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London 1880. Wohlbehütet wächst der elfjährige Henry unter den wachsamen Augen seiner strengen Eltern in einem gehobenen Londoner Vorort auf. Die einzigen Gedanken des verträumten Jungen kreisen um seine Mitschülerin Mona, die er täglich still und heimlich auf dem Schulhof anhimmelt. Ein gemeinsamer Schulausflug in die abgelegene Grafschaft Blackmountain Hill soll Henry endlich die Gelegenheit geben, sich Mona nähern zu können. Schon beim Betreten des alten Herrenhauses spürt er jedoch ein mulmiges Gefühl, das er nicht abstreifen kann. Die einzige Regel, die der charismatische Leiter des Herrenhauses gleich zu Beginn aufstellt: Der Zutritt zum Nordflügel ist strengstens verboten! Was für die Jungen und Mädchen ein paar aufregende Tage in einem imposanten Anwesen werden, entpuppt sich für Henry als eine Woche voller Rätsel. In der Bibliothek entdeckt er zufällig eine jahrzehntealte Fotografie und doch scheinen Mr. Gold und seine Mitarbeiter um keinen Tag gealtert. Wer sind die Angestellten des Hauses wirklich? Und weshalb ist der weitläufige Garten voller geflügelter Kreaturen, die erschreckend lebendig wirken? Aber auch das düstere Herrenhaus selbst scheint ein Eigenleben zu führen: Die Wände flüstern, unsichtbare Augen beobachten den Jungen aus Spiegeln heraus und selbst der Turm des Nordflügels zieht Henry regelrecht in seinen Bann. Was verbergen die Angestellten von Laxton Manor dort oben? Zu Henrys Überraschung scheint Mona ein Auge auf ihn geworfen zu haben, doch um ihre Zuneigung zu gewinnen, muss er sich erst auf Monas nächtliche Mutprobe einlassen: Er soll den Turm des Nordflügels erklimmen. Noch ahnt Henry nicht, welches Grauen er dadurch heraufbeschwört, doch der Albtraum von Laxton Manor wird ihn auch dann nicht loslassen, wenn er längst wieder zuhause ist.
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Seitenzahl: 612
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Für meine Schwester Stefanie
Ehrgeizigster Mensch, den ich kenne (hätte ich nur ein Zehntel deines Ehrgeizes, hätte ich im Kindergartenalter schon 20 Bücher veröffentlicht), beste Reisebegleitung (kann immer noch nicht glauben, wie viel Geld wir beim Koreaner verfressen haben) und klügster Kopf der Rasselbande (niemals werde ich Sudoku-Rätsel so schnell lösen, aber dafür hat mich die Katze lieber)
Erster Teil
Die Stadt der Schornsteine
Mona, oder das schönste Mädchen der Welt
Abendbrot
Ein zerrütteter Monat
Laxton Manor
Mr. Gold und eine Regel
Serena und die Halle der Bücher
Der Gärtnerjunge
Ein unerwartetes Gespräch
Clarise und der Gewürzschrank
Nebel
Der Ausflug
Der Wettbewerb
Tohopka der mürrische Riese
Mutprobe
Die letzten unschuldigen Stunden des Henry Wellington
Der verbotene Nordflügel
Heimkehr
Zweiter Teil
Ein friedliches Weihnachtsfest
Im Nest
Besuch aus der Kindheit
Der Bau von Laxton Manor
Ein Wiedersehen
Der Turm
Die dunkle Schwester
Aufruhr
Der Kampf des Goldenen Ritters
Flucht aus Laxton Manor
Alte Bekannte
Eine wichtige Botschaft
Gefahr droht
Der Spiegel
Freiheit
Der Schamane, die Alchemistin und das Kind
Alba
Epilog
London, 1880
Manche nennen sie die Stadt der Schornsteine.
Wenn London ein reichlich gedeckter Tisch wäre, dann gäbe es zwei Arten von Menschen, die an ihm speisten. Diejenigen, die am frühen Morgen in gefettete Lederschuhe schlüpften oder ihre Körper in steife Korsetts zwängen, erhöben lachend ihre Gläser aus geschliffenem Bleikristall und bedienten sich reichlich an der Tafel. Sie gäben sich der Völlerei und den Verlockungen hin und bestaunten die ersten technischen Errungenschaften, die London seinerzeit von allen anderen Großstädten unterschied.
Und dann gäbe es noch die Menschen am unteren Ende des Tisches. Mit weit aufgerissenen Augen lauschten sie dem lachenden Stimmengewirr, dem Klirren von Gläsern, und warteten gierig auf einen winzigen Krümel – manchmal ein Leben lang. Es waren diejenigen, denen die Stadt der Schornsteine nur Dreck, Krankheiten und Elend brachte. Diese Menschen malochten in stickigen Fabrikhallen, schufteten sich die Knochen am Hafen zugrunde oder standen bis zu den Kniekehlen im Schlick und befreiten tagein tagaus die Kanalisation unter Tage von Kloake und Unrat. Doch eine Gemeinsamkeit einte all die Menschen, die hier lebten und ihren Platz am Tisch einnahmen: Niemals verließ auch nur einer von ihnen diesen Ort, denn die Stadt der Schornsteine verschlang ihre Bewohner mit Haut und Haaren – machen früher, manche später.
Die graue Wolkendecke hielt sich nun schon seit fast drei Wochen über London. Beinahe nahtlos ging der schwarze Rauch, der aus den unzähligen dünnen Schornsteinen der Fabriken aufstieg, in die dunkle Dunstglocke am Himmel über. Der grobe Ruß, der aus dem florierenden Industriegebiet im Norden in die Luft gewirbelt wurde, fiel anderorts in vornehmeren Stadteilen wie Ascheflocken vom Himmel und bedeckte die hellen Fassaden der schmalen Häuser mit einem hässlichen Grauschleier.
Im Hafen der Stadt stauten sich unzählige Kutter und Handelsschiffe, die wegen des stürmischen Wetters draußen auf See nicht ablegen konnten. Geschäftstüchtige Kneipenbesitzer freuten sich über die trinkfesten Seemänner, die ihre langen Tage in den vielen verruchten Hafenkneipen verbrachten, nicht wissend, wohin sonst mit ihrer ungewollten Freizeit. Selbst die alten und verlebten Prostituierten rieben sich gierig die Hände, wenn ganze Mannschaften in den dreckigen Freudenhäusern, versteckt in irgendwelchen Hinterhöfen, nach einer Ablenkung suchten. Entlang der Ufer der Themse, doch abseits der belebten Straßen, versammelten sich Obdachlose unter Brücken oder kauerten zusammengepfercht in leerstehenden Verschlägen, um Schutz vor Feuchtigkeit und Nässe zu suchen. Ratten, die der Überschwemmung gerade noch rechtzeitig entkommen konnten, flohen in Scharen aus dem volllaufenden Untergrund und mischten sich unter das menschliche Gesindel.
Doch selbst das trübe Regenband und der nasskalte Wind konnten das wuselige Treiben in der Innenstadt nicht unterbinden. Geklapper von Pferdehufen kündigte Kutschen an und ließ einige Fußgänger rasch zur Seite springen, denn die Kutscher hoch oben auf dem Kutschbock nahmen keine Rücksicht und spritzten angesammeltes Regenwasser achtlos auf den Gehweg. Kaum einer der Londoner ging dieser Tage ohne Regenschirm aus dem Haus und diejenigen, die sich keinen Regenschirm leisten konnten, bedeckten ihre Köpfe mit zusammengefalteten Zeitungen und hasteten eilig durch die Gassen. In den gehobenen Londoner Vororten, eine Stunde Kutschfahrt von der Innenstadt entfernt, schien das Leben der Menschen hingegen völlig stillzustehen. Unzählige mehrstöckige Häuser, eine Fassade schmucker als die andere, reihten sich aneinander und verpassten ganzen Straßenzügen dennoch eine langweilige Gleichartigkeit.
Henry kauerte im Erker seines Zimmers und fuhr mit seinem Zeigefinger die Regenspuren auf dem Fenster nach. Die Tropfen klatschten mit voller Wucht unaufhörlich gegen die Fensterscheibe und der Wind blies sie in alle Richtungen fort. Landeten zwei Regentropfen gleichzeitig nebeneinander, ließ Henry die beiden Tropfen ein Wettrennen abhalten – Sieger war, wer zuerst den Fensterrahmen erreichte. Draußen auf dem Gehweg eilten zwei Frauen in langen Kleidern und Umhängen an Henrys Elternhaus vorbei, die Köpfe nach unten gebeugt. Sie trauerten dem Sommer hinterher und schimpften über das schlechte Herbstwetter. Gedämpft hörte er eine der Frauen klagen, ihr langer Rock würde durch die vielen Pfützen mit Regenwasser vollgesaugt und etliche Tage dauern, bis der dicke Stoff wieder trocken wäre. Die andere Frau sprach von ihrer ruinierten Hochsteckfrisur und dem kaputten kleinen Filzhut. Die Frauen verschwanden mit schnellen Schritten an der nächsten Straßenecke. Warum zogen sie denn bei diesem Wetter auch einen langen Rock an, oder warum steckten sie sich kleine Hüte aus Filz in die Haare, wenn es doch schon den ganzen Tag wie aus Eimern goss? Henry hauchte seinen warmen Atem an die kalte Fensterschreibe und malte eine Sonne auf das feuchte Glas. Es war Ende September und ein langer Sommer ging gerade vorbei. Der Herbst kündigte sich mit einem Paukenschlag an.
Henry streckte den Kopf empor und drückte seine Nase an dem Fenster platt. Er spürte das Trommeln der Regentropfen auf der Haut und schloss die Augen. Er liebte den Klang von Regen. Am liebsten würde er jetzt seine gelben Regenstiefel anziehen und ohne Jacke oder Regenschirm draußen auf der Straße durch die Pfützen springen. Oder er würde ein großes Stück Zeitungspapier nehmen, ein Boot daraus falten und das kleine Schiffchen dann so lange den Rinnsal am Gehweg entlangfahren lassen, bis das Papier aufgeweicht war. Doch es würde kaum eine Minute vergehen und seine Nanny würde ihn wieder zurück ins warme Haus zerren, wo seine Eltern dann mit einer Standpauke auf ihn warteten. Ein junger Gentleman hatte bei Regenwetter nichts auf der Straße verloren und schon gar nicht, um zu spielen. Zudem, Henrys Mutter wurde nie müde dies zu betonen, war er schon immer von schwächlicher Gesundheit gewesen, weshalb ihn ein derartiges Wetter oft und gerne für mehrere Tage ans Bett fesseln konnte. Angeblich hatte Henry das zart besaitete Gemüt und die häufigen Kränkeleien von seiner bereits vor einigen Jahren verstorbenen Großmutter väterlicherseits geerbt – das behauptete zumindest Henrys Mutter. Generell erkannte Henrys Mutter die Unzulänglichkeiten der eigenen Schwiegermutter bei ihrem Sohn wieder. Du bist ein Tagträumer und mit den Gedanken woanders – wie Großmutter Mathilda. Du hast keinerlei Manieren! Setz dich gerade hin – oder willst du auch einen Buckel wie Großmutter Mathilda? Großmutter Mathilda hatte nie einen Buckel. Sie war eine zierliche Frau gewesen. Eine zierliche und anmutige Frau, die oft und gerne starke Brände trank, Musikabende veranstaltete und mit feinen Herren Zigarre rauchte. Sobald sich die anwesenden Damen diskret in den Damensalon zurückzogen, blieb Großmutter Mathilda bei den Gentlemen im Kaminzimmer und erzählte einen unanständigen Witz nach dem anderen – ohne zu erröten! Vor zwei Jahren, als Henry gerade neun Jahre alt war, starb Großmutter Mathilda friedlich im Schlaf, aber ihr tiefes und herzhaftes Lachen schallte manchmal immer noch durch die Flure dieses Hauses. Ihr Andenken lebte in den Wänden, in den kleinen Schwarz-Weiß-Portraits auf dem Flur und in seinem Herzen.
Henry vernahm gleichmäßige Schritte, die vom Gang zu seinem Kinderzimmer führten und drehte sich zur Tür. Mr. Bucklen, der weißhaarige Butler der Familie Wellington, klopfte förmlich an, öffnete die Tür und sein geschulter Blick fand Henry auf Anhieb in dem Erker. Die kleine Ausbuchtung auf der rechten Zimmerseite mit den drei Fenstern und der grünen Polsterecke war seit jeher Henrys Lieblingsplatz zum Lesen, Lernen und Träumen und das wusste auch der Butler. Mr. Bucklen leistete bereits Henrys Großvater treue Dienste und gehörte ebenso zum Haushalt der Familie Wellington wie das wertvolle Silberbesteck, das nur bei besonderen Anlässen aus der Truhe geholt wurde. Henry kannte den hageren Mann seit seiner Geburt, dennoch hatte er ihn noch nie in anderen Kleidern gesehen als dem schwarzen Anzug und der weißen Fliege. Seine immer gleiche Art und Weise zu gehen und zu sprechen, schien Henry so fremdartig, dass er manchmal dachte, der Butler sei in Wirklichkeit ein mechanischer Mensch, in dessen Innenleben abertausende Zahnräder und Seilzüge ratterten, während eine lange Tonspur immer wieder dieselben Sätze wiedergab. Davon hatte Henry in einem von Jules Vernes Romanen gelesen.
„Eure Eltern bitten zum Tee, junger Herr“, sagte der Butler mit ausdrucksloser Miene und deutete mit ausgestrecktem Arm in den Flur hinaus, ehe die behandschuhten Hände wieder an die Körpermitte zurückwanderten.
Henry gehorchte mit schelmischem Lächeln und der Butler zog sich zurück. Rasch schob er seine verrutschten Strümpfe hoch, steckte das weiße Hemd ordentlich in die knielange Hose und lief rasant die geschwungene Holztreppe vom ersten Stock hinab ins Erdgeschoss. Jeder der vielen kleinen Räume war mit feinen Stuckdecken versehen. Die Gänge des repräsentativen Erdgeschosses waren mit dicken Tapeten in Altrosa ausgestattet, während das Speisezimmer und das angrenzende Teezimmer in Dunkelgrün gehalten wurden. Schwere bodenlange Vorhänge umrahmten die deckenhohen Fenster. Manchmal veranstalteten Henrys Eltern Kaminabende und luden Freunde, Bekannte und Geschäftspartner ein. Dann füllten sich das große Haus und die vielen Zimmer immer mit Leben, Musik, verschiedenen Stimmen und vor allem Gelächter. Aber nicht heute. Heute war es in diesem Haus einfach viel zu leer und leise.
Kurz vor dem Teezimmer verlangsamte Henry sein Tempo. Seine Eltern hatten ihm und seiner älteren Schwester das Rennen und Spielen im Erdgeschoss untersagt. Die Gefahr, dass eine der gläsernen Vitrinen oder einer der kleinen hölzernen Rundtische zu Bruch ging, war zu groß und Henry wollte eine Tracht Prügel seines Vaters unbedingt vermeiden. Er konnte zwar mit dem Namen Biedermeier nichts anfangen, aber sein Vater wurde nie müde, die Herkunft der für viel Geld aus Deutschland importierten Möbelstücke zu betonen. Sei es, um seinen Kindern einen Tadel auszusprechen, oder, um seinen Gästen ein Raunen zu entlocken. Leise öffnete Henry die Tür und betrat das Teezimmer.
„Guten Tag, liebe Eltern.“ Er setzte sich auf seinen Stuhl, der unter Henrys schmächtigem Körper knarzte und legte beide Hände neben den Teller. Wieder einmal war der Tisch aus poliertem Mahagoniholz mit silbernen Etageren gedeckt, auf denen selbstgebackene Butterkekse und Pralinen Henry das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Außer einigen Portraits an den Wänden und einem Sekretär, war das Teezimmer recht karg eingerichtet. Eine mannshohe Standuhr aus dunklem Holz und mit kupfernem Pendel tickte laut im Sekundentakt und versuchte vergeblich, dem lauten Prasseln und Plätschern des Regens draußen standzuhalten.
Tick – Tick - Tick
Es war derselbe Anblick wie jeden Freitagnachmittag. Henry lächelte dem gestandenen Mann mit den grauen Augen am Kopfende des Tisches zu. Er sah seinen Vater so gut wie kaum unter der Woche. Nur freitags konnte es sich Mr. Wellington einrichten, das Geschäft eher zu verlassen und etwas Zeit mit der Familie zu verbringen. Henrys Vater besaß das zweitgrößte Handelsunternehmen Londons. Er kaufte exotische Waren, wie Tabak, Gewürze und Seide, am Londoner Hafen ein und verkaufte diese wiederum mit einem Aufschlag an Warenhäuser und Einzelhändler. Diese Arbeit war sehr anstrengend und deswegen nahm Henry seinem Vater die häufige Abwesenheit auch nicht übel. Mr. Wellington trug einen dunkelblauen Anzug zum steif gemangelten weißen Hemd. Aus seiner Westentasche hing die silberne Kette einer wertvollen Taschenuhr, die einst Henrys Großvater gehörte. Eines Tages, wenn Henry das Unternehmen seines Vaters übernehmen würde, dann würde auch diese Taschenuhr auf Henry übergehen. Henrys Vater sah mit seinen fülligen, aber ordentlich nach hinten gekämmten dunkelbrauen Haaren und dem dicken Vollbart eher wie ein freundlicher älterer Herr aus, der nachmittags im Hyde Park wilde Tauben fütterte. Dass Mr. Wellington aber in jedem Zimmer des Hauses einen Rohrstock griffbereit hielt, ahnte man beim Anblick des freundlich wirkenden älteren Herren nicht.
Tick – Tick - Tick
Das Familienoberhaupt nickte Henry ebenfalls freundlich zu. Henrys Lippen verengten sich zu schmalen Schlitzen, ehe er den Blick abwandte und zu seiner Mutter schielte, die neben ihm saß. Das schwarze lange Kleid von Mrs. Wellington war so eng geschnürt, dass sich Henry oft fragte, ob sie darin überhaupt richtig atmen konnte. Mrs. Wellington trug die aschblonden Haare, die von Jahr zu Jahr heller wurden, zu einem strengen Dutt. Auf dem Kragen ihrer weißen Kleiderbluse funkelte ein kleines silbernes Kreuz.
Tick – Tick - Tick
„Wo bleibt Sophie?“, erkundigte sich Mrs. Wellington in gewohnt strengem Ton und es war nicht ganz klar, ob die Frage Henry oder einem der Angestellten galt, die durch das Nebenzimmer huschten. „Hat Mr. Bucklen euch denn nicht Bescheid gegeben?“
„Doch, das hat er, Mutter.“
„Und wieso lässt sie uns dann warten?“ Mrs. Wellington schnaubte leise. „War sie denn eben nicht auf ihrem Zimmer?“
Henry zuckte unwissend mit den Schultern und schaute fragend zur Tür. Er hatte seine Schwester vorhin nicht gesehen, wusste aber, dass Sophie häufiger unpünktlich war. So waren Mädchen nun einmal.
„Junger Mann, ein Schulterzucken ist keine Antwort auf eine Frage. In diesem Haus antworten wir in ganzen Sätzen“, tadelte ihn Henrys Vater und warf einen Blick auf seine aufgeklappte Taschenuhr. Henry schüttelte sich innerlich und antwortete:
„Verzeihung, Mutter. Ich habe Sophie vorhin nicht gesehen. Soll ich mal nach ihr sehen?“ Henry wusste, dass der gemeinsame Tee Freitagsnachmittags einen Höhepunkt für seine Mutter darstellte. Die wenigen Stunden, die sie als Familie zusammen verbringen konnten, waren rar gesät und so konnte Henry seiner Mutter die missmutige Stimmung kaum übelnehmen. Mr. Wellington sah noch immer auf seine aufgeklappte Taschenuhr, ehe das glänzende Erbstück wieder in der Westentasche verschwand. Henry ahnte, dass sein Vater gleich nach dem Tee wieder ein paar Stunden in seinem auswärts gelegenen Büro verbringen und erst am späten Abend wieder heimkehren würde. In ihm wuchs schon seit geraumer Zeit der leise Verdacht, dass seinem Vater die gemeinsamen Stunden im Kreis der Familie eher wie eine ungewollte Pflichtveranstaltung erschienen. Ein weiterer Termin auf der Agenda, an den man am Ende des Tages einen Haken dransetzen konnte.
Tick – Tick - Tick
Das laute Ticken der Pendeluhr war eine willkommene Abwechslung der eisernen Stille in diesem Raum und machte Henry gleichzeitig wahnsinnig.
„Entschuldigt die Verspätung“, drang es fröhlich von der Tür. Henrys Schwester betrat das Teezimmer und nahm auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz. Sie war sechs Jahre älter als Henry und feierte bald ihren siebzehnten Geburtstag. Sophies Augen waren so grün wie die umliegenden Gärten im späten Frühling. Sie besaß glatte blonde Haare, aber im Gegensatz zur Mutter, trug sie nie eine strenge Hochsteckfrisur, sondern stellte ihre Haarpracht oft und gerne zur Schau. Obwohl Sophie schon fast erwachsen war, verstand sich Henry sehr gut mit seiner Schwester. Er stritt sich fast nicht mit ihr. Missbilligend beäugte Henrys Mutter das lockersitzende Kleid ihrer Tochter, doch behielt ihren Unmut für sich. Henrys Schwester war zwar von schmaler Statur, trotzdem zeichneten sich ihre weiblichen Rundungen deutlich unter dem dünnen gelben Stoff ab. Mr. Wellington winkte dem alten Butler mit einer knappen Handbewegung zu.
Der ältere Herr zögerte keine Sekunde und füllte erst dem Vater, dann der Mutter und zuletzt den beiden Kindern Tee in die Tassen. Danach zog sich der Butler geräuschlos und unauffällig in die Ecke des Teezimmers zurück und verharrte dort wie eine Statue. Henrys Vater gab seiner Familie ein stummes Zeichen und mehrere Hände griffen sogleich nach dem leckeren Gebäck. Genussvoll verschlang Henry die weichen Butterkekse. Die Köchin, ebenfalls seit vielen Jahren im Dienst der Familie Wellington, hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Das Geheimnis war der Abrieb von Zitronenschalen, hatte ihm die korpulente Frau einmal augenzwinkernd verraten. In Henrys Augen war sie, von Sophie einmal abgesehen, die einzige gute Seele im ganzen Haus.
Tick – Tick - Tick
„Iss nicht so gierig. Wo sind deine Manieren heute nur geblieben?“, hörte Henry seine Mutter vorwurfsvoll sagen. Über den Rand der Etagere sah er verstohlen zu seiner Schwester Sophie herüber, die ihm aber lediglich ein unwissendes Schulterzucken und Augenrollen zuwarf und dann am dampfenden Tee nippte. Henry betrachtete das gelbliche Gebäck auf seinem Porzellanteller. Er würde es niemals laut aussprechen, aber Henry war mehr an der Köchin gelegen, als an seiner eigenen Mutter.
„Nun, Henry“, begann Mr. Wellington mit ruhiger Stimme und Henry zuckte innerlich zusammen. „Deine Mutter und ich waren vorgestern auf der Elternversammlung deiner Schule. Du hattest uns noch gar nicht von der geplanten Ausflugswoche im Oktober berichtet.“ Henrys Herz machte einen Satz. Er sah seinen Vater an und bemerkte, dass das laute Ticken der Pendeluhr im Gleichklang mit seinem Puls schlug, den er als Rauschen im Ohr wahrnahm. Henry hasste Schulausflüge und er hatte den einwöchigen Ausflug auf das Land in den letzten Wochen vehement verdrängt.
„Hast du nichts zu sagen?“, fragte seine Mutter. Sophie sah mit hochgezogenen Augenbrauen fragend zu ihrem Bruder. Es war der schwesterliche Blick, der ihm wortlos aber unmissverständlich zu verstehen gab:
Na los, worauf wartest du? Antworte, sonst gibt es wieder Tadel. Und wenn sie auf einen von uns sauer sind, dann wird der andere ebenfalls getadelt. Für irgendetwas.
„Ich hatte es vergessen, Vater. Verzeihung“, stammelte Henry nervös. Er hatte gehofft, der Ausflug wäre auf dem Elternabend nicht zur Sprache gekommen. Seine Mutter räusperte sich.
„Das sind schon zwei Bitten um Verzeihung innerhalb kürzester Zeit. Ich frage mich, was mit dir los ist?“ Henry biss sich zerknirscht auf die Unterlippe und nippte am Tee. Der Geschmack des herben Earl Grey setzte sich auf seiner Zunge fest.
Tick – Tick - Tick
„Die Grafschaft um Blackmountain Hill soll sehr schön sein. Dein Lehrer hat davon gesprochen, dass ihr in Laxton Manor untergebracht werdet. Ein paar ruhige Tage auf dem Land fernab dieser Großstadt werden dir guttun.“ Ermutigend lächelte Henrys Vater ihn an. Henry stimmte seinem Vater mit einem gespielten Lächeln zu und schluckte den Kloß, der sich mit Kekskrümeln aus seinem Mund vermischte, angeekelt hinunter. Eingepfercht in einem Herrenhaus, eine ganze Woche lang. Henry stöhne innerlich auf. Insgesamt drei Jungenklassen würden in einigen Wochen an dem Ausflug teilnehmen und Henrys Laune sank jetzt schon in den Keller.
„Ich freue mich auf den Ausflug“, sagte Henry.
Nein, tue ich nicht. Am liebsten würde ich zuhause bleiben. Bei Sophie. Bei meinen Büchern.
„Du hast noch mehr Grund zur Freude“, antwortete Mr. Wellington und lächelte in die Runde. Henry tauschte verdutzte Blicke mit seiner Mutter und Sophie aus und blickte dann erwartungsvoll zu seinem Vater. „Ich habe mir erlaubt, morgen dem Büro fernzubleiben. Wir werden gemeinsam zum Harrods fahren und jeder von euch darf sich etwas aussuchen.“ Henrys Mutter schlug überrascht beide Hände vor den Mund.
„Vater“, hauchte Sophie, „das klingt wundervoll.“ Henry beobachtete, wie Sophie aufsprang und ihrem Vater einen Kuss auf die Wange gab. Dann stand auch er auf und schmiegte sich kurz an Mr. Wellington, der Henry väterlich auf den Rücken klopfte.
„Und das, obwohl wir noch gar nicht Weihnachten haben“, rief Henry seiner Schwester zu und Sophie lachte laut.
„Ich weiß schon, was ich mir aussuchen werde“, rief Sophie aufgeregt. „Eine funkelnde Brosche! Nein wartet…vielleicht doch lieber eine neue Haarspange?“
„Und ich möchte ein neues Buch! Oder zwei neue Bücher!“, posaunte Henry.
„Das Harrods hat auch eine ganz wunderbare Kosmetikabteilung. Sie kaufen die exklusivste Ware in Paris, um sie hier in London weiterzuverkaufen. Vielleicht finde ich im Harrods ein neues Parfum?“ Sophie legte den Zeigefinger nachdenklich auf die Wange und lächelte verträumt. „Der Duft sollte lieblich sein. Meine Freundin Marié sagte, der Geruch einer Dame sollte so dezent sein, dass ein Mann ihn nicht als aufdringlich empfindet, und doch stark genug, dass sich eben dieser Mann noch am selben Abend daran zurückerinnert.“
Henry verstand nur Bahnhof.
„Nun zügelt euch doch bitte“, griff Mrs. Wellington ein und deutete ihrem Sohn an, sich wieder auf den Platz zu setzen. „Wenn ihr herumalbert, bekommt ihr gar nichts. Und Sophie, was diese Marié über irgendwelche Männer sagt, solltest du geflissentlich überhören, junge Dame!“ Mr. Wellington blickte erfreut zu seinen beiden Kindern, die sich gegenseitig zuzwinkerten – die Überraschung war dem Familienvater zweifelsfrei geglückt. Mrs. Wellington wartete, bis sich Henry wieder auf den Stuhl setzte und strich ihrem Sohn einige braune Haarsträhnen wieder hinter das Ohr.
„Sophie, du hast meiner Meinung nach genügend Parfüm und du, Henry: dein ganzes Zimmer quillt über vor Büchern.“ Henry warf seiner Schwester einen enttäuschten Blick zu, deren fröhliches Lachen ebenfalls erlosch. Aber dann räusperte sich Henrys Vater und Mr. Wellington legte die Servierte mit dem eingestickten Emblem der Wellingtons neben den Teller.
„Nein, nein. Sophie und Henry, ihr sollt euch morgen das aussuchen dürfen, was immer euch gefällt.“ Henrys Augen begannen vor Freude zu strahlen und auch Sophies Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Mrs. Wellington schürzte die Lippen, blickte auf ihren leeren Porzellanteller und nickte stumm. Als Ehemann hatte Mr. Wellington immer das letzte Wort und dem wurde nie widersprochen. Gleich nach dem Tee und nachdem er die Erlaubnis seiner Eltern hatte, aufstehen zu dürfen, stürmte Henry aufgeregt die hölzernen Treppenstufen hinab, die in das Untergeschoss des Hauses führten. Wie ein graziles Rehlein wich Henry quickend einer jungen Haushälterin aus, die vor Schreck fast einen Stapel gemangelter Bettwäsche und Laken fallen ließ. „Tut mir leid“, rief Henry und verschwand hinter der nächsten Biegung. Schon faszinierend, staunte Henry und rannte weiter. Faszinierend und komisch, dass es in diesem Haus mehr Angestellte als Familienmitglieder gab. Entlang der unscheinbaren Türen, hinter denen sich zu beiden Seiten die Schlafzimmer der Bediensteten befanden, führte ein verwinkelter Gang zu einer weißgestrichenen ausschwenkbaren Flügeltür. „Alberta!“, Henry stemmte die Flügeltür der Hauswirtschaftsräume auf und entdeckte die stämmige Köchin in der rechten Ecke. Es war brütend heiß in diesen Räumen. Der vordere Teil bestand aus einer großzügig geschnittenen Kochküche. Aus dem Inneren des gekachelten Feuerherdes drang heiße Luft und verbreitete sich im gesamten Raum. Gusseiserne Pfannen und kupferfarbene Töpfe türmten sich auf den Arbeitsplatten, kochend heißes Wasser blubberte in einem schweren Kessel und ein Geruch von gebratenem Fleisch und scharfen Zwiebeln trieb Henry kurzzeitig Tränen in die Augen.
Direkt hinter der Kochküche befanden sich die Waschküche und der Trocknungsraum, in dem es immer so schön nach frisch gewaschener Wäsche roch.
„Alberta“, rief Henry erneut, breitete die Arme aus und stürmte lachend auf die Köchin. Alberta schmunzelte, rieb sich hastig die Hände an ihrer Schürze sauber und hob Henry schwungvoll in die Höhe. Mit seinen fast elf Jahren war Henry zwar kein kleines Kind mehr, aber laut Alberta wog er kaum mehr als ein „ordentlicher Sack Kartoffeln“, weshalb sie ihn auch oft und gerne eine Extraportion Teigreste naschen ließ. „Alberta“, sagte Henry und vergrub beide Hände in den weichen Schultern der Köchin.
„Mein Junge, du bist ja ganz aufgeregt“, lachte Alberta und ließ Henry nach einer Weile wieder herunter.
„Vater hat vorhin verkündet, dass er morgen mit Mutter, Sophie und mir ins Harrods fahren wird. Wir dürfen uns aussuchen, was immer wir möchten! Er kauft uns alles!“ Alberta lachte so laut, dass ihr runder Bauch unter der Schürze wackelte, was Henry wiederum ebenfalls zum Grinsen brachte.
„Ach mein Junge, das freut mich aber für Sophie und dich.“ Alberta beugte sich über die Arbeitsplatte und formte eine kleine Kugel aus dem Kartoffelteig, der bereits flachgerollt vor ihr lag. „Aber oben nichts verraten“, zwinkerte die Köchin und Henry schob sich schmatzend die Teigkugel in den Mund. „Wie haben dir denn die Butterkekse geschmeckt?“
„Hervorragend! Wie immer!“, antwortete Henry mit vollem Mund und grinste breit.
„Na dann warte mal, bis das Abendessen serviert wird. Es gibt…“
„Lass mich raten“, fiel Henry der fülligen Köchin ins Wort, „Braten mit dunkler Soße, Kartoffelknödel mit einem Brotkern und…“
„…Bohnen im Speckmantel“, lachte Alberta und streichelte Henry über den Kopf.
Nach dem Abendessen (wie erwartete blieb Mr. Wellington diesem fern) brachte die Nanny Henry ins Bett. Sophie warf ihrem Bruder einen Luftkuss über den Flur zu und verschwand in ihrem Zimmer. Die Nanny löschte die Lichter in Henrys Zimmer und schloss die Tür. Draußen echoten zehn Schläge der Kirchturmuhr. Voller Vorfreude auf den morgigen Tag überlegte Henry, was er sich wohl im Warenhaus aussuchen würde. Ob sich seine Mutter auch etwas vom Geld des Vaters aussuchen dürfe? Vielleicht würde sie sich über ein schönes Halstuch freuen? Henry stellte fest, dass er schon lange nicht mehr im Harrods war, das letzte Mal an Weihnachten letztes Jahr. Draußen echoten zwei Schläge der Kirchturmuhr. Halb elf. Henry kuschelte sich in seine Decke und betrachtete die bizarren Schattenspiele, die das Licht des hellen Mondes und die verknöcherten Bäume draußen vor dem Haus zauberten. Anscheinend war der seit Tagen undurchlässige Wolkenteppich endlich aufgebrochen. Wie winkende Hände mit dünnen Fingern und brüchigen Nägeln wankten die Verästelungen an der hellen Wand und wanderten bis zur Decke hinauf. Henry zog die Bettdecke bis zum Kinn und stellte sich vor, diese Schatten würden ein Eigenleben führen. Henry spann den Faden weiter und stellte sich vor, dass, wenn die Sonne hinter dem Horizont versank und der Mond sein helles Licht auf Gebäude oder Gegenstände warf, ein Tor zu einer anderen Welt geöffnet würde und fremdartige Wesen der Nacht in die Welt der Menschen eindringen konnten. Deswegen existierten auch spukende Poltergeister, böse Hexen und furchteinflößende Monster nur bei Nacht. Sobald die Sonne wieder aufging und diese Wesen in ihr Schattenreich zurückkehren mussten, gehörte die Welt wieder den Menschen. Solange, bis die Sonne erneut unterging.
Draußen echoten drei Schläge der Kirchturmuhr. Es war Viertel vor Elf. Henry drehte sich stöhnend auf die Seite und schloss die Augen. Genug mit den Phantastereien. Böse Hexen, Geister, und Schattenwelten existierten sowieso nicht, sagte zumindest seine Mutter. Wie Unrecht sie doch hatte.
***
Henry wurde unsanft geweckt. Die klackernden Schritte auf dem Holzboden rissen ihn aus dem Schlaf. Seine Nanny betrat das Zimmer, riss die Fenster weit auf und rüttelte so lange an Henrys Bettdecke, bis sich dieser murrend nach oben stemmte. Draußen war es noch dunkel, aber immerhin hatte der Regen aufgehört. Wie viel Uhr war es? Das Harrods! Wie ein Blitz durchfuhr es Henry. Hatte er verschlafen? War seine Familie ohne ihn gegangen? Henry schlug die Decke zur Seite und sprang auf.
„Nicht so hastig, junger Mann“, ermahnte ihn die ältere Frau, „deine Eltern und Sophie sitzen bereits beim Frühstück. Du solltest zwar nicht wieder herumtrödeln, aber hetzen brauchst du ebenfalls nicht. Ich habe dir bereits Wasser eingelassen.“ Erleichtert und halb benommen tapste Henry zum Waschzimmer, welches sich zwei Türen weiter befand. Ein kleiner Ofen aus Gusseisen wärmte den Raum seit einer guten Stunde, aber trotzdem war es klirrend kalt und das Gemisch aus Wasser und Seifenlauge im Waschbottich höchstens lauwarm. Vom Erdgeschoss wehte der Geruch von Rührei, Bohnen und Speck hinauf. Mehr als oberflächlich und mit knurrendem Magen wusch Henry die wichtigsten Stellen, schlüpfte in einen seiner guten Anzüge und marschierte ins Esszimmer.
***
Die gesamte Fahrt über blickte Henry aus dem kleinen Fenster und beobachtete die unterschiedlichen Menschen, an denen die Kutsche vorbeifuhr. Ab und an glitten die hölzernen Räder der Kutsche zwischen die unebenen Bordsteinpflaster. Dann ruckelte das gesamte Kutschhaus und wankte bedrohlich von links nach rechts. Mrs. Wellington empörte sich leise, Mr. Wellington nahm das Wanken mit regungslosem Gesichtsausdruck zur Kenntnis, während Sophie und Henry bei jedem Rütteln leise kicherten. Es war Samstagvormittag und die Uhr des BigBen schlug gerade neun Mal.
Die Geschäftsleute blieben heute daheim, die vielen Besucher aus aller Welt schliefen vermutlich auch noch, denn Henry entdeckte die eigentlichen Bewohner Londons. Je weiter sie sich von den gehobenen Vororten entfernten und je näher sie der Innenstadt kamen, umso größer wurde das Elend. Unter dem dicken Wolkenband wirkten die Fassaden und Häuser noch trister, als ohnehin schon und Henry wunderte sich über den zähen Gestank, der durch die Ritzen bis ins Kutschhaus drang. Henrys Mutter griff nach einem bestickten Taschentuch, träufelte etwas Lavendelöl hinein und hielt sich das Stück Stoff an die Nase.
Der Kutscher lenkte die beiden Schimmel auf die viel befahrene Grosvenor Road. „Nicht mehr lange und ihr könnt das Parlamentsgebäude sehen“, kündigte Henrys Vater an, doch seine Worte drangen kaum bis zu Henry vor. Seine Augen blieben an den Menschen hängen, an denen die Kutsche vorbeizog. Unzählige Obdachlose, tummelten oder schliefen in den Seitengassen und verrichteten ihre Notdurft am Ufer der Themse – in demselben Fluss, in dem sie sich auch wuschen. Menschen in Lumpen saßen vor Häusern und starrten seelenlos in die Ferne, während Kranke auf Holzkrücken ziellos durch die Gegend humpelten. Nun verstand Henry auch, weshalb seine und viele andere Familien in die entlegeneren Vororte zogen – der beißende Gestank und der herzzerreißende Anblick waren kaum auszuhalten. Henrys Blick blieb an einer Frau hängen, die kaum älter als seine Mutter sein konnte und doch war ihr Körper ausgemergelt und kraftlos. Die Frau stand bis zu den Knien in der braunen Brühe der Themse und wusch ihren entblößten Oberkörper. Die Brüste hingen wie lederne Säcke hinab, als sich die Frau leicht nach vorne beugte. Offenbar musste sie das Geklapper der Pferdehufe gehört haben, denn die Frau hielt in ihrer Bewegung inne, drehte ihren Kopf und blickte direkt in Henrys Gesicht. Doch ehe Henry den Moment erfassen konnte, wurde der kleine Vorhang zugezogen und die Hände seiner Mutter packten ihn.
„Sieh da nicht so hin.“
„Die Frau tut mir leid. Können wir ihr nicht etwas geben?“, fragte Henry und sah zu seinem Vater, der nur leicht mit dem Kopf schüttelte. „Vielleicht auf dem Rückweg?“
„Dann werden diese Menschen nicht mehr da sein“, antwortete Mrs. Wellington. „Gegen zehn Uhr kommen die Ordnungswächter und treiben das Gesindel wieder zurück in ihre Viertel, damit Leute wie wir ungestört einkaufen können. Wir sind heute einfach zu früh dran.“ Henrys Eltern tauschten kühle Blicke aus, die von Sophie und Henry jedoch unbemerkt blieben.
„Ich finde es nicht gerecht“, sagte Henry leise, „wieso haben wir ein schönes Haus und andere schlafen draußen?“
„Weil wir Geld haben“, antwortete Mr. Wellington.
„Wieso haben wir so viel Geld und andere Menschen nicht?“
„Wenn wir nicht so viel Geld hätten, könnten wir denen nichts davon abgeben“, Henrys Vater atmete schwer aus.
„Aber wir geben ihnen doch nie etwas ab.“
„Schluss jetzt“, der Ton seines Vaters ließ keine Widerworte zu und so starrte Henry nachdenklich auf den ruckelnden Boden des Kutschhauses, bis der Kutscher mit einem lauten „Hoh“, die Pferde zum Stehen brachte. Nachdem Mr. Wellington schon draußen warteten, verließ auch Henry das Kutschhaus und sah sich staunend zu allen Seiten um. Vergessen waren die Armen, die Kranken und Alten. Vor Henrys Augen erstreckte sich der breite Straßenzug der Brompton Road. Frauen in weit ausgestellten Reifröcken und Männer in schicken Anzügen tummelten sich vor der geschmückten Fassade des größten Warenhauses der westlichen Länder. Über mehrere Straßenecken zog sich das mehrstöckige Gebäude mit der braunen Fassade und den grünen Markisen. Ein adrett gekleideter Herr in schwarzer Uniform und Mütze grüßte Henrys Eltern förmlich und öffnete die Tür zum Warenhaus.
„Guten Morgen Sir und herzlich Willkommen.“ Henrys Vater grüßte den Portier zurück und half Mrs. Wellington und Sophie aus der Kutsche. Henrys Augen wanderten die hohen Fenster des Warenhauses hinauf, in denen sich der bedeckte Himmel spiegelte. Der Portier in der schicken Uniform lächelte Henry zu und öffnete eine der goldfarbenen Flügeltüren. Instinktiv hielt der Junge die Luft an, als er hinter seiner Familie den Eingangsbereich betrat und auch Sophies Augen wanderten staunend von einer Ecke zur Nächsten. Warme Luft blies ihnen entgegen und als der Portier die Eingangstür wieder schloss, verstummten die Geräusche von außerhalb. Bedecktes Gemurmel von eifrigen Verkäuferinnen und das Knistern von Papiertüten vermischten sich mit dem Staunen von Sophie und Henry. Vor ihnen erstreckte sich ein mehrfach unterteilter Ausstellungsraum, der mit allerhand Vitrinen und Tischen ausgestattet war. Bemalte Vasen aus Porzellan wurden von kleinen Lampen angestrahlt, während zwei ausgestopfte Büffel auf einem Podest wohl die Männer begeistern sollten. Von der Decke hingen kleine Kronleuchter, in deren Mitte ein helles Licht strahlte. Das Harrods war eines von wenigen Gebäuden in ganz London, das seit wenigen Monaten vollständig über Elektrizität verfügte und Henry hatte nicht die leiseste Ahnung, wie viele Generatoren, die in den unteren Kellerräumen standen und stundenlang brummten, nötig waren, damit die reichen Kunden auch noch in den Abendstunden bequem einkaufen konnten.
In der Mitte des Saals führte eine breite Treppe hinauf in die oberen Stockwerke.
„Zuerst die Damen des Hauses“, beschloss Henrys Vater und deutete der Familie galant an, die oberen Etagen aufzusuchen. Sophie streckte Henry spielerisch die Zunge entgegen und marschierte stramm in die Parfümabteilung, die sich ganz oben im fünften Stock befand. Obwohl Henry keinerlei Interesse an Schminksachen oder dergleichen hatte, brachte ihn die Frauenabteilung insgeheim trotzdem zum Staunen. Dünne Figuren, gänzlich aus Drähten geformt und mit weiblichen Rundungen versehen, trugen ausladende Kleider zur Schau und standen wie Geisterwesen stumm in den Ausstellungsbereichen. Ob diese Figuren bei Nacht genauso lebendig wurden wie die Schatten in seinem Zimmer, fragte sich Henry und stellte sich vor, wie die Drahtgestelle im Dunkeln miteinander tanzten und die nächtlichen Stunden genossen, in denen sie das große Kaufhaus ganz für sich allein hatten.
„Nun trödele doch nicht so“, hörte Henry seine Mutter schimpfen und schob den Tagtraum wider Willen beiseite. Das Licht in den vielen Räumen war schummrig und der dicke Teppichboden dämmte die Geräusche. Henry vernahm die unterschiedlichsten Gerüche: zu starke Parfüms vermischten sich mit dem leicht muffigen Geruch der vielen Stoffe und bildeten einen ganz eigenartigen Duft. Viele Herren waren an diesem Vormittag mit ihren Ehefrauen oder Töchtern im Harrods und trugen den Damen die gefüllten Einkaufstaschen lustlos hinterher. Henry ahnte mit Gräuel, dass er und sein Vater eine ganze Weile in der fünften Etage verbringen würden und stöhnte leise auf. Eine Stunde später, Sophie war bereits bei den Kopfbedeckungen angelangt, reichte es Henry endgültig.
„Vater“, fragte er leise, „wenn ich verspreche, dass ich diese Etage nicht verlasse, darf ich dann etwas umherlaufen und mich umsehen? Ich werde mich sputen und in weniger als einer halben Stunde wieder hier sein.“
„Ist gut, aber höchstens eine halbe Stunde“, antwortete Mr. Wellington erhobenen Zeigefingers, „und suche den Geschossportier auf, wenn du dich verlaufen solltest. Er sitzt an der großen Treppe und trägt eine rote Uniform.“
Um ein Haar hätte Henry laut gejubelt, besann sich dann aber eines Besseren und nickte erleichtert, ehe er sofort zwischen Auslagen und Puppen verschwand. Er verließ die Damenabteilung und lehnte sich an die Brüstung des fünften Stocks. Von oben herab sahen die Menschen unten wie Ameisen aus, fand Henry. Auch die Gespräche der anderen Besucher wurden von den vielen Winkeln, Geschäften und Gängen verschluckt. Das Harrods war weltweit dafür bekannt, dass es mehrere Geschäfte in einem Geschäft beherbergte und so las Henry die Namen der anderen Läden, die sich in dem fünften Geschoss befanden. Bekannte Kerzenhersteller fanden sich neben Geschirrherstellern und ein namhafter Uhrenmacher hatte seinen Laden direkt neben einem Verkäufer feinster Seide. Henrys Vater belieferte einige dieser Läden, wusste Henry und sah den weitläufig geschmückten Flur entlang.
Wenigstens war die Luft hier draußen viel klarer und nicht so stickig wie drinnen zwischen all den Stoffen und Kleidern. Henry entfernte sich ein paar Schritte und merkte sich den Namen des Geschäfts, in dem sich Sophie seit gefühlt zehn Stunden aufhielt. „Burberry“, wiederholte Henry leise und lief langsam an den Eingangstüren der anderen Läden vorbei. Die Buchhandlung lag im ersten Stock und leider war die kleine Warenabteilung für Spielzeug ebenfalls zu weit entfernt – im dritten Stock. Henry hatte seinem Vater versprochen, die oberste Etage nicht zu verlassen. Ganz in Gedanken versunken, bemerkte Henry nicht, wie er sich einer alten Frau näherte, die auf dem Boden des Kaufhauses, ganz in der Nähe des Treppenhauses saß. Kurz bevor er über den ausgebreiteten Teppich stolperte, auf dem die Frau kauerte, bemerkte er sein Versehen und wich erschrocken zurück.
„Verzeihung“, stammelte Henry und blickte in die dunklen Augen einer Frau, deren Gesicht einem zerpflückten Acker glich. Tiefe Furchen durchzogen die ledrige Haut der Alten, durch ihr zerzaustes dunkles Haar schimmerten weiße Strähnen und Henry konnte seinen Blick nicht von der Hakennase der Frau abwenden. Außer einem dreckigen Kleid, zerlaufenen Stiefeln trug die Frau nichts am Leibe. Um den faltigen Hals hingen mehrere silberne Ketten mit allerhand Symbolen, die Henry unbekannt waren.
„Warum läuft ein Junge ohne Eltern durch ein Kaufhaus?“, krächzte die Frau und kicherte leise.
„Meine Eltern sind mit meiner Schwester bei…“, wie war noch der Name, überlegte Henry fieberhaft…
„Burberry“, vervollständigte die Alte und kicherte erneut. Henry bekam große Augen und lächelte ebenfalls, obwohl ihm die Frau immer noch merkwürdig vorkam. „Na, das muss für einen Jungen wie dich sehr langweilig sein“, mutmaßte die Alte. „Soll ich dir etwas viel Spannenderes zeigen?“ Ihre Stimme klang wie ein Stück Kreide, das man schroff über eine Schiefertafel zog. Henry sah an der Frau herunter und entdeckte einen kleinen gestrickten Hut, der mit der ausgehölten Seite auf dem Teppich lag. Ein paar Silbermünzen und Kupferpennys befanden sich darin. Henry erinnerte sich daran, dass ihm seine Eltern schon oft verboten hatten, mit Obdachlosen oder Zigeunern zu sprechen. Allem Anschein nach, hatte sich die Frau über das Treppenhaus hereingeschlichen und bettelte die Besucher um ein paar Schilling an.
„Es kostet auch nichts“, kicherte die Alte und machte eine einladende Handbewegung. Henry sah die langen, gelblichen Fingernägel der Frau und unterdrückte einen Anflug von Ekel. Er drehte sich rasch um und suchte die wenigen Besucher der oberen Etage nach seiner Familie ab. Wenn ihn seine Eltern bei der Unterhaltung mit der alten Frau sahen, würde ihn sein Vater heute Abend bestimmt wieder über das Knie legen und mit dem Rohrstock verprügeln.
„Na was sagst du?“, fragte die Zigeunerin und schüttelte sich, „Schenkst du einer alten Frau ein paar Minuten? Ich werde dir deine Zukunft vorhersagen.“
„Geht das denn wirklich?“, staunte Henry und blickte sich erneut um. Weder entdeckte er seinen Vater noch seine Mutter. Anscheinend hielt seine große Schwester Sophie die Eltern fest im Griff.
„Selbstverständlich“, krächzte die Zigeunerin und kicherte vielversprechend. Der viele Silberschmuck rasselte und klimperte auf ihrer faltigen Haut. Henry wollte die Alte nicht verärgern oder gar beschämen und so lenkte er widerwillig ein. „Nimm Platz“, sagte die Alte und Henry gehorchte. Im Schneidersitz setzte er sich vor die Frau und wartete. Zwar glaubte Henry nicht an das Vorhersagen der Zukunft durch das Ablesen von Händen, aber allmählich keimte doch Neugier auf. Was, wenn die Frau wirklich über magische Kräfte verfügte?
„Gib mir deine linke Hand“, sagte die Alte und legte ihre knochigen Finger auf Henrys Handfläche. Henry bemerkte, wie der Frau ein Lächeln über die dünnen Lippen glitt. „Du bist Linkshänder.“ Der Satz war keine Frage, sondern eine Feststellung und Henry riss erstaunt die Augen auf.
„Ja das stimmt!“ Er fragte sich, woran die Frau das erkannt haben konnte und schämte sich gleichzeitig dafür, dass er nicht als normaler Mensch auf die Welt gekommen war, der seine rechte Hand benutzte. In der Schule war es ihm verboten, mit der linken Hand zu schreiben und auch zuhause durfte er nur die rechte Hand benutzen. Wieder lächelte die Alte.
„Die linke Hand ist die Hand des Herzens. Menschen, bei denen sich die starke Hand auf der linken Seite befindet, sind künstlerisch begabter, phantasievoller und…reagieren zumeist auch sensibler auf übernatürliche Dinge. Wusstest du das?“ Henry schüttelte den Kopf. Er war der einzige Linkshänder in seiner Familie, auch wenn ihn seine Lehrer in der Schule zwangen, mit der rechten Hand zu schreiben und zu zeichnen. Seine Lehrer und sogar Henrys Eltern bezeichneten die linke Hand immer als „schlechte Hand“ oder als „dreckige Hand“. Großmutter Mathilda war ebenfalls Linkshänderin gewesen. Die Hand des Herzens. Den Begriff würde sich Henry merken. „Also gut“, flüsterte die Alte und stieß faulig riechende Luft aus. Henry wurde speiübel, aber er sagte nichts und wartete geduldig ab. „Lass mich zuerst einen Blick in deine unmittelbar bevorstehende Zukunft werfen“, flüsterte die Frau.
Wie Schmirgelpapier glitten die faltigen Hände der Alten über Henrys Handfläche. Die Augen der Frau waren geschlossen. Unverständliche Worte drangen leise aus dem Mund der Zigeunerin, das rollende <r> war kaum zu überhören. Dann holte die Frau tief Luft und sprach ganz leise.
„Ich sehe…ein dunkles Zimmer, etwas Verbotenes und…und…Bestrafung…“ Die Augenbrauen der Frau zogen sich verärgert nach unten. Großartig, dachte Henry zerknirscht, was soll das denn für eine Zukunft sein? Er ahnte schon, dass er gerade wertvolle Zeit verplemperte. Die Zigeunerin hielt noch immer die Augen geschlossen und fuhr langsam über Henrys Handfläche. „Lass mich nun einen Blick in deine entfernte Zukunft werfen.“ Henry war drauf und dran, seine Hand aus dem Griff der Alten zu ziehen, aber der Anstand ließ das nicht zu. Je schneller die Frau fertig war, umso eher konnte Henry wieder zu seinen Eltern zurückkehren. Ob die halbe Stunde schon vorbei war? Die Alte stöhnte leise und ihr ausgemergelter Oberkörper schwankte leicht von links nach rechts.
„Ich…sehe…Dunkelheit…und…Furcht…ich…sehe…einen Spiegel…“, der Atem der Frau beschleunigte sich und ihr Körper verkrampfte, „…da ist etwas Böses…es lauert und…“, die Alte riss die Augen weit auf. Henry erschrak, denn die Pupillen der Frau waren weiß – eine milchige Schicht lag über ihren Augäpfeln wie der erste Schneefall an einem Wintermorgen. Er japste.
„M-M-Mutter“, stammelte die Zigeunerin mit den milchigen Augen. „Spiegel…“ Die Alte riss den Mund weit auf, als wolle sie laut schreien, aber kein Ton drang aus ihrer Kehle. Der krampfende Körper sackte in sich zusammen und fiel zur Seite auf den Teppich. Henry sprang erschrocken auf und bemerkte aus dem Augenwinkel zwei Wachmänner, die von beiden Seiten angerannt kamen. Einer der Wachmänner, ein junger schlanker Mann mit roten Haaren, hielt einen Knüppel in den Händen.
„Hinaus mit diesem Gesindel!“, rief der zweite Wachmann, ein älterer Mann mit Bart und einem Bauchansatz, und zog die krächzende Frau auf die Beine. „Scher dich hinaus!“ Einige Besucher, edle Gentlemen und empört wirkende Damen in langen Kleidern, blickten besorgt in Henrys Richtung.
„M…Mutter“, drang es heiser aus der Kehle der Alten, „ich…ich…h…habe sie gesehen…“ Die alte Frau zuckte hin und her, stemmte sich mit dem ganzen Gewicht in die Arme der beiden Wachmänner und brabbelte unverständliche Worte. Dann drehte sie den Kopf unnatürlich weit in Henrys Richtung und entblößte eine Reihe schiefsitzender gelblicher Zähne. Erneut schlug Henry fauliger Atem entgegen. Ein leiser Schrei der alten Frau ließ weitere Besucher des Warenhauses erschrocken und teilweise peinlich berührt herumfahren. Mit letzter Kraft streckte die Zigeunerin ihren rechten dünnen Arm nach Henry aus, der jedoch entsetzt zurückwich. Während die beiden Wachmänner die Frau hinausbrachten, die sich im Klammergriff der Männer wie ein Aal hin und her wandte, nutzte Henry die Gelegenheit und rannte erschrocken zurück in die Damenabteilung. Sein Herz schlug wie wild und die Knie waren weich. Der Anblick der krampfenden Wahrsagerin hatte ihm einen gehörigen Schrecken versetzt und er wollte einfach nur fort von hier. Hoffentlich würden ihn die Wachmänner nicht suchen, um ihn zu der alten Frau zu befragen. Henry rannte an mehreren Geschäften vorbei und blieb kurz vor der Damenabteilung stehen. Seine Eltern würden es nicht gutheißen, wenn Henry mit rotem Kopf, erschöpft und außer Atem zurückkehren würde. Henry blickte unauffällig auf den Flur hinaus, aber von den Wachmännern war weit und breit nichts zu sehen. Glück gehabt, dachte er und holte tief Luft. Nach ein paar tiefen Atemzügen drehte sich Henry wieder um und betrat langsam das Geschäft für Damenbekleidung.
Er verstand nicht wirklich, was da gerade geschehen war. War die Frau krank? Hatte sie einen Anfall? Sie sollte ihm eigentlich seine Zukunft voraussagen, aber die Worte, die Henry vernahm, schienen alles andere als eine wohlgesonnene Zukunft zu sein. Vielleicht war die Frau auch nur verrückt oder litt an Wahnvorstellungen, überlegte Henry. Und was hatte sie zuvor zu seiner in Kürze bevorstehenden Zukunft gesagt?
Ein dunkles Zimmer und dann Bestrafung?
Was sollte das sein? Henry lief zielstrebig an den Ausstellungsmodellen vorbei und sein Herz machte einen Freudensprung, als er seine Familie im hinteren Teil der Ankleidezimmer entdeckte. Sophie hatte sich wohl immer noch nicht recht entscheiden können und hielt eine angeregte Diskussion mit einer jungen Verkäuferin. Das würde ein langer Samstag werden, stellte Henry fest und auch der genervte Blick seines Vaters sprach Bände. Die krächzende Stimme, der Schrei und die Worte der Zigeunerin hallten noch immer in Henrys Kopf.
***
Am späten Nachmittag bog die Kutsche wieder in die kleine Straße ein und kam vor dem Haus Mr. Wellingtons zum Stehen. Am oberen Ende der Treppenstufen öffnete Mr. Bucklen bereits die Tür und stand in leicht gebeugter Haltung im warmen Eingangsbereich. Als hielte er einen Schatz in den Händen, trug Henry stolz den dicken Atlas über die Türschwelle. Das war alles, was sich Henry von seinem Vater hatte erstehen lassen. Das neuste Werk mit Bildern und Zeichnungen ferner Länder und Kontinente wog so schwer, dass Henrys Arme vor Anstrengung zitterten. Henry würde die nächsten Wochen damit verbringen, exotische Städte, Flüsse und entlegene Länder auf dem Papier zu erkunden.
„Darf man den heutigen Tag als erfolgreich verbuchen, Mr. Wellington?“, erkundigte sich der Butler.
„Wie Sie sehen…“, antwortete Henrys Vater und hielt mehrere Tragetaschen in den Händen, „…hatten zumindest die Damen einen erfolgreichen Tag.“ Der Butler nickte knapp und nahm die schweren Tüten entgegen. Henry wunderte sich kaum, dass die dünnen Arme von Mr. Bucklen nicht unter der Last der schweren Tragetaschen zusammenfielen – ein Maschinenmensch – und das war der Mann im Frack zweifelsfrei – konnte größere Gewichte immerhin mühelos stemmen.
„Miss Sophie, ich bringe die Einkäufe auf Ihr Zimmer.“
„Danke sehr“, antwortete Sophie dem Butler und warf ihrem Vater einen liebevollen Blick zu. „Vielen Dank Vater, für deine Großzügigkeit.“
„Ich tue doch alles, um meine Damen glücklich zu machen“, lachte Mr. Wellington und half Henrys Mutter aus dem Mantel.
***
Zu später Stunde lag Henry erneut schlaflos im Bett und schlug mit beiden Händen auf die weiche Bettdecke. Von weiter Ferne hallten die Glocken über Londons Dächer. Zwei Schläge. Es war zwei Uhr nachts. Der Himmel war zu wolkenverhangen, als dass Mondlicht und wankende Bäume wieder ein nächtliches Theaterspiel aufführen konnten. Die unverständlichen Worte der Zigeunerin und der Anblick des darauffolgenden Krampfanfalls wollten nicht aus Henry Gedanken verschwinden. Immer wieder rief er sich die weißen Augen der Frau ins Gedächtnis und schüttelte sich jedes Mal innerlich. Dunkelheit…Spiegel…das waren die Worte der alten Frau. Er seufzte und rollte sich auf die andere Seite des Bettes. Blödsinn, dachte Henry, die Wahrsagerin war doch verrückt! Wieso musste ausgerechnet er an diese Zigeunerin geraten? Trotzdem beschloss er, die Nacht lieber bei seiner Schwester zu verbringen. Allein würde er heute sicherlich kein Auge mehr zumachen. Auf Zehenspitzen schlich sich Henry zur Zimmertür und lugte auf den dunklen Flur hinaus. Das Zimmer seiner Schwester befand sich gleich zwei Türen weiter. Doch kurz bevor Henry in den Flur hinaustrat, bemerkte er eine Bewegung am anderen Ende des Ganges und verharrte instinktiv.
Henry hielt inne und starrte in die Dunkelheit. Jetzt sah er deutlich, wie sich eine Gestalt aus dem Schlafzimmer seiner Eltern schlich und zur Treppe lief. Es war sein Vater. Was machte denn sein Vater mitten in der Nacht draußen auf dem Flur? Henry wartete, bis Mr. Wellington im Erdgeschoss angelegt war und schlich auf Zehenspitzen hinterher. Henry wusste genau, welche Treppenstufe er nehmen musste, um keine knarzenden Geräusche von sich zu geben, die ihn verraten könnten. Geduckt hinter einer Anrichte beobachtete Henry seinen Vater, wie dieser den Eingangsbereich durchquerte und das Kaminzimmer betrat. Henry wartete einen Moment. Er wunderte sich, weshalb sein Vater nur mit einer Schlafhose bekleidet, die unteren Räume betrat. Immerhin könnte sich einer der Angestellten im Erdgeschoss aufhalten. Sophie und Henry wurde seit jeher eingetrichtert, die Räumlichkeiten unterhalb der Wohnetagen nur in ordentlicher Kleidung zu betreten.
Im Schutz der Dunkelheit huschte Henry an der Wand entlang und duckte sich an einer Ecke. Vorsichtig lugte er ins Kaminzimmer. Auf zwei Anrichten brannten Kerzen und erfüllten den Raum mit einem schwachen Licht. Fast wäre Henry ein leiser Schrei entwichen, als er eine der Haushälterinnen bemerkte. Es war dieselbe junge Frau, mit der er gestern Nachmittag unten im Flur vor der Küche fast zusammengestoßen wäre. Diese junge Frau trug nichts außer einem dünnen Leibchen am Körper. Ihre blonden Haare hingen lose über die Schultern. Sie war höchstens zwei Jahre älter als Sophie. „Wie versprochen bin ich hier. Du hattest mir einen Brief auf das Kopfkissen gelegt“, sagte das junge Fräulein mit leiser Stimme. Henry konnte das Gesicht seines Vaters nicht sehen, denn dieser stand mit dem Rücken zum Durchgang. Henrys Vater hielt seine rechte Hand in die Höhe und öffnete die Finger. Eine silberne Kette mit einem Anhänger baumelte herab und funkelte im Kerzenschein. Das junge Fräulein ging einen Schritt nach vorne und griff nach der Kette, doch Mr. Wellington zog die Hand zurück.
„Zuerst bekomme ich etwas von dir“, hörte Henry seinen Vater sagen, „dann bekommst du deine Belohnung.“ Henry drückte sich noch fester an die Wand. Die junge Frau ballte die Hände zu Fäusten. „Belohnung?“ Die Stimme des Hausmädchens klang belustigt. „William, das ist keine Belohnung, sondern eine Wiedergutmachung, schon vergessen?“ Henry horchte auf. Seit wann durften die Angestellten seinen Vater denn beim Vornamen nennen?
„Diese Kette ist weit mehr wert. Wenn du sie annimmst und beim nächsten Silberschmied verhökerst, kannst du deiner Familie genug Geld für die nächsten Monate schicken.“ Im schwachen Kerzenschein erkannte Henry, wie das junge Hausmädchen das Gesicht verzog und mit den Augen rollte.
„Ach, was kümmert dich schon meine Familie! Darum geht es doch auch gar nicht. Ich habe getan, was du von mir verlangt hast. Ich habe es wegmachen lassen. Und du hast mir eine Wiedergutmachung versprochen.“ Das junge Fräulein stemmte die Fäuste in die Hüften. Henry hörte jedes Wort und verstand dennoch rein gar nichts. Was hatte das Hausmädchen wegmachen lassen? Wieso duldete sein Vater, dass eine seiner Angestellten derart mit ihm sprach? Nicht einmal Sophie und er selbst durften dem Vater Widerworte geben.
„Ich habe dir Geld gegeben, mehr als genug und du hast diese Stelle in meinem Haus behalten. Was willst du also noch? Eine Entschuldigung wirst du nicht hören. Das sind Dinge, die passieren können.“ Die eisige Kälte, mit der Mr. Wellington sprach, war Henry nur allzu gut bekannt.
„Ich möchte das nicht nochmal machen“, sagte die junge Frau. Sie schlang die Arme um den Körper. „Es war grauenhaft.“
„Das musst du auch nicht. Wir passen einfach besser auf. Oder ich schenke die Kette einfach Mrs. Wellington und du kannst zusehen, dass du bei einer anderen Familie arbeiten darfst. Du kannst selbstverständlich jederzeit wieder hinunter in deine Schlafkammer.“ Das Hausmädchen schüttelte verärgert den Kopf, die Spitzen ihrer schulterlangen Haare schimmerten golden. Dann setzte sich die junge Frau in Bewegung und marschierte direkt auf Henry zu. Verdammt! Wenn das Hausmädchen jetzt das Kaminzimmer verließ, würde sie ihn direkt entdeckten. Zur Treppe würde er es in der Kürze der Zeit nicht schaffen! Wie eine Katze rollte sich Henry zusammen und hielt die Luft an. Nur noch wenige Schritte trennten ihn und die junge Frau, doch dann griff Mr. Wellington nach der Hausangestellten und hielt das Mädchen am Oberarm fest.
„Hey“, flüsterte Henrys Vater ganz leise und strich das lange Haar aus dem Gesicht der Frau. „Bleib bei mir. Es tut mir leid. Wolltest du das hören?“ Die Angestellte rührte sich nicht und Henry, der erneut im Schutz der Dunkelheit in das Kaminzimmer spähte, konnte keinerlei Regung auf ihrem Gesicht erkennen. Dann löste sein Vater den Griff und legte der jungen Frau die silberne Kette um den Hals.
Behutsam strich das Fräulein über den Anhänger und lächelte. „Ich dachte, du wolltest die Kette Mrs. Wellington schenken?“ Es war kaum mehr als ein Flüstern und trotzdem stellten sich bei Henry alle Nackenhaare auf. Er war zwar erst elf Jahre alt, aber die Art wie das Hausmädchen mit seinem Vater sprach, missfiel ihm zutiefst. Es war dieser kleine Seufzer in der Stimme der jungen Frau.
„An dir gefällt sie mir besser.“ Sein Vater drehte behutsam den Kopf des Hausmädchens zu sich und Henry konnte mit einem Schrecken im Gesicht dabei zusehen, wie sein Vater das junge Fräulein küsste.
Ein dunkles Zimmer.
Dann drehte sich die Frau um und setzte sich in den breiten Ledersessel, in dem Mr. Wellington sonntags immer die Zeitung las und man ihn dabei nicht stören durfte. Henrys Vater stand noch immer im halbdunklen Zimmer und starrte auf das Fräulein herab.
„Dieses Mal sollten wir leise sein. Mrs. Wellington schläft seit Wochen nur sehr leicht.“ Da war dieses Säuseln in der Stimme, die Henry von seinem Vater nicht kannte.
Ich sollte aufstehen und mich wieder ins Bett legen, dachte Henry. Das junge Fräulein kicherte und Henry beobachtete unter einem Anflug von Ekel, wie sich sein Vater seines Nachthemdes entledigte. Wie der Regenschauer, der sich seit Tagen hartnäckig über London hielt, prasselten die unterschiedlichsten Empfindungen auf Henry ein. Ob seine Mutter davon wusste, aber nichts sagte? Ob sie etwas ahnte, aber keinen wirklichen Beweis hatte? Henry kauerte noch immer im Eck und drehte sich im Dunkeln rasch zur Treppe um. Niemand stand dort. Er war der einzige Zeuge und der Einzige, der über das nächtliche Treiben seines Vaters Bescheid wusste. Henry lugte wieder ins Kaminzimmer. Henry hörte ein gieriges Schmatzen und musste mehrmals stark schlucken, als er den bissigen Geschmack seines Mageninhalts in der Kehle schmeckte.
Und dann war da plötzlich die Stimme der alten Wahrsagerin in seinem Kopf – laut und deutlich. Er wandte den Blick ab und unterdrückte einen lauten Schrei. Er ekelte sich vor dem, was sein Vater gerade tat, während seine Mutter nichtsahnend oben schlief. Er kniff die Augen zusammen und wusste auch ohne hinzusehen, was im dunklen Kaminzimmer gerade geschah.
Etwas Verbotenes.
Henry kauerte noch immer mit geschlossenen Augen im Schatten und bemerkte nicht, dass es – was auch immer sein Vater mit dem Hausmädchen tat – zu Ende war. Er war immer noch damit beschäftigt, seine eigenen Gedanken zu sortieren, dass er nicht sah, wie das junge Fräulein und sein Vater das Kaminzimmer verließen. Dem Hausmädchen entfuhr ein leiser Schrei, als sie Henry in der Dunkelheit kauernd am Treppenabsatz bemerkte. Henry öffnete die Augen, sah hinauf und sein Herz schien in diesem Moment stehenzubleiben, als sich auch sein Vater herumdrehte und ihn zwei Augenpaare erschrocken anfunkelten. Die junge Frau blickte verunsichert abwechselnd zwischen Henry und Mr. Wellington hin und her. Sollte er die Treppe hinaufrennen und sich in seinem Zimmer verkriechen? Sollte er sich entschuldigen? Sollte er damit drohen, es Mutter zu verraten? Mr. Wellington zog eine Augenbraue nach oben und wandte sich an das Hausmädchen.
„Geh hinunter.“ Das Fräulein gehorchte und huschte lautlos wie eine Katze zur Treppe und verschwand in der unteren Etage. Henry spürte sein Herz in die Magengrube rutschen.
„Seit wann bist du schon hier?“, fragte Mr. Wellington. „Komm her.“
„Ich habe nichts gesehen“, stammelte Henry und traute sich nicht aus seinem Versteck.
„Komm her “, wiederholte Mr. Wellington.
“Ich will nicht”, schluchzte Henry leise und presste seinen Körper noch fester an die Wand. Wie ein Kätzchen drückte er sich in die Ecke.
„Ich sagte, du sollst zu mir kommen.“
Henry schüttelte den Kopf, schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu. Ruckartig und blitzschnell durchquerte Mr. Wellington den dunklen Raum und zog Henry an einem Bein ins Kaminzimmer. Er versuchte noch, sich an einer Kommode und einem Beistelltisch festzuhalten, aber seine Finger griffen nach Luft.
„Ich werde Mutter nichts sagen. Versprochen. Versprochen!“ Henry merkte, dass er sich vor Angst in die Hose machte und stellte voller Entsetzen fest, dass das auch seinem Vater nicht entgangen war. Mr. Wellington setzte sich auf das Sofa und legte Henry über das Knie. „Nein bitte“, flehte Henry, „ich werde nichts sagen. Ich werde Mutter nichts verraten. Ich schwöre es!“
Der erste Schlag mit der geöffneten Handfläche auf das Gesäß folgte.
Bestrafung.
Wie oft und wie lange sein Vater ihn in dieser Nacht schlug, konnte Henry später nicht mehr sagen. Aber jeder Schlag verdrängte die ekelhaften Bilder und Geräusche aus seinem Kopf und nur die Schmerzen, die Henry am darauffolgenden Sonntag noch auf der Haut spürte, sagten ihm, dass das alles kein Traum war. Die Schmerzen und das Brennen auf der Haut sagten ihm, dass er seinen Vater und eine der jungen Haushälterinnen bei etwas Verbotenem erwischt hatte. Nicht einmal mit seiner Schwester Sophie sprach Henry über das Gesehene, auch dann nicht, als sie ihm liebevoll über den Kopf strich und fragte, weshalb er heute das Zimmer nicht verlassen mochte. Henry verbrachte den Sonntag in seinem kleinen Erker, vergrub den Kopf im dicken Atlas und versank in den bunten Zeichnungen exotischer Länder. Als Henry am späten Sonntagabend im Bett lag, kreisten seine Gedanken um den morgigen Schultag. In weniger als sieben Stunden würde seine Nanny ihn und Sophie wecken. Henry zog die Decke bis zu seinem Kinn und drehte sich auf die rechte Seite. Erneut prasselte der Regen unaufhörlich an sein Fenster, doch dieses Mal ließ ihn das sonst so beruhigende Geräusch einfach nicht in den Schlaf sinken.
***
Der nächste Morgen kam viel zu früh. Benommen wälzte sich Henry aus dem warmen Bett, als die Nanny sein Zimmer betrat und das Fenster zum Lüften öffnete. Henrys Füße hatten den Teppichboden noch nicht berührt, da legte ihm das Kindermädchen schon die Schuluniform zurecht: einen Anzug aus grauem Tweed, ein steifes weißes Hemd, eine rote Krawatte und dunkle Lederschuhe.
„Das Wasser im Badezimmer steht bereit.“ In unmissverständlichem Ton wurde Henry zur Morgentoilette geschickt. Als er kurz darauf wieder in sein Zimmer zurückkehrte, war der Raum von der eisigen Luft völlig erkaltet. Schnell schloss Henry das Fenster und schlüpfte in seine Schuluniform. Draußen vor dem Haus wartete schon der Kutscher, der Henry und Sophie zur jeweiligen Schule fuhr. Henry verabschiedete sich steif von seinen Eltern, wobei er seine Mutter nur flüchtig ansah, und stieg in das Kutschhaus. Seine Mutter winkte der Kutsche noch einen Moment nach und verschwand dann im Haus. In weniger als einer Stunde würde Mr. Wellington das Haus verlassen und erst am späten Abend heimkehren – Henry würde seinen Vater dann erst wieder am Freitagnachmittag zum Tee sehen. Bei dem Gedanken, mit diesem Mann an einem Tisch zu sitzen, wurde ihm speiübel.
Die ruckelige Fahrt über Kopfsteinpflaster machte Henry noch schläfriger, als er sich sowieso schon fühlte. Er lehnte sich an seine Schwester und schloss die Augen. Zuerst würde der Kutscher Henrys Schule anfahren. Die Fahrt dauert etwas länger als eine Stunde.
„Bleib wach, Schlafmütze“, flüsterte Sophie und strich Henry liebevoll über die Wange. „Weshalb bist du überhaupt so müde? Du hast gestern fast den ganzen Tag auf deinem Zimmer verbracht. Hast du deine Nase etwa bis tief in die Nacht in den Atlas gesteckt?“
„Nein das nicht. Das Leben ist so anstrengend“, maulte Henry und gähnte, „anstrengend und ungerecht.“ Sicher, er hätte seinen Vater und das Dienstmädchen nicht heimlich beobachten dürfen und hatte dafür auch eine entsprechende Bestrafung erhalten. Aber die eigentliche Strafe für seine unangebrachte Neugier zeigte sich darin, dass er seiner Mutter vehement aus dem Weg ging und ihr nicht mehr in die Augen blicken konnte. Ob seine Mutter heimlich ahnte oder gar wusste, was sein Vater hinter dem Rücken der gesamten Familie trieb? Liebte er das junge Fräulein gar?
Sophie lachte. „Du bist elf Jahre alt, was weißt du schon vom Leben.“
„Eine ganze Menge.“
„Das Leben kann auch schön sein“, gab Sophie leise zurück und warf ihr langes Haar über die Schulter.
„Meins nicht“, grummelte Henry und vergrub sich in Sophies Mantel.
„Willst du mir nicht erzählen, warum du dich den gesamten Sonntag in deinem Zimmer vergraben hast?“ Henry schmiegte sich fester an seine Schwester und sagte einen Moment lang gar nichts. Draußen klapperten nur die eisenbeschlagenen Hufe der beiden Schimmel, die vom Kutscher in eine scharfe Linkskurve gelenkt wurden.
„Vater hat mich gestern für etwas bestraft, für...“ Henry stockte und schluckte hart.
„…für das du nichts kannst“, ergänzte Sophie leise und Henry nickte. „Ach mein kleiner Bruder. Vater hat das bestimmt nicht so gemeint.“
„Doch, hat er. Ich glaube, dass Vater und Mutter uns gar nicht richtig lieben.“
Sophie streckte sich und nahm Henrys Hand. „Du redest Unsinn. Natürlich lieben sie uns. Freust du dich auf den Schulausflug in einem Monat?“