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Ein gefährlicher Virus Alea ist endlich mit ihrer Zwillingsschwester Thea vereint. Aber die Freude währt nur kurz: Nixe Akira ist schwer erkrankt! Doktor Orion muss den Virus gegen Magische in Umlauf gebracht haben. Im Wasser sind sie in Lebensgefahr, doch wohin können sie fliehen? Wie viele Magische haben sich schon angesteckt? Ist auch Cassaras in Gefahr, da er halb Landgänger, halb Nixe ist? Gemeinsam mit Lennox und Thea macht Alea sich auf die Suche nach ihm. Und wo befindet sich Doktor Orion? Ist er bereit, zurückzuschlagen? Doch ohne die Magischen hat die Alpha Cru keine Chance, ihn zu besiegen. Alea Aquarius 10. Der Stern des Schicksals: die Fortsetzung der erfolgreichen Meermädchen-Saga - Sehnsüchtig erwartet: Band 10 der mitreißenden Fantasy-Buchreihe von Tanya Stewner für Kinder ab 10 Jahren. - Gefahr im Wasser: Alea und die Alpha Cru kämpfen gegen einen mysteriösen Virus, den der fiese Doktor Orion in Umlauf gebracht hat. - Starke Themen: Die Alea Aquarius-Bücher behandeln wichtige Themen wie Freundschaft, Erwachsenwerden und die erste große Liebe. - Umweltschutz Kindern erklärt: Das Fantasy-Kinderbuch vermittelt jungen Leser*innen auf spannende Weise, wie wichtig der Schutz der Meere ist. - Packend und emotional bis zur letzten Seite: Alea Aquarius Band 10 ist der perfekte Lesestoff für Fans von Seawalkers, Woodwalkers und Ruby Fairygale. Abenteuer, Freundschaft und Magie: Die Bestseller-Reihe von Tanya Stewner ist eine spannende Meermädchen-Saga für Kinder ab 10 Jahren. Die Fantasy-Bücher faszinieren mit starken Charakteren, einer fesselnden Handlung und einer wichtigen Botschaft zum Schutz der Meere.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Ein kühler Windstoß traf auf Alea, und sie erschauderte.
»Schneewittchen … was, wenn das das Ende der Magischen ist, was wenn …« Die nächsten Worte erstarben in Sammys Kehle. »Komm her«, flüsterte sie und zog den Bandenjüngsten an sich. Sie hatte keine Worte, um ihn zu trösten, aber sie hatte zwei Arme und ein Herz, das das Gleiche fühlte wie er.
Alea ist endlich mit ihrer Schwester Thea vereint. Die Freude währt allerdings nur kurz: Nixe Akira ist schwer erkrankt! Doktor Orion muss den Virus gegen Magische in Umlauf gebracht haben. Im Wasser sind sie in Lebensgefahr, doch wohin können sie fliehen? Ist auch Cassaras in Gefahr? Und wo ist Doktor Orion? Lauert er schon darauf, erneut zuzuschlagen?
Der zehnte Band der großen Meermädchen-Saga von Bestsellerautorin Tanya Stewner
Tanya Stewner
Der Stern des Schicksals
Claudia Carls
Für meine Seelenfreundin Birga
Sie zuckte zusammen.
Ihr Kopf flog in Richtung der Bordtür.
War da jemand an Deck?
Sie stand auf dem Teppich zwischen den Sofas und blickte mit schreckgeweiteten Augen zur Tür.
Knarzende Schritte auf der Treppe.
Jemand kam herunter.
Die Sonne brach durch den Morgennebel, sprenkelte glänzende Lichtpunkte auf das still daliegende Meer und schien einen strahlend schönen Spätsommertag an der Westküste Italiens anzukündigen. Der Morgenzauber vermochte Alea allerdings kein Lächeln zu entlocken. Weltverloren stand sie am Bug der Crucis, die Hände tief in den Taschen ihrer rosafarbenen Seidenjacke vergraben, die Brauen eng zusammengezogen wie zwei Gedankenstriche, die kollidiert waren. Ein weiteres Mal hatte sie sich hierher an die Schiffsspitze zurückgezogen – ihr kleines Heiligtum der Stille –, während die Welt um sie herum in Lärm und Chaos zu versinken schien. Bisher hatte die Alpha Cru immer einen Ausweg aus allen Schwierigkeiten gefunden, gleichgültig, wie schlimm es gewesen war. Würde ihnen das auch dieses Mal gelingen?
Alea schob die Schultern nach vorn, als könnte sie den Ernst der Lage damit auf Abstand halten. Doch die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten sie bis ins Mark erschüttert. Doktor Orion hatte das getan, was sie seit Wochen befürchtet hatten und was dennoch derart undenkbar war, dass Alea immer gehofft hatte, es würde nicht dazu kommen: Der Doktor hatte seinen neuen Virus ausgesetzt. Den, der die Magischen auslöschen sollte, so wie sein erster Virus, der sogenannte Wasservirus, einst die Meermenschheit ausradiert hatte.
»Ahoi, Schneewittchen!«, drang eine wohlbekannte Stimme an Aleas Ohr. Samuel Draco, seines Zeichens Spaßbeauftragter der Alpha Cru und Hüter des Schatzes, trat neben sie. Seine rote Mähne war inzwischen lang genug, um daraus einen Zopf zu machen. Allerdings trug Sammy nicht einfach nur einen Zopf, sondern einen sogenannten Man Bun, genauer sogar einen Top Bun – einen Dutt am oberen Hinterkopf –, an dem der Bandenjüngste nun herumzupfte, während er Alea prüfend musterte. »Einfach atmen«, sagte er und klang wieder einmal viel zu alt für seine neuneinhalb Jahre.
Alea rang sich ein Lächeln ab. »Ich versuch’s.«
»Das reicht schon.« Sammy funkelte sie mit seinen warmen braunen Augen an, und Alea fühlte sich ein klitzekleines bisschen besser.
Ihr Blick fiel auf das Smartphone in seiner Hand. »Willst du was fürs Bandentagebuch aufnehmen?« Das Bandentagebuch war eine Sprachmemosammlung, in der Sammy seit Anbeginn ihrer Reise alle wichtigen Ereignisse festgehalten hatte.
»Will ich. Es ist schon wieder so viel passiert, dass ich am besten ganz schnell alles aufspreche, bevor ich was vergesse«, murmelte Sammy und wischte mehrmals über das Handy, das seinem großen Bruder Ben gehörte. »Soll ich woanders hingehen?«
»Nein, schon in Ordnung.«
»Wunderbärchen.« Sammy räusperte sich und begann. »Bandentagebucheintrag Nummer einhundertzweiunddreißig. Nachdem die legendäre Alpha Cru Doktor Orion am Kolosseum von Rom mit ihrem ausgetüftelten Plan in die Falle locken und in einen Lieferwagen verfrachten konnte, brachte sie ihn zur Promenade ihres Hafens. Leider kreuzte dort sein Darkonerchef Zeirus auf, der die tapferen Junghelden angriff.« Sammys Tonfall war der eines erfahrenen Hörbuchsprechers. »Inmitten des sagenhaften Kampfs gegen die unerschrockenen Meerkinder brach Zeirus plötzlich und ohne ersichtlichen Grund ohnmächtig zusammen. Die Cru brachte es fertig, ihn auf ihr Schiff zu schleppen, wo der Darkonergigant seitdem schlafend wie Dornröschen auf der Couch liegt.«
Stirnrunzelnd warf Alea Sammy einen Blick zu, und Sammy sagte: »Stirnrunzelnd warf Alea Sammy einen Blick zu. Draco klärte sie daraufhin auf: Ja, mein liebes Schneewittchen, du bist nicht die einzige Märchenfigur hier. Seit ich zum Beispiel weiß, dass Zuzanas zweiter Vorname Ella ist, habe ich angefangen, sie Cinderella zu nennen und sie heftigst zu ermuntern, ihr wahres Gesicht zu zeigen: ihr Ella-Gesicht.«
»Ihr Ella-Gesicht?«, wunderte sich Alea. Zuzana, die zierliche Anschu aus Tschechien, versuchte stets, ihr Gesicht zu verstecken, da es schuppig und von grünlich anmutenden Narben übersät war. Die Narben verwandelten sich bei Meermenschen vom Stamm der Anschu im Wasser zwar in prächtige Blumenrankenmuster, doch wie die meisten Hajari war Zuzana aufgrund von Orions Wasservirus noch nie im Meer gewesen und hatte diese Verwandlung noch nicht erlebt.
Sammy schien für die Anschu jedoch eine prachtvolle Zukunft vorauszusehen. »Der Name Cinderella passt bombe zu Zuzana«, führte er seinen Märchenvergleich eifrig weiter. »Zuerst geht es ihr wie Aschenputtel und sie wirkt eher unscheinbar und wird unterschätzt. Dann kommt allerdings ihre große Stunde und sie erstrahlt in Glanz und Gloria wie die bombastischste Ella aller Zeiten – Cinderella!«
Alea lächelte ein ganz kleines Lächeln.
Sammy fügte hinzu: »Und Orion ist so was wie Rumpelstilzchen. Ein fieser Trickser, ein gerissenes Goblin-Hutzelmännchen, das Kinder klauen will.«
Beinahe hätte Alea gelacht. Aber nur beinahe. Denn Orion wollte ja tatsächlich Meerkinder klauen, und seit vorgestern wusste der Doktor, dass einige für ihn sehr interessante Hajari zur Alpha Cru gestoßen waren – nicht nur die Anschu Zuzana, sondern auch der Adetari Evelin, die Zalti Isla und der Oblivion Nexon.
Sammy drückte auf Stopp. »Warte, ich fang noch mal da an, wo ich erzählt hab, was nach dem Kampf auf der Promenade passiert ist«, sagte er und startete eine neue Aufnahme. »Der gewiefte Doktor schaffte es, mit seinem Darkoner Caligo von der Hafenpromenade ins Meer zu fliehen. Alea Aquarius höchstpersönlich nahm die Verfolgung auf, konnte die beiden jedoch nicht einholen. Dies schafften schließlich die beiden Nixen Akira und Yumiko – merkt euch diese Namen! Es kam zu einem denkwürdigen Kampf, der in der verhängnisvollen Situation gipfelte, dass Caligo den neuen Virus durch eine Wunde an Akiras Schulter in die Blutbahn der Nixe einschleusen konnte. Niemand ahnte, dass Akira damit zum trojanischen Pferd, zur Überträgerin der neuen Krankheit wurde. Und als sie im Folgenden gemeinsam mit Yumiko zu allen Nixen der Gegend schwamm, um sie zum großen Treffen der Magischen einzuladen, verbreitete Akira den Trojavirus möglicherweise schon weiträumig im Meer.«
Alea stutzte. Trojavirus? Na ja, so ganz falsch war die Bezeichnung nicht.
»Als Alea und ihre Zwillingsschwester Thea Phönix den beiden Nixen am nächsten Tag wiederbegegneten, brach Akira vor ihren Augen zusammen, und Alea erkannte den Trojavirus im Stimmungsspiel der Nixe. Zügig brachten Alea und Thea Akira und ihre Freundin auf die Crucis. In Yumikos Aura konnte Alea den Virus ebenfalls schon sehen.« Sammy schnaufte kurz. »Die zwei Nixenkriegerinnen wurden begleitet von der berühmtesten Finde-Finja der Welt, Finni Nannini, und dem Kobold Sweeney. Bei diesen beiden konnte die Elvarion zum Glück noch keinen Virus ausmachen.« Er blickte Alea an und schien sie fragen zu wollen, ob er das richtig wiedergab.
Alea nickte und unterdrückte das verzweifelte Stöhnen, das in ihrer Brust aufstieg. Dies alles in Kurzform zu hören, ließ keinen Spielraum für Schönfärberei. Die Situation war im wahrsten Sinne des Wortes todernst.
Auch Sammy fiel es wohl immer schwerer, die leichtfüßige Sprechweise beizubehalten. »Yumiko hat noch keine Symptome«, fuhr er fort. »Akira ist allerdings bewusstlos, und es geht ihr sehr schlecht. Ihr Atem rasselt, und ihre Haut ist gar nicht mehr türkis, sondern so beige … nichtsfarben.«
Beim Gedanken an die sonderbar bleiche Nixe, die ohne Bewusstsein im Salon auf dem zweiten Sofa lag, fröstelte es Alea.
Sammy hielt kurz inne und schien seinen inneren Hörbuchsprecher wieder heraufzubeschwören. Dann erzählte er in spannungsgeladenem Tonfall weiter. »Das Letzte, was die sagenumwobene Alpha Cru über Doktor Orion gehört hat, ist, dass er in seinem Helikopter davongeflogen ist – laut Finde-Finjas nach Kroatien, wo sich offenbar eine Gretzer-Niederlassung befindet. Bestimmt wird der Doc aber bald wieder nach den heldenhaften Protagonisten unserer Geschichte suchen, denn er will sie alle haben: die Elvarion der letzten Generation, ihre kühne Cru und selbstverständlich auch die anderen Meerkinder mit ihren speziell-krassen Fähigkeiten.«
Alea warf ein: »Außerdem vermisst Orion bestimmt Zeirus.«
»… warf die Elvarion ein und hatte damit absolut recht. Garantiert fragt sich der Doktor inzwischen, wo sein Darkonerchef abgeblieben ist – ob er verletzt, verloren oder verstorben sein könnte. Doch Orion ahnt bestimmt nicht, dass Zeirus von den wagemutigen jungen Helden auf die Crucis geschafft wurde und dort schlafend wie Dornröschen auf der Couch liegt.« Sammy unterbrach die Aufnahme. »Nee, jetzt hab ich im Kreis erzählt.«
Während er den letzten Eintrag noch einmal abhörte, beruhigte Alea sich mit dem Gedanken, dass die Cru inzwischen ein gutes Stück von dem kleinen römischen Hafen und der Promenade fortgesegelt war und dass die obliomagische Tarnung der Skorpionfische sie nach wie vor gut schützte. Man konnte die Crucis eigentlich nur durch Zufall aufspüren. Eigentlich …
»Hab ich schon erzählt, dass Thea letzte Nacht mit dir walwandern war?«, fragte Sammy und tippte auf dem Handy herum. »Ich glaub nicht, aber das ist wahrscheinlich auch nicht so wichtig wie die Sachen, die danach passiert sind.«
Alea seufzte. Ihre Schwester war nun endlich bei ihr auf der Crucis, und doch hatten sie noch nicht viel Zeit füreinander gehabt. Denn in der vergangenen Nacht waren Thea und sie, gleich nachdem sie Akira, Yumiko, Sweeney und Finni Nannini in Sicherheit gebracht hatten, gemeinsam mit Lennox zurück ins Meer gesprungen und hatten eine Warnung vor dem neuen Virus an eine Anzeigesäule geschrieben. In ihrer Nachricht hatten sie außerdem vorgeschlagen, dass all jene, die an der Luft überleben konnten, zur Crucis kommen sollten. Das Schiff ankerte gegenüber einer hohen Steilküste, vor der drei keilartige Felsen wie spitze Nasen aus dem Wasser herausragten. Die Stelle war unverkennbar und das Schiff somit trotz seiner Tarnung für Magische, die nach einem Zufluchtsort suchten, leicht zu finden.
»Woran denkst du gerade?«, riss Sammy Alea aus ihren Überlegungen.
»Daran, dass wir eine Warnung vor dem Virus an die Anzeigesäule geschrieben haben.«
»Oh ja, das muss auch noch rein.« Sammy nickte, als wollte er sich selbst beipflichten. Dann startete er eine weitere Aufnahme und berichtete von Aleas, Theas und Lennox’ Säulen-Rapport, der mittlerweile bestimmt hundertfach im ganzen Meer vervielfältigt worden war. Denn so funktionierten die Säulen: Man schrieb etwas an eine, und auf magische Weise erschien der Beitrag auf unzähligen weiteren. »Unser genauer Aufenthaltsort steht jetzt also an weiß Gott wie vielen Anzeigesäulen, meine lieben Zuhörer«, sprach Sammy weiter. »Aber macht euch keine Sorgen, dass der Doktor die Information lesen und uns so finden könnte. Habt ihr vergessen, dass er durch den Fluch, der auf ihm lastet, von jeglicher Meeresmagie ausgeschlossen ist und sich ihm kein magischer Gegenstand öffnet? Jaha, meine Lieben. Orion kann grundsätzlich nichts an den Säulen lesen! Er könnte höchstens einen Darkoner nachgucken lassen, ob es da was Interessantes gibt. Aber jetzt haltet euch fest: Schon vor Wochen haben die Gilfen einen Schutz an den Säulen eingebaut, durch den sich für Darkoner keine Informationen mehr öffnen! Orion und seine Gang haben also keine Möglichkeit, herauszufinden, was in der Meerwelt passiert!« Sammy gab einen triumphierenden Laut von sich. »Das hat uns übrigens der Kobold Sweeney erzählt. Der kleine Professor ist echt ’ne Fundgrube an Infos! Anders als unsere Skorpionfische, die noch nie einen Pieps von sich gegeben haben …«
Müde strich sich Alea das lange dunkle Haar aus dem Gesicht, als sie nun daran dachte, dass die Skorpionfische, die für die Tarnung der Crucis sorgten, an diesem Morgen einzeln von Lennox aus dem Wasser an Bord geholt worden waren, denn auch sie waren durch den Trojavirus gefährdet. Jetzt hafteten die magischen Fische von innen an der Reling und tarnten die Crucis von dort aus so unerschütterlich wie zuvor.
Während Alea geistesabwesend aufs Wasser starrte, schob Sammy einen weiteren Eintrag hinterher, und sie hörte ihm mit halbem Ohr zu. »Noch mal zum Virus, Leute: Wir gehen davon aus, dass der Trojavirus nicht durch die Luft übertragen werden kann – das war beim Wasservirus nämlich auch nicht so.«
Alea stimmte ihm mit einer Geste zu. An der Luft waren die Magischen mit hoher Wahrscheinlichkeit außer Gefahr, allerdings hätte sie das gern einmal mit absoluter Sicherheit von ihrer Mutter gehört. Alea wollte unbedingt mit ihr reden, denn wenn jemand das alles durchschauen konnte, dann Nelani. Alea hatte vorhin bereits versucht, sie anzurufen, aber leider vergeblich. In Island war es zwei Stunden früher als bei ihnen, und vermutlich hatte Nelani ihr Handy in der Nacht ausgeschaltet.
»Wir haben keine Ahnung, wie viele Magische sich bereits angesteckt haben«, machte Sammy mit etwas weniger Sprecher-Elan weiter. »Es kann sein, dass sich der Trojavirus schon auf größerer Fläche im Mittelmeer ausgebreitet hat.« Seine Stimme wurde dünner. »Ist die Epidemie überhaupt noch aufzuhalten?« Er drückte auf Stopp. »Ich muss mal kurz Pause machen.« Alea konnte Sammy ansehen, wie sehr ihm die Vorstellung zusetzte, dass es vielleicht zu spät sein könnte – dass die Magischen womöglich verloren waren.
Ein kühler Windstoß traf auf Alea, und sie erschauderte.
»Schneewittchen …« Sammy wirkte auf einmal ganz kleinlaut. »Was, wenn das das Ende der Magischen ist?«
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.
»Was, wenn das das Ende der Nixen, der Finjas, der Kobolde, der …« Die nächsten Worte erstarben in Sammys Kehle, und in seinen Augen erkannte Alea jene Angst, die auch sie verspürte. »Komm her«, flüsterte sie und zog den Bandenjüngsten an sich. Sie hatte keine Worte, um ihn zu trösten, aber sie hatte zwei Arme und ein Herz, das das Gleiche fühlte wie er.
Eine kleine Weile hielten sie einander einfach nur fest, dann piepste plötzlich eine Stimme vor ihnen. »Das ist alles ganz schön übler Schicksalsdung«, sagte Sweeney, der tintenblaue, marmeladenglasgroße Kobold mit dem weißen Flatschen auf der Stirn, der nun vor ihnen auf dem Geländer der Reling auftauchte. »Ganz schön übel.«
»Schicksalsdung?«, wiederholte Alea.
»Jawohl.« Sweeney setzte ein gescheites Gesicht auf, streckte den kugelrunden Bauch vor und verschränkte die Händchen hinter dem Rücken. »Schicksalsdung. Kurz: Schung.«
»Ist das wirklich ein Wort?«, zweifelte Alea.
»Oh ja. Ein überaus wichtiges. Es beschreibt eine Situation, in der …«
»… die Kacke am Dampfen ist«, kam es von Sammy.
»Korrekt«, bestätigte Sweeney. »Es dampft. Schung.«
Alea wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Der Kobold schien ihr anzumerken, wie es in ihr aussah, und wurde ernster. »Irgendwas Neues vom Nixenprinzen?«
Aleas Schultern sackten wieder nach vorn. Das war das zweite schlimme Thema. Ein weiterer riesengroßer Schung. »Wir wissen nicht, wo er steckt.«
»Letzte Nacht habt Scorpio, Phönix und du lange nach dem Prinzen gesucht, oder?«
»Wir haben das halbe Tyrrhenische Meer durchkämmt! Keine Spur von Cassaras.«
»Moment mal!« Sammy nahm wieder fürs Bandentagebuch auf. »Erzähl noch mal das mit dem Prinzen, Schneewittchen.« Wie ein Reporter hielt er Alea das Handymikro vor die Nase.
Alea fügte sich und berichtete. »Gestern Abend – bevor das alles passiert ist – haben wir noch mit den Meerkindern an Deck gesessen, geredet, gelacht und so. Cassaras war auch da, aber er ist nicht unbedingt der gesellige Typ und war sichtlich froh, als ich ihn gebeten habe, zu einer Anzeigesäule zu schwimmen und nachzuschauen, ob bereits ein Datum für das große Treffen mit den Magischen feststeht.« Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihre Stimme zunehmend brüchig klang. »Der Prinz ist zur Hälfte Nixe, und das heißt, dass er sich im Wasser mit dem Trojavirus angesteckt haben könnte.«
Sie signalisierte, dass sie nichts hinzufügen wollte, und Sammy übernahm wieder. »Der Nixenprinz ist seit gestern Abend wie vom Erdboden verschluckt«, erklärte er und hielt sich das Handy wieder selbst vors Gesicht. »Selbst wenn Cassaras – der sprichwörtliche Einzelgänger – keine Lust auf unsere kleine Chillrunde an Bord hatte, wäre er bestimmt längst zurückgekommen. Es sei denn …«
»… ihm ist etwas passiert«, vollendete Sweeney den Satz, da nun auch Sammys Stimme ins Wanken geriet. »Hudi wanuti«, sagte der Kobold traurig. »Das ist wirklich schlimm.«
»Thea ist halb verrückt vor Sorge«, murmelte Alea. »Sie und Cassaras haben eine ganz besondere Beziehung, und wenn ihm etwas zugestoßen sein sollte …«
Abrupt stoppte Sammy die Aufnahme mit einer Bewegung, als wünschte er sich, er könnte auch die sich überschlagenden Ereignisse mit einem entschiedenen Fingertippen anhalten.
»Wir werden gleich weiter nach Cassaras suchen«, setzte Alea den Kobold ins Bild. »Wir drei Meerkinder, die ins Wasser können – Thea, Lennox und ich –, werden dieses Gebiet so lange durchforsten, bis wir einen Hinweis darauf finden, was mit dem Prinzen passiert sein könnte.« Sie bemühte sich sehr, zuversichtlich zu klingen. »Wir sind sowieso nur wegen der Umsiedlung der Skorpionfische an Bord gekommen, und weil wir mit Nelani telefonieren wollten.«
»Es wäre echt wichtig, mit eurer Mutter zu sprechen«, fand Sammy. »Bestimmt kann sie helfen.«
Sweeney zog die Knollennase kraus. »Wie denn?«
»Nelani ist Virologin.«
»Hä? Ich dachte, sie wäre Walwanderin!« Sweeney stemmte die Händchen in die Seite. »Was sind denn die Virologen für ein Stamm? Von denen hab ich ja noch nie gehört.«
»Nein, nein, unsere Mutter ist Walwanderin«, erklärte Alea. »Aber sie kennt sich sehr gut mit Viren aus und weiß, was man dagegen unternehmen kann.«
Nachdenklich kringelte Sweeney den Schwanz um seine Füße.
Alea hängte an: »Es wäre auch deswegen wichtig, mit ihr und unserem Vater zu reden, weil die beiden noch gar nicht wissen, dass Thea aus Orions Gefangenschaft befreit wurde und zur Cru gestoßen ist.«
»Bui«, erwiderte der Kobold unvermittelt – prima – und kletterte über einen Skorpionfisch, der am Holz der Reling haftete, nach unten. »Ich guck mal, was am Heck los ist.«
Während Sweeney leichtfüßig auf die Planken sprang, erklang hinter Alea und Sammy ein tiefes Brummen, und eine alles erfassende Vibration ließ die gesamte Crucis erbeben. Der Kobold erzitterte wie unter Strom gestellt und sein ganzer kleiner Körper wackelte.
Alea und Sammy drehten sich unaufgeregt um, denn das tiefe Brummen oder vielmehr Schnarchen überraschte sie nicht. Gleich hinter ihnen befand sich nämlich ein Tasfar an Deck – ein riesenhaftes, rabenschwarz schillerndes Meerespferd, magisch vom edlen Kopf bis zu den wohlgeformten Hufen. Mit geschlossenen Augen wie eine Sphinx thronte der Tasfar seit dem frühen Morgen zwischen Deckshäuschen und Bug. Seine eingeklappten glänzenden Flossen erinnerten an Flügel, und die schimmernden Schuppen, die die Flügelflossen bedeckten, an windleichte Federn. Er schlief, der dunkle Pegasus. Doch die bloße Tatsache, dass dieses zurückgezogen lebende Wesen der Aufforderung an den Anzeigesäulen gefolgt und an Bord der Crucis gekommen war, verdeutlichte die Not der Magischen in dieser Stunde: Im Meer war ihr Leben bedroht, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als aus ihrer Heimat zu fliehen, denn selbst ein schwieriger Zufluchtsort war besser als der sichere Tod.
Der Tasfar war im Morgengrauen auf die Crucis gekommen und hatte sich vor dem Deckshäuschen niedergelassen, ohne ein Wort zu sagen oder auf Fragen zu reagieren. Tasfaren waren scheue Wesen und mochten es nicht, angestarrt oder bedrängt zu werden. Doch da sich dieser Tasfar auf ein relativ kleines Landgängerschiff begeben hatte, war der Direktkontakt nur dadurch zu vermeiden gewesen, dass der Magische die Augen geschlossen und sich in Dämmerschlaf versetzt hatte. Alea war froh, dass der Tasfar an Bord war, denn in dieser bevölkerungsreichen Region Italiens hätte sich solch ein Koloss gewiss nicht unbemerkt an Land verstecken können. Allerdings blockierte er nun das halbe Deck, und wenn man vom Bug zum Deckshäuschen wollte, musste man sich an ihm vorbeiquetschen.
Der märchenschöne Pegasus war jedoch längst nicht der einzige Magische, der ihrer Aufforderung nachgekommen war, auf der Crucis Zuflucht zu suchen. In der Zwischenzeit waren außer Finni Nannini noch zwei weitere Finde-Finjas, ein ganzer Koboldclan sowie Dutzende Helmse an Bord gekommen. Die Helmse – kleine blaue Feuergestalten, die das Meer bei Gewitter vor Blitzen schützten – hatten Ben Sorge bereitet, denn aus ihren leuchtenden Helmen zuckten immer wieder Flammen hervor. Diese waren als abschirmendes Gegenfeuer bei Blitzeinschlägen essenziell wichtig. Dessen ungeachtet war Feuer auf einem Schiff, das größtenteils aus Holz bestand, eine tödliche Gefahr, und Ben hatte die Helmse gebeten, ihre kleinen Helme abzunehmen. Das hatte den blauen Magischen zwar überhaupt nicht gefallen, aber schließlich waren sie Bens Bitte nachgekommen und hatten sich ihre Helme unter die Ärmchen geklemmt. Nun hingen sie wie deplatzierte Schlümpfe an zwei Deckskisten und schienen auch nicht so genau zu wissen, wie es weitergehen sollte.
Ebenso hatte ein Schwarm Jarias zu ihnen aufs Schiff gefunden. Jarias waren schneeflockenartige Geschöpfe, zart und rein wie verwunschenes Morgenlicht, die eine Seele dadurch heilen konnten, dass sie einfach nur da waren. Allerdings empfanden die Jarias die beengte Situation auf der Crucis als schwierig, wie sie Alea eben erst mit ihrer flüsternden Chorstimme mitgeteilt hatten. Alea hatte die Seelenheiler daraufhin zur Spitze des Hauptmastes geschickt, damit sie dort oben ganz unbehelligt einfach nur da sein konnten.
Auch mit den Helmsen hatte Alea gesprochen, ebenso wie mit etlichen Kobolden. Die knallfarbigen Kleinkreaturen brauchten keine Ruhe, sondern fanden es wahnsinnig spannend, auf einem Landgängerschiff zu sein, alles genau zu untersuchen und in jeden Schrank und jede Kiste zu gucken. Das wiederum hielten einige der hier wohnenden Menschen für weniger lustig …
Alea brummte in sich hinein, als sie daran dachte, wie viel sie in der vergangenen Stunde geredet und zu regeln versucht hatte. Eigentlich hatten Thea, Lennox und sie nur kurz an Bord kommen wollen, doch dann hatte das Durcheinander auf dem Schiff sie geradezu verschluckt. Als es Alea zu viel geworden war, hatte sie sich am Tasfaren vorbeigedrückt und war zum Bug geflüchtet, um einmal kurz durchzuatmen. Am Bug stand sie nun immer noch, aber wirklich durchgeatmet hatte sie nicht.
Apropos Thea und Lennox – wo steckten die beiden eigentlich? Nachdenklich schaute Alea sich nach ihrer Zwillingsschwester und ihrem Krieger um. Da sah sie, dass Ben sich zu Sammy und ihr durchdrängte. In der Hand hielt er ein Käsebrot, das er ihr nun reichte. »Iss mal was, Aquarius.«
Dankbar lächelte Alea ihn an und biss in das Brot.
Sammy gab seinem Bruder das Handy zurück. »Wie ist die Lage, Käpt’n?«
Ihr Skipper stöhnte zur Antwort. Er sah so abgekämpft aus, wie Alea sich fühlte, und seine coole Rockstarfrisur war alles andere als in Form. »Langsam wird es problematisch«, sagte er mit Sorgenstimme. »Wir können nicht unbegrenzt viele Magische aufnehmen. Die Crucis liegt schon jetzt sehr tief im Wasser – die Zuladung ist einfach zu groß.«
»Der Tasfar …«, nuschelte Alea mit vollem Mund.
»… ist ein echtes Schwergewicht«, hielt Sammy fest. »Wenn noch mehr große Magische kommen würden, hätten wir ein echtes Problem.«
Frustriert verzog Ben den Mund. »Wir sind am Limit.«
»Aber sie müssen aus dem Wasser raus!«, wandte Alea ein. »Wir können die Magischen doch nicht abweisen oder zur Küste schicken, wo sie von den Landgängern gefunden werden.«
»Alea«, sagte Ben mit einer Mischung aus Ernüchterung und Bedauern. »Ich verstehe dich ja. Sehr gut sogar! Falls allerdings noch ein Tasfar kommt, ein Warkan oder ein Seh-Saffier«, zählte er die größten Magischen auf, »dann müssen wir ihn wegschicken. Entweder das oder wir gehen unter.«
Alea hörte auf zu essen. Ihr musste etwas einfallen. Sofort!, dachte sie und versuchte, den Elvarion-Modus heraufzubeschwören. Im Modus konnte sie jegliche Situation blitzschnell analysieren, und die beste Lösung stach meist klar und deutlich aus dem Wust der Details hervor. Leider stellte sich der Elvarion-Modus diesmal jedoch nicht ein.
Nun bemerkte Alea, dass sich die Jarias von der Mastspitze lösten und zu ihnen herabgeschwebt kamen. Schneeflockenleicht glitten sie auf der Spätsommerluft heran, zart strahlend wie hoffnungsvolle Zauberlichtpunkte an diesem sorgenschweren Morgen.
»Wollen die zu uns?«, wunderte sich Ben.
Einen Herzschlag später hatten die Jarias sie erreicht. Sanft ließen sich ein paar von ihnen auf Bens Armen nieder, andere hefteten sich auf Sammys Wangen und Stirn, und die übrigen landeten auf Aleas Schultern und ihrem Kopf.
Alea schloss die Augen und genoss das Gefühl, das sich in ihr ausbreitete. Das Gefühl war Frieden. Wundersamer, tiefer Frieden. Mit einem Mal schien es ihr, als wäre alles gut, auch dann, wenn es eigentlich schlecht war. Aber das Schlechte war ja nur deswegen da, weil es in dieser Welt eben Gut und Böse, Hell und Dunkel geben musste. Das Schlechte konnte nichts dafür, dass immer zwei Seiten von allem existierten und es den unbeliebten Teil abbekommen hatte. Es machte nur seinen Job.
»Ich will, dass die für immer an mir kleben bleiben«, hörte Alea Sammy wispern. Sie öffnete die Augen und grinste, denn der Bandenjüngste strahlte mit weit geöffnetem Mund und ausgebreiteten Armen, als wäre er mit Haut und Haaren in das Jaria-Gefühl hineingesprungen.
Doch viel zu schnell lösten sich die berauschend friedvollen Leuchtflocken wieder von ihnen und schwebten zur Spitze des Mastes zurück. »Swadaan« – Danke –, rief Alea ihnen nach. Sie fühlte sich ausgeglichen und besonnen, wenngleich sie auch ihren vorherigen Gedanken, dass selbst das Schlechte gut war, nicht mehr nachvollziehen konnte.
Ben stand ganz versunken da. »Wow, das war echt schön. Ich wusste gar nicht, dass sie so was machen.«
Alea lächelte. »Wusste ich auch nicht. Aber ich nehme an, dass wir noch einiges dazulernen werden, wenn wir derart eng mit Magischen zusammenleben.«
Sammy rubbelte sich die Wangen. »Hammerbärchen, die ganze Aktion. Hammerflocken!«
Alea schmunzelte. »Bestflocken. Hammerbestflockenbärchen!«
Ben und Sammy lachten, und auf einmal fühlte es sich an wie immer. Alea lachte mit den Walendy-Brüdern und genoss den kurzen Moment der Erleichterung inmitten des Schungs.
»Wie viele Magische leben eigentlich im Mittelmeer?«, fragte Sammy. »Hunderte, Tausende oder Hunderttausende?«
»Das habe ich eben Finni Nannini gefragt«, freute Ben sich merklich, weiterhelfen zu können. »Sie sagte, es wären exakt sechstausendeinhundertzweiundfünfzig.«
Alea staunte nicht schlecht über diese präzise Zahl. Andererseits war es nicht verwunderlich, dass Finde-Finjas etwas Derartiges genau benennen konnten, schließlich wusste niemand besser als sie, was sich wo im Meer befand.
»Sechstausendeinhundertzweiundfünfzig Magische«, wiederholte Alea, und der nächste Gedanke kam ganz automatisch. »Wo soll man die alle hinschaffen?«
Bens Augen verengten sich. Er sah aus, als hätte er einen Einfall. Rasch nahm er sein Handy und wählte die Nummer seiner Freundin Niki. Niki hielt sich zurzeit auf der Shalisar auf, die zur Flotte der Ocean Knights gehörte und auf der die Rumänin ein Praktikum absolvierte. Nach dem Umweltkonzert waren Niki, Magnus, der Kapitän der Shalisar, und ein paar andere Knights für eine kleine Party an Bord der Crucis gewesen, doch noch am selben Abend waren sie weitergesegelt.
Alea sah, dass Niki den Videoanruf annahm. Ihr bildhübsches, rundes Gesicht erschien auf Bens Bildschirm. »Misch Lateyna, Benjamein«, grüßte sie ihren Liebsten auf Hajara – Guten Morgen. Zwar war Niki durch und durch Landgängerin, aber sie bemühte sich fleißig darum, die Meeressprache zu lernen.
»Misch Lateyna.« Bens Augen strahlten, wie nur Niki sie zum Strahlen bringen konnte. »Gut, dass du schon wach bist.«
»Wie sieht es bei euch aus?«, wollte Niki wissen. »Wie geht es Akira und Yumiko?« Offenbar hatte Ben sie bereits über die Geschehnisse in Kenntnis gesetzt.
»Akiras Zustand ist unverändert schlecht«, erwiderte Ben. »Yumiko hat allerdings gesagt, dass sie sich gut fühlt. Die Frage ist bloß, wie lange noch …«
Niki nagte an ihrer Unterlippe. »Ist unter den Kobolden, den Helmsen oder den Jarias jemand am Virus erkrankt?«
»Das wissen wir nicht genau. Die anderen Magischen an Bord fühlen sich bisher alle gesund und haben keine Symptome. Es ist außerhalb des Wassers aber echt schwer, herauszufinden, ob vielleicht trotzdem jemand infiziert ist. Auf dem Schiff kann Alea ja kein Stimmungsspiel lesen, und das ist bisher die einzige Möglichkeit, eine Infektion zu erkennen.«
Alea legte die Stirn in Denkfalten. »Vielleicht könnten die Magischen an Bord kurz in einer Schüssel mit Leitungswasser untertauchen«, klinkte sie sich ein. »Bei den Größeren reicht mir auch eine Hand oder ein Fuß im Wasser, um zu sehen, ob jemand den Virus hat.«
»Versuch mal, einen Tasfarenfuß in eine Rührschüssel zu kriegen«, kommentierte Sammy.
Ben fand jedoch: »Das ist eine super Idee, Alea.«
»Und was macht ihr, falls immer mehr krank werden?«, hakte Niki nach.
Betretenes Schweigen war die Antwort.
»Eigentlich wollte ich was anderes besprechen«, kam Ben auf den Grund seines Anrufs zurück. »Wir haben inzwischen ein echtes Überladungsproblem.«
»Puh, ja, das kann ich mir vorstellen.«
Ben ging näher an den Bildschirm heran und rückte mit seinem Einfall heraus. »Ich habe mich gefragt, ob auch die Shalisar Magische aufnehmen könnte …«
Aleas Augenbrauen hüpften in die Höhe. Der Gedanke war gar nicht schlecht! Doch schon senkten sich ihre Brauen wieder. Die Vorstellung, dass Kobolde, Finjas und Tasfaren Zuflucht auf einem Schiff von Landgängern suchen sollten, die noch nie zuvor magische Wesen gesehen hatten, war schwierig. Zwar hatte Magnus seiner Besatzung von der Meerwelt und der Existenz der Magischen erzählt, aber die Shalisar zum zweiten Flüchtlingsschiff zu machen und das dortige Landgängerteam in derart engen Kontakt mit den fremden Geschöpfen zu bringen, war ziemlich gewagt, oder nicht? Alea wiegte den Kopf. Gewagt – ja, gleichzeitig jedoch auch nötig. Und vielleicht sogar ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Nun erschien Magnus hinter Niki. Magnus, der nicht nur der Kapitän der Shalisar war, sondern auch der Leiter der europäischen Ocean Knights. »Das ist ein sehr guter Vorschlag, Ben«, sagte der Norweger, der anscheinend mitgehört hatte. »Wir können gern ebenfalls Magische aufnehmen.«
»Echt? Das wäre toll.« Ben richtete sich auf, als hätte Magnus ihm eine schwere Last abgenommen.
Strahlend lächelte Niki ihren Benjamein über den Bildschirm an. »Die Shalisar ist ein ganzes Stück größer als die Crucis. Wir kriegen viel mehr Magische unter als ihr, und vielleicht können wir euch sogar welche abnehmen.«
Ben strahlte mit seinen meerblauen Augen zurück. »Dafür müsstet ihr herkommen …«
Magnus schien schon weiterzudenken. »Wir könnten auch andere Schiffe der Ocean Knights mit einbeziehen«, sagte er auf seine souveräne, überlegte Art. »Die Shalisar ist nicht das einzige Schiff unserer Flotte im Mittelmeer, und je mehr Anlaufstellen es für die Magischen gäbe, desto besser, oder?«
Jetzt war Alea baff. Gleich mehrere Knights-Schiffe? Das wäre ja fantastisch! Je nachdem, um wie viele es sich handelte, war das womöglich die Lösung des Problems.
Ben fragte Magnus: »Wie viele Schiffe sind denn in der Gegend?«
»Sieben«, antwortete Magnus. »Man könnte aber auch noch weitere aus anderen Gewässern herbeirufen. Wenn ich es richtig im Kopf habe, sind zwei unserer Müllschlepper momentan im östlichen Atlantik vor Marokko unterwegs, einer im Golf von Cádiz. Die wären relativ zügig hier, und verteilt auf insgesamt zwölf Schiffe könnten Hunderte von Magischen im Mittelmeer gerettet werden.«
Tausende brauchen Hilfe, huschte es Alea durch den Kopf. Viele davon sind allerdings klein wie Kobolde. Das könnte tatsächlich klappen!
Sammy meldete sich zu Wort. »Das heißt aber auch, dass wir die Knights auf diesen Schiffen in alles einweihen müssten.«
»Das würde ich übernehmen«, erwiderte Magnus ohne zu zögern. »Ich könnte eine Videokonferenz mit allen Kapitänen und Kapitäninnen abhalten und ihnen von der Meerwelt erzählen. Am besten mit einem Kobold auf der Schulter – zum Beweis.«
»Guter Gedanke«, meinte Ben.
»Wir setzen sofort Kurs und kommen zu euch«, sagte Magnus, und Bens Augen leuchteten auf. »Und dann wechseln so viele Magische wie möglich zu uns über.« Überlegend knetete er sich das Kinn. »Hoffentlich ist ein Kobold dabei, der bereit ist, sich bei der Konferenz zu zeigen.«
Daran hatte Alea keinen Zweifel. Kobolde waren in der Regel alles andere als schüchtern.
Jetzt griff Niki den unausgesprochenen Gedanken auf, der in Sammys Äußerung mitgeschwungen hatte. »Wenn allerdings so viele Leute von der Meerwelt wissen, könnte das Geheimnis ganz schnell auch in den Rest der Welt hinausgelangen.«
»Das stimmt«, gab Magnus ihr recht.
Da richteten sich sämtliche Augenpaare auf Alea. Für die anderen schien festzustehen: Einen Entschluss darüber zu fassen, ob der Plan zu riskant war, lag in der Hand der Elvarion. Doch die hatte ihre Entscheidung bereits gefällt.
»Wir machen es trotzdem«, sagte sie. Wenngleich ihr auch etwas mulmig bei der Vorstellung war, so viele ihr unbekannte Menschen in ihre Geschichte mit einzubeziehen, spürte sie, dass die Zeit reif war, diese neue Richtung einzuschlagen. Es war an der Zeit, dass die Landgänger von den Welten unter der Wasseroberfläche erfuhren. Zwar war es kaum zu fassen, dass es nun plötzlich derart schnell damit gehen würde, aber Alea vertraute Magnus. Der umsichtige Norweger würde die richtigen Worte finden, und welcher Kobold ihm auch immer zur Seite stehen würde – er trüge bestimmt auf eindrucksvolle Weise zur Glaubhaftigkeit der Enthüllung bei. Und wenn das Geheimnis nicht bei den Ocean Knights verbleiben, sondern seinen Weg hinaus in die Welt finden würde, wäre auch das in Ordnung. Denn letztendlich musste dies irgendwann geschehen. Eine neue Ära musste anbrechen, in der Landgänger und Meermenschen zusammenkamen, um mit vereinten Kräften ihre Welt zu retten. Denn nur gemeinsam und als eine Menschheit konnten sie die Zerstörung der Natur aufhalten. Und vielleicht war genau jetzt der richtige Zeitpunkt, um damit zu beginnen.
Alea verließ den Bug, schlängelte sich am Tasfaren vorbei und machte sich auf die Suche nach Thea, um noch einmal mit ihr gemeinsam zu versuchen, Nelani zu erreichen. Es war allerdings so voll auf dem Schiff, dass man schnell den Überblick darüber verlieren konnte, wer sich wo aufhielt. Als Alea das Hinterteil des schlafenden Pegasus umrundete und neben das Deckshäuschen trat, entdeckte sie Fussel, Sammys kleine Ringelrobbe, die seelenruhig auf den Planken in der Morgensonne vor sich hin döste. Eine Handvoll Helmse hatte es sich auf ihrem weichen Pelz gemütlich gemacht, was die Robbendame nicht im Mindesten zu stören schien. Tante Hildegard jedoch, Tess’ pummelige kleine Sturmmöwe, saß hoch über ihren Köpfen auf dem Tauwerk des Mastes und beschwerte sich lautstark. Bestimmt gefiel es ihr ganz und gar nicht, dass ihr Lieblingsplatz auf der Spitze des Mastes von den Jarias in Beschlag genommen worden war. Zu allem Überfluss kletterten nun ein paar vorwitzige Kobolde zu ihr hinauf und begafften das Federtier neugierig. Motzend flog Hildegard auf und landete auf der Reling an Backbord. Auf den Planken vor ihr hockte ein Dutzend weiterer Kobolde, die gerade mit Begeisterung die Seiten aus Bens Australien-Reisebildband herausrissen, diese in Schnipsel zerfetzten und wie ein Puzzle neu zusammenfügten, um damit ein eigenes Bild zu erschaffen – eine Sandbank im Sonnenuntergang.
Alea war gleichzeitig zu beeindruckt und zu erschöpft, um den Bildband zu retten. Überall an Deck wuselte und wimmelte es. Vorsichtig machte sie einen kleinen Bogen um Fussel und die dösenden Helmse und ging zum Heck, wo sie ein paar bekannte Gesichter entdeckt hatte. Tess Taurus, die Piratenrockprinzessin der Alpha Cru, schien dort damit beschäftigt zu sein, etwas zu bauen. Die Französin hatte ihre langen Dreadlocks zu einem hohen Zopf zusammengebunden, einen Hammer in der Hand und einen Nagel zwischen den Lippen.
Und da war ja auch Lennox! Lennox Scorpio, Aleas boyfriend und dharrkon, stand in Jeans und seiner schwarzen Bikerjacke neben Tess und strich sich durch das dunkle Haar, das ihm tief in die Stirn hing. Konzentriert nahm er ein schweres Holzbrett zur Hand, brach es mittendurch und reichte die Hälften der Rockprinzessin. Alea nahm an, dass die beiden aus den Holzresten, die achtern schon ewig vor sich hin gegammelt hatten, einen Wasserbottich für Finde-Finjas zimmern wollten. Denn Finjas hielten sich nicht gern an der Luft auf, und auf dem Schiff gab es nur drei Wassereimer. Diese waren bereits von Finni Nannini und den zwei anderen Finjas in Anspruch genommen worden. In den Eimern waren die Korallenkrakenbäumchen sicher aufgehoben, da sich darin Süßwasser aus den Crucis-Tanks befand, die schon vor Tagen aufgefüllt worden und somit definitiv trojavirusfrei waren. Einen zusätzlichen Bottich für weitere Finjas zu bauen, war allerdings ein sehr guter Gedanke.
Lennox zerlegte ein weiteres massives Holzbrett mit einer einzigen kraftvollen Bewegung und zog damit Aleas Blick auf sich.
»Ohhh!«, röhrte eine hohe Stimme. »Guckt mal, wie schön der Sachen kaputt macht!«
Ein paar Kobolde, die hingerissen um Lennox’ Füße herumtrippelten, verrenkten sich die Hälse, um ihn zu beobachten. Einer von ihnen war tintenblau. Als Lennox ein besonders dickes Brett mit einer Leichtigkeit durchbrach, als wäre es aus Zucker, begannen die Kobolde zu johlen und zu applaudieren. Irritiert unterbrach der Superkrieger sein Tun, und Alea konnte sehen, dass seine Wangen leicht rötlich anliefen. Sie lachte in sich hinein. Da fanden seine azurblauen Augen die ihren, und er lächelte sie mit seinem typischen, leicht schrägen Lennox-Lächeln an. Ein leises Flattern, süß und warm, breitete sich in Aleas Brust aus, und sie lächelte zurück.
»Alea!« Das war Evelin, der gerade mit einem weiteren Holzstück herantrat. »Wir versuchen, eine Wanne zu bauen.«
»Gralhie«, – wunderbar –, erwiderte Alea und fügte mit einer Prise Sorge hinzu: »Hoffentlich wird es nicht zu viel für dich.« Erst vor zwei Tagen war Evelin beim Kampf auf der Promenade angeschossen worden – doch zum Glück hatte es sich nur um einen Streifschuss gehandelt. Die Wunde war durch den Einsatz einer Meerespflanze namens Jaberkraut zudem enorm gut verheilt, und nun war Evelin offensichtlich bereits wieder voller Tatendrang.
»Ich glaub, meine Seegurke gurgelt!«, entfuhr es dem tintenblauen Kobold, der niemand anderer war als Sweeney. »Der Adetari!« Ehrfürchtig starrte er zu Evelin hinauf, der Lennox gerade das Brett übergab.
»Ein Adetari!«, fingen die anderen Kobolde an zu raunen.
Der Meerjunge lachte und setzte sich zu den Kobolden auf die Planken. »Ich bin Evelin, und wer seid ihr?«
Der Tintenblaue kletterte flugs auf seinen Schuh. »Mein Name ist Sweeney, und ich bin sehr fröhlich«, stellte er sich mit großer Geste vor. »Des Weiteren kann ich wohl mit Fug und Recht als außergewöhnlich welterfahren bezeichnet werden.«
Lächelnd nickte Evelin. »Nijih.« – Großartig. »Ich würde wahnsinnig gern mehr über die Meerwelt erfahren. Vielleicht –«
»Oho!« Sweeney warf sich in Pose. »Was willst du wissen?«
Alea konnte Evelin ansehen, dass er nun sogar ein wenig aufgeregt war. Kaum jemand anderer brannte so sehr auf Informationen wie er. »Was ist das Wichtigste, was man über Kobolde wissen sollte?«
Die anderen Kobolde begannen wild durcheinanderzukrähen, doch Sweeney sprang auf Evelins Knie, hob energisch das Händchen, und tatsächlich verstummten die anderen. »Kobolde können sehr viel mehr, als nur Bilder zu malen«, hielt Sweeney nachdrücklich fest, um sogleich einzuräumen: »Wir können aber halt auch sehr gut Bilder malen: mit Sand, mit Steinen –«
»Mit Schnipseln!«, krakeelte einer von der Reling herüber, wo der Bildband gerade endgültig das Zeitliche segnete.
Sweeney stimmte zu. »Vor allem können wir mit unseren schön vielfarbigen Körpern Illusionen und Trugbilder erschaffen«, führte er weiter aus. »Da ist schon so manchem die Kinnlade runtergeknallt.«
»Das stimmt!«, schrillte einer der anderen Kobolde, woraufhin die ganze Gruppe laut durcheinanderzurufen begann und wohl jeder eine Geschichte darüber zu erzählen hatte.
»Was für ein Radau!«, beschwerte sich da eine durchdringende Piepsstimme. Die gehörte jedoch keinem Kobold, sondern dem Finde-Finja-Promi Finni Nannini, die sich im ersten der drei Eimer ein Stück neben ihnen befand. Finni Nannini hängte sich mit mindestens zehn ihrer silbergrauen Ärmchen über den Rand des Eimers. »Es ist viel zu laut!«
Grummelnd verdrehten die Kobolde die Augen und zerstreuten sich. Nur Sweeney blieb auf Evelins Knie stehen.
Aus dem Eimer neben Finni Nannini tauchte eine nicht weniger missgestimmte Finja auf, die leise vor sich hin schimpfte. Daneben reckte sich die dritte Finja aus dem letzten Eimer empor. »Es ist unerträglich, vom Meer abgeschnitten zu sein. Weder gibt es etwas zu suchen noch zu finden!«
Alea überlegte, ob sie den Finjas kleine Gegenstände zum Finden in die Eimer werfen sollte, aber sie kannte Finjas mittlerweile gut und wusste, dass sie das eventuell als Beleidigung auffassen würden. Alea erinnerte sich nun allerdings daran, dass sie in den Stimmungsspielen der Magischen an Bord nach Anzeichen für den Virus suchen wollte. Rasch ging sie vor den Eimern in die Hocke und schärfte den Blick. Finni Nanninis Aura sprach von Beklemmung und Stress, doch schwarze Flecken wie jene, die Alea bei Akira und Yumiko gesehen hatte, waren nicht zu finden. Und das, obwohl Finni Nannini der Nixe im Wasser sehr nah gewesen war! Möglicherweise dauerte die Inkubationszeit bei Finjas länger? Nun überprüfte Alea auch die Stimmungsspiele der anderen beiden Korallenkrakenbäumchen und stellte erleichtert fest, dass hier ebenfalls kein Virus auszumachen war.
Währenddessen ging die Empörungstirade der Finjas lautstark weiter, und es fielen Worte wie »unzumutbar«, »scheußlich« und »findefeindlich«. Als Tess daraufhin einen Nagel zum Finden in den Eimer der mittleren Finja fallen ließ, begann die umgehend in den höchsten Tönen zu quieken, dass das eine Unverschämtheit wäre und ob Tess sie verschaukeln wollte.
Finni Nannini brachte einen erschöpften, lang gezogenen Klingellaut hervor, und mindestens zwanzig ihrer unzähligen Augen nahmen den Tasfaren ins Visier. »Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir uns in Tiefschlaf versetzen würden, so wie der Tasfar.«
»Oh, das ist das Vernünftigste, was ich gehört habe, seit ich im Eimer bin!«, meinte die Zweite, und die Dritte zirpte: »Schlafend ist das alles bestimmt viel besser zu ertragen.«
Alea nickte. »Wenn ihr das einfach so könnt – euch in Tiefschlaf versetzen –, dann macht das unbedingt!«
Da erklang wieder Sweeneys Stimmchen. »Wieso willst du das alles verschlafen, Finni?« Er blickte von Finni Nannini zu Evelin. »Es ist doch total spannend bei den Landgängern!«
»Dschan« – Freund –, antwortete die Finja dem Kobold, der sie seit einigen Tagen begleitet hatte. »Bleib du wach und kümmere dich um alles, ja?« Kaum hatte sie das gesagt, gab sie eine Art Kommando, und die drei Finjas tauchten in den Eimern ab. Eng drückten sie sich an den Boden und verschränkten ihre Ärmchen über sich, als ginge sie das alles ab jetzt nichts mehr an.
Alea seufzte schwer. Sweeney streckte den Bauch vor, faltete die Händchen hinter dem Rücken und sagte: »Ich werde mich um alles kümmern. Falls ihr irgendwelche Fragen habt, liebe Riesen, wendet euch vertrauensvoll an mich.«
Vor ihm tauchte ein anderer Kobold auf, goldgelb wie Eidotter. Diesen kannte Alea noch nicht. »Guck dir das mal an!« Er zeigte Sweeney, was er gerade gefunden hatte: einen Karton mit Tampons.
Sweeney hüpfte von Evelins Knie, um sich das genauer anzusehen. »Hudi wanuti!«
Der Goldgelbe zog einen Tampon aus der Schachtel und hielt ihn mit kritischem Blick vor sich. »Sieht aus wie ein Kanonengeschoss.«
»Bei allen Wellenschlägen! Leg das weg!«, warnte Sweeney. »Das ist gefährlich!«
Alea griff nach dem Karton und drückte ihn an sich.
Tess fing an zu lachen. »Also, meine Tampons sind das nicht.«
Lennox bemerkte: »Meine auch nicht.«
Tess lachte noch lauter, und Evelin grinste ebenfalls.
»Ich benutze Baumwollbinden«, erklärte Tess.
»Baum-Wollbinden?« Der goldgelbe Kobold starrte sie verständnislos an.
»Warum benutzt du Baum-Wollbinden?«, fragte Sweeney.
»Weil man die auswaschen kann«, antwortete Tess.
Sweeney stutzte, kratzte sich zwischen den abstehenden Haaren und machte eine großzügige Geste. »Na, wenn Sachen auswaschen dein Ding ist, dann mach das ruhig. Ich habe mal von sogenannten Waschbären gehört, die auch –«
»Waschbären?«, unterbrach ihn der Goldgelbe. »Die hast du dir doch ausgedacht!«
»Gar nicht! Die gibt es echt!«, empörte sich Sweeney. »Und Waschen macht Waschbären sehr glücklich.«
Lennox’ Mundwinkel zuckten, und Alea grinste ihn an.
Weise fügte Sweeney hinzu: »Manche Leute haben halt komische Hobbys.«
Tess schüttelte den Kopf. »Waschen macht mich nicht glücklich.«
»Oh.« Perplex beugte sich Sweeney zu dem anderen Kobold hinüber und raunte: »Wieso tut sie es dann?«
Ratlos gab der Goldgelbe zurück: »Vielleicht ist bei ihr irgendwas nicht ganz richtig im Oberstübchen?«
Tess, Alea, Lennox und Evelin begannen haltlos zu lachen. Die zwei Kobolde verstanden nur Bahnhof, und Evelin erklärte ihnen, was es mit Tampons und Binden auf sich hatte. Jetzt machte sich wachsendes Entsetzen auf den Mienen der Kobolde breit, und das brachte alle nur noch mehr zum Lachen.
»Könntet ihr mal kurz eure Füße hier hineinstecken?«, wechselte Alea das Thema, griff nach einem herumstehenden Becher und füllte ihn mit Wasser aus Lennox’ Wasserflasche. »Ich würde gern euer Stimmungsspiel untersuchen, ja?«
Noch völlig überrollt von den Dingen, die er soeben hatte erfahren müssen, kletterte Sweeney auf den Rand des Bechers und tat wie geheißen. Alea nahm sein Stimmungsspiel gründlich unter die Lupe, doch auch hier konnte sie nirgendwo schwarze Flecken erkennen. Ebenso wenig bei dem zweiten Kobold, der gleich darauf an der Reihe war.
»Sieht gut aus«, gab sie Entwarnung – Herva nscha.
»Bui« – prima –, sagte der Goldgelbe und schwirrte davon.
Lennox musterte Alea. »Vielleicht solltest du dich hinlegen, Yavani.« Yavani war das schönste Kosewort der Meeressprache und bedeutete so viel wie »meine ewige Liebe«.
»Es wird schon gehen«, entgegnete Alea. »Wir sind alle geschafft, aber trotzdem ist jeder am Start, um zu helfen.«
Tess bemerkte: »Leider nicht jeder.«
»Wieso?«, wollte Alea wissen. »Wer denn nicht?«
Verwundert neigte Tess den Kopf. »Hast du das gar nicht mitbekommen?« Sie schnaufte. »Non, da wart ihr ja im Wasser.«
»Was ist passiert?«, fragte Lennox, der ebenso wenig zu wissen schien, worum es ging.
»Fragt am besten Zuzana.« Tess wies zum Hecktisch, an dem die Anschu ganz vertieft auf ihr Handy starrte.
Mit ein paar Fragezeichen im Kopf rief Alea Zuzana, die sofort aufstand und zu ihnen herüberkam. Die zartgliedrige Anschu trug ein knöchellanges Kleid mit langen Ärmeln, dazu Handschuhe mit abgeschnittenen Fingerkuppen, elegante Stiefel und einen Seidenschal, den sie sich mehrmals um den Hals geschlungen hatte. Das Outfit war todschick, aber viel zu warm für diesen Spätsommertag. Allerdings war klar, dass Zuzana es einzig und allein trug, um so viel wie möglich von ihrer schuppigen Haut zu verstecken. Alea hoffte, dass sich die Anschu irgendwann so sicher an Bord fühlen würde, dass sie ihre Haut ganz frei und offen vor den anderen Cru-Mitgliedern zeigen konnte.
»Hi«, sagte Zuzana, als sie sich zu ihnen gesellte und ihr schulterlanges hellbraunes Haar so ins Gesicht zog, dass kaum mehr als ihre Nasenspitze hervorlugte. »Was ist los?«
»Alea und Lennox wissen noch gar nichts von Isla«, klärte Tess sie auf.
»Ist was mit Isla?«, fragte Alea erschrocken.
»Sie ist heute Morgen von Bord gegangen.«
Sprachlos starrten Alea und Lennox Zuzana an. Evelin schien hingegen schon Bescheid zu wissen und fuhr sich seufzend durch das kurze blonde Haar.
»Eigentlich hatten Isla und ich mit unseren Pflegeeltern abgesprochen, dass wir nur übers Wochenende für das Umweltkonzert nach Rom fahren.« Zuzana schlang die schlanken Arme um den Oberkörper, als wäre es ihr etwas unangenehm, dass alle sie ansahen. »Wir haben unseren Eltern ja jeweils erzählt, dass wir krank geworden wären und uns erst noch ein paar Tage auskurieren müssten, bevor wir nach Hause kommen und wieder zur Schule gehen können. Meine Eltern haben das auch geglaubt, Islas aber nicht. Sie wollten, dass sich Isla auf der Stelle in den nächsten Zug setzt und heim nach Berlin fährt.«
Evelin, der seinen Schulabschluss ebenso wie Nexon bereits in der Tasche hatte, schickte nach: »Isla ist nichts anderes übriggeblieben, als die Cru zu verlassen. Deswegen hat Tess sie heute Morgen in aller Frühe mit dem Beiboot zum Festland gebracht.«
Alea war ganz perplex. Isla hatte noch nicht einmal Tschüss gesagt! Stirnrunzelnd zog sie ihr Handy hervor und checkte ihre Nachrichten. Tatsächlich hatte Isla ihr am Morgen geschrieben. »Es tut mir so leid«, begann die SMS, die Alea nun laut vorlas und in der die Zalti alles erklärte. Sie endete mit den Worten: »Ich weiß ganz sicher, dass wir uns alle wiedersehen werden, irgendwann. Haltet bis dahin die Ohren steif und Doktor Orion fest im Blick.«
Lennox nickte. »Das machen wir.«
»Aber du bleibst noch?«, fragte Alea Zuzana.
Die Anschu lächelte, und Alea fand, dass es ein sehr hübsches Lächeln war, von dem sie gerne mehr gesehen hätte als nur den kleinen Ausschnitt zwischen den Haaren. »Ich will so lange wie möglich bleiben. Nirgendwo sonst fühle ich mich so … normal.« Zuzana lachte leise. »Abgesehen davon sind hier die Chancen am besten, mit meiner Gabe umgehen zu lernen.« Die Anschu waren ein Meermenschenstamm, der große Macht besaß – mit der Kraft ihrer Hände konnten sie riesige Wellen erschaffen und sogar Tsunamis aufhalten. Zuzana war das zwar noch nie auch nur im Ansatz gelungen, aber sie hatte recht: Nirgendwo standen die Chancen besser als hier, herauszufinden, wie das ging. »Andererseits ist es auch an Bord schwierig, mit meinen Kräften herumzuexperimentieren, wenn mich schon ein kleiner Schwall hochspritzendes Wasser töten könnte …«, schob Zuzana mit spürbarer Frustration nach.
Alea, die ihre Augen inzwischen mit der Hand gegen die aufgehende Sonne abschirmen musste, warf ein: »Hast du mal überlegt, mit warmem Wasser zu üben?« Warmes Wasser war für die Meerkinder ungefährlich, denn der Wasservirus steckte nur im kalten. Als Zuzana verdutzt dreinschaute, erklärte Alea: »Du könntest warmes Wasser aus dem Hahn in eine Schüssel geben und versuchen, es aufwallen zu lassen.«
Diese Idee schien Zuzana gut zu gefallen. »Hilfst du mir dabei?«, fragte sie lächelnd.
Alea zwinkerte ihr zu. »Gern.« Sie mochte die Anschu. Zwar war Zuzana noch immer nicht richtig aufgetaut, aber womöglich könnte sie eine gute Freundin werden, wenn sie sich erst einmal traute, ganz sie selbst zu sein.
»Wunderbärchen«, sagte Zuzana.
Alea grinste. Vielleicht war die Anschu bereits tiefer in das Leben auf der Crucis eingetaucht als gedacht.
Nun wandte sich Zuzana der Bordtür zu, als hätte sie etwas vor. »Ich gehe mal runter in den Salon. Wir haben immerhin zwei echte Nixen an Bord …«
»Ich komme mit«, schloss Alea sich ihr an, denn sie vermutete, dass Thea irgendwo unten zu finden war. »Hoffentlich geht es den Nixen –« Alea stockte und verstummte, denn es gab keinen Anlass, zu hoffen, dass sich Akiras und Yumikos Zustand gebessert hatte. Würden sie überhaupt mit Akira sprechen können? Seit der vergangenen Nacht war die Nixe ohne Bewusstsein, und es stellte sich die Frage, ob sie noch einmal aufwachen würde …
Alea und Zuzana drängelten sich am Hinterteil des Tasfaren vorbei, stiegen über die quietschende Bordtreppe nach unten, passierten die Küchennische und das kleine Bad und kamen in den Salon. Dieser hatte sich in der Zwischenzeit in ein regelrechtes Krankenlager verwandelt. Auf der rechten Seite stand Lennox’ Schlafcouch, auf der jedoch nicht mehr Aleas dharrkon schlief, sondern der bewusstlose Darkonerchef Zeirus. Seine Kinder Siska und Nexon waren anscheinend an seiner Seite eingeschlafen und setzten sich gerade erst mit müden Augen auf.
Siska, die vor dem Sofa auf dem Boden gelegen hatte, suchte nach ihrem Handy. »Wie spät ist es?«
»Keine Ahnung. Bleibt ruhig noch liegen«, flüsterte Alea.
»Wie sieht es oben aus?«, wollte Nexon wissen, der seine langen schwarzen Haare zu zähmen versuchte und in einen Zopf band. »Werden wir gebraucht?«
»Werdet erst mal richtig wach.« Alea lächelte den Oblivionjungen an, dessen Blick allerdings bereits wieder zu seinem Vater geglitten war.
Zeirus lag da wie ein schlafender Riese. Bisher hatte sich der Darkonerboss weder bewegt, noch hatte es den kleinsten Hinweis darauf gegeben, dass er bald aufwachen würde. Der große Mann trug inzwischen nicht mehr die schwarze, uniformähnliche Montur der Darkoner, sondern eine Jeans und ein T-Shirt seines Sohnes – das ein klein wenig spannte. Auf dem Shirt prangte die Aufschrift »Champion«, was angesichts der prekären Lage eher etwas schräg anmutete. Zeirus lag bereits seit zwei Tagen im Koma und drohte zu dehydrieren. Aus diesem Grund hatte der Roix Ramin ihnen empfohlen, die Knolle der Tirrmia-Meerespflanze zu Brei zu stampfen und auf der Haut des Bewusstlosen zu verreiben, um ihm Flüssigkeit und Nährstoffe zuzuführen. Lennox war heute Morgen extra noch einmal ins Meer gesprungen, um die Knolle zu besorgen, und wie Alea sehen konnte, hatten Nexon und Siska ihren Vater in der Zwischenzeit gut damit eingerieben. Jetzt begann Siska, Streckübungen mit den Armen und Beinen des Bewusstlosen zu machen. Alea wusste, dass sie das tat, um Druckgeschwüren und Blutgerinnseln vorzubeugen, und sie fand es toll, dass die Kinder des Kommandanten alles in ihrer Macht Stehende unternahmen, um ihrem Vater zu helfen. Aber was sie tun konnten, um ihn aufzuwecken, hatten sie noch nicht herausgefunden.
»Die Nixen schlafen«, wisperte Zuzana.
Alea drehte sich um. Auf der anderen Seite des Salons stand die zweite Couch, auf der Akira und Yumiko in tiefem Schlummer zu liegen schienen. Wie die Cru wusste, konnten sich Nixen problemlos über längere Zeit außerhalb des Wassers aufhalten. Allerdings verwandelte sich ihr Fischschwanz auf dem Trockenen wohl nie in Beine, wie es bei Tasfaren der Fall war, sondern blieb ein Fischschwanz. Die Nixen konnten sich also schlecht von der Couch fortbewegen. Akira wäre aber auch gar nicht mehr dazu in der Lage gewesen, denn sie war nicht nur bewusstlos – ihre Körpertemperatur war heute Morgen auf zwei Grad gefallen. Yumiko hatte Alea erklärt, dass die sogenannte Eishärte bei Nixen eine typische Körperreaktion auf Erreger war – wie Fieber bei Menschen. Akira war die Eishärte deutlich anzusehen, denn ihre Haut wirkte, als würden sich winzige Eiskristalle wie Raureif darauf ausbreiten. Ihr fahles Gesicht erschien eingefallen, und ihr Atem ging stoßweise.
Bestürzt starrte Alea die Nixe an. Das alles tat ihr so furchtbar leid …
Während Alea noch starrte, ging Zuzana zu den beiden Nixen hinüber und setzte sich mäuschenleise auf die Couchkante neben Yumiko. Da erwachte diese. Mit einem kehligen Grunzgeräusch öffnete die Nixe die Augen, die sich sofort wachsam auf das Mädchen hefteten. »Was willst du?«, blaffte sie.
Zuzana schreckte zusammen und sah für eine Sekunde so aus, als wollte sie das Weite suchen. Doch sie blieb sitzen.
Da ist es ja – Zuzanas wahres Ella-Gesicht, dachte Alea.
»Unah, ich bin Zuzana«, brachte die Anschu etwas heiser hervor.
Yumiko, deren Haut noch kräftig türkisfarben war, wirkte überrascht, dass sie das Mädchen nicht verscheucht hatte. Verwundert betrachtete sie Zuzana. »Eine Anschu. Hmm. Ich habe lange niemanden mehr wie dich gesehen.«
»Und ich bin noch nie einer Nixe begegnet«, krächzte Zuzana.
Der Blick der Nixenkriegerin intensivierte sich. »Hast du Angst vor mir?«
Zuzana zögerte kurz, dann antwortete sie: »Ja. Habe ich.«
Ein kleines Grinsen stahl sich in Yumikos Mundwinkel. »Und was hat dich dazu gebracht, dich trotzdem zu mir zu setzen?«
»Ich …« Leicht nervös zupfte Zuzana an ihrem Schal. »Ich hatte gehofft, mehr über euch zu erfahren.«
Yumiko, die wie viele Nixen Lederharnische um die Handgelenke trug, glättete sich in aller Ruhe das schneeweiße Haar, dann strich sie mit den Fingern über die tiefen Falten in ihrem Gesicht, als müsste sie über Zuzanas Worte nachdenken. »Du möchtest etwas über Nixen lernen?«
»Ja«, hauchte Zuzana.
Alea sah, dass sich Nexon und Siska umwandten, als interessierte sie ebenfalls, was auf der anderen Couch gesprochen wurde. Nexon hatte soeben begonnen, einen Apfel mit seinem Taschenmesser zu schälen, hielt nun aber gespannt inne.
»Wir Nixen sind Kriegerinnen«, sagte Yumiko mit großem Stolz. »Das Streben nach Ruhm und Ehre bestimmt unser Leben, und wir lieben es, unsere Kräfte zu messen.« Sie machte eine Pause, um sich etwas aufzusetzen. Dabei wischte ihr Fischschwanz geräuschvoll über die Bodendielen und den Teppich. »In Gat’Nambeessa, der Hauptstadt der Nixen, werden jede Hellnacht Zweikämpfe ausgetragen. Von so etwas hast du wahrscheinlich noch nie gehört.«
»Doch«, sagte Zuzana. »Ich bin bei den Landgängern aufgewachsen – auch dort gibt es so etwas. Man nennt es Turniere.«
»Tatsächlich?« Das schien Yumiko zu erstaunen. »Ich hätte nicht gedacht, dass jemand wie die schlaffen Beinläufer an einem Wettstreit interessiert sein könnte. Hmm.« Das Hmm hörte sich an, als wäre sie ein Stück weit beeindruckt. »Bei uns gibt es jedenfalls verschiedene Disziplinen, zum Beispiel Schwanzdreschen oder Schulterrammen. Ich war immer die Beste im Stirnstemmen.«
»Wirklich? Darüber würde ich gerne noch mehr hören.« Zuzana schien Mut zu sammeln, um eine Frage zu stellen. »Wäre es in Ordnung, wenn ich dich beim Sprechen mit dem Handy filmen würde?«
Da sprang Nexon kerzengerade auf. »Das wirst du schön bleiben lassen!«, ranzte er Zuzana derb an. »Du kannst doch keine Videos von einer Nixe machen!«
»Krieg dich mal wieder ein«, gab Zuzana unbeeindruckt zurück, als wäre seine Reaktion völlig daneben. Alea wusste jedoch, dass Oblivionen zwangsläufig in den Beschützermodus wechselten, wenn ein magisches Wesen von einem Landgänger entdeckt zu werden drohte. Schließlich war es die Aufgabe der Oblivionen, genau das zu verhindern.
»Ich wäre natürlich vorsichtig mit den Aufnahmen«, sagte Zuzana etwas freundlicher, aber bestimmt. »Andere Meerkinder interessiert garantiert auch, was Yumiko zu erzählen hat.«
Nexon öffnete schon den Mund, um Zuzana vehement in die Parade zu fahren, da fragte Yumiko: »Was ist ein Handy?«
Während Zuzana ihr Smartphone herausholte, um es der Nixe zu demonstrieren, wandte Alea sich an Nexon. »Ich glaube, Yumiko mit dem Handy zu filmen, ist keine schlechte Idee.«
Zorn funkelte in Nexons azurblauen Augen auf. »Wenn so ein Video in falsche Hände gerät, dann –«