Alif der Unsichtbare - G. Willow Wilson - E-Book
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Alif der Unsichtbare E-Book

G. Willow Wilson

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem World Fantasy Award als »Bester Roman des Jahres«. Alif, ein junger Hacker in einem arabischen Emirat, sieht es als seine Berufung an, seinen Klienten Anonymität und Schutz vor staatlicher Überwachung zu bieten, ganz gleich ob es sich dabei um Dissidenten oder Islamisten handelt. Doch als er selbst ins Fadenkreuz der Regierung gerät und sein Rechner gehackt wird, muss Alif sein bisheriges Leben hinter sich lassen und untertauchen. Dass ihm zudem ein uraltes Buch mit dem Titel »Tausendundein Tag« in die Hände gespielt wird, verkompliziert die Sache enorm. Denn sein Inhalt enthüllt die reale Existenz der Dschinn und scheint obendrein der Schlüssel zu einer neuen Informationstechnologie zu sein ... »Alif der Unsichtbare« widersetzt sich allen Genrekategorien: Dieser wundervolle Debütroman ist gleichermaßen Fantasy-Roman und dystopischer Techno-Thriller. Vor dem Hintergrund einer nicht näher bestimmten arabischen Großstadt erzählt er, was geschieht, wenn der Schleier zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt durchlässig wird.

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Seitenzahl: 612

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G. Willow Wilson

Alif der Unsichtbare

Roman

Aus dem Amerikanischen von Julia Schmeink

FISCHER E-Books

Inhalt

[Motti][Karte]Kapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel FünfKapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel ElfKapitel ZwölfKapitel DreizehnKapitel VierzehnKapitel FünfzehnKapitel SechzehnKapitel SiebzehnDanksagungDie fünf Arten der DschinnGlossar

»Der Hingebungsvolle erkennt in jedem göttlichen Namen

die Gesamtheit aller Namen.«

Muhammad ibn Arabi, Fusus al Hikam

 

»Wenn die Vorstellungskraft des Derwischs die Begebenheiten in diesen Geschichten hervorgebracht hat, dann war es sein Urteilsvermögen, das ihnen den Anschein der Wahrheit verlieh, und seine Bilder entstammen Dingen, die real sind.«

François Pétis de la Croix, Les Mille et Un Jour

Kapitel Eins

Der Persische Golf

Alif saß auf dem Betonsims seines Zimmerfensters und badete in der heißen Septembersonne. Das Licht brach sich an seinen Wimpern. Wenn er durch sie hindurchsah, wurde die Welt zu einem verpixelten Fries aus Blau und Weiß. Starrte er zu lange so unkonzentriert vor sich hin, bekam er einen stechenden Schmerz in der Stirn, und dann senkte er den Blick, um zu beobachten, wie hinter seinen Augenlidern Schatten aufblühten. Neben seinem Fuß lag ein schlankes, in Chrom gefasstes Smartphone – ein Plagiat, aber ob es von China nach Westen oder von Amerika nach Osten gelangt war, wusste er nicht. An Handys pfuschte er nicht herum. Ein anderer Hacker hatte das Betriebssystem für ihn eingerichtet und die Verschlüsselung umgangen, die von irgendeinem Telekommunikationsgiganten installiert worden war, der das Monopol auf das Patent hatte. Es zeigte die vierzehn Nachrichten an, die er Intisar im Verlauf der letzten zwei Wochen geschickt hatte, mit der selbstauferlegten Obergrenze von einer pro Tag. Alle waren unbeantwortet geblieben.

Er betrachtete das Smartphone durch halbgeschlossene Augen. Wenn er jetzt einschlief, würde sie anrufen. Er würde, sobald das Telefon klingelte, mit einem Ruck aufwachen und es aus Versehen vom Sims in den kleinen Innenhof schleudern, und dann müsste er nach unten eilen und es zwischen den Jasminsträuchern suchen. Diese kleinen Missgeschicke könnten ein größeres Unglück verhindern: die Möglichkeit, dass sie gar nicht anrufen würde.

»Das Entropiegesetz«, sagte er zu dem Telefon. Es funkelte in der Sonne. Unter ihm flitzte die schwarzorange Katze, die im Innenhof schon Käfer jagte, so lange er denken konnte, über den glühend heißen Boden und hob dabei ihre rosa besohlten Pfoten an, um sie abzukühlen. Als er sie rief, gab sie ein gereiztes Maunzen von sich und schlich sich unter einen Jasminstrauch.

»Zu heiß für Katze oder Mensch«, sagte Alif. Er gähnte und schmeckte Metall. Die Luft war dick und ölig, wie der Atem einer großen Maschine. Sie griff die Lunge an, anstatt ihr Erleichterung zu verschaffen, und rief, im Zusammenspiel mit der Hitze, ein instinktives Gefühl der Beklemmung hervor. Intisar hatte ihm einmal erzählt, dass die Stadt ihre Einwohner hasse und versuche, sie zu ersticken. Sie – die Stadt – erinnere sich an eine Zeit, als reinere Gedanken noch reinere Luft erzeugten: die Regierungszeit von Scheich Abdel Sabbour, der so tapfer den Vormarsch der Europäer aufzuhalten versucht hatte; die Anfänge von Jamat Al Bashira, der großen Universität; und früher noch Pari-Nef, Onieri und Bes, wo im Sommer Hof gehalten wurde. Sie habe freundlichere Namen gehabt als den, den sie heute trägt. Von einem Dschinn-Heiligen islamisiert (so zumindest besagte es die Geschichte), liege sie am Scheideweg zwischen der irdischen Welt und dem Leeren Viertel, dem Reich der Ghule und Ifrit, die die Gestalt von Tieren annehmen können. Ohne den Segen des Dschinn-Heiligen, der unter der Moschee Al Bashira begraben liegt und der die Botschaft des Propheten gehört und geweint hatte, wäre die Stadt jetzt so vom Verborgenen Volk überrannt, wie sie es mit Touristen und Ölspekulanten war.

Man könnte fast meinen, dass du das glaubst, hatte Alif zu Intisar gesagt.

Natürlich glaube ich das, sagte Intisar, zumindest das Grabmal ist echt. Man kann es immer freitags besichtigen. Der Turban des Dschinn-Heiligen liegt obendrauf.

Das Sonnenlicht begann langsam im Westen zu verblassen, über einem Streifen Wüste jenseits des Neuen Viertels. Alif steckte sein Telefon ein und kletterte vom Sims zurück in sein Zimmer. Vielleicht würde er noch mal versuchen, sie zu erreichen, sobald es dunkel war. Intisar hatte es immer vorgezogen, dass sie sich nachts trafen. Die Gesellschaft hatte nichts dagegen, dass man die Regeln brach; sie verlangte nur, dass man sie zur Kenntnis nahm. Sich nachts zu treffen zeigte eine gewisse Geistesgegenwärtigkeit. Es legte nahe, dass man sich bewusst war, dass das, was man tat, gegen die herrschenden Gepflogenheiten verstieß und man keine Mühe scheute, sich dabei nicht erwischen zu lassen. Intisar, äußerst vornehm und beunruhigend mit ihrem schwarzen Haar und ihrer tiefen Taubenstimme, war so viel Diskretion wert.

Alif verstand ihr Bedürfnis nach Geheimhaltung. Er hatte so viel Zeit im Schutz seines Alias verbracht, einem einfachen Buchstaben im Alphabet, dass er sich mittlerweile nur noch als ein Alif betrachtete; eine gerade Linie, eine Wand. Sein richtiger Name konnte in seinen Ohren da nicht mithalten. Der Akt der Geheimhaltung war mächtiger geworden als das, was er verbarg. Da er sich dessen bewusst war, war er, sogar lange nachdem ihm der Aufwand lästig geworden war, Intisars Bedürfnis nachgekommen, ihre Beziehung geheim zu halten. Wenn heimliche Treffen ihre Liebe befeuerten, dann war das eben so. Er konnte noch ein oder zwei Stunden warten.

Der herbe Geruch von Rasam mit Reis wehte durchs offene Fenster. Bald würde er in die Küche hinuntergehen – er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Ein Klopfen auf der anderen Seite der Wand, genau hinter seinem Robert-Smith-Poster, ließ ihn auf dem Weg zur Tür innehalten. Genervt biss er sich auf die Lippen. Vielleicht gelang es ihm ja, unbemerkt vorbeizuschleichen. In dem Moment klopfte es jedoch schon wieder, eine präzise Abfolge: . Sie hatte also gehört, wie er vom Fenster heruntergeklettert war. Mit einem Seufzer pochte er zweimal gegen Robert Smiths körniges schwarzweißes Knie.

Dina war bereits auf dem Dach, als er dort ankam. Sie hatte sich dem Meer zugewandt, oder jedenfalls dem, was das Meer gewesen wäre, wenn es durch das Gewirr der Apartmenthäuser im Osten sichtbar gewesen wäre.

»Was willst du?«, fragte Alif.

Sie drehte sich um und neigte den Kopf, die Brauen in der schmalen Öffnung ihres Gesichtsschleiers zusammengezogen.

»Dir dein Buch zurückgeben«, sagte sie. »Was ist los mit dir?«

»Nichts.« Er gestikulierte verärgert. »Dann gib mir halt das Buch.«

Dina griff in ihr Gewand und zog eine ramponierte Ausgabe von Der goldene Kompass hervor.

»Willst du nicht wissen, was ich davon halte?«, fragte sie nach.

»Ist mir egal. Das Englisch war wahrscheinlich eh zu schwer für dich.«

»War es nicht. Ich habe jedes Wort verstanden. Dieses Buch …« Sie wedelte damit in der Luft herum. »… ist voll mit heidnischen Bildern. Es ist gefährlich.«

»Sei doch nicht so ignorant. Das sind Metaphern. Ich hab doch gesagt, dass du’s nicht verstehen würdest.«

»Metaphern sind gefährlich. Wenn man etwas bei einem falschen Namen nennt, verändert man es damit, und Metaphern sind nichts anderes als eine hochtrabende Art und Weise, etwas beim falschen Namen zu nennen.«

Alif riss ihr das Buch aus den Händen. Der Stoff raschelte, als Dina das Kinn senkte, und ihre Augen verschwanden unter ihren Wimpern. Obwohl Alif ihr Gesicht schon seit beinahe zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, wusste er, dass sie schmollte.

»Tut mir leid«, sagte er und presste sich das Buch an die Brust. »Ich fühl mich heute nicht so besonders.«

Dina schwieg. Alif blickte ihr ungeduldig über die Schulter: Auf einer Anhöhe über einer schäbigen Ansammlung von Wohnhäusern konnte er einen Teil des Alten Viertels flimmern sehen. Irgendwo dort war Intisar, wie eine Perle, die in eine der uralten Mollusken eingebettet war, nach denen die Ghataseen entlang der Strände suchten, die die alten Mauern säumten. Vielleicht schrieb sie an ihrer Diplomarbeit und grübelte über Büchern der frühen islamischen Literatur; vielleicht schwamm sie auch gerade im Sandsteinpool im Innenhof der Villa ihres Vaters. Vielleicht dachte sie an ihn.

»Ich wollte eigentlich nichts sagen«, sagte Dina.

Alif blinzelte. »Nichts sagen? Worüber?«

»Unser Dienstmädchen hat die Nachbarn gestern im Souk reden gehört. Sie sagen, dass deine Mutter noch immer heimlich eine Hindu ist. Sie haben behauptet, dass sie gesehen haben, wie sie Puja-Kerzen gekauft hat, in dem Geschäft in der Nasser Straße.«

Alif starrte sie an, und seine Kiefermuskeln arbeiteten. Dann drehte er sich unvermittelt um und ging über das staubige Dach, vorbei an den Satellitenschüsseln und Topfpflanzen, und blieb auch nicht stehen, als Dina ihn bei seinem richtigen Namen rief.

*

In der Küche stand seine Mutter neben dem Dienstmädchen und schnitt Frühlingszwiebeln. Ihr standen Schweißperlen auf dem Rücken, wo der Salwar Kamiz, den sie trug, die ersten paar Wirbel frei ließ.

»Mama.« Alif berührte sie an der Schulter.

»Was ist denn, Makan?« Ihr Messer hielt nicht inne, während sie sprach.

»Brauchst du irgendwas?«

»Was für eine Frage. Hast du gegessen?«

Alif setzte sich an den kleinen Küchentisch und schaute zu, wie das Dienstmädchen ihm wortlos einen Teller hinstellte.

»War das Dina, mit der du auf dem Dach geredet hast?«, fragte seine Mutter und schob den Berg Zwiebeln in eine Schüssel.

»Ja. Und?«

»Das solltest du sein lassen. Ihre Eltern werden sie bald verheiraten wollen. Gute Familien hören es sicher nicht gern, dass sie mit einem fremden Jungen herumlungert.«

Alif zog ein Gesicht. »Wer ist denn hier bitte fremd? Wir wohnen schon im selben blöden Doppelhaus, seit wir Kinder waren. Früher hat sie in meinem Zimmer gespielt.«

»Als ihr fünf Jahre alt wart! Jetzt ist sie eine Frau.«

»Wahrscheinlich hat sie immer noch dieselbe große Nase.«

»Sei nicht so gehässig, Makan-jan. Das ist nicht schön.«

Alif schob das Essen auf seinem Teller herum. »Ich könnte aussehen wie Amr Diab, und es würde nichts nützen«, murmelte er.

Seine Mutter drehte sich um und sah ihn an, das runde Gesicht von einem Stirnrunzeln verfinstert. »Also wirklich, was für ein kindisches Gehabe. Wenn du dich doch nur endlich für einen richtigen Beruf entscheiden und etwas Geld ansparen würdest, gäbe es Tausende von hübschen indischen Mädchen, die sich geehrt fühlen würden …«

»Aber keine arabischen Mädchen.«

Das Dienstmädchen stieß ein spöttisches Zischen aus.

»Was ist an arabischen Mädchen so besonders?«, fragte seine Mutter. »Die spielen sich auf und laufen mit angemalten Augen rum wie Varietétänzerinnen, aber ohne ihr Geld sind sie nichts. Weder schön noch klug, und keine von denen kann kochen …«

»Ich will keine Köchin!« Alif schob seinen Stuhl nach hinten. »Ich geh nach oben.«

»Gut! Nimm deinen Teller mit.«

Alif riss den Teller vom Tisch, wobei vor lauter Hast die Gabel klappernd auf den Boden fiel. Er stieg über das Dienstmädchen, als dieses sich bückte, um sie aufzuheben. Wieder in seinem Zimmer, begutachtete er sich im Spiegel. Wenigstens in seinem Gesicht verschmolzen indisches und arabisches Blut auf angenehme Weise miteinander. Seine Haut besaß einen ebenmäßigen Bronzeton. Seine Augen entstammten seiner beduinischen Seite, sein Mund der dravidischen; und alles in allem war er recht zufrieden mit seinem Kinn. Ja, ansehnlich genug war er, aber er würde niemals als vollblütiger Araber durchgehen. Und Intisar würde sich nicht mit weniger zufriedengeben als einem Stammbaum, der tausend Jahre zurückreichte und aus Scheichs und Emiren bestand.

»Einen richtigen Beruf«, sagte Alif zu seinem Spiegelbild und ließ damit die Worte seiner Mutter nachklingen. Im Spiegel sah er, wie sein Computermonitor aufflackerte. Er runzelte die Stirn und schaute zu, wie ein Read-out über den Bildschirm scrollte und die IP-Adresse und Benutzerstatistiken von jemandem verfolgte, der gerade versuchte, seine Verschlüsselungssoftware zu durchbrechen. »Na, wer will denn hier seine Nase in meine Angelegenheiten stecken? Böse, böse.«

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und betrachtete den Flachbildschirm – fast neu und tadellos, mal abgesehen von einem winzigen Riss, den er selbst repariert hatte; günstig von Abdullah bei Radio Sheikh gekauft. Die IP-Adresse des Eindringlings kam von einem Server in Winnipeg, und dies war sein erster Versuch, in Alifs Betriebssystem einzudringen. Neugierde also.

Aller Wahrscheinlichkeit nach war der Herumtreiber ein Gray-Hat wie er selbst. Nachdem er sich zwei Minuten lang an Alifs Verteidigungsmaßnahmen abgearbeitet hatte, gab er auf, aber nicht ohne zuvor Pony Express auszulösen, einen Trojaner, den Alif so versteckt hatte, dass es wie ein Fehler in der Verschlüsselung aussah. Wenn er einigermaßen gut war, würde der Eindringling wahrscheinlich mehrmals am Tag ein spezialisiertes Antimalwareprogramm laufen lassen, aber mit etwas Glück blieben Alif noch ein paar Stunden, um seine Surfgewohnheiten im Internet zu tracken.

Alif schaltete einen kleinen elektrischen Ventilator neben seinem Fuß ein und richtete ihn auf seinen Rechnerturm. Die CPU war heiß gelaufen; letzte Woche wäre ihm beinahe das Motherboard weggeschmolzen. Er konnte es sich nicht leisten, nachlässig zu sein. Nur ein einziger Tag offline könnte seine etwas berüchtigteren Klienten in Gefahr bringen. Die Saudis waren schon seit Jahren hinter Jahil69 her und stinksauer, dass sie es nicht schafften, seine Amateur-Erotikseite zu sperren, die täglich mehr Besucher hatte als irgendein anderer Webservice im Königreich. In der Türkei schürten TrueMartyr und Umar_Online die islamische Revolution von Standorten, die die Behörden in Ankara einfach nicht genau bestimmen konnten. Alif war kein Ideologe; soweit es ihn betraf, hatte jeder, der sich seinen Schutz leisten konnte, auch ein Anrecht darauf.

Die Zensoren waren es, die ihn nachts mit den Zähnen knirschen ließen, die Zensoren, die jeglichen Unternehmungsgeist erstickten, egal, ob dieser hehre oder zynische Ziele verfolgte. Die halbe Welt lebte unter einer digitalen Wolke aus Einsen und Nullen, die den freien Zugang zur Informationsökonomie unterband. Alif und seine Freunde lasen die Kommentare ihrer verwöhnten amerikanischen und britischen Kollegen – diese Aktivisten waren allesamt nur Maulhelden, die sich über jedes neue Gesetz zur digitalen Überwachung aufregten – und lachten.

»Ignorante Einsprachler« nannte Abdullah sie, wenn er gerade in der Stimmung war, Englisch zu sprechen. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, was es bedeutete, von der Stadt aus zu operieren oder aus irgendeiner anderen Stadt, die nicht als fein säuberlich geschnürtes Komplettpaket aus sterilen Postleitzahlen und aufgeräumten Gesetzen daherkam. Sie hatten keine Vorstellung davon, was es hieß, an einem Ort zu leben, der eines der modernsten digitalen Überwachungssysteme der Welt vorweisen konnte, aber keinen geregelten Postdienst. Emirate mit Prinzen in versilberten Autos und Gegenden ohne fließendes Wasser. Ein Internet, in dem jeder Blog, jeder Chatroom, jedes Forum auf illegale Äußerungen der Verzweiflung und Unzufriedenheit hin überwacht wurde.

Ihr Tag würde noch kommen, hatte Abdullah ihm einmal erklärt. Sie hatten auf der Hintertreppe des Radio Sheikh eine großzügig gefüllte Shisha geraucht und einem Pärchen wilder Katzen dabei zugeschaut, wie sie sich auf einem Müllhaufen begatteten. Die wachen eines Morgens auf und stellen fest, dass ihnen die Zivilisation unter den Füßen weggezogen wurde, Zentimeter für Zentimeter, Dollar für Dollar, so wie bei uns. Dann werden die sehen, wie es ist, den größten Teil des wichtigsten Jahrhunderts ihrer Geschichte verschlafen zu haben.

Das hilft uns auch nicht weiter, hatte Alif erwidert.

Nein, sagte Abdullah, aber es hilft mir definitiv dabei, mich besser zu fühlen.

Unterdessen wurden sie von den Albträumen auf Trab gehalten, die ihre Heimat beherrschten. An der Uni wurde das lückenhafte Informatik-Curriculum von denselben Staatsdienern unterrichtet, die die digitale Landschaft überwachten. Alif strafte sie mit Verachtung. Er würde sich selbst all das beibringen, was sie ihm verweigerten. Er würde ihre Server mit Sexvideos überfluten oder ihnen Gotteskrieger auf den Hals hetzen – die Reihenfolge war egal. Besser Chaos als langsames Ersticken.

Gerade einmal vor fünf Jahren – oder weniger – waren die Zensoren noch träge gewesen, hatten sich auf soziale Netzwerkseiten und altmodische Detektivarbeit verlassen, um ihre Zielpersonen zu verfolgen. Aber nach und nach wurde ihnen immer mehr unheiliges Wissen zuteil. Auf zahllosen Großrechnern brachen sich Spekulationen Bahn: Wer hatte sie geschult? Die CIA? Wohl eher der Mossad; die CIA war nicht clever genug, solche subtilen Mittel zur Demoralisierung der digitalen Gemeinde einzusetzen. Diese Zensoren verband kein gemeinsamer Glaubensgrundsatz; es gab Ba’ath in Syrien, es gab Säkulare in Tunesien und Salafisten in Saudi-Arabien. Und dennoch waren ihre Methoden so gleichförmig wie ihre Ziele verschieden. Auffinden, demontieren, niederschlagen.

Der Anstieg in der Internetüberwachung nahm in der Stadt die Gestalt einer skurrilen Singularität an. Sie senkte sich über die Weblogs und Foren der Unzufriedenen wie ein Nebel, der manchmal als Code oder Serverfehlfunktion erschien und manchmal als plötzliches Absinken der Verbindungsgeschwindigkeiten. Alif und die anderen Gray-Hats der Stadt brauchten Monate, um diese auf den ersten Blick gewöhnlichen Ereignisse miteinander in Verbindung zu bringen. In der Zwischenzeit wurden die Webhosting-Accounts einiger der entschiedensten Unzufriedenen der Stadt – vermutlich von der Regierung – entdeckt und gehackt, so dass sie nicht einmal mehr imstande waren, auf ihre eigenen Webseiten zuzugreifen. NewQuarter01, der erste Blogger der Stadt, taufte die Singularität »die Hand Gottes«, bevor er das digitale Ökosystem für immer verließ. Die Debatten über ihre Identität tobten noch immer: War es ein Programm, eine Person, mehrere Personen? Einige stellten die Theorie auf, dass der Emir selbst die »Hand« war – wurde nicht immer gesagt, dass Seine Hoheit in Sachen Staatssicherheit von den Chinesen geschult worden war, den Urhebern des »Goldenen Schildes«? Was auch immer ihr Ursprung sein mochte, Alif sah mit dieser neuen Welle der regionalen Überwachung eine Katastrophe herannahen. Gehackte Accounts waren nur der erste Schritt. Unweigerlich würden die Zensoren dazu übergehen, Leben zu hacken.

Wie alle Dinge, wie die Zivilisation selbst, begannen die Festnahmen in Ägypten. In den Wochen, die der Revolution vorausgingen, wurde die digitale Stratosphäre zum Kriegsgebiet. Die Blogger, die kostenlose Softwareplattformen benutzten, waren am verwundbarsten; Alif war weder überrascht noch beeindruckt, als sie gefunden und eingesperrt wurden. Dann verschwanden nach und nach auch die etwas einfallsreicheren Geeks, die ihre Seiten selbst codeten. Als die Gewalt aus dem Internet überschwappte und sich in die Straßen ergoss, als die breiten Alleen des Tahrir-Platzes zu einem Schlachtfeld wurden, ließ Alif seine ägyptischen Klienten ohne viel Aufhebens fallen. Es war deutlich geworden, dass die Regierung in Kairo seine Fähigkeiten, die dortigen Dissidenten digital zu verbergen, überflügelt hatte. Besser den Arm abschneiden, um den Körper zu retten, sagte er sich. Wenn der Name Alif gegenüber einem ehrgeizigen Staatssicherheitsbeamten geleakt würde, wäre ein ganzes Netzwerk aus Bloggern, Pornographen, Islamisten und Aktivisten von Palästina bis nach Pakistan gefährdet. Natürlich war es nicht seine eigene Haut, um die er sich Sorgen machte, obwohl er danach für eine ganze Woche keinen festen Stuhlgang mehr hatte. Natürlich war es nicht seine eigene Haut.

Dann schaute er auf Al Jazeera zu, wie Freunde, die er nur über ihr Alias kannte, ins Gefängnis gebracht wurden, Opfer der letzten Zuckungen eines sterbenden Regimes. Sie hatten Gesichter, alle anders, als er sie sich vorgestellt hatte, älter oder jünger oder erschreckend fahl, bärtig, mit Lachfalten. Sogar ein Mädchen war dabei. Sie würde wahrscheinlich in ihrer Gefängniszelle vergewaltigt werden. Wahrscheinlich war sie noch Jungfrau, und wahrscheinlich würde sie vergewaltigt werden.

Den Arm abschneiden.

Alifs Finger glitten über das Keyboard. »Metaphern«, sagte er. Er tippte es auf Englisch. Dina hatte wie immer recht.

Das waren die Gründe, weshalb Alif keine Freude am Erfolg der ägyptischen Revolution hatte oder an der Welle von Aufständen, die darauf folgte. Die Triumphe seiner gesichtslosen Kollegen, die in einer Regierung nach der anderen ein System nach dem nächsten gestürzt hatten, erinnerten ihn nur an seine eigene Feigheit. Die Stadt, einstmals ein despotisches Emirat unter vielen, fühlte sich allmählich an, als sei sie aus der Zeit herausgelöst; eine Erinnerung an eine alte Ordnung oder ein Traum, aus dem seine Bewohner es versäumt hatten aufzuwachen. Alif und seine Freunde kämpften weiter, kratzten an der digitalen Festung, die die Hand errichtet hatte, um die korrupte Regierung des Emirats zu beschützen. Aber über ihren Bemühungen schwebte eine Aura des Versagens. Die Geschichte hatte sie übergangen.

Ein grünes Aufflackern in seinem Augenwinkel: Intisar war online. Alif atmete aus und fühlte, wie seine Eingeweide wieder zu arbeiten begannen.

A1if: Warum hast du meine E-Mails nicht beantwortet?

Bab_elDunya: Bitte lass mich in Ruhe

Seine Handflächen fingen zu schwitzen an.

A1if: Habe ich dich gekränkt?

Bab_elDunya: Nein

A1if: Was ist es dann?

Bab_elDunya: Alif, Alif

A1if: Ich werd noch wahnsinnig, sag mir, was los ist

A1if: Kann ich dich sehen?

A1if: Bitte

Eine bleierne Minute lang schrieb sie nichts. Alif lehnte seine Stirn gegen die Kante des Schreibtisches und wartete auf das Ping, das ihm verraten würde, dass sie geantwortet hatte.

Bab_elDunya: An unserem Treffpunkt, in zwanzig Minuten

Alif stolperte zur Tür.

*

Er nahm ein Taxi zum entferntesten Ende der Alten Mauer und stieg dann aus, um zu Fuß weiterzugehen. Die Mauer war von Touristen überlaufen. Der Sonnenuntergang tauchte ihre durchscheinenden Steine in ein strahlendes Rosa, ein Phänomen, das sie nur unzulänglich versuchen würden, mit ihren Handys und Digitalkameras einzufangen. Souvenirbuden und Teegeschäfte säumten die Straße, die an ihr entlanglief. Alif drängte sich an einer Gruppe japanischer Frauen in identischen T-Shirts vorbei. Jemand in der Nähe stank nach Bier. Als ihm der Weg durch einen großgewachsenen Desi-Führer versperrt wurde, der eine Fahne trug, verbiss er sich einen frustrierten Aufschrei.

»Bitte links zu schauen! Vor hundert Jahr, diese Mauer umfasst ganze Stadt. Touristen damals nicht kamen mit Flugzeug, sondern mit Kamel! Kommen aus Wüste, und plötzlich – Meer! Und auf Meer, Stadt umgeben von Mauer aus Quarz, wie Fata Morgana. Sie dachten Fata Morgana!«

»Verzeih mir, Bruder«, sagte Alif auf Urdu. »Aber ich bin keine Fata Morgana. Lass mich durch.«

Der Führer starrte ihn an. »Wir sind alle hergekommen, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen, Bruder«, sagte er und schob das Kinn vor. »Verscheuch mir also nicht das Geld.«

»Ich bin nicht hergekommen. Ich bin hier geboren.«

»Masha’ Allah! Ich bitte um Verzeihung.« Er stellte sich breitbeinig hin. Die Touristengruppe versammelte sich instinktiv hinter ihm, wie Küken hinter einer Henne. Alif starrte an ihnen vorbei die Straße hinunter. Er konnte das Wellblechdach des Teegeschäfts beinahe schon sehen, in dem Intisar auf ihn warten würde.

»Wen interessiert’s, ob ein paar fette Viktorianer durch die Wüste gekommen sind, um eine Mauer anzugaffen«, platzte er heraus. »Die sind jetzt alle tot. Jetzt treiben sich jede Menge lebendige Europäer draußen auf den Ölfeldern bei der TransAtlas-Anlage herum. Zeig ihnen doch die.«

Der Führer verzog das Gesicht. »Du bist verrückt, Bhai«, murmelte er, trat zur Seite und hielt seine Brut mit einem Arm zurück. Alif hatte eine Verbundenheit unter den Klassen heraufbeschworen, die subtiler war als Kommerz. In einer Dankesgeste drückte er sich eine Hand aufs Herz und eilte vorbei.

Das Teegeschäft war weder reizvoll noch denkwürdig. Es war mit einem verschmierten Wandgemälde aus Acryl dekoriert, das die berühmte Skyline des Neuen Viertels abbildete, und der Inhaber – ein Malaie, der kein Arabisch sprach – servierte »authentische« Hibiskus-Getränke, die schon seit Jahrzehnten aus der Mode waren. Kein Einheimischer der Stadt würde je einen Fuß in ein solches Simulakrum setzen. Was auch der Grund war, weshalb Alif und Intisar sich hier trafen. Als Alif ankam, stand Intisar mit dem Rücken zum Raum in einer Ecke und betrachtete einen Ständer mit verstaubten Postkarten. Alif spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg.

»As-salaamu alaykum«, sagte er. Sie drehte sich um, und Gagat-Perlen klimperten leise am Saum ihres Schleiers. Große schwarze Augen sahen ihn an.

»Tut mir leid«, flüsterte sie.

Er durchquerte den Raum in drei Schritten und nahm ihre behandschuhte Hand. Der Malaie war an einem Waschbecken in der gegenüberliegenden Ecke beschäftigt, den Kopf abgewandt; Alif fragte sich, ob Intisar ihm Geld gegeben hatte.

»Um Himmels willen«, sagte er, sein Atem unregelmäßig. »Was ist passiert?«

Sie senkte den Blick. Alif strich mit dem Daumen über ihre Satinhandfläche und spürte, wie sie erschauerte. Am liebsten hätte er ihr den Schleier heruntergerissen und ihre Miene entziffert, die so unergründlich hinter der Wand aus schwarzem Krepp war. Er konnte sich noch an den Geruch ihres Halses erinnern – so lange war es nicht her. Es war unerträglich, durch so viel Stoff getrennt zu sein.

»Ich konnte es nicht verhindern«, sagte sie. »Es ist alles ohne mich arrangiert worden. Ich habe es versucht, Alif, ich schwöre dir, ich habe alles versucht – ich habe meinem Vater gesagt, dass ich erst den Abschluss an der Uni machen will oder reisen, aber er hat mich nur angeschaut, als ob ich verrückt geworden wäre. Es ist ein Freund von ihm. Ihn hinzuhalten wäre eine Beleidigung …«

Alif hörte auf zu atmen. Er nahm ihr Handgelenk und fing an, ihr den Handschuh auszuziehen, ohne ihren halbherzigen Abwehrversuchen Beachtung zu schenken. Er entblößte ihre blassen Finger: Ein Verlobungsring funkelte zwischen ihnen wie ein Stein, der auf unebenen Boden gefallen war. Er fing wieder an zu atmen.

»Nein«, sagte er. »Nein. Das kannst du nicht. Er kann es nicht. Wir verschwinden – wir gehen in die Türkei. Dort brauchen wir das Einverständnis deines Vaters nicht. Intisar …«

Sie schüttelte den Kopf. »Mein Vater würde einen Weg finden, dich ins Unglück zu stürzen.«

Zu Alifs Entsetzen spürte er, wie ihm Tränen in die Augen schossen. »Du kannst diesen Chode nicht heiraten«, sagte er heiser. »Du bist meine Frau vor Gott, wenn auch vor niemandem sonst.«

Intisar lachte. »Wir haben ein Stück Papier unterschrieben, das du ausgedruckt hast«, sagte sie. »Das war albern. Kein Staat würde das je anerkennen.«

»Die Shayukh schon. Und die Religion!«

Der Malaie verlagerte sein Gewicht und sah über die Schulter. Ohne zu sprechen, zog Intisar Alif ins Hinterzimmer und schloss die Tür.

»Schrei nicht so«, zischte sie. »Du löst noch einen Skandal aus.«

»Das hier ist ein Skandal.«

»Sei nicht so theatralisch.«

»Sei du nicht so herablassend.« Alif zog die Lippe hoch. »Wie viel zahlst du dem Malaien? Er ist sehr zuvorkommend.«

»Hör auf damit.« Intisar hob ihren Schleier. »Ich will nicht mit dir streiten.« Eine Haarsträhne klebte ihr an der Wange; Alif strich sie fort, bevor er sich zu ihr beugte, um sie zu küssen. Er schmeckte Lippen, Zähne, Zunge; sie entzog sich ihm.

»Für so was ist es zu spät«, murmelte sie.

»Nein, ist es nicht. Ich beschütze dich. Komm zu mir, und ich beschütze dich.«

Ihre vollen Lippen bebten. »Du bist wie ein kleiner Junge«, sagte Intisar. »Das hier ist kein Spiel. Jemand könnte ernsthaft zu Schaden kommen.«

Alif schlug mit der Faust gegen die Wand, und Intisar schrie auf. Einen Moment lang starrten sie einander an. Der Malaie begann, gegen die Tür zu hämmern.

»Sag mir seinen Namen«, forderte Alif.

»Nein.«

»Dieser ziegenfickende Hurensohn! Sag mir seinen Namen«, brüllte er.

Die Farbe wich aus Intisars Gesicht. »Abbas«, sagte sie. »Abbas Al Shehab.«

»Abbas der Meteor? Was für ein saudämlicher Name. Ich bring ihn um … ich ramm ihm ein Schwert aus seinen eigenen Knochen durchs Herz …«

»Rede nicht, als wärst du einem Comicheft entsprungen. Du weißt nicht, was du sagst.«

Sie drängte sich an ihm vorbei und öffnete die Tür. Der Malaie fing an, in einem unverständlichen Dialekt herumzuschreien. Alif ignorierte ihn und folgte Intisar durch das Teegeschäft nach draußen. Sie weinte.

»Geh nach Hause, Alif«, sagte sie mit zitternder Stimme und zerrte sich den Schleier wieder vors Gesicht. »Ich will deinen Namen nie wieder sehen. Bitte, Himmel, bitte – ich halte das nicht aus.«

Er verhedderte sich mit den Beinen zwischen einem Tisch und einem Stuhl und stolperte. Intisar verschwand in der Dämmerung, ein schwarzes Omen vor dem sich dunkel färbenden Himmel.

Kapitel Zwei

Ganz hinten in seinem Kleiderschrank lag ein Karton. Er war hinter einem Stapel Winterkleidung versteckt, die das Dienstmädchen im Frühjahr dorthin getan hatte, sorgfältig die Pullover und Wollhosen mit Seidenpapier voneinander getrennt. Alif manövrierte ihn heraus und legte ihn aufs Bett. Seine Kehle krampfte sich zusammen; er wartete ab. Sie krampfte noch einmal. Er konnte nicht weinen; Frauen würden hereingeplatzt kommen und Fragen stellen. Er rief seinen Körper zur Ordnung. Als er sich sicher fühlte, hob er den Deckel des Kartons an: Darinnen lag ein zusammengelegtes Baumwollbettlaken. Als er es halb auseinanderfaltete, sah er einen kleinen Flecken, mittlerweile mehr braun als rot, der ein bisschen die Form des indischen Subkontinents hatte.

Der Fleck war in einer Woche entstanden, in der Alifs Mutter seinen Vater auf eine seiner zahllosen Geschäftsreisen begleitet hatte. Alif hatte das Dienstmädchen dazu ermutigt, ihre Verwandten in einem der benachbarten Emirate zu besuchen, während seine Eltern weg waren, und darauf bestanden, dass er auch allein zurechtkäme. Das Dienstmädchen war zwar skeptisch, benötigte aber nur wenig Überzeugungsarbeit, um schließlich zuzustimmen. Alif gab Intisar einen Schlüssel zum Eingangstor und sagte ihr, sie solle ihr einfachstes Gewand anziehen; wenn die Nachbarn sie sähen, würden sie sie für Dina halten. Als sie am ersten Abend eintraf, hob Alif wortlos ihren Schleier an, und das Gesicht, das er sich monatelang immer wieder vorgestellt hatte, verschlug ihm die Sprache. In einem einzigen Augenblick hatte er all die Projektionen seiner Phantasie von libanesischen Popstars und ägyptischen Schauspielerinnen vergessen. Sie konnte gar kein anderes Gesicht als dieses haben, mit den schalkhaften Grübchen, dem etwas zu großen Mund, den eleganten Brauen. Er hatte schon geahnt, dass sie schön war – sie sprach wie eine schöne Frau. Aber nichts hatte ihn auf die Wucht dieser Schönheit vorbereitet.

»Was denkst du gerade?«, hatte sie geflüstert.

»Ich kann gerade nicht denken«, hatte er geantwortet und gelacht.

Mit einem verlegenen Lächeln hatten sie den standardmäßigen Ehevertrag unterschrieben, den Alif auf einer Website gefunden hatte, die sich an die Bedürfnisse von Männern der Golfregion nach der Reinwaschung von den Sünden richtete, die sie anderswo begehen wollten. Obwohl das Stück Papier sein Gewissen etwas beruhigte, brauchte er drei Nächte, bis er genug Mut gesammelt hatte, um mehr als nur ihr Gesicht zu entblößen. Sie waren beide unbeholfen. Alif war verunsichert von ihrem Körper, von dem ihm so vieles verborgen blieb, selbst wenn sie unbekleidet war; sie wiederum schien in gleichem Maße fasziniert und entsetzt von seinem. Ihrem Instinkt folgend, hatten sie diesen Flecken geschaffen. Das Blut war Intisars, aber Alif konnte das Gefühl nicht loswerden, dass etwas von ihm darüberlag, ein unsichtbares Zeichen der Ahnungslosigkeit, die er abgelegt hatte. Danach hatte er ihr immer und immer wieder gesagt, dass er sie liebte, bis sie ihn bat, damit aufzuhören, erschrocken über die Macht, die sie nun besaß.

Alif kniete sich hin und durchwühlte eine Schublade in seinem Aktenschrank. Ihr Vertrag befand sich in einer unbeschrifteten Aktenmappe ganz hinten, sorgfältig zwischen die steifen braunen Falten geschoben. Er nahm die einzelne ausgedruckte Seite heraus, strich mit den Fingern darüber und zog die Kugelschreiberrillen von Intisars Unterschrift nach. Sein eigenes Fünftklässler-Gekrakel. Sie hatte gelacht, als sie seinen richtigen Namen sah, so gewöhnlich, ohne die markante Kürze seines Alias, des einzigen Namens, bei dem sie ihn je genannt hatte. Des Namens, den sie im schwachen, unscharfen Licht der Straßenlampe, die sein Zimmer erhellte, gemurmelt hatte, als sie Seite an Seite durch die leeren Stunden bis zum Morgengrauen miteinander geflüstert hatten.

Alif legte die Mappe zurück und schloss die Schublade.

Er war auf Intisar einige Monate zuvor aufmerksam geworden, in einem Forum, wo unheilsame junge Männer wie er selbst den Emir und seine Regierung aus der Deckung cleverer Pseudonyme mit ihrem Zorn überhäuften. Intisar mischte sich in ihre Konversationen ein wie ein eleganter Vorwurf, manchmal um den Emir zu verteidigen, manchmal um ihre Kritik durch neue Ebenen der Komplexität zu ergänzen. Ihr Wissen war so breit, ihr Arabisch so korrekt, dass ihre Herkunft schnell offensichtlich war. Alif hatte immer gedacht, dass Aristokraten das Internet mieden, weil sie – richtigerweise – davon ausgingen, dass es dort nur so vor Abschaum und gesellschaftlichem Leiden wimmelte. Intisar faszinierte ihn. Er fing an, ihr Zitate über Freiheit von Atatürk und John Adams zu mailen; sie konterte mit Plato. Alif war bezaubert. Er schickte ihr Geld für ein zweites Handy, damit sie miteinander sprechen konnten, ohne dass es ihre Familie mitbekam, und wochenlang redeten sie jeden Abend miteinander, oft mehrere Stunden lang.

Als sie beschlossen, sich zu treffen, in genau dem Teegeschäft, wo sie ihm erst vor so kurzer Zeit das Herz herausgerissen hatte, verlor Alif beinahe den Mut. Von Dina abgesehen war er seit der Grundschule mit keinem Mädchen mehr allein gewesen. Als er Intisar zum ersten Mal sah, beneidete er sie um die einhüllende Anonymität ihres Schleiers; er wusste nicht, ob ihre Hände genauso zitterten wie seine oder ob ihr Gesicht gerötet war oder ob ihre Füße ihr, so wie ihm seine, nicht gehorchten. Sie war im Vorteil. Sie konnte ihn beobachten, sich überlegen, ob er gut aussah, seine Neigung, nur Schwarz zu tragen, abwägen und entscheiden, ob ihr das missfiel oder nicht. Er, auf der anderen Seite, konnte nichts weiter tun, als sich in ein Gesicht zu verlieben, das er nie gesehen hatte.

Alif nahm das befleckte Laken aus dem Karton und atmete ein. Es roch nach Mottenkugeln und hatte schon längst jegliche Spur von Intisars Parfüm verloren oder von dem sehnsüchtigen, zärtlichen Duft ihrer vereinten Körper. Der Gedanke, dass er sie vor einem Jahr noch nicht einmal gekannt hatte und es in einem weiteren Jahr so sein könnte, als hätten sie einander nie getroffen, brachte ihn aus der Fassung. Der Ärger, den er im Teeladen des Malaien verspürt hatte, wich allgemeiner Bestürzung. Wie lange hatte sie dieses flüchtige Treffen geplant? An welchem Tag war, während er nichtsahnend vor seinem Computer saß, ihre Verlobung vollzogen worden? Hatte er sie angefasst, dieser Eindringling? Die Vorstellung war zu viel für ihn. Alif rollte sich, während ihm das Blut in den Schläfen hämmerte, mit einem Aufheulen um das Laken.

Ein hektisches Klopfen erschütterte seine Tür. Noch bevor er antworten konnte, kam seine Mutter ins Zimmer gestürzt, wobei sie sich das lange Ende ihres Schals an die Brust drückte.

»Barmherziger, Makan, kam dieses schreckliche Geräusch von dir? Was ist los?«

Alif knüllte das Laken in den Karton zurück. »Mir geht’s gut«, sagte er zittrig. »War nur Seitenstechen.«

»Brauchst du eine Paracetamol? Mineralwasser?«

»Nein, nichts … nichts.« Er bemühte sich um eine ungezwungene Miene.

»In Ordnung.« Seine Mutter musterte ihn noch einmal mit geschürzten Lippen, bevor sie sich zum Gehen umdrehte. Alif streckte sich aus und holte ein paarmal tief Luft. Er nahm noch einmal das Laken hervor, faltete es sorgfältig und verbarg dabei den Flecken tief in den innersten Falten. Dann kramte er in seinem Schreibtisch nach einem Notizblock, auf den er eine Nachricht kritzelte:

Das gehört dir. Du brauchst es vielleicht noch.

Er unterschrieb nicht. Er legte das Laken zusammen mit der Nachricht in den Karton, klebte ihn zu und wickelte alles in eine Samstagsausgabe der Al Khalij, die er zusammengefaltet in seinem Regal fand. Dann klopfte er an die Wand:

*

Es dauerte zehn Minuten, bis Dina auf dem Dach erschien. Alif stellte den Karton neben sich auf den Boden und ließ seine Schnürsenkel für die schwarzorange Katze baumeln, die wie durch Hexenwerk, das keiner Treppen bedurfte, zwischen den Topfpflanzen erschienen war. Er zog ruckartig seinen Fuß hoch und sah ihr dabei zu, wie sie nach den dreckigen Schnürsenkeln tatzte, und fühlte sich durch Dinas verspätete Reaktion auf seinen Ruf irrationalerweise schlecht behandelt. Als sie schließlich aus der Tür des Treppenhauses kam, war er auf Streit aus.

»Bei der hier musst du aufpassen«, sagte Dina und bückte sich, um die Katze zu begrüßen. »Alle Katzen sind halb Dschinn, aber ich glaube bei der hier sind’s drei viertel.«

»Wo warst du so lange?«, verlangte er zu wissen und klemmte sich den Karton unter den Arm.

Sie schniefte. »Beten, Maghrib.«

»Gott ist groß. Ich brauch mal deine Hilfe.«

Dina ging zum Rand des Dachs hinüber und hockte sich hin, um Staub von den Blättern einer Zwergbananenpflanze zu wischen, die kippelnd in einem Tonkübel stand. Die Katze folgte ihr und drängte sich mit einem Schnurren an ihr Bein.

»Du warst gemein zu mir«, sagte Dina, ohne ihn anzusehen. »Dabei wollte ich nur mit dir über dein Buch reden.«

Alif ging zu ihr und setzte sich neben sie: »Tut mir leid«, sagte er. »Ich bin ein Esel. Verzeih mir. Ich muss was Wichtiges tun, und ich kann sonst niemanden fragen. Bitte, Dina … wenn ich eine Schwester hätte, würde ich sie fragen, aber du bist …«

»Du hast eine Schwester. Ich hab auf ihrer Hochzeit getanzt.«

Alif lachte. »Halbschwester. Ich hab sie in meinem ganzen Leben nur viermal gesehen. Du weißt doch, dass Babas andere Familie mich hasst. Wenn du Fatima fragst, bin ich nur ein dunkler kleiner Abd und kein Bruder.«

Dinas Augen wurden sanfter. »Ich hätte nicht von ihr anfangen sollen. Möge Gott ihnen für ihre Sünden gegen dich und deine Mutter vergeben.«

»Sünden«, murmelte Alif und schlug nach einem Bananenblatt. Eine kleine Staubwolke stieg in die Luft. »Vorhin hast du meine Mutter eine Hindu genannt.«

Dina sog scharf die Luft ein und verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Das hab ich ganz vergessen! Ich war so wütend …«

»Nicht, lass das. Du bist eine mustergültige Heilige. Quäl dich nicht so.«

Sie legte ihre Hand auf den Boden, dicht neben sein Knie. »Du weißt, dass meine Familie ihre Konvertierung nie angezweifelt hat«, sagte sie. »Wir mögen sie sehr. Sie ist wie eine Tante für mich.«

»Du hast eine Tante. Ich hab ihr Qattayyef gegessen.«

Dina schnalzte mit der Zunge. »Du drehst mir immer die Worte im Mund um.« Sie ließ sich auf die Fersen sinken und schlang die Arme um ihre Knie, was sie weniger wie eine Frau, sondern eher wie eine abstrakte Impression einer solchen aussehen ließ, drapiert in tintenschwarze Falten. Er erinnerte sich noch an den Tag, als sie, mit zwölf Jahren, angekündigt hatte, dass sie ihr Gesicht verschleiern wolle. Die Tränen ihrer Mutter und die wütenden Erwiderungen ihres Vaters drangen beinahe ungehindert durch die gemeinsame Wand ihres Doppelhauses. Für ein Mädchen aus der Oberklasse des Alten Viertels wie Intisar war es eine Sache, sich zu verschleiern; ihr seidener, perlenbestickter Kokon war ein Zeichen ihres Ranges, nicht ihrer Religion. Aber Dina entstammte einer Gastarbeiterfamilie – ein schäbiges Mädchen aus Alexandria, von der man erwartete, dass sie einmal als bargesichtige, unterbezahlte Verzierung in jemandes Büro oder Kinderzimmer enden würde, vielleicht sogar diskret demjenigen zur Verfügung stünde, der ihr den Lohn bezahlte. Dass sie sich selbst für geheiligt erklärte, und zwar nicht durch Geld, sondern durch Gott, machte den Eindruck, als wolle sie sich aufspielen. Sogar als pickliger Vierzehnjähriger hatte Alif verstanden, warum sich ihre Eltern so aufregten. Eine Heilige war nicht rentabel.

»Wobei brauchst du Hilfe?«, fragte Dina schließlich.

Alif stellte den Karton vor sie hin. »Du musst das hier für mich zu einer Villa im Alten Viertel bringen und dem Mädchen geben, das dort wohnt.« Ein Anflug von Reue durchfuhr ihn, noch während er die Worte sagte. Wenn Intisar sah, was er ihr geschickt hatte, würde sie ihn widerwärtig finden. Vielleicht wollte er genau das ja auch: das letzte Wort, eine letzte Szene, die noch geschmackloser und theatralischer war als die, die sie im Teeladen inszeniert hatte. Er würde sie daran erinnern, was sie füreinander gewesen waren, und sie dafür bestrafen.

»Im Alten Viertel? Wen kennst du denn im Alten Viertel? Da wohnen doch nur Aristokraten.«

»Sie heißt Intisar. Woher ich sie kenne, ist nicht weiter wichtig. Malik-Farouk-Straße 17, gegenüber von einem kleinen Maidan mit einem gekachelten Brunnen in der Mitte. Es ist wirklich wichtig, dass du ihr das nur persönlich aushändigst – keinem Bediensteten, keinem Bruder. In Ordnung?«

Dina hob den Karton auf und musterte ihn. »Ich kenne diese Intisar doch gar nicht«, murmelte sie. »Ohne eine Erklärung wird sie wohl kaum irgendeinen komischen Karton von mir annehmen. Da könnte eine Bombe drin sein.«

Alifs Mund zuckte. So falsch lag sie damit gar nicht. »Intisar weiß, wer du bist«, sagte er.

Dina sah ihn unter ihren dichten, dunklen Wimpern prüfend an. »Du bist echt komisch geworden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es so toll finde, wenn du mit Mädchen mit solchen Etepetete-Namen aus dem Alten Viertel über mich redest.«

»Mach dir keine Sorgen. Wenn das erledigt ist, brauchen wir nie wieder über sie zu sprechen.«

Dina stand auf, klopfte sich den Staub vom Gewand und klemmte sich den Karton unter einen Arm. »Ich mach’s. Aber wenn du mich ohne mein Wissen eine Sünde begehen lässt, geht das auf dein Konto.«

Alif lächelte bitter. »Mein Konto quillt schon über vor lauter Sünden. So eine kleine wie die hier macht auch keinen Unterschied mehr.«

Eine Falte erschien zwischen Dinas Brauen. »Wenn das stimmt, spreche ich ein Du’a für dich«, sagte sie.

»Vielen Dank.«

Alif schaute zu, wie sie über das dunkler gewordene Dach ging und im Treppenhaus verschwand. Als das Hallen ihrer Schritte nicht mehr zu hören war, lehnte er seine Stirn gegen den Rand des Bananenkübels und schluchzte.

*

Am nächsten Tag ging Alif nicht aus dem Haus. Er nahm seinen Laptop mit aufs Dach und meditierte über dem blinkenden Cursor in einem leeren Komodo-Code-Editor und nahm nur am Rande wahr, wie das Dienstmädchen zur Wäscheleine hin- und wieder zurückstapfte oder Teppiche zum Lüften herausbrachte. Die Katze tauchte wieder auf und spazierte auf der Betonbalustrade entlang, die das Dach umrandete. Sie hielt inne und beobachtete Alif mit so etwas wie Mitleid in ihren gelben Augen. Am späten Nachmittag kamen Dina und ihre Mutter zum Erbsenschälen nach oben. Als sie ihn sahen – die nackten Füße hochgelegt, das Gesicht ins bläuliche Licht seines Computers getaucht –, zogen sie sich in die gegenüberliegende Ecke zurück und flüsterten miteinander.

Alif ignorierte sie und konzentrierte sich auf den herabsinkenden Abend. Er schaute zu, wie die Sonne aufglühte, während sie in der Wüste versank. In ihre heiligste Stunde eingetreten, begann die Stadt, in einem Dunst aus Staub und Rauch zu schillern. Zwischen den unregelmäßigen Reihen der Doppelhäuser und Wohngebäude konnte Alif einen Teil der Alten Mauer ausmachen. Als sie von einer letzten Salve Sonnenlicht getroffen wurde, erstrahlte sie in erstaunlichem Glanz: nicht Rosa, wie man es landläufig nannte, sondern Lachsgolden, einem Brautfarbton alter Seide aus Jaipur. In diesem spektakulären Scheinwerferlicht stieg der Ruf zum Abendgebet von der großen Moschee Al Bashira im Herzen des Alten Viertels auf. Er wurde schnell von Hunderten weniger bedeutender Muezzins in Moscheen, die sich über die willkürlich verstreuten Wohngebiete außerhalb der Mauer verteilten, aufgegriffen, jeder von ihnen etwas ausdrucksloser als der vorangegangene. Alif lauschte nur dem ersten perfekten Bariton, bevor er seine Kopfhörer aufsetzte. Die Stimme des großen Muezzins war wie eine Verwarnung: Er hatte begehrt, was ihm nicht zustand.

Als der letzte Rest Licht verschwunden war, ging Alif hinein. Er wusch sich, rasierte sich und nahm vom Dienstmädchen einen Teller mit Fischcurry entgegen; nachdem er gegessen hatte, ging er hinaus auf die Straße. Er blieb an der Ecke stehen und erwog, ein Taxi zu rufen, überlegte es sich dann aber anders – der Abend war angenehm; er würde laufen. Ein punjabischer Nachbar rief ihm von der anderen Straßenseite ein halbherziges Salaam zu. Ursprünglich nach dem Viehmarkt benannt, den er einst beherbergt hatte, bestand der Baqara-Distrikt ausschließlich aus Gastarbeitern aus Indien, Bangladesch, den Philippinen und den unbedeutenderen arabischen Ländern Nordafrikas. El ’abeed. Eine von einem Dutzend Wohngegenden, die zu nichts dazugehörten und sich zwischen dem Alten und dem Neuen Viertel erstreckten, als bettelten sie um Almosen.

In der Abenddämmerung aufflackernde Schilder bewarben in einem halben Dutzend Sprachen Backwaren und Apotheken. Alif ging rasch an ihnen vorbei. Er bog in eine Gasse ein, in der es nach Ozon roch; auf Hochtouren arbeitende Klimaanlagen in den oberen Wohneinheiten tropften ihm Freon auf den Kopf. Am Ende der Gasse klopfte er an eine schlichte Tür im Erdgeschoss eines Wohnhauses. Er hörte Schlurfen. Ein Auge erschien im Spion.

»Wer ist da?«, ertönte eine von der Pubertät gebeutelte Stimme.

»Ist Abdullah zu Hause?«, fragte Alif. Die Tür öffnete sich ein Stück und gab den Blick auf eine Nase und einen flaumigen Schnurrbart frei.

»Das ist Alif«, sagte eine Stimme von drinnen. »Kannst ihn reinlassen.«

Die Tür ging ein Stück weiter auf. Alif trat an dem misstrauischen Jugendlichen vorbei in einen großen Raum, der bis zur Decke mit Kartons voller Computerteile vollgestopft war. Eine Lötbank in der Mitte war übersät mit ihren Eingeweiden: Motherboards, optische Laufwerke, winzige durchscheinende Mikroprozessoren, die sich noch in der Beta-Phase befanden. Abdullah saß, mit einem Laserschweißstift in der Hand, rittlings über dem freien Ende der Bank und arbeitete an einer Platine.

»Was führt dich zu Radio Sheikh?«, fragte er, ohne hochzublicken. »Wir haben dich seit Wochen nicht mehr zu Gesicht gekriegt. Dachten schon, die Hand hätte dich geschnappt.«

»Gott bewahre«, sagte Alif automatisch.

»Gott ist am größten. Und wie geht’s?«

»Scheiße.«

Abdullah sah hoch, die Augen in seinem hasenzähnigen Gesicht weit aufgerissen. »Sag ›vergib mir‹, Bruder. Das letzte Mal, dass ich einen Mann auf diese Frage was anderes als ›Gott sei gepriesen‹ hab antworten hören, ist ihm sein Schwanz weggeschrumpelt. Syphilis. Ich hoffe, du hast eine genauso gute Entschuldigung.«

Alif setzte sich auf den Boden. »Ich brauch deinen Rat«, sagte er.

»Das wag ich zu bezweifeln. Red weiter.«

»Ich muss verhindern, dass jemand mich je wieder online finden kann.«

Abdullah prustete. »Ach komm schon. Du bist besser in so was als jeder andere. Sperr all seine Usernamen, filter seine IP-Adresse raus, damit er nicht mehr auf deine Webseiten kommt …« Alif war schon dabei, den Kopf zu schütteln.

»Nein. Keine IP-Adresse, kein Username … keine digitale Identität. Ein Mensch.«

Abdullah legte die Platine und den Stift auf der Bank ab. »Ich bin versucht zu sagen, dass das unmöglich ist«, sagte er langsam. »Du redest davon, einem Softwareprogramm beizubringen, eine einzelne menschliche Persönlichkeit zu erkennen, unabhängig davon, welchen Computer, welche E-Mail-Adresse oder welchen Log-in er benutzt.«

»Ja, genau davon rede ich.« Alifs Augen flackerten. »Und es ist eine Sie.«

»Eine Sie! Eine Sie! Deswegen geht’s dir also scheiße.« Abdullah lachte. »Bruder Alif mit einem Frauenproblem! Du elender Einsiedler … dabei weiß ich genau, dass du das Haus nie verlässt. Wie wurde das vollbracht?«

Alif spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Abdullahs Gesicht verschwamm zusehends. »Halt die Klappe«, sagte er mit zitternder Stimme, »oder ich schwör bei Gott, dass ich dir deine Karnickelzähne bis in den Hals ramme.«

Abdullah sah erschrocken aus. »Schon gut, schon gut. Es ist ernst. Hab’s kapiert«, murmelte er. Als Alif nichts mehr sagte, rutschte er verlegen auf der Bank herum. »Rajab!«, rief er dem Jungen zu, der in der Ecke herumlungerte. »Sei ein braver Chaiwallah und hol uns Tee.«

»Deine Mutter ist ein Chaiwallah«, murmelte der Junge und schlich sich zur Tür raus. Als sie ins Schloss fiel, drehte sich Abdullah wieder zu Alif um.

»Lass uns mal drüber nachdenken«, sagte er. »Theoretisch hat jeder ein unverwechselbares Tippmuster – die Zahl der Anschläge pro Minute, die Zeit zwischen jedem einzelnen Anschlag, solche Sachen. Ein Keylogger, der entsprechend programmiert ist, könnte dieses Muster innerhalb einer akzeptablen Fehlerspanne identifizieren.«

Alif schmollte noch ein wenig. »Vielleicht«, gab er schließlich zu. »Aber man bräuchte eine riesige Menge an Dateninput, bevor man ein Muster erkennen könnte.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Das hängt ganz davon ab, wie unverwechselbar das entsprechende Tippmuster ist. So was ist noch nie untersucht worden.«

»Was, wenn man noch weiter gehen würde«, sagte Alif und erhob sich, um auf und ab zu gehen. »Wenn man Querverweise herstellen würde zwischen dem Tippmuster und der Grammatik, der Syntax, der Rechtschreibung …«

»Dem Verhältnis der benutzten Sprachen. Englisch zu Arabisch zu Urdu, Hindi, Malaiisch, was auch immer. Das wär ein Mordsvorhaben, Alif. Sogar für dich.«

Sie verfielen in meditatives Schweigen. Der Junge kam mit Teegläsern zurück, die auf einem Metalltablett dampften. Alif nahm sich eines, rollte es zwischen seinen Händen und genoss die Hitze auf seiner Haut.

»Wenn das funktioniert …«, sagte er leise.

»Wenn das funktioniert und jemand Wind davon kriegt, kommt jeder Geheimdienst der Welt bei dir angeschissen.«

Alif erschauderte.

»Ist es vielleicht nicht wert, Bruder«, sagte Abdullah, zog seine großen Füße unter der Bank heraus und stand auf. »Ist schließlich nur eine Bint.«

Alif sah den Wirbeln aus dunklen Blättern und aufgelöstem Zucker in seinem Teeglas zu. Seine Augen verdunkelten sich. »Sie ist nicht irgendeine Bint«, sagte er. »Sie ist eine Philosophenkönigin, eine Sultanin …«

Abdullah schüttelte angewidert den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal erleben würde. Sieh dich mal an, du bist ja kurz vorm Heulen.«

»Das verstehst du nicht.«

»Ich versteh das sehr wohl.« Abdullah hob eine Augenbraue. »Du hast was, was der Rest von uns importierten Rafiqs nicht hat: eine höhere Bestimmung. Verschwende sie nicht an die Launen deines Schwanzes.«

»Ich will keine höhere Bestimmung. Ich will glücklich sein.«

»Und du glaubst, dass dich eine Frau glücklich macht? Mein Sohn, schau mal in den Spiegel. Eine Frau hat dich unglücklich gemacht.«

Alif schlenderte zu einem Stapel Kartons an der Wand. »Wie viel willst du hierfür?«, fragte er und hielt eine externe Festplatte hoch. »Ich könnte mehr Speicherplatz gebrauchen.«

Abdullah seufzte. »Nimm sie. Möge Gott mit dir sein.«

*

Zu Hause in seinem Zimmer holte Alif eine Packung Nelkenzigaretten aus einer Schublade. Er öffnete das Fenster, bevor er eine ansteckte, lehnte sich gegen das Sims und hauchte üppige Rauchkringel in die Nachtluft. Unten im Hof lag Tau auf dem Jasmin; sein Duft vermischte sich mit der würzigen Ouvertüre der Nelken und wehte durchs Fenster wieder herein. Alif atmete tief ein. Seit seiner Kindheit hatte er sich vorgestellt, er könne vom Fenster aus das Meer sehen, auf dem jenseits des Häuserlabyrinths das sich reflektierende Licht funkelte. Mittlerweile wusste er, dass die Lichter nicht auf dem Wasser tanzten, sondern auf dem Smog; trotzdem beruhigte ihn der Anblick. Er sah hinunter, als die Jasminsträucher bebten: Die schwarzorange Katze lief lautlos über den Hof. Er rief nach ihr. Sie sah zu ihm hoch, blinzelte ihn mit riesigen Pupillen an und gab ein leises Maunzen von sich. Alif streckte seine Hand hinaus. Die Katze sprang in einem einzigen mühelosen Satz auf das Fenstersims und liebkoste schnurrend seine Hand mit ihrer Wange.

»Brave kleine At’uta«, sagte Alif und benutzte die ägyptische Verniedlichungsform, die Dina ihr vor langer Zeit verliehen hatte. »Hübsche At’uta.« Er schnipste den Zigarettenstummel aus dem Fenster, wandte sich um und wischte sich die Hände an seiner Jeans ab. Die Katze ließ sich auf dem Sims nieder, die Pfoten unter dem Körper. Sie beobachtete ihn durch halbgeschlossene Augen.

»Du kannst da bleiben«, sagte Alif und setzte sich an seinen Schreibtisch, »aber du kannst nicht reinkommen. Das Dienstmädchen ist Shafa’i, und Katzenhaare machen sie rituell unrein.«

Die Katze blinzelte wohlig. Alif strich mit einem Finger über das kabellose Mousepad neben seinem Computer und sah dem Bildschirm dabei zu, wie er zum Leben erwachte. Es waren Nachrichten in seinem Posteingang: die Bestätigung für eine Banküberweisung von 200 Dirham von einem Kunden; die Kontaktanfrage eines syrischen Aktivisten, der Interesse an seinen Dienstleistungen hatte. Ein russischer Gray-Hat, mit dem Alif virtuell Schach spielte, hatte einen Zug gegen seinen verbliebenen Läufer gemacht. Nachdem er den Vorstoß des Russen mit einem seiner Bauern blockiert hatte, öffnete Alif eine neue Projektdatei. Er überlegte für eine Weile.

»Intisar«, sagte er zur Katze. »Rastini. Sar inti.«

Die Katze öffnete und schloss ein Auge.

»Tin Sari«, sagte Alif und tippte die Worte, während er sprach. »Ja, das ist es. Ich hab einfach nur in der falschen Sprache gedacht. Ein Schleier aus Blech für eine abtrünnige Prinzessin.«

Er brauchte den Großteil der Nacht, um sein schon bestehendes Keystroke-Logger-Programm mit einigen evolutionären Algorithmen zu modifizieren, die er – so die Hoffnung – dazu benutzen konnte, die Grundelemente eines Tippmusters zu identifizieren. Er stand nur auf, um sich in die Küche zu schleichen und ein Kanaka mit türkischem Kaffee zu kochen, zu dem er Kardamon-Hülsen dazugab, die er mit dem Löffel auf der Granitarbeitsfläche zerdrückt hatte. Als er in sein Zimmer zurückkam, war die Katze vom Fenstersims verschwunden.

»Alle Welt verlässt mich«, murmelte er. »Sogar die Katzen.«

Er rief Intisars Computer in einem Drop-down-Menü auf. Als er das erste Mal an ihrem Rechner gearbeitet hatte, hatte er einen Remote-Zugriff freigegeben und es Hollywood, seinem selbstgebauten Hypervisor, ermöglicht, ihre Benutzerstatistiken zu erfassen. Sie hatte das nie bemerkt. Ab und zu hatte er wohlwollend an ihrem System herumgedoktert, die Schadsoftware entfernt, die ihr kommerzielles Antivirenprogramm übersehen hatte, seine eigenen Defragmentierungsprogramme darüberlaufen lassen, alte temporäre Dateien gelöscht – Dinge, die ein normaler Zivilist entweder vergessen oder überhaupt nie richtig gelernt haben würde. Immer wenn es einen Anstieg in der Internetüberwachung im Land eines seiner Kunden gab, war es nichts Seltenes für ihn, dass er tagelang ohne zu schlafen und zu sprechen auskommen musste; während solcher Phasen warf Intisar ihm oft vor, sie zu vernachlässigen. Obwohl ihn das verletzte, erzählte er ihr trotzdem nie von diesen kleinen Gesten der Zuneigung. Sie wusste nicht, dass sich eine Kopie ihrer unfertigen Abschlussarbeit hinter einer seiner Firewalls befand, damit dafür gesorgt war, dass ihre Worte so ziemlich jedes Ereignis, abgesehen von der Apokalypse, überleben würden. Das waren die einzigen Gesten, die für ihn Sinn ergaben. So vieles von dem, was er empfand, ließ sich nicht übersetzen.

Er griff auf ihren Rechner zu, erstellte einen Knotenpunkt für Tin Sari v1.0 und verband ihn mit einem Botnetz aus den Computern seiner Kunden. Das Botnetz würde die eingehenden Daten aus der Ferne verarbeiten und die Ergebnisse über Hollywood an Alif senden. Alif fühlte sich ein bisschen schuldig, dass er die Rechner seiner Kunden ohne zu fragen benutzte, und dann auch noch aus so selbstsüchtigen Gründen. Aber die meisten seiner Kunden würden ein zusätzliches Programm, das diskret im Hintergrund lief, beim Arbeiten gar nicht bemerken, und die, die es taten, kannten Alif lange genug, um keine Fragen zu stellen. Sobald Tin Sari anfing, Daten zu senden, konnte er damit beginnen, die Algorithmen zu verfeinern, Fehler auszugleichen und neue Parameter hinzuzufügen. Es würde Zeit und Geduld kosten, aber wenn Abdullah recht hatte, dann wäre das Endergebnis ein digitales Porträt von Intisar. Alif könnte Hollywood so einstellen, dass es jeden Internetbenutzer herausfilterte, der ihren Spezifikationen entsprach, und sie so füreinander unsichtbar machen. Er könnte ihre Bitte erfüllen: Sie würde seinen Namen nie wieder sehen.

»Ein Hijab«, sagte Alif leise. »Ich hänge einen Vorhang zwischen uns. Dina würde sagen, dass es für uns nicht angemessen ist, einander anzusehen.« Dina würde das sagen, er selbst aber nicht – seine eigenen Motive waren lächerlich, und er konnte sie nicht aussprechen. Indem er sich so vollständig vor Intisar versteckte, konnte sie nicht zu ihm zurückkehren, selbst wenn sie wollte, und ihm blieb die Erniedrigung erspart zu wissen, dass sie es niemals versuchen würde.

Alif blinzelte, als helle Flecken am Rande seines Gesichtsfeldes aufblitzten – er hatte zu lange auf den Bildschirm gestarrt. Ihm tat der Kopf weh. Draußen wechselte der Himmel die Farbe; bald würden die Muezzins den Ruf zum Gebet erschallen lassen. Er schaltete den Monitor aus und schob sich vom Tisch weg. Ohne sich auszuziehen, legte er sich, übermannt von einem plötzlichen Anfall von Erschöpfung, ins Bett.

Kapitel Drei

Alif wachte am nächsten Morgen zu den Klängen eines Musikvideos auf, die aus den Lautsprechern an seinem Flachbildschirm schallten. Als er die Augen öffnete, erschien das neueste libanesische Popsternchen, Dania oder Rania oder Hania, auf seinem Bildschirm und räkelte sich auf einem Rosenbett, während sie ihre Lippen zu autotune-perfektionierten Texten über das heftige Verlangen des Pfirsichs nach der Banane bewegte. Alif zupfte am Bund seiner Boxershorts. Ein Klopfen an der Tür stoppte ihn, und er schlurfte hin und öffnete sie gerade weit genug, um von dem Dienstmädchen ein Frühstückstablett entgegenzunehmen.

Er aß an seinem Schreibtisch. Durch den Fußboden konnte er hören, wie seine Mutter in der Küche herumwerkelte und Pfannen aus Schränken holte, um die zweite Mahlzeit des Tages vorzubereiten, bevor sie überhaupt Gelegenheit gehabt hatte, die erste ordentlich zu verdauen. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Alif, die Anzahl der Wochen seit dem letzten Besuch seines Vaters zurückzurechnen. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Als Kind hatte er ungeduldig auf das Erscheinen der Lederschlappen seines Vaters neben der Haustür hingefiebert, die seine Mutter dort in Vorbereitung auf einen längeren Aufenthalt stets hinstellte. Die waren damals noch häufiger. Wenn sein Vater jetzt in der Stadt war, rief er nur noch von der opulenten Wohnung im Neuen Viertel aus an, wo seine erste Frau lebte, eine Wohnung, die er mehrere Male »zu Hause« genannt hatte. Vor Jahren, als es ihm noch etwas ausgemacht hatte, hatte Alif von ihm wissen wollen, warum ihre kleine Doppelhaushälfte im Baqara-Distrikt nicht auch sein »Zuhause« war. Daraufhin hatte frustrierendes Schweigen geherrscht. Es ist euer Zuhause, hatte sein Vater dann diplomatisch geantwortet.

Als er mit Frühstück und Tee fertig war, ließ sich Alif zurück aufs Bett fallen und ergab sich der Lethargie. Durch die Wand konnte er Dina am Telefon reden hören, ihre Stimme wanderte die vertraute Tonleiter auf und ab. Er legte eine Hand auf den sich abblätternden Putz unter seinem Robert-Smith-Poster. Dina war ebenfalls ein Einzelkind – die Überlebende in einer Kette von falschen Hoffnungen: Fehlgeburten, über die sich Alifs Mutter in einem traurigen, bedeutungsvollen Tonfall mit seinem Vater unterhalten hatte, als sie ihn noch bedrängt hatte, ein zweites Kind mit ihr zu haben. Aber Alif, wie Dina, sollte keine Geschwister bekommen – sein Vater hatte bereits Fatima und Hazim und Ahmed, die hellhäutigen Sprösslinge seiner ersten Frau, und weder seine Familie noch sein Geldbeutel tolerierten weitere dunkelgesichtige Störenfriede. Alif fragte sich, ob Dina für ihre Mutter ebenso zu einem leibhaftigen Vorwurf geworden war wie er für seine; ein einsames Zeichen der Fruchtbarkeit, um sie an karge Jahre zu erinnern.

Dinas Stimme hatte aufgehört; ihre Tür öffnete und schloss sich. Alif nahm seine Hand von der Wand. Er erhob sich, weckte seinen Computer auf und machte sich an die Arbeit.

*

Die erste Version von Tin Sari verriet ihm nichts Substantielles. Intisar schrieb E-Mails grundsätzlich auf Arabisch und chattete und twitterte auf Englisch, aber das mochte auf fast jeden in der Stadt zutreffen. Ihre Tastenanschläge variierten zu sehr, als dass man sie nachverfolgen konnte. Wahrscheinlich saß sie an bestimmten E-Mails für längere Zeit, während sie durch andere nur so durchrauschte, je nach Dringlichkeit und Inhalt der Nachricht. Wochenlang blieb sie nicht fassbar und bewies, dachte er bitter, dass Intisar aus feinerem, subtilerem Material gemacht war als das, was seine Programmiersprachen erkennen konnten.

Während die Daten hereinkamen, stellte sich Alif vor, wie sie an ihrem Schreibtisch saß, das dunkle Haar zu einem unordentlichen Knoten gebunden, mit nur einem T-Shirt und Jogginghosen an, und ihren Freunden mailte, um sich zu verabreden, oder über ihrer Abschlussarbeit brütete. Sie hatte dafür recherchiert und daran geschrieben, solange er sie kannte, und sie würde die Al-Bashira-Universität mit den höchsten Ehren verlassen, die für eine Bachelor-Studentin möglich waren. Mit einer solchen Bildung und Abstammung würde sie die perfekte Ehefrau für den Mann abgeben, dessen Namen Alif mit einer Intensität hasste, die ihm Angst machte.

Ohne sie ließ er sich einfach treiben. Sein Leben war wieder auf einen unbequemen Kreis aus Frauen im Haus und Männern außerhalb davon geschrumpft. Auf das Geschnatter seiner Mutter und des Dienstmädchens oder die Zoten, die Abdullah und seine Freunde sich erzählten; alles Dinge, die unbedeutend erschienen im Vergleich zu der Erinnerung daran, wie Intisars Stimme hoch und leise geworden war, wenn er neue Gebiete ihres Körpers erkundet hatte. Seine Arbeit wurde zu einem Vorwurf, zu einer Erinnerung daran, dass er ein Mischling war, unerwünscht, untauglich für jeden gehobeneren oder sichtbareren Beruf. Mit geistesabwesender Effizienz führte er Diagnosen durch, kittete Firewalls und fragte sich, ob diese betäubende Trauer etwas Bleibendes war.

Fast täglich holte er ihren Ehevertrag heraus und sah ihn sich an, und jedes Mal, wenn er das tat, kam er sich albern vor: wie lächerlich zu glauben, dass er etwas bedeutete. Er hatte zu viele ägyptische Filme gesehen und zu viele Bücher gelesen. Die Vorstellung von einer heimlichen Urfi-Heirat hatte ihn mit einer romantischen Begeisterung erfüllt, die jetzt naiv wirkte. Er hatte sich eine Kette märchenhafter Ereignisse vorgestellt: Intisar wäre von ihrem Vater aus dem Haus geworfen worden, mit nichts weiter als den Kleidern, die sie am Leib trug, und Alif hätte ganz männlich die Verantwortung übernommen und sie der liebevollen Fürsorge seiner Mutter übergeben, während er ihren ehelichen Hausstand vorbereitete. Im Laufe der Wochen verkümmerte diese Phantasie, bis es ihm wehtat, sich daran zu erinnern.

Dann meldete Tin Sari etwas, das er nicht erwartet hatte. Eines staubigen Nachmittags, etwas über einen Monat nachdem er eine funktionierende Version des Programms auf Intisars Rechner installiert hatte, erschien, als er gerade einige Zeilen eines fehlerhaften Codes überarbeitete, ein Textfenster auf seinem Desktop.

»Was willst du?«, murmelte Alif ihm zu und klickte auf einen Drop-down-Pfeil. Dieser teilte ihm mit, dass auf dem HP-Etherion-700-Notebook und den dazugehörigen Gerä