grünen Moosteppichen führten. Vom Anlegesteg schlängelte sich ein Weg hinauf. Er war rechts und links von lebensgroßen, aus Buchsbaum geformten Tieren gesäumt. Amy erkannte Drachen, Elefanten und Zentauren.

Von den Jasminblüten, die in Kübeln am Weg standen, verbreitete sich ein süßer aromatischer Duft über die Insel, der Amy beim Aussteigen in der Nase kitzelte. Verblüfft merkte sie, dass der Wind jetzt nur noch eine laue Brise war. Ihr wurde warm, sie zog den Poncho aus, und kaum hatte sie sich den Stoff vom Kopf gezerrt, sah sie eine Gestalt, die sich ihr näherte – oder besser gesagt: vier Gestalten. Ein Mann mit drei Hunden, die so groß waren, dass sie ihm bis zur Taille reichten.

Das fing ja gut an! Allerdings konnten die Strandhams ja nicht wissen, dass Amy Angst vor Hunden hatte, seit sie im Kindergarten von einem Pudel gebissen worden war. Beruhige dich, ermahnte sie sich, das waren bestimmt nette Riesenhunde, wenn die sogar die Gäste begrüßen durften.

Der Mann fokussierte Amy mit seinem Blick – und Amy konnte nicht anders, als etwas hilflos zurückzustarren. War das eine weiße Lockenperücke? Eine goldverzierte Jacke, Ärmel mit Spitzen und dann noch Kniehosen aus Samt? Unglaublich, der Typ sah aus, als wäre er einem Kostümfilm über Ludwig den Vierzehnten entsprungen.

Und trotzdem: Er wirkte kein bisschen lächerlich, sondern so, als wäre er in diesen Klamotten geboren, so als wäre dies das einzig passende Outfit für ihn.

Die drei Riesenhunde kamen immer näher. Sie hatten alle unterschiedliche Fellfarben, Schwarz-Weiß, Braun-Weiß und Rötlichweiß. Amy versuchte, entspannt zu bleiben, ging aber automatisch einen Schritt zurück und war erleichtert, als die Collies kurz vor ihr in einer perfekten Linie zum Stehen kamen.

»Baron Aranda, es ist mir eine große Ehre«, stellte sich der Mann mit einer angedeuteten Verbeugung vor und reichte Amy seine Hand. »Im Namen der Strandhams möchte ich Sie auf Kallystoga herzlich willkommen heißen. Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mademoiselle Loreley! Möge Ihr Aufenthalt allen zur Freude gereichen!«

»Ähm … danke«, brachte Amy hervor. »Ich freue mich auch, hier zu sein.« Dabei lugte Amy immer wieder beunruhigt zu den Hunden. Sie fühlte sich von ihren Blicken wie von Pfeilen durchbohrt, fast so, als wüssten sie, dass Amy sich unter falschem Namen auf ihre Insel schlich. Unsinn, versuchte sie, sich zu beruhigen, und tastete nach ihrem Talisman. Sie war nur nervös. Und das hier waren bloß drei Collies. Riesige Collies, aber natürlich keine Gedankenleser. Sie sollte sich lieber auf den Baron konzentrieren.

»Ich möchte Ihnen auch meine Begleiter vorstellen«, sagte Aranda. »Das hier ist Apanu«, er zeigte auf den Collie mit dem rötlichen Fell, »Bendis«, der braune Collie, »und nicht zuletzt unsere schwarz-weiße Nortia.«

»Äh, hallo«, sagte Amy etwas unsicher und hoffte, es wurde nicht von ihr erwartet, dass sie die drei streichelte. Ob sie ihm wohl sagen konnte, dass sie Angst vor Hunden hatte? Wobei – hatte Loreley Angst vor Hunden? Amy konnte sich plötzlich nicht mehr erinnern. Und weil sie nicht wusste, wie viel ihre Gastgeber wirklich über die Teilnehmer wussten, war es wahrscheinlich besser, nicht zu viel von sich preiszugeben.

Der Baron trat näher zu ihr hin, die Hunde ebenfalls. Wieder machte Amy einen Schritt zurück.

»Mademoiselle Loreley, bevor wir uns zum Schloss aufmachen, wo ich Sie mit Ihren Rivalen und den Regeln des Alabasterballes bekannt machen werde, ist es très importante für die Strandhams, dass Sie sich über die wichtigste Regel von Anfang an im Klaren sind.«

»Welche … Regel?«, fragte Amy, der das Blut in die Wangen schoss. Müsste sie das wissen? Hatte Loreley etwa vergessen, das ihr gegenüber zu erwähnen?

»Wenn Sie Kallystoga einmal betreten haben, ist es nicht mehr möglich, die Insel vor Ende des Alabasterballes wieder zu verlassen. Es gibt keine Ausnahmen – das sind die Spielregeln. Jetzt hätten Sie allerdings noch die Chance. Die Strandhams wären naturellement enttäuscht, aber oui, es wäre möglich – Alors, wie entscheiden Sie sich?«

Verunsichert blickte Amy dem Baron ins Gesicht. Seine opalgrauen Augen musterten sie gespannt. Von dieser Regel hatte sie bei ihren Recherchen zum Ball tatsächlich noch nie gehört. Das war doch Schwachsinn, oder? Hier gab es überall Boote – wenn sie es wirklich darauf anlegte, konnte sie natürlich verschwinden!

»Nun, Mademoiselle?« Sein bemüht glattes Lächeln verströmte die Wärme von Wasser, das im Frühling von Eiszapfen tropft, so als hätte Amy seine Geduld bereits überstrapaziert.

»Ich stimme zu«, presste Amy hervor. »Da ich unbedingt Ballkönigin werden möchte, lasse ich mir diese Chance nicht entgehen.«

Der Baron schien entzückt. »Très bon!«, rief er, klatschte in die Hände und wies Richtung Treppe. Dabei blitzten die Juwelen an seiner linken Hand in der Sonne auf, hell und scharf wie Messerspitzen.

Amy zögerte einen Moment. Sollte sie ihre Koffer nicht lieber mitnehmen? Der Baron merkte es und sah sie irritiert an.

»Mein Gepäck?«, fragte sie und drehte sich danach um, doch es war verschwunden.

Er machte eine wegwerfende Bewegung. »Schon erledigt. Ihr Gepäck erwartet Sie auf Ihrem Zimmer.«

Amy stutzte. Abgesehen vom Bootskapitän, war doch niemand hier. Andererseits musste es Bedienstete geben. Ganz allein konnte man so ein gewaltiges Anwesen auf keinen Fall bewirtschaften.

Danach bemühte Amy sich, dem Baron und den Hunden zu folgen. Während sie mit schnellen Schritten die Stufen hochstiegen, erklärte er, wie gern er Deutsch mit ihr plaudern würde, sie ansonsten auf der Insel jedoch Englisch sprächen, denn ihre Mitstreiter kämen ja von den unterschiedlichsten Orten aus der ganzen Welt.

Noch während Amy sich fragte, wie Sunny hier jemals mit ihren miesen Englischkenntnissen zurechtgekommen war, beschleunigte Baron Aranda seine Schritte. Auf hohen Samtschuhen eilte er voran und geriet kein bisschen außer Atem. Amy war froh, als sie endlich oben am Eingang zum Schloss angekommen waren. Mit seiner ringgeschmückten Hand zeigte der Baron auf verschiedene Gebäude. »Es wird Sie sicher interessieren, was es damit auf sich hat. Dort …«, er zeigte nach links, »ist unser kleiner Jachthafen.« Er ging etwas auf die Zehenspitzen und wies hinter den Hafen. »Und am Ende der Südküste sehen Sie unser Treibhaus. Es ist très jolie und steht unter Denkmalschutz«, verkündete er mit einigem Stolz in der Stimme. Dann wandte er sich zum Gehen.

»Und was ist dort drüben?«, fragte Amy und deutete auf einen im Dunst verschwimmenden Turm auf der Nordseite der Insel, den sie zwischen den verschiedenen Teilen des Schlosses entdeckt hatte.

»Das ist der Leuchtturm, der die Schiffe im Thousand Island Pond vor den Klippen und Untiefen dieser Insel schützt. Er steht jedoch am äußersten Nordzipfel, die Wege dort sind très dangereux und daher nicht passierbar.« Er räusperte sich. »Wenn es Ihnen beliebt, zeige ich Ihnen nun Ihr Zimmer. Die Strandhams hoffen sehr, dass Sie sich dort wohlfühlen werden!«