Alfie Bloom, Band 02 - Gabrielle Kent - E-Book

Alfie Bloom, Band 02 E-Book

Gabrielle Kent

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Beschreibung

Einfach unglaublich! Alfie muss sich manchmal zwicken, weil es ihm so vorkommt, als wäre sein Leben ein Traum. Durch eine geheimnisvolle Erbschaft ist er der stolze Besitzer seiner eigenen Burg geworden, in der es vor Überraschungen nur so wimmelt. Neben Geheimgängen, Falltüren und verborgenen Räumen gibt es ein Verlies voll schlafender Drachen, das Alfie vor bösen Mächten behüten muss, die diese Kreaturen wecken und gegen die Menschen einsetzen wollen. Außerdem wurde Alfie eine uralte Magie anvertraut, die nicht in falsche Hände geraten darf. Alfie schwebt in großer Gefahr, denn hinter diesem magischen Vermächtnis scheint jeder her zu sein …

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Aus dem Englischen von Kai Kilian

Für meine Familie

KAPITEL 1

Räuber aus der Eiche

Alfie rollte sich auf den Rücken und lächelte zu den Sternen hinauf, während der Wind ihm durchs Haar pfiff und an seiner Schlafanzughose zerrte. Er tätschelte den Pelz unter ihm – ein Flug mit einem Bärenfellteppich war einfach die absolut beste Art zu reisen.

»Du bist so still heute Nacht«, sagte eine tiefe Stimme an seinem Ohr. »Alles in Ordnung?«

»Ich genieß bloß die Ruhe, Artan.« Alfie streckte den Arm aus und kraulte den Bärenkopf. Der ganze Teppich begann zu vibrieren, als Artan ein wonniges Brummen ausstieß.

Das Mondlicht glitzerte auf dem Archelon-See und beleuchtete die Umrisse von Burg Hexbridge hoch oben auf einem der Hügel, die das Dörfchen umgaben. Alfie konnte es immer noch nicht so recht glauben, dass er wirklich dort wohnte. Sein Dad schlief in dem jahrhundertealten Gemäuer bereits tief und fest, genauso wie seine beste Freundin Amy Sui, die ihn über die Osterferien besuchte, während ihre Oma sich von einer heftigen Grippe erholte. Seine Cousine Madeleine und sein Cousin Robin waren erst vor ein paar Stunden aufgebrochen, nachdem sie das Wochenende auf der Burg verbracht hatten.

Alfie fand es herrlich, so viele Leute um sich zu haben, besonders weil er bis vor ein paar Monaten in einer düsteren Souterrainwohnung gehaust hatte, nur mit seinem Dad und seinem Kater Galileo als Gesellschaft. Seit er von Orin Hopcraft, dem letzten der großen Druiden, diese prächtige Burg geerbt hatte, war sein Leben ein vollkommen anderes geworden. Aber von Zeit zu Zeit drängte es ihn dennoch, eine Weile lang mit sich allein zu sein. Und gab es dafür einen besseren Ort als zwischen den Wolken?

Es schienen Jahre vergangen seit Weihnachten. Damals hatten seine beiden Schulleiterinnen Murkle und Snitch sich in einen Drachen verwandelt und versucht, ihn zu fressen. Der uralte Zauber, den Orin in Alfie bei seiner Geburt versteckt hatte, war ihrer aller Rettung gewesen, denn er hatte dem doppelköpfigen Ungeheuer dessen Magie entrissen. Doch das Gefühl der Macht, das Alfie bei der Benutzung des Zaubers empfunden hatte, war beinahe ebenso furchterregend gewesen wie das Monster. Bei dem Gedanken daran begann er zu zittern, trotz der warmen Nachtluft. Manchmal hatte er immer noch Albträume wegen dieser Geschichte.

Der heutige Traum war besonders schlimm gewesen. Alfie hatte sich in einen Drachen verwandelt und seine Familie verschlungen. Das Ganze hatte sich dermaßen echt angefühlt, dass er beim Aufwachen hätte schwören können, seine Arme wären nach wie vor dunkelgrün und mit Schuppen bedeckt. Er hatte beschlossen, auf Artan eine Runde am Himmel zu drehen, ehe er weiterschlief. Normalerweise sorgte so ein friedlicher Rundflug bei ihm für einen klaren Kopf, doch dieses Mal ließ der Albtraum sich nur schwer abschütteln. Alfie berührte den Anhänger, den er stets um den Hals trug. Der Talisman auf seiner Brust, der den Zauber in seinem Innern verborgen und unter Kontrolle hielt, gab ihm ein Gefühl der Sicherheit.

»Okay, bring uns nach Hause, Artan.«

»Flugrichtung heimwärts«, brummte der Bär. »Halt dich gut fest!«

Alfie vergrub die Finger im dichten Fell, als Artan sich in weitem Bogen über der Schule in Wyrmwald House hinabstürzte und dann wieder Kurs auf die Burg nahm. Alfie gefiel das Schulleben, seit Murkle und Snitch verhaftet worden waren. Er hoffte, die beiden würden für lange Zeit hinter Gittern bleiben, irgendwo möglichst weit weg. Seine Lieblingslehrerin Miss Reynard hatte derweil die Rolle der Direktorin übernommen, worüber sich Alfie sehr freute. Sie gehörte für ihn zu den Menschen, bei denen es ziemlich unwahrscheinlich war, dass sie sich irgendwann in einen bösartigen Drachen verwandeln würden.

Sie glitten über den Archelon-See auf das sanfte Tosen des Flusses zu, der zu beiden Seiten um die Burg herumfloss, ehe er sich als Zwillingswasserfall von der dahinter liegenden Klippe stürzte. Als der Bär über die Burgmauern segelte, fiel ­Alfies Blick auf die große Eiche, die auf der ­kopfsteingepflasterten Hälfte des Innenhofs stand. Sie war von einem bläulichen Schimmer erleuchtet, der flackernd erlosch, kaum dass Alfie ihn bemerkt hatte. Sah er jetzt etwa schon Gespenster? Er legte eine Hand auf Artans Schnauze und deutete mit der andern nach unten. Der Bär nickte und schwebte lautlos über den Hof, um kurz darauf hinter den Zinnen des steinernen Wehrgangs zu landen.

Sofort reckte Alfie den Kopf, um durch eine der Lücken im Mauerwerk zu spähen, und entdeckte nur mit Mühe eine dunkle Gestalt in der Nähe des Baumstamms. Die Zugbrücke über den Graben war immer noch hochgezogen – also wie hatte es jemand geschafft, in die Burg zu gelangen? Die Gestalt trat jetzt unter dem Baum hervor und bewegte sich auf die schwere Eingangstür zu. Alfie sprang auf die Füße, doch gerade als er den Mund öffnete, um dem Eindringling etwas zuzubrüllen, erkannte er Ashford, den Butler. Augenblicklich duckte er sich wieder hinter die Zinnen, denn er legte keinerlei Wert darauf, erklären zu müssen, was er mitten in der Nacht hier draußen zu suchen hatte. Er beobachtete, wie der Butler irgendetwas Kleines in seine Tasche steckte und kurz darauf im Innern der Burg verschwand. Weshalb Ashford wohl so spät noch auf war?, fragte sich Alfie.

Nachdem die Tür sich hinter Ashford geschlossen hatte, gab er Artan einen Klaps, und sie sausten hinauf zu seinem geöffneten Schlafzimmerfenster. Nach wie vor hatte er keinem der Erwachsenen von dem Bären erzählt. Er befürchtete halb, sein Dad würde sofort Experimente anstellen wollen, um herauszufinden, wie ein Fellteppich reden und fliegen konnte. Nur Amy, Madeleine und Robin wussten von Artan, und die drei hatten die strikte Anweisung, kein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren, wenn sie ihr Vorrecht auf regelmäßige Rundflüge nicht aufs Spiel setzen wollten.

Lautlos glitt der Bär durch die Gänge der verschlafenen Burg. Vor der Bibliothekstür sprang Alfie ab, und Artan schwebte zurück in sein behagliches kleines Zimmer hoch oben im Südturm. Alfie war noch immer hellwach. Er schnappte sich ein paar seiner Lieblingscomics aus den Bücherregalen, um im Bett noch ein bisschen zu lesen, in der Hoffnung, dass sie dabei helfen würden, den Drachenalbtraum aus seinem Kopf zu vertreiben.

Als er an der Treppe vorbeikam, hörte er aus dem Erdgeschoss eine unbekannte Stimme heraufhallen. Er blieb wie angewurzelt stehen und lauschte. Sie war melodisch und doch barsch. Jedes Wort klang bedrohlich.

»Es war töricht von dir zurückzukehren. Hast du geglaubt, wir würden vergessen, was du uns gestohlen hast?«

Vorsichtig legte Alfie sich flach auf den Teppich und spähte durchs Treppengeländer hinab in die Halle. Dort unten im schummrigen Licht erkannte er vier Gestalten. Drei davon waren sehr groß und trugen lange Tuniken mit einer Art lederner Weste darüber. Sie umklammerten die Arme der kleinsten Gestalt, die sich mit aller Kraft loszureißen versuchte.

»Sag uns, wo sie ist.«

Der Besitzer der Stimme hatte scharfe Gesichtszüge und stand fast Nase an Nase vor dem Gefangenen, der jetzt trotzig antwortete: »An dem einzigen Ort, von dem ihr sie niemals zurückholen könnt. Muninn und Bones’ Tresorraum.«

Diese Stimme kannte Alfie sehr gut. Ashford. Die Burg sollte ausgeraubt werden, und die Räuber bedrohten den Butler! Alfie wusste nicht, was er tun sollte. Er hätte Amy und seinen Dad wecken können, aber zwei Zwölfjährige, ein Butler und ein spindeldürrer Erfinder waren wohl kaum echte Gegner für die grimmig wirkenden Einbrecher dort unten in der Halle.

Ashford ächzte, als einer der Kerle ihm die Faust in die Rippen hieb. Hektisch blickte Alfie sich um und entdeckte an einer Ritterrüstung ein riesiges Schwert. Er überlegte kurz, ob er es packen und dann bewaffnet die Treppe hinunterstürmen sollte, doch er bezweifelte stark, dass er es überhaupt hoch genug heben konnte, um die Diebe damit zu beeindrucken.

»Du wirst uns hinbringen.«

»Niemand gelangt dorthin, ohne mit einer ihrer Kutschen zu fahren«, entgegnete Ashford.

»Dann ruf eine her.«

Der Mann hielt ein Messer an Ashfords Hals. Alfie reagierte rein instinktiv. Er sprang auf und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Ritterrüstung, sodass diese mit jähem Getöse die Stufen hinabstürzte.

»He, ihr da unten! Was treibt ihr hier? Verschwindet gefälligst!«, brüllte er, so laut er konnte, während die Teile der Rüstung scheppernd und polternd treppabwärts rollten. Er schnappte sich eins der abgefallenen Schulterstücke und hämmerte es gegen die Wand, um die Kerle durch den Lärm glauben zu lassen, dass im ersten Stock eine ganze Armee anrückte.

»Alfie, duck dich!«, schrie Ashford.

Alfie ließ sich sofort auf den Boden fallen, und das keine Sekunde zu früh. In dichter Folge durchschlugen drei Pfeile den Wandteppich hinter ihm.

»Was geht denn hier vor?«, rief Alfies Dad, der im selben Moment aus seinem Schlafzimmer stürmte, als Amy aus ihrem hervorschoss, im Schottenmusterpyjama und bewaffnet mit einem Baseballschläger.

»Was ist los, Al? Bist du okay?«

Alfie kauerte sich hinter das steinerne Treppengeländer und machte sich so klein wie möglich, während die beiden den Flur entlang auf ihn zugerannt kamen. »Bleibt, wo ihr seid!«, ­brüllte er und trat mit dem Fuß nach einer weiteren Rüstung, um sie der ersten hinterherzuschicken. »Die schießen mit Pfeilen!«

»Wer, Alfie? Wer ist da unten?«, schrie sein Dad gegen das metallische Klirren und Klappern an.

»Ich weiß es nicht«, formte Alfie stumm mit den Lippen. Er zog hektisch den Arm zurück, als die nächste Pfeilspitze knapp neben seinem Ellbogen ein Splitterstück aus dem Stein hackte.

Die letzte Panzerplatte der Rüstung landete scheppernd in der Halle unter ihnen. Alfie riskierte einen kurzen Blick. Ein Kampf war ausgebrochen. Ashford hatte sich losgerissen und wirbelte nun wütend von einem der Kerle zum andern, während er mit verblüffender Zielsicherheit Schläge und Tritte austeilte.

Wo hatte er bloß so gut kämpfen gelernt?, staunte Alfie. Einer der Eindringlinge lag schon am Boden, nur ein paar Schritte vom Fuß der Treppe entfernt. Die zwei andern bewegten sich zaghaft im Kreis und warteten auf ihre Angriffschance.

»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Amy, die sich flach auf den Boden geworfen hatte und mit den Ellbogen auf Alfie zurobbte.

Das fragte Alfie sich auch. Sein Dad allerdings schien bereits einen Plan zu haben, denn er hatte sich von der Wand einen Schild und eine Lanze geschnappt und krabbelte nun zu den beiden herüber.

»Schleicht euch in eins der Zimmer und verriegelt die Tür, bis ihr meine Stimme hört«, zischte er über das Brüllen und Krachen hinweg, das von unten zu ihnen heraufdrang.

Alfie starrte ihn ungläubig an. Noch nie hatte er seinen Vater dermaßen wild und entschlossen gesehen. »Auf gar keinen Fall! Du kannst nicht allein da runtergehen. Das lass ich nicht zu.«

»Du hast keine Wahl. Versteckt euch in deinem Zimmer. Ich helfe Ashford.«

Ehe Alfie noch etwas erwidern konnte, hörte er Amy losbrüllen. Sie war urplötzlich aufgesprungen und schrie über das Treppengeländer hinab in die Halle.

»Ashford! Achtung!«

Eine weitere Gestalt war im Türrahmen aufgetaucht: eine Frau. Sie war hochgewachsen, mit einem Ausdruck von Kälte auf den hageren Zügen, und sie stand regungslos da, den gespannten Bogen bereits an die Schulter gehoben. Ashford ­hatte sie nicht bemerkt, sein Gesicht war nach oben zu Amy gewandt. Alfie stimmte in Amys Geschrei mit ein und deutete panisch in Richtung Tür. Ashford drehte sich um, und im selben Moment hechteten zwei der Angreifer auf ihn zu, um ihn zu packen. Mit aller Kraft riss er sich los, doch es war schon zu spät. Kaum begegnete sein Blick dem der Frau an der Tür, schoss sie ihren Pfeil ab. Die Spitze durchstieß den Stoff seines Hemds und bohrte sich mit einem dumpfen Laut in seine Schulter. Die Wucht des Treffers warf den Butler zu Boden.

»Nein!«, kreischten Alfie und Amy wie aus einem Mund. Alfie riss seinem Dad die Lanze aus der Hand und raste aus vollem Hals brüllend die Stufen hinunter, dicht gefolgt von seinem Vater und Amy.

Die Angreifer stülpten Ashford einen Sack über den Kopf und zerrten ihn zur Tür, wo noch immer die Frau mit dem Bogen stand. Ein grausam vergnügtes Leuchten huschte über ihr blasses Gesicht.

»Stopp! Lasst ihn in Ruhe!«, schrie Alfie und schleuderte wutentbrannt die Lanze in ihre Richtung. Sie landete klappernd und wirkungslos auf dem Boden, während die Eindringlinge durch die Tür verschwanden. Alfie sprang die letzten paar Stufen hinunter und stürmte quer durch die Halle.

»Alfie, warte!«, rief sein Dad, doch im nächsten Moment stieß er einen Schmerzensschrei aus. Alfie warf einen raschen Blick über die Schulter und sah, wie er über die verstreuten Teile der Rüstungen stolperte und Amy stehen blieb, um ihm aufzuhelfen. Dann hetzte Alfie hinaus auf den Hof und ließ die beiden zurück.

Die Eiche schimmerte wieder in dem seltsamen blauen Licht. Dieses Mal konnte Alfie erkennen, dass es aus einem klaffenden Loch im Stamm herausdrang – offenbar handelte es sich um irgendeine Art von Portal. Die Entführer hasteten durch die Öffnung ins Licht und schleiften Ashford hinter sich her.

»Halt!«, brüllte Alfie in vollem Lauf. Nur einen Wimpernschlag bevor er den Baum erreichte, sah er Ashfords Füße durch das Portal verschwinden. Ohne langes Nachdenken streckte Alfie die Arme ins Licht. Es fühlte sich kühl an und kräuselte sich wie Wasser um seine Ellbogen, während er etwas zu fassen bekam, dass ihm eine lederne Weste zu sein schien. Er stemmte den Fuß gegen den Baumstamm und zog mit aller Kraft, dann taumelte er zurück, als plötzlich eine Gestalt aus der Öffnung trat. Es war die Frau, die auf Ashford geschossen hatte. Sie lächelte, und ihre hübschen grünen Augen glitzerten boshaft, als sie Alfie mit eisernem Griff an den Handgelenken packte und sie ihm so heftig verdrehte, dass er ihr Wams schließlich losließ. Er schrie vor Schmerz auf und versuchte verzweifelt, sich zu befreien.

»Lass deine Finger von ihm!«, kreischte Amy, die auf sie zugestürmt kam. Alfies Dad folgte ihr heftig humpelnd. Als Alfie schon glaubte, seine Handgelenke würden jeden Augenblick brechen, heulte die Frau vor Wut auf und löste jäh ihren Griff. Amy hatte einen Baseball nach ihr geschlagen und sie an der Wange erwischt. Sofort spross ein purpurner Bluterguss auf der leuchtend weißen Haut der Frau. Sie fauchte Alfie irgendetwas zu, in einer Sprache, die er nicht verstand. In der nächsten Sekunde stürzte Amy sich auf sie wie eine Wildkatze, wurde jedoch mit einem mühelosen Hieb beiseitegefegt und quer über den Hof geschleudert. Dann drehte die Frau sich um und verschwand wieder im Stamm der Eiche.

»Alfie, nicht!«, rief sein Dad, als Alfie auf das Portal zusprang.

In dem gleißenden Licht, das ihn plötzlich umgab, konnte er kaum etwas sehen. Er versuchte, einen Schritt vorwärts zu machen, doch im selben Moment packten zwei große Hände von hinten den Stoff seines Schlafanzugs und begannen, ihn aus dem Baum herauszuzerren.

»Nein!«, brüllte er und warf sich mit verzweifelter Anstrengung nach vorn. Der Rand des blau schimmernden Tors knisterte ihm in den Ohren, als seine Beine zurück in die Nachtluft gezogen wurden. »Wir müssen sie aufhalten, sie dürfen Ashford nicht mitnehmen!«

Er hörte, wie Amy und sein Dad seinen Namen schrien. Trotzdem klammerte er sich an die Seiten des leuchtenden Spalts und wehrte sich gegen den Griff der beiden, indem er sämtliche Kraft, die er aufbringen konnte, in seine Arme zwang. Mit aller Macht zog er sich vorwärts, und seine Finger schienen plötzlich zu Krallen zu werden, während Reihen von Schuppen seine Arme hinaufliefen, ganz so wie in seinem Albtraum. War etwa das Portal der Grund dafür?

Er wollte das Bild gerade fortblinzeln, da schob sich eine Gestalt durch das blendende Licht. Es war der Mann mit den scharfen Gesichtszügen, der Ashford bedroht hatte. Sein eisiger Blick war ausdruckslos, als er auf Alfie herabstarrte. Dann zuckte jäh sein Fuß nach vorn. Der wuchtige Tritt gegen den Brustkorb schleuderte Alfie in hohem Bogen hinaus vor den Baum, wo er im nächsten Moment auf seinem Dad und Amy landete. Während er mühsam nach Luft rang, sah Alfie das Portal zu einem langen bläulichen Strich zusammenschrumpfen, ehe das Leuchten vollständig erlosch.

Hektisch rappelte er sich hoch und hämmerte mit den Fäusten wüst auf die Rinde ein, doch das Portal war verschwunden. Und ebenso Ashford.

KAPITEL 2

Die gestohlene Linse

Alfie starrte auf die zerschlissene Armlehne des Sofas, auf das er sich hatte fallen lassen – ein Wirrwarr aus losen Fäden, das unangenehm deutlich hervorstach. Sie hatten sich im Abernathy-­Zimmer versammelt, wo Alfies Dad das Wohnzimmer ihrer früheren Wohnung in der Abernathy Terrace nachgestellt hatte. Die alten Möbel fühlten sich in einem Moment wie diesem tröstlich vertraut an.

Das Atmen tat Alfie weh, doch der Schock über Ashfords Entführung war schmerzhafter als geprellte Rippen und verdrehte Handgelenke. Amy saß neben ihm, und sein Dad hielt ihr einen Eisbeutel ans Auge, das jetzt immer mehr anschwoll.

»Bist du in Ordnung, Dad?«, brach Alfie schließlich das benommene Schweigen, das zwischen ihnen geherrscht hatte, seit das merkwürdige Portal verschwunden war.

»Werd’s überleben.« Sein Vater drückte Amy den Eisbeutel in die Hand und humpelte gequält zu seinem Sessel hinüber. »Aber hatte ich dir nicht ausdrücklich verboten, deinen Plunder auf der Treppe herumliegen zu lassen?«

Alfie brachte nicht mal ein Lächeln zustande über diesen lahmen Versuch, die Stimmung ein bisschen aufzulockern.

»Werden Sie die Polizei rufen?«, fragte Amy.

»Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach. Was sollen wir denen denn sagen?«

Alfie war sofort klar, dass sein Dad recht hatte. Caspian Bone, ihr sonderbarer Anwalt, hatte sämtliche Dorfbewohner mit einer Art Zauber belegt – niemand erinnerte sich daran, dass Hexbridge kurz vor Weihnachten um ein Haar von einem Drachen zerstört worden wäre. Inspector Wainwright würde sie mit Sicherheit für verrückt halten, wenn sie ihm erzählten, Ashford sei durch ein magisches Portal in die Eiche hineingezerrt worden.

Das uralte Messingtelefon in der Halle fing an zu klingeln. Alfie sprang auf, dankbar für die Gelegenheit, das Zimmer verlassen zu können, das um ihn herum immer enger zu werden schien. Er durchquerte die silbrigen Strahlen aus Mondlicht, die durch die großen Flurfenster fielen, und hob den Hörer ab. Eine liebliche Stimme meldete sich in sehr ernstem Tonfall.

»Alfie, hier spricht Emily Fortune, Nachlassverwalterin der Kanzlei Muninn und Bone. Unsere Raben haben uns mitgeteilt, was geschehen ist. Versucht auf keinen Fall, Ashford zu folgen. Verriegelt die Türen, und geht nicht in den Burghof, bis der Fernsprecher dreimal klingelt. Caspian Bone schickt euch eine Kutsche.«

Bei Emilys Worten fühlte Alfie sich gleich etwas ruhiger. Caspian mochte ein schräger Vogel sein, doch er würde mit Sicherheit wissen, was in einer Situation wie dieser zu tun war.

Alfie dankte Emily und legte auf. Im nächsten Moment bemerkte er, dass Galileo genau dort umherstreifte, wo Ashford angegriffen worden war. Mit gesträubtem Nackenfell beschnüffelte der Kater den Boden und stieß dabei ein leises Knurren aus.

»Ist schon gut, mein Kleiner.« Alfie bückte sich, um ihn zu streicheln, doch Galileo schlüpfte unter der Hand hindurch und flitzte dann tief geduckt nach draußen, indem er der gewitterten Duftspur hinaus auf den Hof folgte.

»Leo! Komm sofort wieder her!« Der Kater schnupperte rund um die mächtige Eiche herum. Alfie rief erneut nach ihm, ohne den geringsten Erfolg. Er warf die große Flügeltür einige Male zum Schein ins Schloss, dann gab er es auf und verriegelte sie. Galileo konnte vermutlich ganz gut auf sich selbst aufpassen.

»Caspian schickt uns eine Kutsche«, berichtete Alfie, als er wieder zu seinem Dad und Amy ins Zimmer trat. »Wir sollen unbedingt drinbleiben, bis das Telefon klingelt.«

»Für den Fall, dass diese Typen zurückkommen?«, fragte Amy. »Meinst du, die tauchen noch mal auf?«

»Keine Ahnung. Sie wollten irgendetwas von Ashford. Ich glaube, die haben ihn entführt, damit er dieses Etwas für sie holt.«

»Und was ist, wenn er sich weigert?«

Alfie antwortete nicht. Er wollte lieber nicht daran denken, in welcher Gefahr Ashford schwebte.

Zwanzig Minuten später klingelte das Telefon dreimal. »Das war das Zeichen. Los geht’s.« Alfie legte den Arm um seinen Dad und half ihm, zur Tür zu humpeln.

Amy fiel vor Staunen buchstäblich die Kinnlade herunter, als sie die auf Hochglanz polierte Kutsche aus Ebenholz sah, die im Hof stand. Alfie erkannte das Gespann als dasselbe, mit dem er und sein Dad vor mittlerweile fast einem Jahr zum Sitz der Kanzlei Muninn und Bone gebracht worden waren, wo er dann überraschend erfahren hatte, dass er Burg Hexbridge erben sollte. Sechs nachtschwarze Pferde dampften im Mondlicht und scharrten mit den Hufen über das Kopfsteinpflaster.

Johannes, der Kutscher, grüßte mit einem Nicken. Beinahe lautlos öffnete sich die Kabinentür. Zwei untersetzte bärtige Männer in Ledermontur und klobigen Stiefeln sprangen heraus und hievten einen gewichtigen schwarzen Sack von der Gepäckablage. Nachdem sie ihn zu der Eiche hinübergeschleppt hatten, umrundeten sie den Baum, beklopften den Stamm und kratzten sich ihre Bärte, wobei sie leise Schnalzlaute von sich gaben.

Alfie überließ die beiden Männer ihrer Untersuchung der Eiche und kletterte in die samtene Dunkelheit der Kutsche, gefolgt von Amy und seinem Dad. Er fühlte sich sofort fehl am Platz in der eleganten Umgebung und wünschte sich, er hätte vorher seinen Schlafanzug gegen etwas Angemesseneres getauscht.

»Sie sind verletzt.«

Die drei zuckten vor Schreck zusammen, als urplötzlich eine Stimme aus den Schatten drang. Mit dramatischem Effekt flackerten die Öllampen in der Kabine auf und beleuchteten die Gestalt Caspian Bones, der auf der Bank gegenüber saß. »Sobald wir in unserer Kanzlei sind, wird man sich Ihrer Versehrungen annehmen.«

»Caspian!«, kreischte Alfie, trotz seiner schmerzenden Brust voller Erleichterung, den Anwalt zu sehen. »Ashford ist entführt worden. Sie haben ihn in die Eiche geschleift, durch dieses Portaldingsbums. Wir müssen ihn sofort zurückholen!«

»Die haben ihn angeschossen, mit ’nem Pfeil!«, platzte es aus Amy heraus. »Die waren fürchterlich riesig und stark, wir konnten sie einfach nicht aufhalten.«

»Ich war mir nicht sicher, ob ich die Polizei rufen sollte«, berichtete Alfies Dad atemlos. »Ich meine, was hätten wir denen erzählen sollen? Was hätten wir denen erzählen können?«

Der Anwalt lauschte dem sich überschlagenden Wortschwall der drei in gleichmütigem Schweigen, dann klopfte er mit einem schwarz-silbernen Gehstock an die Kabinenwand hinter ihm. Die Kutsche setzte sich Bewegung. »Ihre Polizei vermag keinerlei Hilfe zu sein. Ich werde mich dieser Angelegenheit allein widmen.« Über Caspians schneidenden Tonfall hinweg hörte Alfie immer schnelleres Hufgetrappel, während die Pferde über die Zugbrücke trabten und kurz darauf den Hügel hinabgaloppierten. Als das Gespann die volle Geschwindigkeit erreicht hatte, kippte die Kutsche urplötzlich nach hinten, als hätten die Tiere einen gewaltigen Satz in die Luft gemacht und würden nun geradewegs in den Himmel aufsteigen. Er merkte, dass Amy angestrengt durch die pechschwarzen Glasscheiben nach draußen spähte.

»Fliegen wir et– ?«, setzte sie an.

»Das ist unbedeutend«, schnitt Caspian ihr das Wort ab. Sein Kopf zuckte wieder zu Alfie herum, der lächelnd beobachtete, wie Amy wegen der barschen Unterbrechung eine Braue hochzog. »Der Talisman – ist er in Sicherheit?«

Alfie fischte den Anhänger unter seinem Schlafanzugoberteil hervor und hielt ihn dem Anwalt hin.

»Gut. Sie glauben noch immer, er befände sich in unserer Kanzlei. Wir haben Vorsorge getroffen, die Eiche mit Eisen zu binden, damit die Elfen nicht durch dieses Portal zurückkehren können, während wir über die Herausgabe Ashfords verhandeln.«

»Moment mal …Elfen?«, fragte Alfie entgeistert. »Das sind Elfen gewesen? Ist das Ihr Ernst?«

»Scherze ich jemals?«

Das wäre wohl doch der Hoffnung zu viel, schoss es Alfie durch den Kopf.

Amys zweite Augenbraue gesellte sich zu ihrer ersten, als Caspian ungerührt die Existenz eines vermeintlichen Sagenvolks bestätigte. »Und was genau haben die von Ashford gewollt?«, fragte sie.

»Ich vermute, es dient keinerlei Zweck mehr, Ihnen diese Information vorzuenthalten, nachdem sie ihn nun wieder aufgespürt haben.«

Die Ankündigung, dass der Anwalt ihnen ein paar Antworten zu liefern gedachte, verblüffte Alfie beinahe noch mehr als die Enthüllung, dass es tatsächlich Elfen gab.

»Die Linse im Talisman«, fuhr Caspian fort. »Sie wollen sie zurück.«

»In meinem Talisman?«, staunte Alfie und griff unwillkürlich nach der goldenen Scheibe vor seiner Brust. Behutsam fuhr er mit dem Daumen über die Runen, die sich spiralförmig um die violette Linse im Zentrum wanden.

»Alfies Talisman gehörte den Elfen?«, fragte sein Dad.

»Nicht der Talisman als Ganzes – nur die Linse, die in seiner Mitte sitzt. Sie wurde aus einem überaus seltenen Edelstein gefertigt, ein einzigartiges Exemplar. Es vermag eine Vielzahl von Kräften und Energien zu bündeln und zu beherrschen. Diese Linse war dazu vorgesehen, die Kräfte einer magischen Krone zu vereinen, an der die Elfenkönigin jahrhundertelang gearbeitet hatte, und zwar mit dem Ziel, ihr Reich zu erweitern und andere Stämme und Völker zu unterjochen. Ein Elf aus ihrem unmittelbaren Gefolge warnte uns vor ihren Plänen, woraufhin Ashford – ein außerordentlich begabter Dieb, der unserem Haus verpflichtet war – von meinem Partner Mr Muninn damit beauftragt wurde, die Linse zu stehlen. Ashford war einverstanden, sobald er gehört hatte, dass der Druide Orin Hopcraft eine ebensolche Linse benötige, um einen Talisman zu erschaffen – jenen Talisman, der den Zauber unter Kontrolle hält, den Orin in Ihrem Innern verborgen hat, Alfie. Nach Ashfords Rückkehr sandten wir die Linse weiter an den Großen Druiden. Sosehr ich Diebe verabscheue, so muss ich doch anerkennen, dass durch diesen Diebstahl zahllose Leben gerettet wurden und inzwischen ebenso Ihres beschützt wird. Nun aber sieht es ganz danach aus, als hätten die Elfen niemals die Hoffnung aufgegeben, sich die Linse zurückzuholen. Auf welche Weise sie Ashford gefunden haben, entzieht sich meiner Kenntnis.«

»Ashford hat sie … für mich gestohlen?«, ächzte Alfie und schloss seine Finger fest um den Anhänger. »Aber er hat mich doch gar nicht gekannt!« Das Einzige, was ihn bisher ein wenig erleichtert hatte, war der Gedanke gewesen, dass die Entführung nicht mit seiner Erbschaft zusammenhing, und jetzt saß Caspian vor ihm und berichtete ihm das genaue Gegenteil. Er konnte kaum atmen.

»Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, dass es ebenso sehr in seinem eigenen wie in Ihrem Interesse lag.«

»Wollen Sie damit sagen, Sie haben uns einen berüchtigten Dieb geschickt, damit er für uns als Butler arbeitet?«, fragte Alfies Dad fassungslos.

»So ist es«, erwiderte Caspian kühl. »Allerdings einen Dieb, der Ihrer Familie die Treue geschworen hat. Sie können ihm voll und ganz vertrauen.«

Es sah dem Anwalt nicht ähnlich, lobend über Ashford zu sprechen. Alfie hatte schon seit Langem den Verdacht, dass es irgendeine Vorgeschichte oder unausgesprochene Rivalität zwischen den beiden gab.

»Wieso ist die Linse denn dermaßen wichtig für sie? Wichtig genug, dass sie ihretwegen Ashford halb umbringen!«

»Die Einzelheiten wird Emily Fortune nach unserer Ankunft mit Ihnen erörtern. Ich muss derweil versuchen, mit der Königin in Verhandlungen einzutreten. Wir haben eine Kutsche nach ihr geschickt. Ashford hat ihnen weisgemacht, wir würden den Talisman in der Kanzlei verwahren, doch falls es ihnen gelingt, seinen Willen zu brechen, werden sie einen Weg finden, in die Burg zurückzukehren und die Linse an sich zu bringen.«

»Seinen Willen zu brechen? Die wollen ihn foltern?«, kreischte Alfie. »Aber dann dürfen Sie keine Zeit mit dieser Königin verlieren – Sie müssen ihn finden und die Elfen aufhalten! Wenn diese Typen den Talisman unbedingt haben wollen, dann geb ich ihnen das Ding eben. Holen Sie einfach nur Ashford zurück!«

Die Öllampen begannen zu flackern und ließen wilde Schatten durch die Kabine tanzen, als Caspians Miene sich verdüsterte. Amy riss ihren Blick vom Fenster los, dann sanken sie alle ein paar Zentimeter tiefer in das Polster der Sitzbank, während der Anwalt immer finsterer über ihnen aufragte, ohne sich auch nur zu bewegen.

»Ich muss überhaupt nichts tun – außer mich an strikte Gepflogenheiten und das Protokoll zu halten. Unter keinen Umständen stürmen wir in das Land eines anderen Volkes und setzen mit unbesonnenen Forderungen den Frieden aufs Spiel. Sie irren sich, wenn Sie annehmen, Sie hätten in dieser Angelegenheit auch nur ein Mitspracherecht. Den Talisman auszuliefern brächte das Leben von vielen in Gefahr, für das Wohl eines einzigen Mannes.« Das Flackern verging, und die düsteren Schatten verschwanden, als Caspian sich gemessen zurücklehnte.

Alfie spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg. Während sie hier redeten, wurde Ashford womöglich gefoltert, und er konnte nicht das Geringste dagegen tun. Er schielte zu Amy hinüber. Seit Beginn der seltsamen Kutschfahrt war sie so cool geblieben, als säße sie in einem gewöhnlichen Wagen, doch an ihrer nun plötzlich stocksteifen Haltung erkannte er sofort, dass es ihr ganz und gar nicht gefiel, wie Caspian mit ihnen sprach. Alfie war die offene Eiseskälte des Anwalts mittlerweile gewohnt – Amy hingegen setzte sich gegen absolut jeden zur Wehr, der versuchte, sie einzuschüchtern. Sie musterte Caspian von Kopf bis Fuß.

»Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«, fauchte sie. Alfie wechselte einen unruhigen Blick mit seinem Dad.

»Verzeihung, wie bitte?«

»Sie haben mich sehr gut verstanden. Mag ja sein, dass Sie nicht mal ’n Fitzelchen Mitgefühl haben, aber unser Freund ist verletzt und gekidnappt worden, und Ihnen fällt dazu nichts Besseres ein, als uns mit Ihrem hochnäsigen Geschwafel zu kommen und Alfie auf mieseste Art den Mund zu verbieten.«

Caspian zog finster die Brauen zusammen. Abermals begannen die Lampen zu flackern.

»Und fangen Sie nicht wieder mit diesem Quatsch an.« Amy sprang auf und streckte ihm ihren Zeigefinger entgegen. »Sie sind nicht mal halb so bedrohlich, wie Sie’s gern hätten. Sie sind Alfies Anwalt. Es ist Ihre Aufgabe, ihm zu helfen und seine Fragen zu beantworten. Also seien Sie gefälligst nicht so … so verstockt!«

Dann herrschte Totenstille, während Amy und Caspian ganz offensichtlich eine Art Anstarrduell austrugen. Alfie hielt vor Spannung die Luft an.

Schließlich brach der Anwalt das Schweigen als Erster. »Verstockt?«

»Japp. Ist ein richtiges Wort. Schlagen Sie’s nach!«

»Mir ist durchaus bekannt, was es bedeutet«, erwiderte Caspian. Alfie war sich nicht ganz sicher, aber er meinte, für einen Wimpernschlag lang den kaum merklichen Hauch eines Lächelns über Caspians Gesicht huschen zu sehen. Dann fuhr der Anwalt in etwas milderem Tonfall fort: »Ich fürchte, ich gehöre schlicht nicht zu denen, die mit falscher Zuversicht und beruhigenden Worten aufwarten. Das Äußerste, was Sie tun können, ist zu hoffen, es möge außer dem Talisman noch etwas anderes geben, das die Königin im Austausch zu akzeptieren bereit ist.«

Starr vor Staunen und voller Bewunderung blickten Alfie und sein Dad hinauf zu Amy – so unglaublich schien es, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, den hochmütigen Anwalt in die Knie zu zwingen.

Im nächsten Moment setzte die Kutsche auf und erzitterte heftig. Die Pferde drosselten ihr Tempo von vollem Galopp zu lockerem Trab, ehe sie schließlich vollends zum Stehen kamen. Alfie fragte sich, ob man ihm wohl jemals erlauben würde, während einer solchen Fahrt hoch oben neben Johannes zu sitzen und die Reiseroute mitzuverfolgen. Für allzu wahrscheinlich hielt er das nicht – denn die Unternehmungen der Kanzlei Muninn und Bone unterlagen offenbar allesamt der höchsten Geheimhaltungsstufe.

Mit einem leisen Plopp öffnete sich die Tür, und Alfie sprang hinaus in das riesige alte Kutschenhaus, froh darüber, dem lastenden Schweigen zu entkommen, das sich erneut über die Fahrgastkabine gelegt hatte. Johannes schwang sich vom Kutschbock, um die Pferde zu versorgen, während Caspian mit raschen Schritten voranging und sie durch eine mächtige Tür in die Eingangshalle führte. Die drei hetzten ihm hinterher, und Alfie konnte es Amy vom Gesicht ablesen, dass sie eigentlich viel lieber stehen geblieben wäre, um die zahllosen unterschiedlichen Kutschen unter die Lupe zu nehmen.

»Emily wird in Kürze bei Ihnen sein«, sagte der Anwalt knapp, ehe er schnurstracks in die Mitte des großen Empfangsraums marschierte und sich dort auf das runde Messingwappen stellte, das als Lift zu den oberen Stockwerken diente. Im nächsten Augenblick senkte sich ein langer Zylinder von der Decke herab, der ebenfalls aus Messing bestand und die Wand des Aufzugs bildete. »Ich muss mich nun auf das Treffen mit der Königin und den Beginn der Verhandlungen vorbereiten.« Der Zylinder erreichte den Boden und setzte dumpf klirrend rund um das Wappen auf. Ein Zischen wie von einem Dampfkessel ertönte, begleitet von einem fauchenden Geräusch, das beinahe eine volle Minute anhielt, bevor die gewaltige Messingröhre wieder in der Decke verschwand und die drei Besucher in der kreisrunden Eingangshalle allein zurückblieben.

KAPITEL 3

Der größte Dieb aller Zeiten

»Okay, vor diesem aufgeblasenen Blödmann wollte ich ja nichts sagen«, explodierte Amy, »aber die Kutsche war einfach der Hammer, und die Fahrt erst! Total irre! Die Hütte hier ist der Oberknaller! Wo sind wir?«

»Weit weg von zu Hause«, antwortete eine sanfte Stimme hinter ihnen. Eine zierliche Frau mit grünen Kulleraugen war in die Halle getreten. Sie lächelte zwar über Amys zeitlich etwas ungünstigen Ausbruch, wirkte darüber hinaus jedoch nicht ganz so quirlig wie sonst.

»Emily!«, kreischte Alfie und flitzte los, um Caspians Assistentin zu begrüßen. Zu spät wurde ihm klar, dass er eigentlich nicht so recht wusste, ob er sie nun umarmen oder ihr die Hand geben sollte, sodass er schließlich eine tollpatschige Mischung aus beidem vollführte.

»Elegant«, wisperte Amy ihm aus dem Mundwinkel zu, als sie herüberkam, um sich vorzustellen.

»Oje, dein armes Gesicht!«, stöhnte Emily. Amys linkes Auge war jetzt beinahe zugeschwollen, und ihre Wange nahm allmählich einen üblen violetten Farbton an. »Also los, kommt. Sehen wir mal, wie wir euch flugs wieder flicken.«

Alfie hatte gehofft, sie würden mit dem seltsamen Aufzug fahren, den Caspian benutzt hatte, doch der Weg, den Emily mit ihnen einschlug, war sogar noch aufregender. Sie folgten ihr durch mächtige Flure, die hoch genug für einen Riesen waren, und Alfie konnte sich kaum beherrschen vor lauter Staunen darüber, was sie hinter den Kulissen der geheimnisvollen Kanzlei Muninn und Bone alles zu sehen bekamen. Die Arme um seine und Emilys Schultern geschlungen, humpelte sein Dad neben ihnen her, während sie an kleinen Besprechungszimmern, herrschaftlich großen Räumen und sogar einem prächtigen Ballsaal vorbeikamen. In einem Büro sahen sie einen schmächtigen Greis auf einer langen klapprigen Leiter mit Rädern zwischen Aktenschranktürmen hin und her rollen. Und ein Stück weiter lag ein mehrstöckiger Saal randvoll mit schnatternden Leuten, die wie wild auf altmodischen Schreibmaschinen herumtippten.

Dann öffnete Emily eine riesige Tür, und sie traten kurz nach draußen, um einen weitläufigen offenen Innenhof zu durchqueren. Mitten darin stand ein gewaltiger Baum, in dessen gewundenen Ästen Hunderte Raben nisteten. Als die vier ihn passierten, krächzten die Vögel gellend auf sie herunter. Alfie wünschte, er hätte noch ein paar Augen mehr, um sich alles genauer anzusehen, während Emily sie in einen weiteren Flügel des Gebäudes führte. Unwillkürlich fragte er sich, wie groß dieser Ort wohl sein mochte.

Offenbar blickte jede der Reihen von hohen Bogenfenstern, die die verschiedenen Korridore säumten, auf eine andere Landschaft hinaus. Durch die Scheiben der ersten konnte Alfie einen Nachthimmel sehen, bevölkert von wirbelnden farbigen Galaxien. Hinter der zweiten lag eine Wüstenstadt, deren goldene Kuppeldächer im Sonnenlicht schimmerten. Durch die dritte erkannte er einen gigantischen See, der von Dutzenden rauschender Wasserfälle gespeist wurde. Amy lief jetzt voraus und verkündete im Sekundentakt lautstark, was sie hinter den Fenstern entdeckt hatte.

»Wie ist denn das möglich?«, fragte Alfies Dad, während er mühsam vorwärtshumpelte. »Sind wir überhaupt noch im selben Gebäude, das wir vorhin betreten haben?«

»Unsere Büroanlagen sind multidimensional«, antwortete Emily. »Eine Art Knotenpunkt zwischen verschiedenen Welten. Genau deswegen sind sie so sicher.« Alfie blieb nicht einmal genug Zeit, sich über diese Enthüllung zu wundern, denn die zierliche Nachlassverwalterin lotste sie bereits eilig in den nächsten Flur. Dieser wurde von Pfeilern gesäumt, in die verschlungene altnordische Muster eingemeißelt waren. Durch die Fenster öffnete sich der Blick auf etwas, das Alfie nur als moderne Variante einer gewaltigen Wikingerstadt beschreiben konnte.

Wo zum Geier sind wir hier bloß?, schoss es ihm durch den Kopf.

»Puh, tut mir leid wegen der ganzen Marschiererei, aber jetzt sind wir am Ziel«, sagte Emily. »Dieser Flügel ist Teil von Mr Muninns Welt. Er ist nicht da, wie so oft. Ups, vergesst das schnell wieder, ich sollte nicht schlecht über den Boss reden, aber ich wünschte wirklich, er würde sich wenigstens um eine Vertretung kümmern, bevor er sich zu seinen Langzeitexpeditionen aufmacht. Ich bin sicher, diese Reisen sind überaus wichtig, aber wir sitzen hier jedes Mal knietief in der Patsche, wenn er auf und davon ist, und man darf auch nicht glauben, dass man ein solches Thema ganz ruhig und vernünftig mit ihm besprechen könnte. Ich weiß noch, wie ich damals hier anfing und ihn einfach nur fragte, wo die …«

»Plappert die immer so?«, flüsterte Amy Alfie ins Ohr, während Emily das komplette Gespräch in einem einzigen Atemzug wiedergab. Er nickte.

»… ist so was zu fassen?«, beendete die winzige Frau ihren Bericht. »Und das an meinem ersten Tag! Unnötig zu erwähnen, dass ich seitdem kein Wort mehr über Büroklammern verloren habe. Ooh, der ist ein ganz Strenger, unser Mr Muninn.« Alfie war dem zweiten der beiden Kanzleipartner bisher noch nicht begegnet, aber er konnte sich kaum vorstellen, dass irgendwer noch reizbarer war als Caspian Bone.