Alia am Ort der Wunder - Annette Mierswa - E-Book

Alia am Ort der Wunder E-Book

Annette Mierswa

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Beschreibung

Familienleben mit Krebs: Liebe und Ehrlichkeit sind die beste Medizin! Als Alia erfährt, dass ihr Vater an Krebs erkrankt ist, verändert sich ihr Leben völlig. Mit ihrer Hartnäckigkeit und Herzlichkeit schafft sie es, den Krankenhausalltag ihres Vaters und seines Zimmergenossen Theo ein wenig bunter zu gestalten. Nach und nach begreift sie, was wirklich hinter der Krankheit steckt. Doch weil sie alles richtig machen will und dabei keine Wut und Trauer zulassen kann, gerät sie selber an ihre Grenzen. Bis sie durch ein kleines Wunder ihre Lebensfreude wiederfindet. Annette Mierswa erzählt einfühlsam und authentisch, wie Kinder krebskranker Eltern mit Verlustängsten und Schuldgefühlen umgehen können. Gleichzeitig zeigt sie mit feinfühligem Humor, dass man trotz der bedrohlichen Krankheit positive Gedanken und fröhliche Momente zulassen darf. - Kindern altersgerecht Krebs, Chemotherapie und den Krankenhausaufenthalt erklären - Gefühle verstehen: Mit falschen Schuldgefühlen, unterdrückter Wut, Trauer und Verlustangst umgehen - In schweren Zeiten als Familie füreinander da sein und sich gegenseitig stärken - Mit Glossar, in dem Begriffe aus der Krebsmedizin erläutert werden - Von der Autorin von „Lola auf der Erbse“ - Fantasievoll illustriert von Stefanie Harjes - Kinderbücher für die Grundschule: Zum Vorlesen oder selbst lesen ab 8 Jahren Mit kindgerechten Informationen und viel Empathie die Hoffnung stärken Eltern meinen es oft gut und möchten Kinder vor schlechten Nachrichten wie einer Krebsdiagnose schützen. Wer ihnen jedoch mehr Wahrheit zumutet, verhindert, dass sie selbst Erklärungen erfinden oder sogar die Schuld bei sich zu suchen. Mit ihrem Buch „Alia am Ort der Wunder“ möchte Annette Mierswa Kindern Krebs erklären und ihnen die wichtige Botschaft auf den Weg geben: „Krebs ist meist heilbar. Krebs ist nicht ansteckend. Und ganz wichtig: Du hast keine Schuld.“

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„Für Mila und Max.“

Annette Mierswa

„Für Marko. Und für alle, die ihn lieben.“

Stefanie Harjes

„Ohne Liebe gibt es keine Heilung.“

Ursa Paul

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwegworte

Irgendetwas war schiefgegangen mit dem Glück

Das graue Geheimnis

Die Raupe weiß nicht, dass sie ein Schmetterling wird

Ein Ort für Wunder

Dieser verdammte Krebs

Heute machen wir Kahlschlag

Ein bisschen vom guten alten Leben

Bloß keinen Duftgestank

Zipfelkuchen und Teufelsritt

Der Kuss eines Engels

Wir rocken das Leben

Glossar

– Vorwegworte –

Dieses Buch ist ein Herzensprojekt von mir.

Alias Geschichte habe ich komplett erfunden. Dennoch könnte sie genau so passiert sein.

Ich habe in meiner Familie selbst Krebs erlebt und war oft im Krankenhaus, um Liebe, Humor und gutes Essen hineinzubringen. Alles hilfreich zum gesund werden.

Aber du musst gar nichts tun. Vielleicht hast du schon genug mit dir selbst zu tun, mit allem, was sich gerade verändert. Vielleicht willst du einfach spielen, toben oder wütend sein. Das ist völlig in Ordnung.

Drei Dinge, die mir besonders wichtig sind, möchte ich dir unbedingt schon sagen:

Krebs ist meist heilbar. Krebs ist nicht ansteckend. Und ganz wichtig: Du hast keine Schuld.

Es wird dich vielleicht überraschen, aber sicher ist: Niemand hat Schuld.

Und falls du eine Mama oder ein Papa bist: Natürlich meinst du es gut und möchtest dein Kind schonen. Aber du kannst ihm tatsächlich mehr Wahrheit zumuten als du möglicherweise denkst und damit verhindern, dass es selbst Erklärungen erfindet, die es vielleicht noch mehr belasten. Es wird nämlich spüren, dass etwas nicht stimmt. Und im Zweifelsfall wird es die Schuld bei sich suchen und sich bemühen, nun alles richtig zu machen. Was für eine Überforderung!

Es geht nichts über wahrhaftigen, liebevollen Kontakt.

Ich wünsche Berührung, Spaß und heilsame Gedanken.

Annette Mierswa

*Vielen Dank an Frau Dr. Gisela Janßen, Oberärztin in der Klinik für Kinder-Onkologie des Universitätsklinikums Düsseldorf und Leiterin des Kinderpalliativteams „Sternenboot“, die mein Buch geprüft hat und bestätigt, dass sie das, was Alia in meiner Geschichte widerfährt, oft genauso in ihrer Klinik erlebt.

Bevor Alia Dekorateurin wurde, war sie ein ganz normales Mädchen mit einem großen Herzen. In dieses Herz passten nicht nur Mama, Papa und Oma, der Hund Fietje, die Katzen Pipi und Langstrumpf, die Pferde Bingo und Mokka und ihre beste Freundin Tammi, sondern noch jede Menge Erdmännchen und Ameisen, Tierpfleger und Honigbienen. Im Grunde fanden alle Lebewesen darin ihren Platz, wenn sie Alias Leben gestreift hatten. Alia war weder besonders vorsichtig noch nachtragend. Sie hatte die Gabe, von allen gemocht zu werden, denn ihr Glas war immer halbvoll, wie Opa gesagt hatte, bevor er gestorben war und in ihrem Herzen schien stets die Sonne. Niemals hätte Alia gedacht, dass diese wundervolle Welt, in der sie lebte, auch furchtbar schwierige Aufgaben für sie bereit hielt. Und es wäre ihr auch nie in den Sinn gekommen, dass sie sich einmal mit Tammi streiten würde oder dass sie freiwillig das Reiten aufgab. Und wer hätte gedacht, dass Wirbelstürme auch mitten im Körper entstehen konnten – ebenso wie Schmetterlingswiesen?

Nein, das, was kommen würde, konnte höchstens Omar erahnen, der die Hand der Fatima um den Hals trug und vielleicht einen Geist aus seiner Medizinflasche heraufbeschwören konnte.

An diesem letzten Tag ihres unbeschwerten Alia-Lebens schien alles perfekt zu sein. Sie waren zum Reiterhof gefahren, um dort ein Picknick zu machen. Es war Alias Geburtstag und Papa hatte sich freigenommen. Er musste zwar ab und zu mit seiner Firma telefonieren, aber es waren ja auch noch Mama, Tammi, Bingo und Mokka da. Fietje war auch mitgekommen. Er musste in einigem Abstand zu den Pferden bleiben, da er immer furchtbar eifersüchtig war, wenn Alia sie streichelte. Dann bellte er und wedelte mit dem Schwanz, so lange, bis Alia sich wieder um ihn kümmerte. Es war einer der ersten warmen Tage im April. Die Kirschbaumblüten leuchteten rosa und in den Bäumen zwitscherte es um die Wette. Der Reiterhof war mit bunten Ostereiern dekoriert und auf der großen Wiese schwirrten Hummeln von Schlüsselblume zu Schlüsselblume. Papa saß neben Fietje auf einem großen Stein und streichelte ihn, während er mit der anderen Hand sein Handy ans Ohr hielt. Er sprach derart laut, dass Fietje schließlich aufstand und sich ein anderes Plätzchen suchte, so weit entfernt, wie seine Leine es zuließ. Papa hatte die Firma für Tierfutter von Opa geerbt. Eigentlich wollte er Tierpfleger werden, aber die Firma sei ein guter Deal gewesen, sagte er immer, wenn er besonders wenig Zeit für Alia hatte. „Und wenn es der Firma schlecht geht, dann geht es auch uns schlecht.“ Alia verstand das nicht so ganz, aber sie verstand, dass die Firma ohne Papa nicht funktionierte. Umso schöner war es, dass Papa sich heute freigenommen hatte. Sie saß mit Mama und Tammi auf einer großen Picknickdecke und aß Erdbeerkuchen mit Schlagsahne. Tammi hatte eine lange Karotte in der Hand und verfütterte sie an Mokka, ein hellbraunes Islandpferd mit einem weißen Fuß. Es war ein richtiger Traumfestfreudentag. Nun fehlten nur noch der Ausritt mit Bingo und das Gemüsespießegrillen am Abend. Dann waren alle Wünsche erfüllt. Mama goss sich gerade einen Kaffee ein, als Papa plötzlich das Handy sinken ließ, vom Stein rutschte und sich die Hände an die Brust hielt.

„Ich glaube, ich brauche einen Arzt“, keuchte er. „Ich krieg kaum Luft.“ Alia sprang auf und hockte sich neben ihn.

„Papa, du siehst so komisch aus.“ Papa saß ganz verdreht auf der Erde und ein kleiner Schmerz schien an seinen Mundwinkeln zu ziehen.

„Wir feiern das nach, in Ordnung?“, röchelte er. Und dann ging alles so schnell, dass Alia nicht mehr richtig mitkam. Mama wurde blass, Fietje bellte und leckte Papas Gesicht, ein Krankenwagen holte Papa ab, Mama fuhr mit den Mädchen und Fietje nach Hause, ohne ein Wort zu sprechen. Auch zu Hause sagte sie kaum etwas, starrte immer wieder das Telefon an, bis es endlich klingelte. Und da war Mama unheimlich still und verlor alle Farbe aus dem Gesicht. Tammis Mutter Tanja kam und Mama fuhr los, um nach Papa zu sehen. Nun waren sie beide weg, an Alias Geburtstag. Als sie das erste Mal wieder merkte, wie es ihr ging, spürte sie eine große Angst, die sich wie eine dunkle Wolke über ihre Freude gelegt hatte und sie erstickte. So etwas war noch nie passiert. Das Licht in ihr war stets stärker gewesen als der Schatten. Kleine Wölkchen zogen manchmal vorüber, aber immer war gleichzeitig das Licht am Horizont zu sehen gewesen. Dieses Mal war es ganz anders. Die Wolke war sehr groß und sehr dunkel und schien das Licht vollkommen aufzusaugen. Alia kuschelte sich zu Fietje in sein Körbchen und legte ein Ohr an seinen Bauch, der sich auf und ab wölbte wie sanfte Meereswellen. Fietjes Herz klopfte beruhigend. Tanja hockte sich eine Weile neben sie und sprach mit ihr. Aber Alia hörte nichts außer dem Herzschlag ihres Hundes und der Melodie des Kinderliedes, das sie summte. Sie wusste nicht, wo Tammi war, sie hatte weder Hunger noch Durst. Sie befand sich in einem Vakuum, einem völlig leeren Raum zwischen einer glücklichen Zeit und einer ungewissen Zukunft, die ihr Angst machte.

Endlich kam Mama, alleine. Sie flüsterte in der Küche mit Tanja. Alia war in Fietjes Körbchen aufgewacht. Wie lange sie geschlafen hatte, wusste sie nicht. Mama streichelte ihr über den Kopf und gab ihr einen Kuss.

„Ist Papa krank?“, fragte Alia.

„Ja“, antwortete Mama, „aber das wird schon wieder. Wir müssen Papa nur ganz doll liebhaben und ihn fröhlich machen, dann wird er bestimmt schnell gesund.“

Das ist einfach, dachte Alia. Dann würde Papa ja bald gesund werden.

„Aber er muss erst einmal im Krankenhaus bleiben.“ Mama packte eine Tasche mit seinen Sachen. Alia beobachtete sie vom Hundekorb aus.

„Ich komme mit“, sagte sie.

„Nein, meine Haselmaus, es ist nicht schön da.“

„Das ist mir egal. Ich will zu Papa.“

„Papa braucht viel Ruhe.“

„Ich bin ruhig. Ich sage nichts.“

„Ich bespreche das mit ihm. Vielleicht morgen, ja?“ Alia musterte das Gesicht ihrer Mama, das so anders aussah, ein bisschen fremd.

„Papa wird doch bestimmt gesund?“, fragte Alia. Mama lächelte, aber das Lächeln war auch ein bisschen fremd. Sie lächelte von so weit weg, obwohl sie doch so nah war. Irgendwoher kannte Alia dieses Lächeln. Sie konnte sich nur nicht erinnern woher.

„Ja, bestimmt“, sagte Mama. Und als sie nun auch noch ein bisschen feuchtere Augen hatte als sonst, da fiel Alia wieder ein, woher sie diesen Gesichtsausdruck kannte. Als Opa gestorben war, da hatte Mama auch so geguckt. Alia wurde plötzlich ganz kalt.

„Lebt Papa noch?“ Sie hielt den Atem an.

„Natürlich lebt er. Warum sollte er denn nicht mehr leben?“ Mamas Stimme wurde hoch und piepsig. „Er ist im Krankenhaus. Da machen sie ihn wieder gesund.“

„Dann ist ja gut“, sagte Alia. Als sie aber nicht ruhiger wurde, sagte sie noch: „Du bist so komisch, Mama.“ Dass ihr das Angst machte, verschwieg sie. Nun wurde Mama ganz ruhig, zog Alia aus dem Hundekorb und drückte sie an sich.

„Es ist alles so überraschend, weißt du. Und im Krankenhaus ist es hässlich.“ Sie sah an die Wand. Da hing ein großes Foto, auf dem sie alle drei zu sehen waren, auf der Zugspitze, mit einem weiten Blick ins Tal und auf die schneebedeckten Berge.

„Da hängt nur ein Bild in seinem Zimmer, von einem Hahn. Stell dir das mal vor, von einem Hahn. Ausgerechnet.“

„Das ist allerdings schlimm.“ Alia wusste, dass Hühner so ziemlich die einzigen Tiere waren, die Papa nicht mochte. Eier mochte er auch nicht. Gemeinsam sahen sie das Foto an. Dann mussten sie lachen, denn sie hatten denselben Gedanken. Das wusste Alia, ohne dass sie darüber redeten. Es passierte ihnen häufiger. Sie würden das Foto von dem Hahn austauschen und das Familienfoto im Krankenhaus aufhängen. Mama holte es sofort von der Wand.

„Morgen besuchen wir ihn zusammen“, sagte sie. Es schien ihr etwas besser zu gehen. „Ach je!“, rief sie plötzlich. „Da liegt ja noch jemand in seinem Zimmer. Der mag vielleicht lieber den Hahn ansehen.“

„Da liegt noch jemand in seinem Zimmer? Ein Fremder? Warum?“

„So ist das in Krankenhäusern. Da ist nicht so viel Platz und deshalb stehen in den meisten Zimmern mehrere Betten.“

„Und wer ist das?“

Mama zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Ein älterer Mann. Wir haben uns nicht unterhalten. Er starrt die ganze Zeit an die Decke und scheint schlechte Laune zu haben.“ Das fand Alia merkwürdig. Da war noch jemand im selben Zimmer wie Papa, und Mama beachtete ihn nicht. Sonst war sie doch immer so interessiert an allen Menschen.

„Dann fragen wir ihn einfach, ob er was dagegen hat, wenn wir das Foto austauschen.“

„In Ordnung.“ Mama streichelte über Alias Wangen. „Du bist ein tolles großes Mädchen“, sagte sie und gab ihr einen Kuss. „Was würde ich nur ohne dich tun?“ Sie stand auf, nahm die Tasche für Papa und zog sich Schuhe an. „Morgen also.“ Dann ging sie hinaus. Alia kuschelte sich wieder an Fietje.

Auf einmal fiel ihr ein, dass sie Mama gar nicht gefragt hatte, wie lange Papa im Krankenhaus bleiben musste. Hoffentlich nicht die ganze Woche, denn sie wollte das Picknick so schnell wie möglich nachholen. Sie sprang auf, ging in ihr Zimmer und leerte ihren Rucksack aus. Hinein steckte sie den Bilderrahmen mit dem Foto, und dazu ein paar Nägel und einen Hammer aus Papas Werkzeugkiste. Für alle Fälle.

Den riesigen Betonklotz sah Alia jeden Tag, denn er lag auf ihrem Schulweg, keine fünf Minuten von ihrer Wohnung entfernt. Es war immer ein großes hässliches Haus zwischen vielen kleineren gewesen, das nichts mit ihr zu tun hatte. Ein Krankenhaus eben. Mit dem Rad musste Alia dort immer langsamer fahren, da so viele Menschen den Weg kreuzten, oft mit Krücken oder Kinderwagen, Rollstühlen, Verbänden oder dicken Babybäuchen. Am meisten interessierten sie immer die Verbände, denn Tammis Mutter arbeitete in der Notaufnahme. Alia wusste also, wie sie gebunden wurden, wie man sie befestigte und welche Unterschiede es gab. „Guck mal, der sitzt doch schief“, sagte Alia früher auf dem Schulweg zu Mama, oder: „Das ist ein Druckverband.“ Aber nun war dieser graue Block plötzlich das Haus, in dem ihr Papa gesund gemacht wurde. Und das war etwas viel Größeres.

„Was ist?“, fragte Mama, weil Alia stehen geblieben war und ehrfürchtig das Gebäude ansah, „willst du doch lieber nicht mitkommen?“

„Oh doch. Ich wusste nur nicht, dass Papa in diesem Krankenhaus ist.“ Ein Junge kam ihnen entgegen, der seinen Arm in einer Schlinge hatte. „Hat Papa auch einen Verband?“

„Nein, aber da gibt es andere Sachen. Es sieht ein bisschen gruselig aus.“

„Ich grusle mich bestimmt nicht“, sagte Alia. „Tammi hat mir schon viele Fotos gezeigt. Ich bin fast eine Spezialfrau.“

Mama lachte.

„Du meinst eine Spezialistin.“

„Genau. Ich kann Papa bestimmt helfen. Vielleicht kommt er dann ja nach Hause.“

Mama wurde wieder ernst.

„Mal sehen.“

Sie betraten das Gebäude durch eine große Drehtür. Sofort roch es nach Desinfektionsmittel. Alia verzog die Nase. Und es war merkwürdig still. In der großen Eingangshalle saßen viele Leute, aber alle flüsterten.

„Ist wer gestorben?“, fragte Alia.

Mama hustete.

„Nein, nein, es wird nur leise geredet, um die Patienten nicht zu stören.“

„Aber die liegen doch in ihren Zimmern.“

„Du hast recht.“ Und dann redete Mama laut weiter. Sie fuhren mit einem Fahrstuhl in den dritten Stock und liefen durch einen langen kahlen Gang. Alias Turnschuhe machten laute Quietschgeräusche auf dem Boden. Schließlich standen sie vor Zimmer Nummer 314. Mama klopfte.

„Warum machst du das?“

„Papa ist ja nicht allein und sie haben Schlafanzüge an.“, erklärte Mama und öffnete die Tür. Im Zimmer standen zwei Betten, Papa lag in dem am Fenster. Alia rannte zu ihm und rief laut: „Papa, ich bin’s.“ Sie wollte sich auf ihn werfen, bremste aber kurz vor dem Bett ab. War das wirklich Papa? Er war ganz weiß im Gesicht und hatte Ringe unter den Augen. An seinem Arm war eine Nadel befestigt, von der ein Schlauch bis hoch zu einer Stange führte und dort in einem großen Beutel mit Flüssigkeit endete. So eine Nadel hieß Kanüle, das kannte Alia aus dem dicken Arztbuch von Tammis Mutter. Papa hielt schützend die Hände in die Höhe und lächelte gequält.

„Hallo, meine Haselmaus“, flüsterte er. Sie sah kurz zu dem anderen Bett hinüber. Es war leer.

„Du brauchst nicht zu flüstern“, sagte Alia, „der andere Mann ist gar nicht da.“ Sie drückte sich vorsichtig an seine Brust. „Warum siehst du so aus? Die machen dich doch hier gesund, oder?“ Papa blickte Mama an, die den Mund zusammenkniff. „Ja, das wird schon wieder. Ich schlafe schlecht.“ Er zog einen Mundwinkel hoch. „Ich kann nicht gut schlafen, wenn Mama nicht neben mir liegt und wenn meine Kleine nicht da ist.“

Mama lächelte.

„Dann müssen wir eben auch hier schlafen“, schlug Alia vor.

„Das geht leider nicht. Es gibt keine Betten für euch.“ Alia schaute an die Wand und sah das Foto von dem Hahn. Papa folgte ihrem Blick.

„Wenigstens kräht er nicht“, sagte er. Alia zog das Familienfoto aus dem Rucksack.

„Überraschung!“ Sie stand auf und nahm das Hahnenbild von der Wand. „So kannst du ja auch nicht gesund werden.“ Sie hängte das Familienfoto auf. „Das ist besser, oder?“

Papa lächelte.

„Ja, das ist viel besser.“

Die Tür ging auf und ein alter Mann kam herein. Er schob einen Rollator vor sich her. Dabei sah er niemanden an, stellte den Wagen neben seinem Bett ab und kroch umständlich hinein. Alia näherte sich dem Fußende seines Bettes.

„Hallo. Wer sind Sie denn? Sind Sie auch krank?“ Sie ging um das Bett herum, bis sie direkt neben ihm stand.

„Alia“, mahnte Mama. „Lass den Mann bitte in Ruhe. Er möchte vielleicht gar nicht mit dir reden.“ Aber der Fremde drehte seinen Kopf zu Alia.

„Du bist aber eine neugierige Deern.“ Seine Mundwinkel zuckten, als wollte er lächeln.

„Entschuldigen Sie“, sagte Mama zu ihm, „Alia war noch nie in einem Krankenhaus.“ Der alte Mann sah wieder zu Alia und hob seine Hand. Sie war sehr groß und an einem Finger quetschte ein goldener Ring die Haut zusammen.

„Hallo Alia. Ich bin der Theo, eigentlich Theodor, aber du kannst mich Theo nennen. Ich bin auch krank, ja.“

„Oh.“, sagte Alia. „Und magst du Hähne?“ Sie hob das Bild in die Höhe.

„Hähne sind in Ordnung“, antwortete er, „aber eine flotte Biene wäre mir lieber.“

„Gut. Dann bring ich dir eine mit, wenn ich wiederkomme.“ Nun hellte sich Theos Gesicht auf und er lachte. Seine Augen strahlten, als wäre ein dünner Vorhang zur Seite gezogen worden. Mama warf ihm einen ernsten Blick zu.

„Ihre Tochter ist eine Wucht“, sagte Theo. Alia nahm einen Nagel und den Hammer aus ihrem Rucksack.

„Was soll das denn werden?“, fragte Mama.

„Na, ich schlage gleich den Nagel in die Wand, für die Biene.“ Theo lachte immer noch, als Mama aufsprang und auf Alia zustürmte. Aber da steckte der Nagel schon in der Wand. Eine Frau in einem grünen Kittel platzte herein. Abwechselnd blickte sie die Wand und Alia an.

„Du kannst hier nicht einfach einen Nagel reinschlagen, kleines Fräulein. Das ist ein Krankenhaus, kein Wohnzimmer.“

„Wer sind Sie denn?“

„Ich bin Krankenschwester Nora. Ich helfe deinem Opa, gesund zu werden.“ Sie sah zu Theo. Der lachte schon wieder.

„Das ist nicht mein Opa“, protestierte Alia. Sie zeigte zu Papa, der schon etwas besser aussah und rosige Wangen hatte. „Das ist mein Papa.“

„Oh“, sagte die Krankenschwester. Sie hatte ein Schildchen an ihrer Bluse. Da stand Nora Pfeiffer drauf.

„Entschuldigen Sie“, mischte sich Mama ein und zeigte auf den Nagel. „Ich konnte sie leider nicht davon abhalten.“

„Schwester Nora“, sagte Alia streng, „wenn du Papa gesund machen willst, dann musst du ihm das Zimmer ein bisschen schöner machen. Dann kriegt er gute Gedanken und das ist wichtig.“ Theo schien sich gar nicht mehr einzukriegen. Seine Brust hüpfte, so sehr lachte er. Nora sah ihn ernst an.

„Herr Domeier, was ist denn in Sie gefahren? Passen Sie auf Ihre Narbe auf.“

„Ach Kindchen“, sagte Theo, „mir ging es schon lang nicht mehr so gut.“

„Bist du seine Tochter?“, fragte Alia erstaunt.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Er hat doch Kindchen zu dir gesagt.“

„Das bin ich ganz sicher nicht, meine Kleine.“

„Und ich bin nicht klein“, sagte Alia bestimmt und streckte sich. Nora versuchte, den Nagel wieder aus der Wand zu ziehen. Er bewegte sich keinen Millimeter.

„Das war ganze Arbeit“, amüsierte sich Theo und zeigte Alia einen hochgereckten Daumen. Und an Nora gewandt sagte er: „Der Nagel ist nämlich für eine flotte Biene.“ Nun mussten sogar Mama und Papa lachen, Papa aber ganz vorsichtig, damit die Kanüle nicht so wackelte. Nora schrie plötzlich, steckte einen Finger in den Mund und rannte hinaus.

„Was hat sie denn?“, fragte Alia.

„Ich glaube, sie hat sich an dem Nagel verletzt“, erklärte Mama.

„Oh, das tut mir aber leid“, sagte Alia, „dann braucht sie jetzt auch eine Krankenschwester ... Oder gibt es auch Krankenbrüder?“ Theo war schon rot im Gesicht, so sehr musste er prusten.

„Die Deern ist eine Wucht“, sagte er an Papa gewandt.

„Jetzt komm aber mal zu mir“, bat Papa, „ich muss mich noch bei dir entschuldigen, weil ich deine Geburtstagsfeier gestört habe.“

Alia setzte sich auf Papas Bettkante.

„Papa, wenn du wieder gesund bist, dann feiern wir einfach noch mal, und zwar ein großes Fest. Dann kommt nicht nur Tammi, sondern auch deine Freunde. Und Theo muss auch dabei sein. Wir feiern meinen Geburtstag nach und wir feiern, dass du wieder gesund bist, ja?“ Keiner lachte mehr, nur Alia. Sie sah alle der Reihe nach an. „Was ist denn? Willst du lieber keine Feier?“

Papa lächelte als Erster wieder.

„Doch, natürlich. Wir machen ein richtig großes Fest, mit Musik und Tanz und Büffet.“

„Ja genau“, sagte Alia, „und wir hängen überall Lampions auf und verteilen Fackeln im Garten.“

„So machen wir’s.“ Papa hob die Hand, damit Alia einschlagen konnte.

„Einverstanden!“ Alle lächelten. Alia fand, dass es ein guter Tag gewesen war. Und der alte Theo war sehr nett.

„Morgen will ich wieder ins Krankenhaus“, sagte Alia zu Mama, als sie in ihr Bett kroch, „da ist es so lustig.“

„Lustig?“ Mama verzog das Gesicht.

„Ja, und außerdem braucht Papa ja viel Liebe, damit er gesund wird.“

„Da hast du allerdings recht. Es ist aber nicht immer so lustig da.“

„Dann muss ich eben was Lustiges mitbringen.“

„Aha, was denn zum Beispiel?“

Alia dachte nach und ließ den Blick über die Sachen in ihrem Zimmer schweifen. Worüber würde Papa sich freuen? Die Pferdebücher fand er nie so spannend, eher die Tierlexika, die Alia in ihrem Zimmer gesammelt hatte. Aber lustig waren die auch nicht. Vielleicht konnte sie Papa einen Verband anlegen. Sie zog eine Tasche unter ihrem Bett hervor, in der sie alles dafür gesammelt hatte.

„Welche Krankheit hat Papa eigentlich?“, fragte sie, während sie nach Verschlüssen und Mullbinden suchte. Mama sagte nichts. Als Alia fertig war und die Tasche neben das Bett gestellt hatte, sah sie ihre Mama an, die in die Luft starrte, obwohl da gar nichts war.

„Mama! Welche Krankheit hat Papa?“, fragte sie noch einmal.

„Das ist eine Krankheit, die heißt wie ein Tier.“ Sie sah Alia an und ihre Augen waren feucht.

„Wie ein Tier? Das passt ja gut zu Papa. Welches denn?“

„Ein Krebs.“

„Krebs?“ Alia erschrak. Tammis Tante hatte auch einen Krebs und nun war sie tot. „Das ist schlimm.“ Alia spürte, wie etwas ihre Brust zusammenpresste, wie ein Netz, das zugezogen wurde.

„Ja“, sagte Mama.

„Wie geht der wieder weg?“, fragte Alia.

„Mit ganz starker Medizin. Die bekommt Papa im Krankenhaus.“ Sie streichelte Alia über die Haare. „Und dann wird er bestimmt ganz schnell gesund.“

„Weißt du das genau?“

„Ja“, sagte Mama und sah dabei in die andere Richtung.

Alia atmete erleichtert aus.

„Dann ist ja gut. Wo hat Papa sich den Krebs nur eingefangen? Ist der ansteckend?“

„Nein, das ist er nicht. Den kann man sich nicht einfangen.“

„Aber irgendwo muss er ja herkommen.“

„Die Krankheit heißt ja nur so, das ist kein echter Krebs.“

„Aber bei Läusen sind es Läuse und bei Flöhen Flöhe und ein Bandwurm ist ein echter Wurm. Oder?“

„Stimmt. Aber bei einem Kater schleppt man keine Katze mit sich herum. Ganz schön verwirrend. Ich weiß auch nicht, warum der Krebs so heißt. Vielleicht weil Krebse einen Panzer haben und die Krankheit auch so schwer zu knacken ist. Deshalb muss Papa ja auch ins Krankenhaus. Er hat kranke Zellen in seiner Brust, die sich vermehren und Haufen bilden. Und im Krankenhaus werden die Zellen weggemacht. Das dauert aber eine Weile.“

„Kann man die blöden Zellen nicht schneller rausholen?“

„Ich fürchte nein.“

Mama legte sich neben Alia aufs Bett und nahm sie in den Arm. Sie sahen an die Decke, an der die Sterne leuchteten, die Papa ihr dorthin geklebt hatte – damit die Dunkelheit nicht ganz so dunkel war. Es fühlte sich merkwürdig an, dass er nicht da war. Manchmal arbeitete er sehr lange und kam erst nach Hause, wenn Alia schon schlief, aber jetzt war es anders, wie ein großes Loch mitten in der Wohnung und mitten in Alias Brust.

Nachts stand ein wütender Hahn vor Alias Bett und verlangte, dass sie das Bild wieder aufhängte. Er hatte einen Arztkittel an und wickelte ihren ganzen Körper in einen Verband, bis sie kaum noch Luft bekam. Sie schrie. Papa wollte ihr helfen. Seine Hände waren Krebsscheren, mit denen er versuchte, den Verband durchzuschneiden. Aber es gelang ihm nicht. Die Scheren waren zu stumpf. Und plötzlich war er verschwunden. Der Verband wurde immer enger und Alia drohte zu ersticken. In diesem Moment wachte sie auf. Es war noch dunkel. Sie machte das Licht an und sah sich um, aber da war niemand. Weil sie nicht mehr schlafen konnte, schlich sie sich in Papas Büro und setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl. Fietje trottete hinter ihr her und legte sich vor den Stuhl auf den Boden. Es war ein riesiger Drehstuhl mit hoher Lehne und lederbespanntem Sitz. Alia kam sich darin ganz klein vor. Auf dem Tisch standen zwei Fotos. Das eine zeigte Alia bei ihrer Einschulung, mit ihrer großen Schultüte und Zahnlücke. Das andere war in den letzten großen Ferien in Italien geschossen worden, mit Selbstauslöser. Sie standen zu dritt auf einem hohen Berg am Meer. Es war der schönste Tag des Urlaubs gewesen. Sie waren sehr früh losgewandert und gegen Mittag auf der Bergspitze angekommen, nach vielen Pausen dazwischen. Ganz alleine waren sie gewesen, mit dieser unendlichen Weite um sie herum und einem blauen Himmel mit einer einzigen weißen Wolke. Diese Wolke hatte ausgesehen wie ein Schweinchen. Man konnte es auf dem Foto gut erkennen. Das wird uns ganz viel Glück bringen, hatte Papa gesagt. Alia nahm das Bild in die Hände und betrachtete es lange. Sie drehte es auf den Kopf und besah es sich genau. Nein, einen Krebs konnte sie in der Wolke nun wirklich nicht erkennen, egal wie sie das Bild hielt. Irgendetwas war schiefgegangen mit dem Glück.

Als Alia am nächsten Tag Papa alleine besuchte und tatsächlich sein Zimmer gleich wiedergefunden hatte, war er nicht da.

„Dein Papa wird gerade durchleuchtet“, sagte Theo, der in seinem Bett lag und Zeitung las.