Aldemakros - Dubhé Vaillant - E-Book

Aldemakros E-Book

Dubhé Vaillant

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Beschreibung

Nachdem Dr. Lavoisier den Zusammenhang zwischen einem alten babylonischen Keilschrifttext und Albrecht Dürers Darstellung der vier apokalyptischen Reiter erkannt hatte, begriff er, dass die Existenz der Menschheit bedroht ist. Dr. Lavoisier ist überzeugt, dass nicht Jesus Christus und seine Himmelschar zurückkehren werden, sondern Wesen einer anderen Art. Er befürchtet, dass sie die Menschheit vernichten werden. Er muss Paris verlassen, da die mächtige Bruderschaft des reinen Herzens und ihre politischen Helfer ihm nach dem Leben trachten. Gelingt die Flucht, die ihn nach Ägypten führen soll, um ein Jahrtausend altes Geheimnis zu lüften? Was spielen dabei die Pyramiden von Gizeh und die rätselhafte Oase Siwa für eine Rolle?

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Seitenzahl: 419

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Das Ende der Zukunft

Band 2:

Die Offenbarung

Thriller

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Aldemakros – Das Ende der Zukunft

Band 2: Die Offenbarung

Copyright © 2020 Dubhé Vaillant

ISBN: 978-3-752941-76-0

Bibliografische Information der

Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://portal.dnb.de abrufbar

www.dubhe-vaillant.com

[email protected]

Für meine Familie

Wenn Aliens uns jemals besuchen sollten, denke ich, ist das Ergebnis so wie bei Christopher Columbus und seiner ersten Ankunft in Amerika – was nicht sonderlich gut für die amerikanischen Ureinwohner ausgegangen ist.

Stephen Hawking

Inhalt

Kapitel 1: Institut für Altertumsforschung

Kapitel 2: Das Gottesschloss

Kapitel 3: Die Ansichtskarte

Kapitel 4: Peer 22

Kapitel 5: Marseille

Kapitel 6: Das Gottesschloss II

Kapitel 7: Innenminister

Kapitel 8: Carloforte

Kapitel 9: Kairo

Kapitel 10: Aischa

Kapitel 11: Oase Siwa

Kapitel 12: Grossmeister Berger

Kapitel 13: Der Löwe von Alexandria

Kapitel 14: RNA

Kapitel 15: Die Ankündigung

Kapitel 16: Beauvais

Kapitel 17: Sie kommen

Kapitel 18: Aldemakros

Kapitel 19: Alice

Kapitel 20: Die Herrschaft beginnt

Kapitel 21: Chaos

Kapitel 22: Cartier

Kapitel 23: Steven Smith

Kapitel 24: Er zeigt sich

Kapitel 25: Die Unbekannte

Kapitel 26: Heureka

Kapitel 27: Isabella

Kapitel 28: Der Film

Kapitel 29: Das Ultimatum

Kapitel 30: Der Einsatz

Kapitel 31: Die funkelnden Lichter

Kapitel 1: Institut für Altertumsforschung

Paris, November 2027

Alice schlief in der Nacht schlecht. Nachdem Lavoisier sich im Kiosk versteckt hatte und ihr ein paar Informationen dank Charles‘ Unterstützung hatte geben können, lastete nun die gesamte Verantwortung des Projekts Sargon auf ihren Schultern.

»Kann ich das alles?« fragte sie ihr Spiegelbild, während sie aus der Dusche trat.

»Bin ich die Richtige dafür?« Alice plagten gewisse Selbstzweifel, aber sie wusste, dass es der Wunsch von Lavoisier gewesen wäre, dass sie die Leitung übernehmen würde.

Sie schaute tief in die Augen ihres Spiegelbilds, als ob sie direkt in ihre eigene Seele blicken könnte.

»Du schaffst das«, sagte sie zu sich selbst.

Sie hatte in dieser Nacht allerhand chaotisches Zeugs geträumt, und am frühen Morgen erinnerte sie sich nur noch an vereinzelte Traumfetzen, die auf den ersten Blick zusammenhangslos schienen. Sie versuchte sie zusammenzusetzen, und es ergab sich eine wirre Geschichte. Sie hatte Kontakt mit einem schwebenden Wesen, das sie an die Frau in Amesbury in der Abtei St. Mary and Saint Melor erinnerte. Das Wesen trug ein Schwert mit einem aufgespiessten Herzen vor sich hin und fütterte es danach einem weissen Einhorn. Irgendwie sah sie, wie Lavoisier auf dem Einhorn sass und rief: »Tut es nicht, tut es nicht!« Durch das Verzehren des Herzens blähte sich das Einhorn auf und begann wie ein Luftballon in den Himmel aufzusteigen. Es stieg samt Lavoisier immer höher und verschwand durch eine schwarze Sonne. Dann explodierte die schwarze Sonne und fiel in sich zusammen. Danach war sie mit Herzklopfen erwacht.

Nachdem Alice eine Tasse Kaffee getrunken hatte, machte sie sich auf den Weg ins Institut. Um neun Uhr würde die Teamsitzung beginnen, und sie wollte sich noch vorbereiten. Sie nahm die Métro und stieg wie gewohnt in der Nähe von Charles‘ Kiosk aus. Es war kurz vor acht Uhr, und sie entschied, noch kurz beim Kiosk vorbeizuschauen. Schaden würde es auf keinen Fall. Sie musste damit rechnen, dass sie überwacht wurde, also würde sie keine Fragen zu Lavoisier stellen. Sie dachte sich ein paar Belanglosigkeiten aus und trat vor die Theke.

»Bonjour, Madame Bonmot«, begrüsste Charles sie höflich und es hörte sich so an, als ob Alice nicht eine gute Freundin, sondern eine bekannte Geschäftsfrau war.

»Guten Morgen, Monsieur Charles«, antworte sie.

Beide wussten, was sie damit meinten. Es galt also äusserst vorsichtig zu sein. Charles nahm ihre Kaffeebestellung entgegen und legte ihr eine am Morgen neu angekommene Zeitschrift hin.

»Seite 22«, sagte er, indem er seine Hand vor den Mund hielt. »Und nicht anfassen. Bitte beide Seiten anschauen und lesen, sie stammt von Marcel«, murmelte er in leisem Ton.

Alice nahm die Zeitschrift und wich nach links zur Seite, da neue Kunden ihre Bestellungen aufgeben wollten. Sie blätterte diskret auf Seite 22 und sah eine Ansichtskarte:

»Schloss Chambord«, dachte sie, »was soll ich damit anfangen?«

Alice tat so, als ob sie die Seite der Zeitschrift umblättern wollte, aber nur so weit, so dass die Ansichtskarte auf die andere Seite kippte und die Rückseite zum Vorschein kam. Sie las die Anschrift:

Château de Chambord

Grossmeister der

Bruderschaft des reinen Herzens

Monsieur Alain Berger

41250 Chambord

Ihr stockte der Atem. Sollte Lavoisier tatsächlich herausgefunden haben, wer hinter der ganze Sache steckte? Oder war es nur ein verdeckter Hinweis? Alice drehte die Zeitschrift um 90 Grad und begann mit dem Lesen des Textes.

Sehr geehrter Herr Berger

Was Sie beabsichtigen, mag aus Ihrer Sicht lobenswert sein, aber ich bitte Sie, tun Sie es nicht. Götter brauchen kein Wurmloch, um zu uns zu kommen. Stoppen Sie die Aktivitäten, denn sonst wird die Menschheit untergehen.

Hochachtungsvoll Dr. M. Lavoisier

Alice merkte sich die Anschrift und ebenso lernte sie den exakten Text auswendig. Vielleicht waren darin noch andere Hinweise verborgen. Sie schloss die Zeitschrift und gab sie Charles mit einem kurzen Nicken zurück. Alice konnte nicht wissen, dass in zwei Tagen Alain Berger die Ansichtskarte lesen und ausser sich vor Wut sein würde.

Alice passierte die Sicherheitskontrollen im Institut, stieg in den Lift und setzte sich mit einem leichten Seufzer auf ihren Bürostuhl. Es war kurz vor halb neun Uhr, und sie musste die Sitzung komplett umorganisieren. Die neuen Informationen durften auf keinen Fall bekannt werden. Sie musste das Team Sargon so führen, dass es von alleine in die richtige Richtung ermittelte.

Sie dachte an Lavoisier und fragte sich, wo er wohl war, was er gerade tat und ob es ihm gut ging. Alice konnte nicht wissen, dass genau zur selben Zeit Lavoisier sich fragte, ob es ihr gut ginge, was sie tat und ob sie die Karte gelesen hatte.

Kurz vor neun Uhr betrat sie das Sitzungszimmer. Robert Bruce und Marie de Beauvoir waren schon da. Nach und nach traten alle Projektmitglieder ausser General Gresse ein, und die Sitzung begann pünktlich.

»Gut«, begann diesmal Alice und für die meisten fühlte sich das gut an, denn ihr Chef Lavoisier pflegte die Sitzungen immer so zu eröffnen. Es hatte etwas Vertrautes an sich, und das gab ihnen eine gewisse Zuversicht.

»Gehen wir zuerst die Ergebnisse der einzelnen Teilprojekte durch«, begann sie.

Albert Delacroix und Helen Moody standen beide auf und traten neben die Projektionsleinwand, dabei platzierte Helen über ihr Smartphone verschiedene Bilder und Grafiken.

»Wir haben erstens versucht herauszufinden, wie wir vorgehen müssten, um ein sich im Aufbau befindendes Wurmloch zu destabilisieren, so dass es nicht geöffnet werden könnte. Es gibt keine Hinweise darauf, ob starke Magnetfelder, künstliche Gammastrahlen oder sonst etwas ermöglichen würden, dies zu verhindern. Und zweitens denken wir, dass ein bereits geöffnetes Wurmloch nur mit Hilfe von riesigen Energiemengen zerstört werden könnte. Wenn aber jemand eines öffnen wollte, dann müsste er selber über enorme, schier unbegrenzte Energie verfügen«, begann Delacroix seine Ausführungen.

»Meine Freunde bei der NASA meinten, dass ein künstlich erzeugtes Wurmloch durch bestimmte Aufbausequenzen entsteht und durch spezielle Korrektursequenzen stabil gehalten wird. Es ist nicht einfach plötzlich da und bleibt stabil«, erklärte Helen Moody.

»Wie wenn ein PC gestartet wird?«, fragte John Melling.

»Ja, das ist ein guter Vergleich. Es bedarf ganz präziser Abläufe. Von einem zu viel, vom anderen zu wenig, und alles bricht in sich zusammen. Dies ist zumindest in der Theorie die Ansicht der Astrophysiker.«

»Und was heisst das für uns?«, wollte Alice wissen.

»Das heisst, dass wir nur dann eine Chance haben, wenn wir den Steuerungscode des gesamten Systems kennen. Das wiederum bedeutet, dass wir die Kontrolle über eine entsprechende Anlage haben müssten, von der niemand eine Ahnung hat, ob sie überhaupt existiert, und wenn ja, wo sie zu finden wäre. Aber wir arbeiten weiter daran«, ergänzte Helen Moody.

»Was die militärische Option angeht, so ist es noch zu früh, Antworten zu liefern. General Gresse ist deswegen in den USA. Wir brauchen noch Zeit«, meinte Delacroix.

»Gute Nachrichten hören sich anders an«, sagte Alice und bedankte sich bei den beiden, die wieder ihre Plätze am Besprechungstisch einnahmen.

»Wie sieht es mit der Kommunikation in der Umgebung von Blois aus. Gibt es Auffälligkeiten? Was konntet ihr überprüfen?«

Steven Smith und James Woods blieben sitzen und informierten das Team.

»Tatsächlich stellten wir statistische Unregelmässigkeiten von Telefongesprächen aus England, die über den Hauptcomputer in Blois geführt wurden, fest. Leider fand unser Stimmerkennungsprogramm nichts Verwertbares, da die Stimme elektronisch verzerrt wurde. Aber die Zeitabstände, die Dauer und die Art der verzerrten Stimme deuten darauf hin, dass es ein und dieselbe Person war, die auch im Innenministerium angerufen hatte«, erklärte Steven Smith.

»Wir sind ihnen auf den Fersen«, meinte Marie de Beauvoir.

Alle nickten und empfanden dabei zum ersten Mal, dass sie Fortschritte erzielten. Delacroix zog eine kleine Mappe hervor und teilte allen eine umfangreiche Liste mit knapp 400 repräsentativen Gebäuden im Umkreis von 50 km von Blois aus.

»Auf euren Smartphones habt ihr eine von uns vorbereitete Karte zum herunterladen erhalten. Alle Objekte sind bereits eingetragen, auch die Liste findet ihr vor. Wir haben eine erste Prioritätenliste erstellt. Erste Priorität haben dabei die grossen Loireschlösser, grosse herrschaftliche Anwesen und auch restaurierte Burgen«, stellte Steven Smith fest.

»Danke«, sagte Alice, die bei den grossen Loireschlössern sofort an die Ansichtskarte von Lavoisier mit der Abbildung von Schloss Chambord denken musste.

»Wie wollt ihr vorgehen?«, fragte sie nun.

»Wir würden zusätzliche Leute benötigen, die diskret alles über die Schlösser in Erfahrung bringen würden. Tief graben, aber nicht entdeckt werden«, erklärte nun Delacroix.

»Guter Ansatz, aber lasst noch die beiden anderen Teams zu Worte kommen. Vielleicht ergeben sich Synergien«, sagte Alice.

»John«, darf ich dich bitten, uns den Stand der Nachforschungen mitzuteilen?«

»Wir haben Organisationen durchforstet, die irgendetwas mit einem reinen Herzen oder ähnlichem zu tun haben«, begann John Melling.

»Wir suchten nach Symbolen, Skizzen, Bildern, die Ähnlickeiten mit der Fotografie aufweisen, die Lavoisier uns gezeigt hat.«

»Wir mussten leider feststellen, dass es keinerlei Hinweise für ein auf einem Einhorn sitzendes Herz und einen Ritter gibt. Einzig die Siegel des Templerordens könnten einen kleinen Hinweis dafür liefern. Die Siegelabbildung zeigt jeweils zwei Ritter auf einem Pferd sitzend. Aber von einem Einhorn oder einem Herzen kann keine Rede sein.«

»Wir fischen also nach wie vor im Trüben«, hielt Alice fest.

»Kommen wir zum letzten Teilprojekt«, sagte Alice und nickte Marie de Beauvoir und Robert Bruce zu. Auch sie standen auf.

»Was das Interesse an der Apokalypse angeht, so gibt es unzählige Organisationen, Sekten und radikale Gruppierungen. Sie hoffen alle, dass mit der Rückkehr des Erlösers und seines Himmlischen Heeres die Ungerechtigkeit auf Erden ein Ende haben werde und die Bösen dieser Welt zur Rechenschaft gezogen würden. Es gibt etwa 1380 Organisationen, die in Frage kommen. Ich vermute sogar, dass es noch mehr sind, da viele sich lieber im Untergrund bewegen. Konkrete Hinweise, dass eine dieser Organisationen in der Lage wäre, ein Wurmloch zu öffnen, haben wir nicht gefunden«, erklärte Marie de Beauvoir und deutete Robert Bruce an, dass er seine Informationen aus dem Umfeld der Verschwörungstheoretiker preisgeben sollte.

»Danke, Marie«, sagte Alice. »Also Bruce, was hast du Interessantes herausgefunden?«

»Ich habe mich wieder mit Albert Greenspan in Verbindung gesetzt. Man kann ja von dem Typen halten, was man will. So skurril und zynisch er ist, so verfügt er doch über ein enormes Wissen und ein riesiges Informationsnetzwerk. Insbesondere konnte er mir einiges über die Apokalypse und entsprechende Verschwörungstheorien mitteilen. Er kennt einige Organisationen, die es sehr gerne sehen würden, wenn die Apokalypse tatsächlich stattfände. Jedoch wären es weniger religiöse Gründe, die aus ihrer Sicht dafür sprächen. Aber auf die Apokalypse angesprochen, war Greenspan vor Jahren einer heissen Spur gefolgt. Ein ehemaliger Kleriker in Rom behauptete, dass er den wahren Grund des Rücktritts von Papst Benedikt XVI. im Jahre 2013 kenne und er sich deshalb mit ihm treffen wolle.«

»Warum hätte er das tun sollen?«, fragte James Woods.

»Greenspan hatte Informationen von ihm zugespielt bekommen, wonach angeblich eine Gruppe innerhalb der Kirche den Papst davon überzeugen wollte, dass die katholische Kirche sie mit riesigen finanziellen Mitteln unterstützen sollte, denn sie verfügten über ein Wissen, das es ihnen ermöglichen würde, Jesus Christus und seine Himmelsschar, wie in der Apokalypse beschrieben, auf die Erde zurückkommen zu lassen.«

»Und was hat der Papst dazu gemeint?«, fragte Albert Delacroix.

»Das wusste Greenspan nicht, denn sein Informant hatte einen Tag später einen Unfall und verstarb noch gleichentags. Zwei Monate später überbrachte ihm ein anonymer Bote eine Arbeitsmappe mit dem Siegel des Vatikans. Es handelte sich um eine gestohlene Akte. Er öffnete sie und begann darin zu lesen. Er benötigte die ganze Nacht, und je länger er las, desto unglaublicher hörte sich die Geschichte an. Angeblich hatte es im Oktober 2012 ein geheimes Treffen des Papstes mit dem Obersten des ersuchenden Ordens gegeben. Es fand in Frankreich statt. Wo genau stand nicht in der Akte. Aber es war irgendwo südlich von Paris.«

»In Avignon, im alten Papstpalast?«, fragte John Melling.

»Greenspan hat keine weiteren Hinweise in der Akte gefunden«, antwortete Robert.

»Was geschah bei diesem Treffen?«, wollte nun Alice wissen.

»Greenspan wollte zuerst nicht mit der Information herausrücken, denn er befürchtete, dass ich ihn für verrückt halten würde. Aber dann lüftete er das Geheimnis«, sagte Robert und machte eine Pause, um die Spannung ansteigen zu lassen.

»Mach schon, lass die Katze aus dem Sack, wir sind hier nicht im Kindergarten«, monierte James Woods, und man spürte seine Ungeduld.

»Ich gebe euch einfach weiter, was Greenspan mir mitgeteilt hat.« Und hier wurde seine Stimme todernst.

»Benedikt XVI. trat also die geheime Reise an. Der Informant von Greenspan bezeugte, dass er selber dabei gewesen sei. Man traf sich in einem Ort südlich von Paris. Wo das Treffen stattfand, wurde nicht verraten. Die päpstliche Delegation, angeführt vom Pontifex Maximus, bestand aus sechs Personen, seitens der Obersten des Ordens waren ebenfalls sechs Personen zugegen. Die zwölf Personen setzten sich an einen grossen, runden Tisch, als seien sie Ritter der Tafelrunde. Zumindest kam das seinem Informanten so vor. Man tauschte zuerst Informationen aus, die meisten davon waren aber belanglos. Der Oberste des Ordens erklärte nun, dass sie bald in der Lage wären, Jesus Christus und seine Himmlische Heerschar auf die Erde zu holen, dies genauso, wie es in der Offenbarung des Johannes prophezeit werde. Deshalb würde der Orden sehr viel Geld benötigen, worum man den Heiligen Vater dringend bitte, denn zu Ehren und zum Ruhme Gottes müsse alles getan werden. Benedikt XVI. wollte wissen, wozu das Geld benötigt werde, und er erhielt die kurze Antwort, dass es notwendig wäre, eine entsprechende Anlage zu bauen. Benedikt XVI. hielt nichts von einer Anlage, die Jesus Christus zurückbringen würde. ‚Der Herr wird kommen, wenn er es für angebracht halten wird‘, sagte der Papst. ‚Jesus wird keine Hilfe benötigen.‘ Das sah der Oberste des Ordens ganz anders, es kam zu hitzigen Glaubensdiskussionen, und sogar über die Auslegung der Heiligen Schrift wurde förmlich gestritten. Als der Oberste des Ordens erkennen musste, dass der Papst nicht nachgeben würde, bat er ihn um eine Unterredung, denn er wolle ihm im Vertrauen etwas zeigen, das nur für seine Augen bestimmt sei. Benedikt XVI. willigte ein, und beide forderten ihre Gefolgschaft auf, den grossen Thronsaal zu verlassen. Als sie alleine waren, verriegelte der Oberste des Ordens die Türe.«

»Was geschah dann?«, wollte James Woods wissen.

»Sei nicht so ungeduldig«, sagte Robert Bruce zu ihm. »Das wissen wir eben nicht so genau. Der Informant beschrieb in seiner Akte, dass man durch die dicke Türe nur leises Gemurmel der beiden Stimmen vernehmen konnte. Inhaltlich verstand man nicht, worüber sie sprachen. Dann aber geschah etwas sehr Merkwürdiges. Plötzlich sahen die Vertreter der beiden Delegationen, wie sich der Raum, in dem sich der Oberste des Ordens und Benedikt XVI. befanden, in gleissend helles Licht hüllte. Es war so hell, dass durch die Türspalten und selbst durch das Schlüsselloch so helles Licht in den Nebenraum schien, dass es alle blendete. Dazu hörten sie eine vibrierende, sehr tiefe Stimme, die weder zum Obersten des Ordens noch zu Benedikt XVI. passte. Die Stimme sprach nur wenig mehr als zwei Minuten. Verstehen konnte man nichts. Danach verschwand das gleissend helle Licht wieder, und die Eichentüre wurde von innen entriegelt.

Der Oberste des Ordens bat wieder alle in den Thronsaal. Benedikt XVI. sah völlig verstört aus, und es schien, als ob er seiner Sinne beraubt wäre. Allmählich kam wieder Farbe in sein fahles Gesicht und er setzte sich müde aussehend an den grossen Besprechungstisch. Dem Obersten des Ordens schien die Unterhaltung nichts ausgemacht zu haben, denn er sprach nun mit allen Vertretern beider Delegationen mit ruhiger, aber bestimmter Stimme. Er erklärte, dass Seine Heiligkeit Benedikt XVI. und er einem Abkommen zugestimmt hätten, das vorsah, dass für ihr Vorhaben fünf Milliarden US-Dollar durch die katholische Kirche zur Verfügung gestellt würden. Die Vertreter der päpstlichen Delegation sahen Benedikt XVI. ungläubig an, aber dieser nickte bestätigend. Der Oberste des Ordens hatte bereits eine schriftliche Vereinbarung vorbereitet, die nur noch der Unterschrift des Heiligen Vaters bedurfte. Er legte die Vereinbarung zwischen dem Orden und dem Vatikan auf den Tisch und bat Benedikt XVI., als erster zu unterschreiben, was dieser ohne zu zögern auch tat. Ebenso wurde das päpstliche Siegel angebracht. Anschliessend unterzeichnete auch der Oberste des Ordens, und auch das Siegel des Ordens zierte die Vereinbarung. Somit war der Handel rechtsgültig. Die Vereinbarung unterlag zudem höchster Geheimhaltung. Die beiden Delegationen verabschiedeten sich, und Benedikt XVI. fuhr sofort in den Vatikan zurück, wo er für die nächsten drei Tage das Bett hütete. In den kommenden Wochen sah man Benedikt XVI. in einem leicht verwirrten Zustand, aber er konnte nach und nach seine Arbeit wieder aufnehmen. Übermüdung sei der offizielle Grund gewesen, erklärte der Vatikan damals. Dennoch trat dann Benedikt XVI. ein paar Monate später als Papst zurück«, beendete Robert Bruce seine Zusammenfassung.

»Was meinte Greenspan, was Benedikt XVI. gesehen hatte? Mit wem hatte er es zu tun, und warum trat er als Papst zurück?«, wollte Alice wissen.

»Der Informant hatte nicht mehr die Möglichkeit, es ihm zu sagen. Der Unfall kam zuvor«, antwortete Bruce. »Aber Greenspan war der Meinung, dass es etwas sehr Ungewöhnliches gewesen sein musste, was Benedikt XVI. so aus der Fassung gebracht hatte, etwas, was die Grundfesten seines Glaubens erschütterte. Deshalb musste er aus persönlichen Gründen zurücktreten. Er konnte gar nicht mehr anders.«

»Was denkt ihr?«, fragte Alice Robert und Marie. »Zu welchem Schluss seid ihr gekommen?«

Robert Bruce nickte Marie de Beauvoir zu, damit sie ihre Schlussfolgerungen dem Team mitteilen konnte.

»Was könnte also Benedikt XVI. gesehen haben, oder besser gesagt, wen hat er gesehen?«, begann Marie. »Ausgehend davon, dass die Lichterscheinung nicht irgendeine technische Spielerei war, sind wir zum Schluss gekommen, dass Benedikt XVI. ein Wesen einer anderen Art gesehen hatte. Das ist die logischste Erklärung. Benedikt XVI. würde nie wegen eines menschlichen Wesens derart die Fassung verlieren.«

»Nehmen wir an, ihr habt Recht, was für ein Wesen der anderen Art könnte das gewesen sein?«, fragte nun Helen Moody, die sich als Astrophysikerin schon lange mit der Frage nach ausserirdischer Intelligenz auseinandersetzte.

»Wir haben keine Ahnung, auf jeden Fall muss das Wesen sehr überzeugend gewesen sein, denn Benedikt XVI. unterzeichnete kurz darauf die geheime Vereinbarung, obwohl er vorher in keiner Weise mit der Argumentation des Obersten des Ordens einverstanden war, ja geradezu mit ihm gestritten hatte.

»Vielleicht hat es ihn hypnotisiert?«, fragte James Woods.

»Das hatten wir auch schon in Betracht gezogen. Aber dagegen spricht der Rücktritt von Benedikt XVI.: So lange wirkt keine Hypnose.«

»Er hatte etwas gesehen oder eine Information erhalten, die zu seinem Rücktritt aus Glaubensgründen führte und ihn zugleich davon überzeugte, dass die Anlage gebaut werden musste«, schlug Alice vor.

»Der Oberste des Ordens erklärte, dass man eine Anlage bauen müsse, damit Jesus und seine Himmelsschar zurückkommen könne«, mischte sich nun Albert Delacroix in die Diskussion ein. »Der Papst war aber der Ansicht, dass Jesus als göttliches Wesen keine Anlage brauche. Könnte es nicht sein, dass das Wesen Benedikt XVI. davon überzeugte, dass Jesus ohne diese Anlage nicht zurückkommen könnte? Wenn dem so wäre, würde das auch seinen Rücktritt erklären, denn dann wären Jesus und seine Himmelsschar nicht göttlichen Ursprungs, denn Götter brauchen definitiv keine Anlage, um so etwas zu tun. Natürlich nur, wenn man an Götter glaubt.«

»Zu dem Schluss sind wir eben auch gekommen«, erklärte nun Marie de Beauvoir. »Vielleicht sind Teufel am Werk, die eine Rückkehr des Herrn verhindern, so dass es eben einer Anlage als Unterstützung bedarf. Die Macht Luzifers ist riesengross«, meinte Marie.

Delacroix schüttelte leicht den Kopf, denn er glaubte nicht an Teufel und Götter, aber er sagte nichts, denn es schien, dass keine andere Erklärung in Frage kam.

»Gut«, sagte Alice und erklärte, dass alle an ihren Aufgaben weiterarbeiten sollten. Insbesondere gelte es, ein Schloss im Süden von Paris ausfindig zu machen, das für ein päpstliches Treffen in Frage käme und in dem es womöglich Hinweise auf Herzen, Einhörner und Ritter mit einer weissen Lilie im Schildwappen gebe. »Beginnt mit den Loireschlössern!«

Alice wusste nun, dass Lavoisier mit Schloss Chambord wohl Recht hatte, verschwieg dies jedoch tunlichst.

Niemand vom Team ahnte nur im Entferntesten, wie nahe an der Wahrheit ihre Ergebnisse lagen. Nach der Sitzung rief Alice den Innenminister an und gab ihm die Ergebnisse der Abklärungen bekannt. Detailliert schilderte sie Greenspans Aussagen und erklärte ihre Schlussfolgerungen.

»Was soll das heissen, ein Wesen der anderen Art?«, wollte Robin wissen und sein Tonfall verriet echtes Interesse.

»Ein Wesen nicht von dieser Welt überzeugte den damaligen Papst Benedikt XVI., so dass die katholische Kirche den Bau der Anlage finanziell unterstützte.«

»Und das soll ich glauben? Was soll das denn sein? Ein Alien oder ein Engel vielleicht?«

»Oder ein Teufel?«, rutschte es Alice heraus. Sie korrigierte sich und erklärte, dass sie es nicht wüssten, dass aber alles auf ein Wesen nicht von dieser Welt hinweise.

»Ich kann Ihre Schlussfolgerungen verstehen. Sie scheinen mir logisch zu sein. Was sind die nächsten Schritte?«

»Ich habe das Team angewiesen, alle grossen und repräsentativen Objekte südlich von Paris auf Hinweise auf die Symbole zu untersuchen. Sie werden mit den Loireschlössern beginnen«, sagte Alice.

Hätte Alice nicht nur telefoniert, sondern wäre dem Innenminister gegenüber gestanden, dann hätte sie ein kleines Zucken in seinem Gesicht gesehen, als sie die Loireschlösser erwähnte. So aber blieb es ihr verborgen.

»Gute Arbeit, Madame Bonmot. Bleiben Sie an der Sache dran!«, sagte Robin und legte auf.

Etwas schien Robin zu beunruhigen, und in seinem Gesichtsausdruck hätte man Nachdenklichkeit und Verunsicherung lesen können.

»Und wenn es kein Engel, sondern ein Teufel war?«

Kapitel 2: Das Gottesschloss

Schweiz, Ende November 2027

Nachdem Nabil Paris über die A6 verlassen hatte und kurz vor Mâcon auf die A40 Richtung Genf ostwärts abgezweigt war, gönnte er sich auf einer grösseren Raststätte eine Pause. Er bestellte in einem kleinen Restaurant einen doppelten Espresso und ass ein kleines Schinkensandwich dazu. Er nahm sein nicht registriertes Smartphone hervor und buchte telefonisch im Voraus ein Zimmer für eine Nacht im Four Seasons Hotel des Bergues, einer der besseren Adressen am Quai des Bergues in Genf. Das elegante Hotel, vom renommierten Innenarchitekten Pierre-Yves Rochon entworfen, lag direkt an den Ufern des Genfersees. Lange verweilte er nicht auf der Raststätte, denn er wollte Frankreich so rasch wie möglich verlassen. So fuhr er die restliche Strecke nur unterbrochen durch die üblichen Zahlstellen, die ihn eigentlich jedes Mal ärgerten, obwohl er deren Notwenigkeit erkannte. Nabil erreichte gegen Abend die Schweizer Grenze. Er passierte auf der Autobahn den Grenzposten bei Genf und fuhr direkt zum Hotel. Die in luxuriösem Stil gestalteten Zimmer, alle mit hohen Decken und klassischem französischem Mobiliar, gefielen Nabil. Sein Zimmer verfügte über alle Annehmlichkeiten; der Ausblick auf den Genfersee wäre äusserst beeindruckend gewesen, wenn nicht die Nacht schon hereingebrochen wäre. Natürlich hatte Nabil unter einem anderen Namen eingecheckt und das Zimmer schon bei seiner Ankunft bar bezahlt. Die Mitarbeiterin an der Rezeption schien das nicht weiter zu interessieren, schliesslich war das Hotel für seine Diskretion bekannt, wie die meisten Hotels in Genf in dieser Preisklasse. Er gönnte sich ein heisses Bad und bestellte sich danach ein grosszügig bemessenes Nachtessen auf sein Zimmer.

Das Rindsfilet und die Bratkartoffeln waren ganz nach seinem Geschmack, und der Duft der Rosmarinsauce lag immer noch in der Luft, als er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er genoss den puren Luxus um sich herum, denn er wusste, dass es nur für kurze Zeit sein würde. Bald würden der Staub und der Sand der Sahara seine Begleiter sein. Nabil schenkte sich Tee nach, nahm das kleine Schreiben von Lavoisier hervor und tippte die aufgeschriebene Telefonnummer in sein Smartphone ein.

Auch las er die vorgegebene Begrüssungsformel. Es klingelte eine Weile, bis dann jemand den Anruf entgegennahm.

»Sanders, hier«, hörte er eine angenehm klingende Stimme sagen.

»Mein Name ist Nabil ibn Saada und ich bin ein guter Freund von Marcel Lavoisier. Er bittet Sie, Tycho Brahe herzlich von ihm grüssen zu lassen.«

»Das werde ich natürlich gerne tun. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Sanders und man merkte seiner Stimme an, dass er es ernst meinte. Tycho Brahe konnte er natürlich nicht wirklich grüssen, denn damit war eine in seinem Garten stehende Skulptur des bekannten dänischen Adligen gemeint, der einer der bedeutendsten Astronomen des 16. Jahrhunderts gewesen war. Aber der Hinweis auf Tycho Brahe war ein Code von Lavoisier, der ihm beweisen sollte, dass Nabil absolut vertrauenswürdig war. Sie hatten diesen Code gemeinsam vereinbart, als auch Sanders und er noch in Syrien waren.

»Ich arbeite an einem Forschungsprojekt, und Marcel, also Dr. Lavoisier bat mich, Ihnen unser Anliegen zu unterbreiten. Ich würde Sie deshalb gerne treffen. Er meinte, wenn es jemanden gebe, der unser Problem lösen könnte, dann wären Sie es«, erklärte Nabil die Sachlage und ergänzte: »Wir stehen unter erheblichem Zeitdruck.«

»Wann könnten Sie zu mir kommen?«, fragte Sanders.

Wenn Sie es nicht als Anmassung empfinden, so würde ich Sie gerne schon morgen Nachmittag besuchen.«

»Sie wollen ja sicher noch etwas essen, sagen wir 12:00 Uhr? Meine Gemahlin wird uns ein ausgezeichnetes Arbeitsessen zubereiten.«

»Sehr gerne, ich fühle mich geehrt«, antwortete Nabil, und sie verabschiedeten sich voneinander.

Nun wollte Nabil wissen, wer Tycho Brahe eigentlich wirklich war. Dass er zusammen mit Johannes Kepler wohl der bedeutendste Astronom des 16. Jahrhunderts war, wusste er schon, aber viel mehr war ihm nicht bekannt. Er durchstöberte das Internet und fand zusätzliche Informationen über Tycho Brahe. So würde er sich morgen allenfalls nicht blamieren, dachte er. Er fand heraus, dass mit »Tycho« ein Mondkrater und mit »Tycho Brahe« ein Marskrater bezeichnet wurden. Ebenso hiess ein Asteroid so, ferner trugen eine Transportrakete und eine Sternwarte mit einem Planetarium in Rostock seinen Namen. Sogar ein Exoplanet erhielt den Namen »Brahe.« Er zog seinen 2-Terabyte-Highspeed-Memory-Stick hervor und steckte ihn in sein Notebook.

»Das Gottesschloss«, dachte er und »wie kann man dich entziffern?«, fragte er sich. Obwohl Nabil Computerwissenschaften studiert hatte und von Kryptologie sehr viel verstand, konnte er das Gottesschloss nicht annähernd entziffern. Die zu Grunde liegenden Daten waren mehr als dreitausend Jahre alt, und es beeindruckte ihn auch diesmal wieder, was für geniale Menschen damals diesen Code geschrieben hatten. Erst als er am Tag zuvor von Lavoisier erfahren hatte, was der eigentliche Hintergrund war, begann er sich zu fragen, ob das wirklich Menschen waren, die über so grosse Fertigkeiten verfügten. Er bereitete sich auf den folgenden Tag vor und versuchte nochmals die gängigen kryptografischen Ansätze zu überprüfen, musste aber nach einer Stunde ohne Erfolg aufgeben. Er legte sich ins Bett und schlief augenblicklich ein.

Er erwachte traumlos am frühen Morgen, bevor eine Melodie seines Smartphone in aufwecken konnte. Er duschte, zog sich sportlich an und bestellte sich ein Frühstück aufs Zimmer. Nachdem er fertig gegessen hatte, verliess er das Hotel und spazierte über den Pont des Bergues Richtung Süden. Anschliessend überquerte er die Strasse, setzte seinen Spaziergang am linken Seeufer fort und gelangte zum Jardin Anglais. Am Eingang passierte er die berühmte Blumenuhr. Die grosse Uhr ist in ihrer Art einmalig und gehört weltweit zu den grössten Blumenuhren. Er trat in ein kleines Restaurant, La Potinière, und setzte sich ans Fenster. Eine freundliche Serviceangestellte kam an seinen Tisch und nahm die Bestellung auf. Kurze Zeit später trank er einen Cappuccino und ass ein Schokolade-Croissant, schliesslich war er jetzt in der Schweiz.

Irgendetwas beschäftigte ihn. Er konnte es nicht richtig zuordnen, es fühlte sich aber nach Ungewissheit und Gefahr an. Er wusste, dass er unbedingt nach Ägypten musste. Er dachte an seine in Kairo lebende Mutter und fragte sich, wie es ihr wohl ginge. Er sah sie selten, und seine Telefonanrufe wurden immer kürzer, denn er spürte, dass sie am liebsten alleine gelassen werden wollte. Seit damals war sie eine gebrochene Frau. Er sah sie seither niemals lächeln, denn tiefste Verbitterung machte ihren Tag zur Hölle. »Warum, warum?«, hatte sie damals geschrien, als sie davon erfuhr. Er würde diese herzzerreissenden Schreie sein Leben lang nie vergessen.

Er bezahlte, verliess das Restaurant und spazierte durch den Jardin Anglais. Schliesslich gelangte er wieder ans Ufer des Genfersees. Er sah auf den See hinaus und glaubte irgendwie zu wissen, dass grosses Ungemach auf die Menschheit zukommen würde. Er spürte förmlich, wie er sich zu einer Mission hingezogen fühlte, die mit aller Macht verhindern musste, dass das Ende der Menschheit kommen würde. Das gab ihm Kraft und ein wenig Zuversicht.

»Wenn wir wüssten, wie man das gottverdammte Ding wieder abschalten könnte«, ging es ihm durch den Kopf, »dann würde vielleicht Hoffnung bestehen.«

Er erinnerte sich an einen Kriegseinsatz in Syrien. Er war zusammen mit Lavoisier und ein paar anderen in einem Spezialteam. Sie philosophierten oftmals am Abend über diverse Dinge. An jenem Abend war die Stimmung tief betrübt, obwohl die Sonne im Westen im schönsten Abendrot, vermischt mit violetten Farbtönen, langsam unterging. Sie sassen zusammen, als Lavoisier eine Frage in die Runde warf:

»Was denkt ihr, wird die Menschheit jemals zu einer friedlichen Form des Zusammenlebens fähig sein, oder wird ein ewiger Kampf herrschen?«

»Wenn alle Völker endlich die Demokratie und die Menschenrechte respektieren würden, dann gäbe es vielleicht eine Chance?«, meinte einer.

»Vergiss es, wir sind Menschen. Und schau doch, was die Demokratie alles angerichtet hat. Wir bekriegen uns wegen allem Möglichen. Mal geht’s um den Kapitalismus, mal um den Kommunismus oder um den Nationalismus oder den Sozialismus und was weiss ich noch alles«, sagte ein anderer.

»Die schlimmsten Kriege sind die Religionskriege. Ohne Religionen würde es wohl weniger Kriege geben«, sagte ein Dritter.

»Wir finden immer einen Grund, um einen Krieg anzufangen. Letztlich geht es immer um eine Ideologie, die mit allen Mitteln durchgesetzt werden soll«, meinte ein weiterer Kamerad.

»Es geht nur um Macht«, hatte er selber damals gesagt, und auch heute war er von dieser Sichtweise überzeugt.

Lavoisier fragte damals weiter:

»Was würdet ihr mit den Menschen tun, wenn ihr Ausserirdische und uns technologisch Tausende von Jahren voraus wäret?«

»Ich würde die ganze Menschheit ausrotten«, kam sofort eine Antwort aus der Runde. Einige nickten. Nabil erinnerte sich, dass auch er damals genickt hatte.

»Sind wir Menschen wirklich so schlimm?«, fragte er sich, bevor er wieder in Richtung seines Hotels zurückging.

Er packte seinen Rollkoffer, verliess das Hotel, stieg in seinen Wagen ein und fuhr dem Genfersee entlang. Bei Lausanne bog er nordwärts Richtung Fribourg ab und näherte sich ohne Zwischenfälle dem Ziel. Als er im kleinen Dorf den Hügel hochfuhr, sah er schon vom Weiten die Sternwarte. Er wusste, dass er am richtigen Ort war. Nach wenigen Minuten erreichte er die Einfahrt, parkte seinen Wagen und stieg aus. Die Aussicht auf die Voralpen und die zum Teil schneebedeckten Berge war fantastisch. Die Sonne stand zwar tief am Himmel, aber sie wärmte ihn, und auch das gab ihm ein Gefühl, dass das, was er tat, richtig war. Dabei kam ihm ein chinesisches Sprichwort in den Sinn. Es lautete:

»Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.«

»Wir werden kämpfen, wie wir als Menschen noch nie gekämpft haben«, sagte er zu sich selber.

Als er beim Eingang zum Anwesen das Tor öffnen wollte, begrüssten ihn ein paar Katzen, indem sie in verschiedensten Höhen und Tiefen miauend die reinste Kakophonie von sich gaben. Er musste lachen, was er schon längere Zeit nicht mehr getan hatte.

»Das ist ein guter Ort«, dachte er. Aber zum Nachdenken hatte er keine Zeit mehr, denn George Sanders kam ihm lächelnd entgegen.

»So, gab’s ein Begrüssungskonzert?« fragte er und bückte sich, um seine Katzen zu streicheln, was diese sich gefallen liessen. Nun wich das Miauen dem für Katzen typischen Schnurren. Das gefiel Nabil, und eine positiv anzufühlende innere Wärme stieg in ihm empor.

»Sie müssen Nabil sein«, fragte Sanders und reichte Nabil zur Begrüssung die Hand.

»Herr Sanders, vielen Dank für den herzlichen Empfang«, antwortete Nabil. Sanders war etwas mehr als siebzig Jahre alt und ein Experte auf dem Gebiet der Astrophysik, worin er seinerzeit auch promovierte. Auch kannte er sich mit verschiedenen Verschlüsslungssystemen bestens aus. Er hatte eine Leidenschaft für die Archäologie entwickelt, war zu Beginn des Jahrhunderts auch in Syrien auf einer archäologischen Grabung engagiert.

»Keine Ursache.« Beide gingen dem mit Steinen gepflasterten Weg entlang und erreichten das Haupthaus. Sie traten ein, und Sanders stellte Nabil seiner Gemahlin vor, die ihn auch aufs herzlichste begrüsste.

»Ich brauche noch etwa zwanzig Minuten, dann ist das Essen fertig«, sagte sie und zog sich wieder in die Küche zurück.

»Gehen wir in die Sternwarte hinüber«, sagte Sanders. Sie verliessen das Haupthaus, durchquerten einen langgezogenen und verglasten Wintergarten und gelangten am anderen Ende zur Sternwarte, welche im Erdgeschoss aus zahlreichen Büro- und Arbeitsräumen aber auch aus einer kleinen Küche mit Tisch bestand. Darüber befand sich das grosse Spiegelteleskop mit der dafür typischen grossen Kuppel. Auch hier hielten sich zahlreiche Katzen auf, die Sanders alle mit Namen ansprach.

»Sie mögen Katzen«, sagte Sanders bestätigend zu ihm, »denn sonst würde die getigerte Katze Ihnen nicht um die Beine schleichen. Das tut sie nur bei Menschen, die Katzen mögen.«

»Wir hatten auch Katzen.«

»Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?«, wollte Sanders wissen.

»Ursprünglich komme ich aus Kairo. Später war ich in Syrien. Studiert habe ich Computerwissenschaften in Harvard. Marcel Lavoisier habe ich in Kairo kennengelernt, und seither verbindet uns eine lange und grosse Freundschaft.«

»Dann wissen Sie, was damals passiert ist?«, fragte Sanders.

»Ja, es betraf meine Familie«, antwortete Nabil, und Sanders nickte stumm als Zeichen seiner Anteilnahme.

»Tee?«

»Gerne«, antwortete Nabil und ergänzte, »mit Zucker bitte.«

Sanders schenkte ihm aus einer versilberten Teekanne Schwarztee ein, stellte eine Dose mit Zucker hin und fragte ihn:

»Wie tief steckt ihr im Schlamassel?«

Nabil überraschte diese Direktheit, aber es war ihm nicht unangenehm, denn er hatte sich lange überlegt, wie er Sanders ihr Problem erklären sollte.

»Auf einer Skala von 1 bis 10 würde ich sagen 11«, antwortete Nabil und musste selber darüber schmunzeln, obwohl ihm gar nicht danach zu Mute war.

»Das habe ich mir gedacht.«

»Darf ich fragen, wie Sie zu dem Schluss gekommen sind?«

»Das hat mit Marcel, also Lavoisier zu tun. Bei allen Schwierigkeiten, die er in der Vergangenheit hatte, benutzte er noch nie den Codenamen Tycho Brahe«, antwortete Sanders.

»Und das bedeutet?«

»Das bedeutet, dass entweder der dritte Weltkrieg ausbricht oder der Weltuntergang kurz bevorsteht. Ich tippe aber auf Weltuntergang«, sagte Sanders in einem Ton, der Nabil an den tiefschwarzen britischen Humor erinnerte.

»Wie kann ich helfen?«

Nabil zog seinen 2-Terabyte-Highspeed-Memory-Stick.

»Hierauf ist ein Programmcode gespeichert, den wir bis jetzt nicht entschlüsseln konnten«, begann Nabil.

Sanders überlegte kurz und sagte zu Nabil:

»Der grösste Fehler, den die Kryptologen machen, ist immer der gleiche.«

»Und der wäre?« fragte Nabil.

»Sie wollen immer die Technologie zum Entziffern dafür einsetzen, weil die meisten Methoden ja bekannt sind. Das ist an und für sich nicht falsch. Aber der Entzifferer muss einen Bezug zur Verschlüsselung haben, ein Verständnis für die Situation rund um die Problemstellung. Er muss sich förmlich mit dem Gesuchten, also dem Ziel, verbinden und aus Sicht des damaligen Verschlüsslers denken und fühlen. Ja, er muss sich in die damalige Person hineinversetzen können. Er muss herausfinden, was die Person dachte und fühlte, als sie die Information verschlüsselte. Im Extremfall muss er wissen, was für ein Parfum die Person trug.«

»Interessanter Gedanke«, meinte Nabil.

»Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Geheimcode über den Ort eines verborgenen Schatzes gefunden. Wie wollen Sie nun den Schatz finden? Gut, Sie können Computerprogramme dafür einsetzen. Das ist soweit in Ordnung, denn die einfacheren Geheimcodes können so in überblickbarer Zeit entziffert werden. Aber gehen wir davon aus, dass derjenige, der den Geheimcode geschrieben hat, sich auch mit Kryptologie auskennt. Dann werden die Computer heiss laufen und keine brauchbare Antwort liefern. Sie wissen, worauf ich hinaus will?«, fragte Sanders Nabil mehr rhetorisch.

»Der Schlüssel«, antwortete Nabil, »alle vernünftigen Verschlüsselungssysteme beruhen auf einem Schlüssel.«

»Genau. Wie finde ich aber den Schlüssel heraus? Das ist die alles entscheidende Frage«, stellte Sanders in den Raum.

»Der Computer wird ihn nicht finden, wenn er intelligent genug gewählt wurde«, erklärte Nabil.

»Richtig, sofern er intelligent gewählt wurde. Aber bleiben wir bei unserem verborgenen Schatz. Wenn der Verschlüssler davon ausgehen konnte, dass es einmal etwas wie Computer geben würde, die in Nullkommanichts einen Code knacken können, dann müsste er ein Verschlüsselungssystem wählen, das unentzifferbar wäre«, sagte Sanders.

»Wie die Vigenère-Verschlüsselung, le chiffre indéchiffrable«, antwortete Nabil und er wusste was Sanders eigentlich sagen wollte.

Die Vigenère-Verschlüsselung stammte von Blaise de Vigenère, der als Diplomat und Kryptologe im 16. Jahrhundert in Frankreich arbeitete. Es handelte sich um ein Substitutionsverfahren. Der ursprüngliche Text wurde in Einzelzeichen, also Buchstaben zerlegt und diese durch verschlüsselte Buchstaben ersetzt, man bezeichnete das auch als Substitution. Die Verschlüsslung wurde durch einen Schlüssel aus mehreren verschiedenen Alphabeten des »Vigenère-Quadrats« ausgewählt. Dabei handelte es sich um eine quadratische Anordnung von untereinander stehenden verschobenen Alphabeten. Wollte man den Text »Wo der Schatz liegt? Unter dem Olivenbaum!« verschlüsseln, benötigte der Verschlüssler zuerst einen Schlüssel. Je länger dieser war, desto schwieriger wurde die Entzifferung. Der Schlüssel bestand beispielsweise aus dem Namen des Papageis des Verschlüsslers. Dieser hiess Victoria. Der Verschlüssler schrieb nun den Text in eine Zeile. Darüber schrieb er den Schlüssel und zwar so oft, wie nötig. Das ergab also folgendes:

Victoria Victoria Victoria Victoria Vi

WoderSch atzliegt Unterdem Olivenba um

Nun war er in der Lage, die entsprechenden verschlüsselten Buchstaben mit dem Vigenère-Quadrat zu ermitteln. Dazu musste er nur den Kreuzungspunkt der durch den jeweiligen Schlüsselbuchstaben gekennzeichneten Zeile und der Spalte des Quadrats finden. Mit der Vigenère-Verschlüsselung konnte er herausfinden, dass der Kreuzungspunkt der Zeile V, also dem ersten Buchstaben des Schlüssels, mit der Spalte W, als dem ersten Buchstaben des zu verschlüsselnden Textes, den Geheimtextbuchstaben R ergab. Demzufolge lautete der verschlüsselte Geheimtext:

rwfxfjkh vbbewvot pvvkrvua gqxxbsiu h

Normalerweise wurde der verschlüsselte Text mit fixen Buchstabenlängen dargestellt oder übermittelt. Damit konnte auch verhindert werden, dass die Länge des Schlüssels verraten wurde. Der Text wäre also sinnvollerweise wie folgt verschlüsselt worden:

Rwfxf jkhvb bewvo tpvvk rvuag qxxbs iuh

Derjenige konnte also den Text entziffern, der den Schlüssel kannte, und damit durch die Umkehrung des beschriebenen Verschlüsselungsschrittes aus dem Geheimtext den ursprünglichen Klartext erzeugen.

Sanders und Nabil kannten natürlich die Vigenère-Verschlüsselung. Bis weit ins 19. Jahrhundert galt diese Verschlüsselung als nicht entzifferbar, sofern der Schlüssel möglichst lang war und nicht mehrfach für verschiedene Texte verwendet wurde. Allerdings wies der preussische Infanteriemajor Friedrich Wilhelm Kasiski in einem von ihm veröffentlichten Buch 1863, also fast 300 Jahre nach der Erfindung der Vigenère-Verschlüsselung, nach, dass es möglich war, die Länge eines mehrfach verwendeten Schlüssels zu bestimmen. Daraus konnte man oftmals den Schlüssel selber herleiten. Allerdings war es so, dass die Vigenère-Verschlüsselung nicht zu entziffern war, wenn die Länge des Schlüssels gleich lang war wie der zu verschlüsselnde Text. Dagegen konnte auch der schnellste Computer der Welt nichts ausrichten.

»Denken Sie, dass wir es mit einer Vigenère-Verschlüsselung, die einen gleich langen Schlüssel wie der zu verschlüsselnde Text hat, zu tun haben?«, fragte Nabil.

»Alles andere wäre zu einfach«, antwortete Sanders. »Aber die Frage ist, was für ein Schlüssel verwendet wurde. Da sind wir wieder bei meiner Aussage. Kennen wir die Hintergründe, die Person, die das Programm verschlüsselt hat. Je mehr Hintergrundinformationen wir darüber haben, desto grösser ist die Chance, dass die Computer fündig werden. Darf ich Sie fragen, wer oder welche Organisation es verschlüsselt hat?«, fragte Sanders.

»Das zu beantworten ist nicht so einfach«, gab Nabil eine etwas zögerliche Antwort.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Sanders.

»Wir haben keinen blassen Schimmer. Ich muss ihnen die gesamte Geschichte erzählen. Auch was Lavoisier herausgefunden hat. Es wird Ihnen nicht gefallen.«

»Das tönt interessant«, sagte Sanders.

»Das mag ja sein, aber jetzt wird zuerst gegessen«, meldete sich seine Gemahlin, die soeben zu ihnen in die Küche eingetreten war.

»Mit leerem Magen nachzudenken, ist keine gute Idee. Gehen wir essen«, sagte Sanders und bat Nabil, ihm ins Hauptgebäude zu folgen, wo ein gedeckter Tisch schon bereit stand und das Essen augenblicklich serviert wurde. Ein Arbeitsessen sollte es sein, aber was sie aufgetischt bekamen, hätte einem sehr guten Nachtessen alle Ehre erwiesen. Sie assen ausgiebig und erzählten dies und das aus ihrer Vergangenheit. Als der Kaffee serviert wurde, fragte Nabil:

»Wie sind Sie eigentlich auf den Codenamen Tycho Brahe gekommen?« Sanders musste lächeln.

»Typisch Lavoisier. Er hatte schon immer einen Hang zur Dramatik«, antwortete Sanders und fragte Nabil, ob er an Zufälle glaube.

»Eigentlich glaube ich nicht an Zufälle. Vielmehr an die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ereignis eintreten könnte«, antwortete Nabil.

»Dann sind wir schon zu zweit«, sagte Sanders.

»Kommen Sie mit, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Beide standen auf, verliessen das Hauptgebäude und umrundeten die Sternwarte. Auf der Nordseite standen ein riesiger Brunnen und dahinter eine Statue.

»Tycho Brahe?«, fragte Nabil.

»Ja«, antwortete Sanders. »Der Brunnen ist eine Kopie eines von Tycho Brahe angefertigten Messinstruments. Er diente ihm für genaue Messreihen«, erklärte er.

Nabil trat näher an die Statue und sagte:

»Sogar das mit der Nase hatte der Künstler, der die Statue angefertigt hatte, berücksichtigt.« Nabil erinnerte sich an den am Vortag gelesen Text. Bei einem Duell, als Tycho Brahe knapp zwanzig Jahre alt war, verlor er einen Teil seiner Nase. Eine Auseinandersetzung mit einem Studenten über eine mathematische Formel war der Auslöser. Er trug von da an angeblich eine Nasenprothese, die aus einer Gold-Silber-Legierung bestand, die er mit einer Salbe anklebte.

»Das war eben nicht der Fall. Der Künstler wusste eigentlich nicht, wer Tycho Brahe war, und erstellte eine Statue mit intakter Nase. Aber eines Tages, wie aus dem Nichts, fiel ein Teil der Nase ab. War das Zufall?«, fragte Sanders.

»Gute Frage, ich weiss es nicht. Vielleicht war das Material an dieser Stelle schlecht und bröckelte ab?«, antwortete Nabil. »Aber das tönt schon speziell.«

»Ja, ist es in der Tat. Es schien mir damals fast so, als ob mir jemand etwas mitteilen wollte. Noch heute stehe ich manchmal vor der Statue, wenn ich wichtige Entscheide treffen muss oder mich inspirieren lassen will«, erklärte Sanders.

»Damals, als Lavoisier im Krieg war, habe ich ihm eine Karte mit dem Bild der Statue geschickt. Er bewahrte die Karte in einem Buch auf, das er immer bei sich trug. Sie erinnerte ihn an damals. Sie wissen schon. Damals in Ägypten. Als sie in einen Hinterhalt gerieten, wollten sie hinter einen gepanzerten Humvee in Deckung gehen. Dabei fiel ihm die Karte aus dem Buch und landete auf dem staubigen Boden. Lavoisier bückte sich und wollte die Karte vom Boden auflesen. Genau in dem Moment, als er sich bückte, hagelte es mehrere Maschinengewehrkugeln, die exakt an der Stelle in die Panzerung des Humvee’s einschlugen, an der er vorher gestanden hatte,« erzählte Sanders.

»Er hat mir nie davon erzählt«, sagte Nabil.

»Was war das nun, Zufall oder Schicksal?«, fragte Sanders.

»Ich weiss es nicht«

»Wenn also Lavoisier den Tycho-Brahe-Code verwendet, dann muss es todernst sein. Erzählen Sie also die ganze Geschichte, damit ich mir ein Bild davon machen kann«, bat Sanders Nabil.

»Das wird eine Weile dauern.«

»Ich habe Zeit«, antwortete Sanders und fragte: »Wo übernachten Sie heute?«

»Ich habe noch nichts gebucht.«

»Dann seien Sie unser Gast. Wir haben ein Gästezimmer für Sie. Vielleicht wird uns Tycho Brahe auch beistehen, wenn es um den Code geht.«

Sie gingen wieder zurück an die Wärme und nahmen in den Büroräumlichkeiten der Sternwarte Platz. Nabil erzählte alles, was er wusste. Er liess nichts aus, auch die kleinsten Details erwähnte er.

»Lassen Sie mich zusammenfassen«, sagte Sanders. »Eine Organisation will mit Hilfe einer oder mehrerer Anlagen ein künstliches Wurmloch öffnen, damit Jesus Christus mit seiner Himmelsschar auf die Erde zurückkehren kann, um ein neues Reich Gottes zu errichten und um über die Ungläubigen zu richten. Die Organisation ist heute schon in der Lage, für kurze Zeit ein Wurmloch zu öffnen, das aber instabil ist und nach wenigen Minuten in sich zusammenbricht. Der Programmcode, den es noch zu entziffern gilt, würde zwei Dinge ermöglichen. Er würde das Wurmloch stabil halten, und es gäbe eine Möglichkeit, das Wurmloch wieder zu schliessen. Ist das soweit korrekt?«, fragte Sanders.

»Das ist korrekt. Der Code würde uns aufzeigen, wie man das gottverdammte Ding wieder abschaltet. Und die ursprüngliche Quelle besteht aus altbabylonischer Keilschrift, ist also mehr als 3000 Jahre alt«, ergänzte Nabil.

»Wir suchen also einen Schlüssel, der irgendetwas mit der damaligen Zeit zu tun hat. Wie lange ist der Programmcode oder, besser gesagt, wie viele Keilschriftzeichen wurden bereits in unser alphanumerisches System umgewandelt?«, fragte Sanders.

»Wir hatten einen Supercomputer zur Verfügung, der uns ermöglichte, die ursprünglich vorhandenen Keilschriftzeichen in Programmcodes umzuwandeln. Das war die grösste Schwierigkeit, denn der Keilschriftcode war zusätzlich sehr gut verschlüsselt, aber der Supercomputer löste die Aufgabe in einer Woche. Ein Mensch hätte dafür einige Millionen Jahre gebraucht. Aber diesen Code, wir bezeichnen ihn als das Gottesschloss, konnten wir nicht knacken«, erläuterte Nabil und sagte weiter: »Er umfasst etwa 17‘000 Buchstaben und Zahlen.«

»Wir brauchen also den Schlüssel«, sagte Sanders.

»Und einen superschnellen Computer«, ergänzte Nabil.

Sanders nickte, und es schien, als ob er in Gedanken schon durch die altbabylonische Geschichte schwebte auf der Suche nach einen brauchbaren Schlüssel.

»Schlugen alle Versuche fehl, die Länge des Schlüssels zu berechnen?«

»Ja, der Kasiski-Test blieb erfolglos.«

»Das kann nur eines bedeuten«, sagte Sanders, der Schlüssel muss nahezu gleichlang sein wie der zu verschlüsselnde Text.«

Nabil nickte, denn zu dieser Schlussfolgerung war er auch gekommen.

»Wir benötigen eine Übersicht über alle Alt- und Mittelbabylonischen Texte. Egal welchen Inhalt sie haben. Ich schlage vor, dass ich ein paar Leute anrufe, die sich damit bestens auskennen.«

»Einverstanden«, sagte Nabil.

»Haben Sie das Programm dabei, das den verschlüsselten Keilschrifttext in einen Programmcode umwandelt?«

»Ja das habe ich. Aber wenn wir eine Sammlung von in Frage kommenden Texten, also Schlüsseln hätten, würden wir einen superschnellen Computer benötigen«, meinte Nabil.

Sanders nickte, und anstelle von Sorgenfalten schien ein kurzes Lächeln über sein Gesicht zu huschen.

»Wollen Sie ihn sehen?«, fragte er Nabil.

»Wen?«, fragte Nabil, und seine Neugier war geweckt.

»Kommen Sie mit«, sagte Sanders. »Ich muss Ihnen etwas zeigen.« Sanders stand auf und wies Nabil den Weg ins Kellergeschoss. Sie betraten einen grossen Raum.

»Oh mein Gott«, entfuhr es Nabil, dem es vor lauter Staunen fast die Sprache verschlagen hatte.

»Ist es das, wofür ich es halte?«, fragte er immer noch ungläubig.

»Ja, das ist mein kleiner Abakus«, sagte Sanders, und das war die Untertreibung des Jahres. Vor ihnen stand ein Cray T3E. Der Cray T3E war der erste Supercomputer, der bei der Ausführung einer wissenschaftlichen Berechnung mehr als 1 TFLOPS leistete. Der Supercomputer war also in der Lage, 1 Billion Gleitkommaoperationen pro Sekunde zu verarbeiten. Ende der 90er Jahre war er der schnellste Computer der Welt.

»Und das nennen Sie ihren kleinen Abakus«, sagte Nabil und war immer noch erstaunt, vor was für einem Computer er da stand.

»Schliesslich wollen wir doch herausfinden, wie man das gottverdammte Ding wieder abschaltet.«

Kapitel 3: Die Ansichtskarte

Schloss Chambord, südlich von Paris, Ende November 2027

»Sie sind gut, verdammt gut!«, sagte Berger und sein Ton verriet nicht nur tiefste Verachtung, sondern man konnte durchaus auch ein gewisses Mass an Respekt heraushören.

»Mit wem stehen Sie im Bunde«, fragte er sich, denn es war für Berger unerklärlich, wie Lavoisier in so kurzer Zeit hinter den Grossteil der Geheimnisse gekommen war.

Er las die Ansichtskarte nochmals, und sein Erstaunen wurde nicht kleiner.

Sehr geehrter Herr Berger

Was Sie beabsichtigen, mag aus Ihrer Sicht lobenswert sein, aber ich bitte Sie, tun Sie es nicht. Götter brauchen kein Wurmloch, um zu uns zu kommen. Stoppen Sie die Aktivitäten, denn sonst wird die Menschheit untergehen.

Hochachtungsvoll Dr. M. Lavoisier

»Aber das Wichtigste wissen Sie immer noch nicht, und Sie werden keine Zeit mehr dazu haben, es herauszufinden«, dachte Berger und legte die Ansichtskarte in eine kleine Holzkiste in der untersten Schubblade seines Pults.

Er entschied, dass er ihn heute noch aufsuchen wollte, um ihm von der Ansichtskarte zu erzählen. Berger stellte sich das Gesicht von Lavoisier vor, wenn er ihn sehen würde. Ob es Entsetzen oder Verwunderung ausdrücken würde, fragte er sich, und ob er dann endlich begreifen würde, dass er das Richtige tat? Er streckte seine Beine unter dem Pult aus und versank in Gedanken.

Er versuchte sich daran zu erinnern, wie es ihm ergangen war, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Es war kurz vor der Jahrtausendwende. Er hatte sich nach seiner Gefängnisstrafe dank der Unterstützung der Bruderschaft des reinen Herzens wieder gut in die Gesellschaft integriert. Er hatte eine Anstellung der Bruderschaft angenommen, die, einfach formuliert, mit Spezialfällen zu tun hatte. Bruder Aurelian war nun nicht nur sein Mentor, sondern auch direkter Vorgesetzter geworden. Er erhielt im Verlaufe der Jahre immer wichtigere Aufträge, mit denen er beweisen konnte, dass seine Loyalität gegenüber der Bruderschaft unantastbar war. Sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn hatte im Gefängnis in keiner Weise gelitten. Der Glaube, dass er ein Werkzeug Gottes war, wuchs stetig. Irgendwann glaubte er nicht nur daran, sondern er war überzeugt, dass es eine göttliche Fügung war und dementsprechend eine unumstössliche Tatsache. Er war zu einem Racheengel Gottes geworden.

Bruder Aurelian war ein Visionär, dem es zwar gelang, seine Vorstellungen und Ideen auf höherer Stufe innerhalb der Bruderschaft einzubringen, aber er scheiterte oftmals an deren Umsetzung. Deshalb ernannte Bruder Aurelian