All die bösen Taten - Heather Chavez - E-Book

All die bösen Taten E-Book

Heather Chavez

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Beschreibung

Wessen Leben wirst du retten? Du hast die Wahl! Ein mitreißendes Thrillerdebüt um ein perfides Katz- und Maus-Spiel.

Auf dem Weg nach Hause bemerkt Tierärztin Cassie Larkin einen Mann, der eine junge Frau brutal angreift. Sie hält an, und nachdem sie die Polizei gerufen hat, geht sie aller Warnungen zum Trotz dazwischen. Daraufhin stößt der Angreifer eine seltsame Drohung aus: »Lass sie sterben, und ich werde dich am Leben lassen.« Doch das kann Cassie nicht. Während sie dem Opfer hilft, stiehlt der Unbekannte ihr Auto und verschwindet. Jetzt kennt er ihren Namen, ihre Adresse. Er weiß von ihren Kindern ...
Am nächsten Tag verschwindet Cassies Ehemann spurlos. Ein Zufall? Verzweifelt versucht sie, ihn zu finden, und macht eine schockierende Entdeckung. Nichts geschieht so zufällig, wie es zunächst scheint, und plötzlich ist Cassie gezwungen, eine schier unmögliche Wahl zu treffen, um ihre Familie zu retten …

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Auf der Heimfahrt bemerkt die Tierärztin Cassie Larkin einen Mann, der eine junge Frau brutal angreift. Sie hält an, und nachdem sie die Polizei gerufen hat, geht sie aller Warnungen zum Trotz dazwischen. Daraufhin stößt der Angreifer eine seltsame Drohung aus: »Lass sie sterben, und ich werde dich am Leben lassen.« Doch das kann Cassie nicht. Während sie dem Opfer hilft, stiehlt der Unbekannte ihr Auto und verschwindet. Jetzt kennt er ihren Namen, ihre Adresse. Er weiß von ihren Kindern …

Am nächsten Tag verschwindet Cassies Ehemann spurlos. Ein Zufall? Verzweifelt versucht sie ihn zu finden und findet dabei Unglaubliches heraus. Nichts geschieht so zufällig, wie es zunächst scheint, und plötzlich ist Cassie gezwungen, eine schier unmögliche Wahl zu treffen, um ihre Familie zu retten …

Autorin

Heather Chavez ist Absolventin der UC Berkley in Englischer Literatur und hat als Zeitungsjournalistin und Lektorin gearbeitet. Mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Kindern lebt sie in Santa Rosa, Kalifornien. »All die bösen Taten« ist ihr erster Roman.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

Heather Chavez

ALL DIE BÖSEN TATEN

Thriller

Deutsch von Bernd Stratthaus

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »No Bad Deed« bei William Morrow, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Heather Chavez.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Aggie 11; Toluk) und owik2/photocase.de

HK · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25148-2V001

www.blanvalet.de

Für Alex

1

Wären meine Kinder bei mir gewesen, nichts von alldem wäre passiert. Ich wäre im Minivan bei verriegelten Türen und hochgekurbelten Fenstern sitzen geblieben. Genau wie der Notruftyp mich per Telefon angewiesen hatte.

Aber mein Mann Sam hatte die Grippe. Er hatte Audrey schon vor Stunden abgeholt, und Leo war zum Lernen bei einem Freund, also saß ich allein im Van.

Wie ich in tiefer Dunkelheit so vor mich hin fuhr, kam ich mir vor wie ganz allein auf der Welt. Regenschwere Wolken schoben sich vor den Halbmond, noch fielen nur vereinzelte Tropfen, aber bald würden sich die Schleusen öffnen. In der Rushhour wälzte sich in Santa Rosa ein stetiger Strom aus Eltern auf dem Weg zur Grundschule und aus Angestellten auf dem Weg zu ihrem Bürojob über die zweispurige Straße. Jetzt, einige Stunden später, lag die Straße hingegen beinahe verlassen da, was sowohl der Uhrzeit als auch dem Wetter geschuldet war. Widerwillig schaltete ich die Scheibenwischer an.

Nur ein paar Meilen von zu Hause entfernt klingelte mein Handy in meiner Handtasche. Ein Name erschien auf dem eingebauten Display des Minivans: Sam. Über Bluetooth hätte ich den Anruf leicht entgegennehmen können, doch ich ignorierte ihn. Nach einer Zwölfstundenschicht, in der ich mehrere Dollar in Münzen aus dem Magen eines Labradors gefischt hatte, war ich zu erschöpft für den nächsten Streit. In letzter Zeit schienen all unsere Gespräche mit denselben vier Wörtern zu beginnen: Ich liebe dich, aber …

Sam ließ es nur dreimal klingeln, bevor er aufgab.

In der plötzlichen Stille knurrte mein Magen. Es war das dritte Mal diese Woche, dass ich das Abendessen versäumt hatte, dabei war erst Mittwoch. Wahrscheinlich war das auch der Grund für Sams Anruf gewesen.

Ich liebe dich, aber deine Patienten kriegen dich mehr zu Gesicht als ich und unsere Kinder.

Das war ein beliebter Vorwurf.

Ich öffnete den Energydrink, der schon seit Tagen im Getränkehalter steckte, nippte daran und verzog das Gesicht. Wie konnte Leo dieses Zeug nur trinken? Ich war mir ziemlich sicher, dass eine Dose Katzenpisse besser geschmeckt hätte. Trotzdem trank ich ihn halb leer. Koffein war schließlich Koffein.

In einiger Entfernung kam zwischen Eichen und Immergrün das alte Krankenhaus in Sicht. Paulin Creek stieß im Süden an den Campus, dahinter befanden sich nur noch freies Feld und ein Polder. Da das Krankenhaus schon seit Jahren leer stand, hatte niemand einen Grund hier anzuhalten. Und doch glaubte ich zwischen den Gebäuden Bewegung auszumachen. Es prickelte mir kalt im Nacken. Ich schob es auf den Koffeinstoß. Derart abgelenkt, hätte ich beinahe die Gestalt übersehen, die quer über die Straße rannte. Ich zuckte auf meinem Sitz zusammen. Ein Reh? Nein, zweibeinig, also ein Mensch.

Als ich den Arm ausstreckte, um den Energydrink wieder im Getränkehalter abzustellen, zitterte meine Hand, sodass die Dose am Rand der Mittelkonsole hängen blieb. Sie sprang auf den Beifahrersitz, Flüssigkeit lief aus und sammelte sich um meine Handtasche. Für die Schimpfkanonade, die ich losließ, hätte mein pubertierender Sohn Hausarrest bekommen. Ich hielt auf dem Seitenstreifen und zog meine Strickjacke aus, um die Pfütze damit aufzuwischen. Als ich mir dann mit einem Feuchttuch aus dem Handschuhfach die klebrigen Hände abtupfte, sah ich aus dem Augenwinkel einen Fleck neben dem Krankenhauseingang.

Ich kniff die Augen zusammen, um erkennen zu können, was, gerade außerhalb der Reichweite meiner abgeblendeten Scheinwerfer, auf dem Boden lag. Ein Strahl Mondlicht machte die Nacht etwas weniger rabenschwarz, und die Lichter meines Minivans schnitten durch das Geäst und fielen auf den Weg dahinter.

Wahrscheinlich ein Jogger.

Im Regen.

In der Dunkelheit ohne reflektierende Kleidung.

Der instinktgeleitete Teil meines Gehirns lachte mich aus.

Regentropfen prasselten auf die Windschutzscheibe. Ich schaltete das Fernlicht an und konnte jetzt mehr erkennen. Neben der ersten Gestalt gab es noch eine zweite. In der Entfernung wirkten sie ungefähr so groß wie das Brautpaar auf einer Hochzeitstorte.

Ich legte den Gang ein und fuhr langsam vom Seitenstreifen auf den Pfad, der zum Krankenhaus führte, versuchte zu verstehen, was ich sah. Da am nächsten Tag Halloween war, dachte ich zuerst, es könnte sich um zwei Teenager handeln. Welchen besseren Ort gab es für einen Streich als ein Krankenhaus, das verlassen an einem halb bewaldeten Hang lag? Doch beim Näherkommen sah ich klarer. Ein Mann und eine Frau standen in den Lichtkegeln meiner aufgeblendeten Scheinwerfer. Sie stritten. Nein, sie kämpften. Sam und ich stritten miteinander, aber das hier war etwas anderes. Hier gab es geballte Fäuste, Stöße, Wut, und deshalb hatte die dunkelhaarige Frau in der Sporthose auch keine Chance.

Die Frau kauerte sich zusammen, senkte das Kinn und versuchte, sich mit ihren über dem Kopf verschränkten Armen zu schützen. Sie machte sich immer kleiner, während der Mann – kahl und einen guten Kopf größer – das Gegenteil tat.

Ich hielt an, ließ den Motor aber laufen. Meine Finger versuchten unbeholfen, die Notrufnummer zu wählen. Die Frau blickte in meine Richtung, doch der Mann in Jeans und weißem T-Shirt drehte sich nicht zu mir um. Weniger als sechs Meter entfernt, und er zuckte nicht einmal.

»Was ist Ihr Notfall?«, fragte der Mann in der Leitstelle.

Die Stimme ließ mich zusammenfahren, und ich konnte kurz nicht antworten. Ich zitterte, überprüfte noch einmal, dass die Türen auch wirklich verriegelt waren, nannte meinen Aufenthaltsort und beschrieb dann das Pärchen.

»Sie kämpfen«, sagte ich.

»Ist er bewaffnet?«

»Ich glaube nicht.«

»Was tut er jetzt gerade?«

Bevor ich noch etwas entgegnen konnte, hob der Mann die Frau hoch und warf sie mit der Leichtigkeit eines Katers, der mit einer Eidechse spielt, die Uferböschung Richtung Bach hinunter. Einen Moment lang schienen meine Scheinwerfer die Frau gegen den Himmel zu nageln. Dann fiel sie und verschwand jenseits des Gestrüpps am Wegesrand.

Ein plötzlicher Druck senkte sich mir auf die Brust. Die Stimme des Mannes in der Leitstelle, die erst einen Moment vorher noch so laut geklungen hatte, erschien mir nun weit weg und verzerrt. Mir stockte der Atem, und mein Blickfeld trübte sich an den Seiten ein. Der Drang, mich zu verstecken, war überwältigend. Was ich da sah, fühlte sich wie eine Erinnerung an, obwohl das nicht sein konnte. Ich hatte keine derartigen Erinnerungen. Und auf einmal fühlte ich mich in meinem verriegelten Auto ebenso verletzlich wie die Frau draußen. Hatte ich eine Panikattacke oder gar einen Schlaganfall? Mein Mund war trocken und meine Zunge ein nutzloser Klumpen. Ich war nicht mehr sicher, ob der Mann in der Leitstelle mich verstand.

Was zum Teufel ist hier los?, dachte ich.

Der Mann zog etwas aus der Tasche. Ein Handy? Etwas anderes? Dann war er verschwunden, wahrscheinlich ihr hinterher, über den Rand der Böschung.

Ihn verschwinden zu sehen genügte, um mich von dem zu erlösen, was auch immer mir die Sprache verschlagen hatte.

»Er hat etwas in der Hand«, sagte ich.

»Was tut er gerade?« Die Stimme des Mannes am Telefon blieb ruhig, doch ich bekam eine Heidenangst.

»Ich weiß nicht, sie sind nicht mehr hier.«

»Sie haben den Tatort verlassen?«

»Nein, ich kann sie nur nicht mehr sehen.«

Meine Hand senkte sich auf den Türgriff, obwohl ich keineswegs vorhatte auszusteigen.

Als ob der Mann diese Bewegung erahnt hätte, befahl er mir: »Bleiben Sie im Wagen sitzen.«

Ich ballte die Faust um den Griff. Und bevor der Mann noch etwas sagen konnte, steckte ich mein Handy in die Tasche und öffnete die Tür.

Ich bin nicht ganz sicher, warum ich ausgestiegen bin, vielleicht wegen dieses anderen Mädchens, früher. Als ich gerade meine Zwischenprüfung machte, gab es dieses braunhaarige Mädchen in meinem Mikrobiologie-Kurs. Peinlicherweise konnte ich mich nicht an ihren Namen erinnern. Seinen wusste ich noch: Dirk. Dirk kam bei einem bestimmten Typ Mann gut an und auch bei einem bestimmten Typ Frau. Nämlich bei dem Typ, der glaubt, dass Eifersuchtsanfälle und die blauen Flecken danach romantisch sind.

Auf einer Party außerhalb des Campus, auf der der zweite Platz irgendeiner Sportmannschaft gefeiert wurde, hatte Dirk offen das Mädchen, dessen Name mir nicht mehr einfiel, über eine Stunde lang wüst beschimpft. Er war nicht ihr Freund, wäre es aber gern gewesen, und bis zu diesem Abend hatte sie es sich vielleicht ebenfalls gewünscht. Dann hatte er sie grob angepackt. Sie geschubst. Als er sie schließlich geohrfeigt hatte, hatte lediglich ein Typ Dirks Arm festgehalten. Doch selbst der hatte Dirk nicht daran gehindert, der jungen Frau aus dem Zimmer zu folgen.

Nur Minuten später stürzte sie über das Balkongeländer. Sie brach sich einen Arm und einige Rippen und hätte sich wohl auch den Schädel gebrochen, wenn nicht eine Hecke ihren Sturz abgefedert hätte, bevor sie auf dem Asphalt aufschlug. Niemand hatte allerdings mitbekommen, ob Dirk sie gestoßen hatte.

Vielleicht war es die Erinnerung an dieses Mädchen, die mich nun aussteigen ließ, vielleicht lag es aber auch nur daran, dass ich oft unbedachte Dinge tat.

Mein Herz überschlug sich. Keine fünf Meter entfernt, auf der Hälfte zwischen dem Wegesrand und dem rauschenden Wasser, stand der Mann über die Frau gebeugt. Die Hand hatte er um ein Springmesser geschlossen. Ein Messer. Er hatte ein Messer.

Mir fiel nicht ein, wie ich ihr außer mit dem Notruf, den ich abgesetzt hatte, noch hätte helfen können. Meine letzte Prügelei war zwanzig Jahre her, und selbst damals war ich nicht so blöd gewesen, es mit einem Kerl aufzunehmen, der doppelt so groß war wie ich.

Während sich der Ärger des Mannes wie von selbst abspulte, entschied sich sein Opfer für die Verteidigung, die häufig angewandt wird: Sie erschlaffte, bewegte sich nicht mehr. Ihre Nase blutete.

Ich schluckte und rief ihm zu, er solle aufhören – die Wut, die in mir aufstieg, machte mich leichtsinnig.

Falls der Mann sich von meinem unvermittelten Auftauchen bedroht fühlte oder sich dessen überhaupt nur bewusst war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er streckte die Arme nach der Frau aus, seine Hände packten sie am Sweatshirt. Dann zerrte er sie zu sich, so heftig, dass ihre Brust gegen seine schlug. Das Messer befand sich nun gefährlich nah an ihrer Wange. Ich stand immer noch sehr viel näher bei meinem Van als bei dem Angreifer und riskierte einen Schritt vorwärts. »Die Polizei ist unterwegs.« Es hätte eigentlich bedrohlich klingen sollen, doch das Zittern in meiner Stimme verriet mich.

Der Mann sah auf und starrte mich an, durch mich hindurch, Regen rann ihm in einer glatten Linie von der Kopfhaut zum Stoppelkinn. Den Kiefer hatte er vorgeschoben, und in seinem Blick lag etwas Vages, Entrücktes. In diesem Moment wirkte der Mann vor mir kaum noch menschlich. Er war ein Tier, sein Körper war angespannt, sein Atem ging stoßweise.

»Sie sollten gehen«, sagte er.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte ich, auch wenn mir unvermittelt Gedanken an Leo und Audrey durch den Kopf schossen. Obwohl ich nicht näher ging, konnte ich die Frau auch nicht einfach ihm überlassen. Meine Hand sank an meine Hosentasche und zu meinem Telefon darin.

Der Mann wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Opfer zu, doch seine Stimme dröhnte bis zu mir. »Wen lieben Sie?«, fragte er. Obwohl er dabei die Frau ansah, ließ mich die Tatsache, dass er lauter sprach, vermuten, dass die Frage an mich gerichtet war. Das verblüffte mich – nicht nur seine Worte, so unpassend sie in diesem Zusammenhang auch sein mochten, sondern seine Stimme selbst, in der kein bisschen von dem Hass lag, der sein Gesicht verzerrte.

Der Mann ließ sein Opfer zu Boden fallen und hielt es dort mit seinem matschigen Stiefel fest. Dann wandte er den Kopf, um zu mir aufzusehen. »Ihr Leben ist schon total am Arsch. Sie wissen es nur noch nicht.« Diesen Kommentar unterstrich er mit einem Tritt gegen den Oberkörper der Frau. Dann kauerte er sich hin und positionierte die Klinge so, dass sie abwärts wies, auf sein liegendes Opfer.

Ich versuchte mich an das zu erinnern, was ich über den Umgang mit aggressiven Tieren wusste. Wenn sonst nichts half, sollte man einen angreifenden Hund gegen den Hals, die Nase oder den Hinterkopf treten. Sich nach einer Waffe umsehen. Knochen brechen. Ich wusste, wenn es so weit kommen würde, wäre ich diejenige, die zu Bruch gehen und wahrscheinlich erstochen würde. Ich hob einen Stein auf und wog ihn in der Hand. Ich warf, doch in meinem Wunsch, der Frau weitere Verletzungen zu ersparen, verfehlte ich den Mann um einige Meter, der Stein wurde von nassen Blättern verschluckt.

Ich glitt ein wenig weiter den Weg hinab – hielt immer noch Sicherheitsabstand – und hob einen weiteren Stein auf.

»Tun Sie das nicht«, sagte ich dann.

Daraufhin lachte er, doch seine ganze Aufmerksamkeit galt der Frau.

Ich warf also auch den zweiten Stein, der ihn an der Wange streifte. Mit dem Handrücken rieb er sich einmal kurz über diese Stelle, konzentrierte sich ansonsten aber weiter auf sein Opfer. Seine Schultern spannten sich an. Die Frau wehrte sich mit frischem Eifer, erkannte anscheinend verspätet, dass, egal welche emotionale Bindung einmal zwischen ihnen bestanden haben mochte, diese sie jetzt nicht retten würde. Seine Wut würde nicht verrauchen. Er hatte tatsächlich vor, das Messer zu benutzen.

Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich für jede meiner Aktionen bewusst entschieden: anzuhalten, den Notruf zu wählen, auszusteigen, die Steine zu werfen. Doch als der Mann nun das Messer hob, kehrte die unerklärliche Panik zurück, die mich schon im Van ergriffen hatte, und meine Lunge pumpte in heißen, raschen Atemzügen. Im Zwielicht sah ich etwas, das nicht da war – eine weitere Frau, eine andere Zeit, eingebildet, aber genauso real wie der Regen und der Schlamm und das Blut, das durch meine Ohren rauschte.

Ich hatte nicht geplant, mich noch direkter einzumischen – zumal meine Kinder tief in meinen Gedanken verwurzelt waren –, doch ich stolperte und rutschte die Böschung hinab. Ich war ebenso überrascht wie der Mann, als ich gegen ihn taumelte, mein Kurs war eine Kombination aus Ungeschicklichkeit und glücklichem Zufall. Die Klinge, die eigentlich für den Brustkorb der Frau gedacht war, streifte stattdessen meinen Arm. Sie hinterließ kaum einen Kratzer, aber ich schrie auf, machte ein Geräusch, das ich schon oft bei Tieren gehört hatte, das sich aus meiner eigenen Kehle aber unvertraut anhörte. Er ließ das Messer los, und es fiel ins Wasser.

Ich kippte rückwärts in den sumpfigen Bachlauf. Meine Wahrnehmung wurde so glitschig wie der Regen auf den Steinen, mein Herz hämmerte wie Donnerschläge in meiner Brust. Die Frau neben mir lag reglos da, das Gesicht des Mannes war verzerrt vor wütender Entschlossenheit.

Dann hielt er unvermittelt inne. Er kauerte sich neben mich und packte meinen Kopf mit beiden Händen. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, während er mich musterte. Ich zweifelte nicht daran, dass er mir mit einer einzigen Bewegung das Genick brechen konnte. »Warum zum Teufel tun Sie das?«, fragte er dann. »Wer sind Sie?«

Er war mir jetzt so nahe, seine Stimme dröhnte so laut, dass mir die Ohren klingelten. In diesem Augenblick bemerkte ich einen Fleck auf seinem T-Shirt, der eventuell Blut sein konnte.

Ich wollte ihm erklären, dass ich mich nicht absichtlich eingemischt hatte, dass alles nur ein Versehen gewesen sei, doch die Worte wollten mir einfach nicht über die Lippen kommen. Er streckte die Hand aus und packte mich bei den langen roten Haaren, die er sich locker um die Finger wand. Er zog daran, zog mein Gesicht noch weiter zu sich heran.

Dann – endlich, Gott sei Dank – hörte ich die Sirenen.

Eine weitere Sekunde lang musterte er mich und ich ihn: breite Nase mit einem Höcker auf dem Rücken, das linke Ohr verschrumpelt und in sich geknickt, ein weißer Wurm aus Narbengewebe, der verhinderte, dass sein Bart an dieser Stelle des Kiefers wuchs. Es war ein Mann, der gern kämpfte, und zwar nicht nur mit Frauen, die halb so groß waren wie er.

Es schien ihm nichts auszumachen, dass ich in der Lage sein würde, ihn zu identifizieren, gegen ihn auszusagen.

»Lassen Sie sie sterben, dann bleiben Sie am Leben«, sagte er. Er stieß mit der Schuhspitze gegen die Frau. »Die Wahl ist nicht allzu schwer. Sie ist dem Tod schon nah genug.«

Dann, bevor ich noch verstand, was er tat, sprang er mit großen Sätzen davon, die Böschung hinauf und zur Straße, wo ich so hilfreich den Zündschlüssel in meinem Minivan hatte stecken lassen.

Er würde mein Auto als Erster erreichen. Mein Fahrzeugschein. Meine Handtasche. In wenigen Augenblicken würde er meinen Namen und meine Adresse kennen. Sowie die Namen meines Mannes und meiner Kinder.

2

Meine erste Untersuchung des Opfers am Straßenrand war kurz, der Mond spendete nur sehr wenig Licht. Ich musste nah an sie heran, um ihren Atem zu hören – er war nur ein Hauch auf meiner Wange –, und auch ihr Puls war schwach. Kein Stöhnen. Kein Jammern. Selbst als die Notfallsanitäter sie auf die Bahre hoben, gab sie keinen Ton von sich.

Eine halbe Stunde nachdem der Krankenwagen sie weggebracht hatte, wartete ich immer noch darauf, dass die Polizei mich gehen ließ. Der Regen war zu Nebel geworden. Trotzdem klebte mein Haar an meinem Gesicht, und mein T-Shirt war durchnässt. Ich hätte meine Strickjacke wohl besser nicht benutzen sollen, um im Auto das verschüttete Getränk aufzuwischen.

»Sind Sie sicher, dass Sie keine Jacke haben wollen?«, fragte der Officer erneut. Ich musste auf sein Namensschild schauen, um mich zu erinnern, wie er hieß: Willis. Dadurch wurde meine Aufmerksamkeit auf die Bodycam gelenkt, die die letzte halbe Stunde über alles aufgenommen hatte. Diese Kamera ließ mich meine Antworten hinterfragen, und ich wunderte mich, ob meine Stimmlage oder meine Körperhaltung später eventuell als Schuldeingeständnis gedeutet werden konnten.

»Mir ist nicht kalt«, erwiderte ich. Und das stimmte auch. Durchnässt war ich zwar, aber ich fror nicht. Meine Nerven fühlten sich taub an und meine Kleider so warm wie Badewasser. Wahrscheinlich war das nicht normal.

Ein Mann kam von der Straße her auf mich zu, nachdem er sich mit der Polizistin unterhalten hatte, die das Erstgespräch mit mir geführt hatte. Der Neuankömmling trug eine graue Anzughose, die trotz der späten Stunde noch immer eine Bügelfalte aufwies, ein Hemd, das so weiß war, dass es das Mondlicht reflektierte, und eine Krawatte mit dunkelrosa Streifen.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Officer Willis zu und faltete die Hände, damit sie nicht mehr zitterten. »Wie geht es meiner Familie?«

Im Kopf ging ich all die persönlichen Gegenstände durch, die sich im Van und meiner Handtasche befunden hatten: Leos Fußballfotos, eine Nachricht von Audreys Grundschullehrerin, Audreys Medikamente und schließlich noch der Fahrzeugschein, auf dem mein Name und unsere Adresse standen.

Der Mann war nun im Besitz all dieser Dinge.

»Haben Sie schon mit meinem Mann gesprochen?«

Officer Willis nickte und zeigte dann auf meinen Arm. »Das sollten wir besser untersuchen lassen.«

Meine Hand schoss zu dem Kratzer, den das Messer des Mannes verursacht hatte. »Mir geht’s gut«, versicherte ich. »Was haben Sie Sam gesagt?«

»Wir haben ihm mitgeteilt, dass Ihr Van gestohlen wurde, Sie aber in Sicherheit sind.«

»Und geht es ihnen gut? Sam? Den Kindern? Ist noch eine Streife bei ihnen?«

»Es ist noch ein Streifenwagen dort, und Ihrer Familie geht es gut.«

Ich ließ nicht locker. »Haben Sie das kürzlich überprüft?« Unser Haus war kaum eine Meile entfernt. Weniger als zwei Minuten, selbst wenn man sich ans Tempolimit hielt.

»Ihrem Haus wird er sich nicht nähern.«

Ich drehte mich zu dem Mann um, der gerade gesprochen hatte: dem Detective mit der ordentlich gebügelten Hose und dem weißen Hemd. Nun, da er näher gekommen war, bemerkte ich, dass das, was ich für Streifen auf der Krawatte gehalten hatte, tatsächlich Speckscheiben waren.

»Cassie Larkin? Detective Ray Rico.« Er überragte mich nur um wenige Zentimeter, sein gebräuntes Gesicht war so breit wie sein Lächeln. Er hatte schwarze Haare, die dunklen Augen waren von Falten umgeben. Ich erwartete eigentlich, dass er mir zur Begrüßung die Hand entgegenstrecken würde, aber das tat er nicht.

»Immer wieder die gleichen Fragen, nicht wahr?«, sagte er. Es war zwar keine richtige Entschuldigung, kam dem aber nahe. »Sie wollen sicherlich schnell nach Hause. Willis, bitte bringen Sie Dr. Larkin etwas zum Überziehen.«

Die Möglichkeit abzulehnen gab es nicht, als der Officer mit einem Sweatshirt zurückkehrte, nahm ich es entgegen.

»Wenigstens hat der Regen nachgelassen«, sagte Detective Rico.

Meine Jeans war vollkommen durchnässt, und meine Füße standen in den Turnschuhen im Wasser. »Ja, das ist gut.«

Er schaltete ein Aufnahmegerät ein und schlug sein Notizbuch auf. Außerdem hatte er noch ein Blatt Papier dabei, allerdings konnte ich nicht erkennen, was darauf stand. »Erzählen Sie mir noch mal der Reihe nach, was passiert ist.«

Als ich meinen Bericht beendet hatte, nickte Rico knapp. »Es war wirklich … tapfer von Ihnen auszusteigen.« Ich hatte schon damit gerechnet, dass er »dumm« sagen würde. Und ich hätte ihm nicht widersprochen.

»Das hätte doch jeder getan.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.« Rico warf einen Blick auf seine Notizen. »Sie kannten ihn aber nicht, richtig?«

»Nein.«

»Er war kein Patient oder ein Elternteil eines Freundes Ihrer Kinder?« Als ich den Kopf schüttelte, bohrte er nach: »Da sind Sie sich sicher?«

Ich konnte mich an das wutverzerrte Gesicht des Mannes erinnern und daran, wie er scheinbar mühelos die Frau die Böschung hinabgeworfen hatte. »Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen.«

»Würden Sie ihn wiedererkennen?«

Als ich nickte, streckte Detective Rico mir das Blatt Papier entgegen, das er in der Hand hielt, zunächst noch umgedreht. »Ich zeige Ihnen jetzt ein paar Fotos.«

Dann drehte er es um. Darauf waren Fotos von sechs Männern, alle weiß, alle kahlköpfig oder mit schütterem Haar, alle zwischen Ende vierzig und Ende fünfzig.

»Der Verdächtige ist vielleicht nicht unter denen hier«, sagte Rico ausdruckslos. »Sie müssen also niemanden identifizieren.«

Ich strich mir eine feuchte Haarsträhne aus den Augen, und mein Herz blieb stehen. Es hätte nicht deutlicher sein können, wenn das Foto von einem Ring aus Feuer umgeben gewesen wäre. Dort, in der mittleren Reihe, war der Mann mit der wulstigen Narbe am Kiefer und der früher einmal gebrochenen Nase.

»Das ist er.« Mein ausgestreckter Finger zitterte fast ebenso sehr wie meine Stimme.

»Sind Sie sicher?«

»Vollkommen.«

Rico reichte mir einen Stift und bat mich, das Foto zu markieren, das ich identifiziert hatte. Dann ging er kurz weg, und als er wiederkam, fragte er: »Sagt Ihnen der Name Natalie Robinson etwas?«

Ich schüttelte den Kopf. »Heißt das Opfer so?«

Die Augen des Detective waren grau wie Granit. »Was ist mit Anne Jackson?«

»Nein. Wer ist Anne Jackson?«

Detective Rico gab keine Antwort. Er nickte und kritzelte etwas in sein Notizbuch, dann zeigte er auf meinen Arm. »Erzählen Sie mir noch mal, wie Sie sich den Schnitt zugezogen haben.«

Bei Erwähnung der Wunde wurde mir bewusst, dass sie pochte. »Er hat versucht, sie zu erstechen, hat stattdessen aber mich erwischt. Es ist nur ein Kratzer.«

»Carver Sweet ist groß und kräftig.«

Mein Herz wummerte gegen meinen Brustkorb. »Sie wissen, wer er ist?«

»Jetzt, wo Sie ihn identifiziert haben, schon.« Sein Gesicht blieb ohne Emotion. »Also, Carver Sweet ist ein Riese und hatte ein Messer. Sie haben Kinder und hatten schon den Notruf alarmiert. Warum noch eine direkte Konfrontation riskieren?«

Ich erinnerte mich, wie ich in meinen Turnschuhen an der Böschung abgerutscht war, das Gebüsch gegen meine Knie gepeitscht hatte und ich auf Steinen und Zweigen Gefahr gelaufen war, mir den Knöchel zu verstauchen. Wie zerbrechlich ich mich gefühlt hatte, als ich gegen ihn gestoßen war. »Ich bin ausgerutscht.«

»Sie sind ausgerutscht?«

»Ich hatte keinen Halt auf dem Hang, der Boden war nass.«

Rico starrte mich an und sagte lange nichts. Es erinnerte mich an die Gelegenheiten, wenn ich mit Kunden sprach, die Tiere mit ungeklärten Verletzungen oder Anzeichen von Unterernährung zu mir brachten. So sprach man mit jemandem, wenn man vermutete, er könnte lügen.

Rico blickte noch einmal in sein Notizbuch. »Sie haben ausgesagt, Carver Sweet könnte Blut auf seinem Shirt gehabt haben. Wann ist Ihnen das aufgefallen?«

»Gegen Ende.«

»Wann haben Sie denn bemerkt, dass das Opfer blutete?«

Die Fragen des Detective ließen mich alles infrage stellen, was ich getan hatte, um die Frau zu retten. Hatte ich dreißig Sekunden zu lange gewartet, bevor ich die Notrufnummer wählte? Nachdem der Angreifer dann geflohen war, hatte ich ihre Blutung nicht schnell genug gestillt? Hatte ich der Polizei gegenüber irgendein Detail unerwähnt gelassen, das zu Carver Sweets Verhaftung führen konnte? Ich drängte diese Bedenken beiseite, doch als ich Rico wieder ansah, dämmerte mir etwas Neues: Würden meine verzögerten Antworten als Berechnung missinterpretiert werden?

»Ich habe bemerkt, dass sie blutete, nachdem er sie die Böschung hinuntergeworfen hat. Aus der Nase.« Hatte es vielleicht noch andere Verletzungen gegeben? Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern.

»Als Sie angehalten haben, hat sie also noch nicht geblutet?«

»Ich glaube nicht.«

»Sie glauben nicht?«

»Sie hat nicht geblutet.« Oder hatte sie doch? Je länger die Befragung dauerte, desto schwankender wurde meine Gewissheit, und ich fragte mich, ob der Detective mich absichtlich aus dem Konzept brachte.

»Hatte er das Messer noch nicht hervorgezogen? Als sie noch auf dem Weg standen?«

»Nein.« Aber schon als ich antwortete, war ich mir plötzlich sicher, dass ich irgendeine Verletzung übersehen hatte, etwas, was meine Geschichte infrage stellen würde. Ricos Gekritzel dauerte einige Sekunden, das Kratzen des Stifts auf dem Papier zerrte an meinen Nerven.

»Wird sie wieder gesund?«, fragte ich.

Der Detective sah mit gerunzelter Stirn und vagem Blick auf. »Die Frau, die er angegriffen hat?«

»Natürlich.« Wem sonst hätte die Frage denn gelten können?

»Ich weiß nicht.« Er blätterte eine neue Seite seines Notizbuchs auf. »Haben Sie irgendwelche anderen Fahrzeuge an der Straße bemerkt?« Als ich den Kopf schüttelte, erklärte er: »Wir haben eine halbe Meile von hier zwei Autos gleich neben der Straße gefunden. Ein Unfall. Wenn Sie ein Stück weitergefahren wären, hätten Sie sie gesehen.«

»Wenn er sie von der Straße abgedrängt hat, war das kein Zufall.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Die Frage des Angreifers hallte noch ganz frisch in meinen Ohren nach: Wen lieben Sie? Und dann, fast das Letzte, was er gesagt hatte: Lassen Sie sie sterben, dann bleiben Sie am Leben.

»Es hat so gewirkt, als wäre es was Persönliches.«

Rico dachte darüber nach. »Ich hab mal einen Typen verhaftet, weil er einen anderen Autofahrer mit einem Baseballschläger verprügelt hatte«, sagte er dann. »Anschließend ging er auf das Kind des Mannes los. Alles nur wegen einer verbeulten Stoßstange, weniger als tausend Dollar Schaden. Wissen Sie, der Mann mit dem Baseballschläger hatte am Vortag seinen Job verloren, und dann hat ihm irgendein Lexus an einer Ampel die Vorfahrt genommen. Der Chef, der ihn gefeuert hatte, fuhr auch einen Lexus.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Jedes Verbrechen ist was Persönliches, sogar die mit zufälligen Opfern.« Rico presste den Mund zu einem Strich zusammen. »Sie sagen, Sie hätten den Mann nicht gekannt, aber kannten Sie vielleicht sein Opfer?«

»Ich habe keinen von beiden jemals vorher gesehen.« Erst nach meiner Antwort fielen mir seine ersten beiden Worte auf: Sie sagen. Als zweifelte er meine Aussage an.

»Sie sagen also, Sie sind direkt von der Arbeit gekommen?«

Schon wieder. »Ja.«

»Und wann sind Sie dort losgefahren?«

»Kurz nach zehn.«

»Kann das irgendwer bezeugen?«

»Ich war die letzte Stunde über allein, aber davor, sicher.«

»Gibt es in Ihrer Praxis irgendwelche Überwachungskameras?«

»Nein.«

Der Regen, der meine Kleidung durchnässt hatte, war inzwischen durch das geliehene Sweatshirt gekrochen, die Kälte sickerte schließlich in meine Haut ein. Ich begann zu zittern.

»Hat die Zahl Drei irgendeine Bedeutung für Sie?«

Ich musterte ihn, doch er verbarg seine Gedanken gut. »Nein? Wieso?«

»Da ist nur etwas, das einer der Officer gefunden hat. Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten.« Rico kritzelte noch etwas in sein Notizbuch und lächelte dann gezwungen. »Sieht aus, als hätte jemand Ihr Auto auf dem Parkplatz eines Supermarkts entdeckt, bald wissen wir also mehr«, sagte er. Dann erlosch sein Lächeln wieder, und sein Blick wurde ernst. »Vorhin habe ich Ihnen versichert, dass Carver Sweet Ihrem Haus nicht nahe kommt, und das habe ich auch so gemeint. Aber Sie müssen trotzdem vorsichtig sein. Sie sind eine Gefahr für ihn.«

Der Detective gab mir seine Karte und rief dann Officer Willis zu uns, damit er mich heimfuhr. Als der Detective sich entfernte, wischte er sich wie angeekelt die Handflächen an der Hose ab.

3

Wir wohnten in einem kleinen Haus im Ranch-Stil in Lomita Heights, einer Siedlung aus den frühen 1960ern. Wir waren vor sechzehn Jahren hier eingezogen, als ich gerade mit Leo schwanger war. Damals war ich mit riesigem Bauch immer den leichten Anstieg hinaufgelaufen und einmal auf dem Gehweg nach hinten umgekippt.

Okay, vielleicht auch mehr als einmal.

Jetzt fühlten sich meine Beine genauso wackelig an, und als ich mich dem Haus näherte, fiel mir ein, dass ich keinen Schlüssel mehr hatte.

Nachdem er mich nach Hause gebracht hatte, war Officer Willis noch so lange geblieben, bis ich an der Tür stand. Leo hatte das Gesicht schon an die Ritzen der Jalousie gequetscht, zerzaustes Haar, trüber Blick, den Mund zu einer finsteren Grimasse verzogen. Trotz der Tatsache, dass er mich jetzt, mit fünfzehn, schon um fünfzehn Zentimeter überragte, war er doch auch noch immer das Bündel, das ich diesen Hügel hinauf- und hinabgetragen hatte. Wie damals warf mich die Last, seine Mutter zu sein, aus der Bahn.

Er öffnete die Eingangstür. »Was zum Teufel ist los, Mom?« Eine zerknautschte Decke auf dem Sofa zeigte, dass er auf mich gewartet hatte. Ich wusste, dass er mehr aus Neugier denn aus Sorge aufgeblieben war, aber ich drückte ihn dennoch fest an mich. »Die Polizei war hier und wollte mit Dad sprechen, und jetzt hat dich ein Bulle heimgebracht? Wo ist der Van?«

»Gestohlen.«

»Echt? Wissen sie, wer ihn geklaut hat?«

»Ja. Ich krieg ihn bald wieder.« Ich spulte meine Standardablenkung ab: »Hast du Hunger?«

Leo hatte erst vor einer Stunde gegessen, also wollte er natürlich ein Sandwich. Ich machte zwei, Truthahn für ihn, vegetarisch für mich. Von der Anspannung rumorte mein Magen, aber ich zwang mich trotzdem, das halbe Sandwich zu essen, bevor ich mir eine Handvoll Batterien aus der Schublade nahm und sie in die Tasche steckte. Nachdem Leo gegessen hatte und wieder ins Bett gegangen war, und nachdem ich die Verriegelung an seinem Fenster überprüft hatte, sah ich auch noch nach der schlafenden Audrey. Der Pony klebte ihr an der Stirn. Wie üblich hatte meine Schulanfängerin darauf bestanden, unter einem Berg von Decken einzuschlafen. Ich nahm alle bis auf eine weg und küsste sie auf die verschwitzte Wange, dann befühlte ich ihre Stirn. Feucht, aber nicht fiebrig. Sie hatte sich noch nicht bei ihrem Vater mit der Grippe angesteckt.

Ich zog das alte Babyfon aus Audreys Schrank, auf dem sich seit einigen Jahren der Staub angesammelt hatte, und tauschte die Batterien gegen die in meiner Tasche aus. Es funktionierte noch. Das Empfangsgerät nahm ich mit.

Als ich schließlich vor dem Schlafzimmer stand, holte ich tief Luft, machte mich auf einen Streit gefasst und öffnete die Tür. Sam saß in seiner Pyjamahose im Bett. Mein Mann hatte den schmalen Körperbau eines Akademikers, und seine gerötete Nase hob sich von der blassen Haut ab. Außerdem war er schön. Das sagte man vielleicht nicht über einen Mann, aber es stimmte: Lächeln mit Grübchen, strubbeliges Haar, das zum Hineingreifen einlud, dichte Wimpern, die unsere Kinder zum Glück geerbt hatten. Meine eigenen Augen waren mit Stummelwimpern bestückt, die man nur durch das Wunder einer Volumen gebenden Wimperntusche überhaupt sehen konnte.

»Ich wäre rausgekommen, aber ich dachte, du willst ein bisschen Zeit mit Leo«, sagte er. Ich meinte einen Vorwurf in seinem Kommentar zu hören. Das schien er zu spüren, denn er hielt inne und sprach dann leiser weiter. »Sag mir, was passiert ist.«

Ich stellte das Empfangsgerät auf die Kommode neben ein Fläschchen Erkältungsmedizin und berichtete ihm alles – fast. Ich beschrieb ihm die Begegnung mit dem Paar und die beiläufige Art, in der der Mann die Frau die Böschung hinabgeworfen hatte. Ich erzählte ihm von dem Verhör durch den Detective und dass ich den Eindruck gewonnen hatte, dass Rico mir irgendeine wichtige Information vorenthielt. Aber ich verschwieg Sam die Panikattacke im Van und übersprang auch die Details meiner Geschichte, die mich übermäßig leichtsinnig erscheinen ließen. Ich wollte diese vier Wörter nicht schon wieder hören: Ich liebe dich, aber …

Ich liebe dich, aber du hättest vorsichtiger sein sollen.

Während ich berichtete, zog ich mich aus. Meine Kleider waren schlammverschmiert, und ich zog mir eins von Sams Schlafshirts über. Er beobachtete mich, und meine Nerven knisterten unter meiner Haut. Ich schob es auf die Stresshormone.

Als ich fertig gesprochen hatte, seufzte Sam, und seine Brust rasselte vor Anstrengung. »Cassie.« Es war teils Anklage, teils Besorgnis.

Er stand auf, verschwand im Badezimmer und kam mit dem Erste-Hilfe-Koffer zurück. Dann schaltete er das Licht an, bevor er sich neben mich aufs Bett setzte.

»Lass mich mal sehen«, sagte er und zeigte auf meinen Arm. Es war nur ein Kratzer, aber ich streckte ihm den Arm entgegen. Als er die Augen zusammenkniff, um besser sehen zu können, reichte ich ihm seine Brille vom Nachttisch.

»Ich bin gerade ein bisschen sauer auf dich«, sagte er, und der Virus verlieh seiner Stimme einen heiseren Ton. Er legte mir ein Kissen auf den Schoß und bettete sanft den Arm darauf, dann machte er sich daran, die Wunde mit einem sterilen Tuch zu säubern.

»Du bist sauer?«

Er zog eine Tube mit desinfizierender Salbe aus dem Koffer. »Ja, sauer. Warum hast du dein Leben so leichtfertig aufs Spiel gesetzt?« Sanft tupfte er die Salbe auf meinen Arm. »Die Kinder …«

Ich wich zurück, als hätte er mich weggestoßen. »Ich habe an die Kinder gedacht«, sagte ich. Jede meiner Entscheidungen wurde jeden Tag von mir unter dem Blickwinkel der Mutterschaft geprüft. »Was für eine Mutter wäre ich denn, wenn ich die Tochter eines anderen Menschen einfach im Stich lassen würde? Außerdem hättest du dasselbe getan.«

Als Sam aufsah, war sein Blick hinter dem schwarzen Rahmen seiner Brille durchdringend, und mir stockte der Atem. »Es geht nicht nur um die Kinder.«

»Das weiß ich doch.«

Er verpflasterte meine Schnittwunde und legte den Erste-Hilfe-Koffer und seine Brille dann auf den Nachttisch. »Wenn du das nächste Mal einen Mann mit einem Messer siehst, steig einfach nicht aus.«

»Du hörst dich an wie der Mann in der Leitstelle.«

»Versprich es mir.« Seine Stimme bebte mit mehr Dringlichkeit, als ich nach siebzehn Jahren Ehe erwartet hätte.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir so was noch mal passiert.« Als er mich finster anblickte, fügte ich hastig hinzu: »Aber ich versprech’s dir trotzdem.«

Sams Lippen öffneten sich, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch stattdessen beugte er sich über mich und schaltete die Nachttischlampe aus.

Wir legten uns hin. Im Dunkeln rasselte sein Atem, und ich passte mich seinem Rhythmus an, um meinen eigenen wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich streckte mich nach ihm aus, und meine Finger streiften seinen Rücken, als er sich gerade von mir weg- und zur Wand umdrehte. Durch die Erkältungsmedizin brauchte er nur wenige Minuten, bis er einschlief.

Es wird noch andere Nächte geben, dachte ich mit der Gewissheit einer seit Langem verheirateten Frau.

Als ich dann so dalag und dem Babyfon lauschte, als die Dunkelheit immer erdrückender wurde, erschien mir die Stille, die mich normalerweise beschwichtigte, wie eine bedrohlich lauernde Kreatur. Später fragte ich mich, ob mich damit einfach nur meine Intuition vor dem hatte warnen wollen, was folgen sollte – dem, was tatsächlich bereits begonnen hatte.

4

Nachdem ich von großen Insekten, einem noch größeren Mann und Wiegen voller Schlamm geträumt hatte, wachte ich benommen und mit Kopfschmerzen auf. Als ich mich zur anderen Bettseite ausstreckte, waren Sams Laken kalt.

Ich tastete nach meinem Handy auf dem Nachttisch und stöhnte auf, als ich sah, wie spät es war. Nach einer unruhigen Nacht war ich anscheinend gerade rechtzeitig eingenickt, um zu verschlafen. Mir den Wecker zu stellen war am Vorabend kein vordringliches Anliegen gewesen.

Als meine Füße den Teppich berührten, sah ich ein kupfernes Glänzen am Bettrand. Ich streckte die Hand nach dem Gegenstand aus, der meine Aufmerksamkeit erregt hatte und der gar nicht aus Metall war, sondern aus Papier. Ich legte ihn in meine Handfläche und betrachtete ihn. Es war ein Origamihund, nicht größer als eine Visitenkarte. Ich nahm an, dass er vom Nachttisch gefallen war.

Der Papierhund mit den gefalteten Ohren und den winzigen Beinchen brachte mich zum Lächeln. Er erinnerte mich daran, wie mein Verhältnis zu Sam früher gewesen war, als er mir noch ständig Geschenke wie dieses an unerwarteten Orten hinterließ: eine Mosaikfliese auf der hinteren Veranda oder eine Skizze auf meinem Armaturenbrett. Einmal hatte er auf dem Küchentresen aus verschüttetem Kaffeemehl eine erstaunlich detailreiche Landschaft modelliert.

Es war eine Weile her, dass Sam ein Kunstwerk für mich geschaffen hatte, auch wenn es nur etwas so Einfaches wie ein Hund aus gefaltetem Papier war. Zu beschäftigt, behauptete er. Wir waren beide zu beschäftigt – für Kunst, für Sex, für alles neben den Bedürfnissen unserer Kinder, seiner Schüler, meiner Patienten.

Mein Lächeln verebbte. Ich stellte den Origamihund auf meinen Nachttisch. Dann stand ich auf, klebte ein frisches Pflaster auf meinen Kratzer und folgte den Geräuschen in die Küche. Ich blieb auf der Schwelle stehen und sah einfach zu, es dauerte aber nur eine Sekunde, bis ich entdeckt wurde. Leo trug Kopfhörer und eine finstere Miene. Rasch stand er auf: »Dad hat gesagt, wir sollen dich schlafen lassen.«

Bevor er noch mehr sagen konnte, blieb er mit dem Rucksack an der Plastikschüssel hängen, in der Sam die Eier verquirlt hatte. Sie fiel klappernd zu Boden, und ihr Inhalt verteilte sich auf die Küchenschränke. Unser Chihuahua-Mischling Boo flitzte heran, um die schleimige Pfütze zu begutachten. Er nieste, als er ein bisschen Ei einatmete, und Sam stupste den Hund mit dem Fuß beiseite.

Ich schnappte mir eine Rolle Küchentücher vom Tresen und wischte die Sauerei auf, während Sam eine neue Schüssel und weitere Eier holte. Dann wandte ich Audrey meine Aufmerksamkeit zu, die auf einem Hocker am Tresen saß: »Hast du deine Medizin genommen, Peanut?«

Bevor sie antworten konnte, zog Leo einen seiner Kopfhörer heraus: »Ich muss zur Schule.«

»Einverstanden, Schule ist wichtig.«

Leo rollte mit den Augen. »Ich meine, jetzt gleich.«

Audrey keuchte und riss die Augen auf. »Aber du bist noch nicht angezogen.«

»Ich bin angezogen.«

»Neeeeein.« Audrey seufzte, als wäre ihr Bruder sechs Jahre alt. »Du bist normal angezogen, nicht für Halloween.«

Sie hüpfte von ihrem Hocker herunter, vollführte eine Pirouette und präsentierte ihr schwarzes Katzenkostüm. Dem Grad der Verknitterung nach zu urteilen, hatte Audrey das Kostüm die ganze Nacht unter ihrem Schlafanzug getragen.

»Siehst du? Ich bin eine Katzenprinzessin, obwohl, noch nicht ganz, mein Diadem liegt noch in meinem Zimmer. Was bist du?«

»Zu spät zum Training. Kann mich nicht einer von euch fahren und dann wieder herkommen?«

»Ja, das ist ein total vernünftiger Vorschlag«, entgegnete ich ironisch. »Wir passen alle unsere Terminpläne an, weil du in letzter Minute deine Pläne geändert hast. Außerdem haben wir vorerst nur ein Auto, du erinnerst dich?«

»Das heißt also Nein?«

Ich zeigte auf einen freien Hocker. »Das heißt: Setz dich hin. Ich fahr dich nach dem Frühstück.«

Leo fläzte sich auf den Hocker, während ich drei Scheiben Graubrot in den Toaster steckte.

Sam runzelte die Stirn und musterte mich. »Wie geht es dir? Hast du ein bisschen geschlafen?«

»Ein bisschen.«

»Wegen des Autos: Du kannst meins nehmen. Ich hol mir später einen Mietwagen, will vorher noch den Schlosser anrufen.«

»Gehst du nicht zur Arbeit?«

»Ich glaube, ich nehm mir noch einen Tag frei.« Sam hatte im vergangenen Schuljahr nicht einen Tag gefehlt, doch bevor ich darüber nachdenken konnte, fügte er hinzu: »Audreys Medizin ist fast aus. Ich wollte bei der Apotheke vorbeifahren, außer du hast sie schon aufgefüllt?«

Ich wollte gerade sagen, dass ich das Rezept am Vortag eingelöst hatte, doch dann fiel es mir wieder ein: meine Handtasche. Audreys Medikamente waren die nächste Sache, die ich würde ersetzen müssen.

»Ich kann sie holen.« Nachdem ich meine Kreditkarte hätte sperren lassen und bei der Zulassungsstelle vorbeigefahren wäre. Meine Kopfschmerzen wurden stärker.

Sam schaufelte Rührei auf drei Teller, und ich legte Brot dazu. Er fragte mich mit einer Geste, ob ich auch Eier wolle, aber ich rümpfte die Nase. Ich frühstückte ohnehin nicht gern, und an diesem Morgen hatte ich noch weniger Lust darauf als üblich.

Während meine Familie aß, ging ich zurück ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. Meine Hände zitterten, während ich mir die Bluse zuknöpfte – verständlicherweise, aber dennoch musste ich mich kurz aufs Bett setzen. Der Mann war voller Wut gewesen. Er hatte mich nicht nach meinem Namen gefragt, sondern mir diese Frage entgegengespien. Schlimmer noch, er hatte eine Warnung angeschlossen: Lassen Sie sie sterben, dann bleiben Sie am Leben. Hatte die Frau überlebt? Ich wusste es nicht, aber ich hatte alles unternommen, um sie zu retten, was sein Angebot meiner Einschätzung nach gegenstandslos machte. Und dieser Mann – tollwütig und gnadenlos – kannte meine Adresse. Hatte meine Schlüssel.

Die Tür ging auf, und Sam kam herein. Er nahm ein kleines Stück vergilbtes Plastik von seiner Kommode und setzte sich dann neben mich aufs Bett. »Bist du sicher, dass du in Ordnung bist?«

»Mir geht’s gut«, log ich. »Letzte Nacht hast du irgendwie abwesend gewirkt.«

»Du warst gerade angegriffen worden.«

»Bist du sicher, dass das der Grund war?«

Jemand, der nicht mit Sam verheiratet gewesen wäre, hätte die Pause gar nicht bemerkt, so kurz war sie, bevor sich das vertraute Grinsen ausbreitete. »Natürlich«, entgegnete er. Ich fragte mich, ob er meine Lüge kurz zuvor genauso leicht durchschaut hatte wie ich seine jetzt.

Sam steckte das Stück Plastik in den Mund, das er in der Hand gehalten hatte. »Ich wollte Audrey einen Vorgeschmack auf das geben, was ich heute Abend tragen werde.«

»Moment. Ich dachte Leo nimmt sie mit zu Süßes oder Saures?«

Er schenkte mir einen gespielt anzüglichen Blick und entblößte sein Zombiegebiss. Als er mich küssen wollte, wich ich zurück.

»Ich dachte, Untote wären sexy«, lispelte er, und ich lächelte.

»Vampire sind sexy«, erklärte ich. »Zombies sind … Zombies. Warum macht Leo nicht mit Audrey die Runde bei den Nachbarn?«

»Er hat sich mit Tyler verabredet.«

»Wann hat er das denn gemacht? Hat er es Audrey schon erzählt? Bitte sag mir, dass du ihn gezwungen hast, es ihr selbst zu sagen.«

»Ssssicher«, lispelte Sam. »Er hat es Audrey gesagt. Jetzt aber noch mal zu dieser Bevorzugung von Vampiren … Es ist ziemlich leicht, in Abendgarderobe und mit der Fähigkeit, die Maiden zu betören, sexy zu sein …«

»Maiden?«

»… aber denk doch nur an den armen Zombie mit schlechten Zähnen und in fleckigen Lumpen. Wie sehr muss er sich anstrengen, um eine Frau zu sich ins Bett zu locken?«

So viel musste ich zugeben: Sam war mit seinem Zweitagebart und seiner noch immer grippegeröteten Nase ein verdammt sexy Zombie.

»Darüber hab ich noch nie nachgedacht«, gab ich zu. »Ich meine, ich wusste nicht mal, dass Zombies überhaupt Betten haben.«

»Zombies schlafen vielleicht nicht, aber sie haben trotzdem Bedürfnisse«, erwiderte Sam.

»Iieh … das ist eklig.«

»Siehst du, genau das meine ich.«

Bevor die Praxis, Sams Job und die Kinder uns so viel abverlangt hatten, war es oft so gewesen. Ein kleiner Teil von mir war sauer, dass der alte Sam ausgerechnet an einem Morgen wieder aufgetaucht war, an dem ich dafür keine Zeit hatte.

»Und noch ein weiteres Hindernis, das sie zu überwinden haben: die Sprachbarriere. Verstehst du, du willst einer Frau sagen, wie bezaubernd sie aussieht, doch alles, was herauskommt, ist ein Grunzen.«

Obwohl ich mit den Gedanken woanders war, gab ich dem Drängen seiner Hände nach, und diesmal erwiderte ich seinen Kuss, die Grippe konnte mir den Buckel runterrutschen. »Ich würde sagen, das ist auch bei manchen menschlichen Männern so.« Ich fuhr mit dem Finger seine Lippen nach. »Aber ich verstehe, was du mir sagen willst. Ein Vampir kann einer ›Maid‹ sagen, dass er ihr Blut trinken will, und es klingt schon wegen seines Akzents heiß.«

»Genau! Frauen lieben exotische Männer. Außerdem empfinden manche Frauen den Gestank nach Verwesung als abtörnend.«

»Das erscheint mir wirklich unfair. Aber leider habe ich den Eindruck, dass du für die Attraktivität von Zombies nicht allzu viel ins Feld zu führen hast.«

»Na ja …« Sam schlang mir die Arme um die Taille und beugte sich vor, um mich auf den Hals zu küssen. Auch nach siebzehn Jahren wusste er noch immer, was zu tun war. Um all diese Hindernisse zu überwinden, muss ein Zombie sehr überzeugend sein.« Er küsste mich auf die andere Seite des Halses. Die Plastikzähne kratzten an meiner Haut. »Und aufmerksam.« Seine Hände glitten an meinem Rücken abwärts. »Wenn eine Frau dir so leicht davonlaufen kann, muss man sich bei der Verführung umso mehr anstrengen.«

»Mmmm. Ich dachte, Zombies wären eher der ›Ich nehme mir alles mit Gewalt‹-Typ?«

Sam zog mich näher zu sich und damit weiter weg von den Dingen, die mich beschäftigten. Ich wünschte, ich hätte Leo nicht versprochen, ihn früher zur Schule zu fahren.

Sam flüsterte mir ins Ohr. »Nicht die schlauen.«

»Ich wusste nicht, dass es unter ihnen schlaue gibt.« Es war schon ein bisschen her. Eine Woche? Zehn Tage?

»Siehst du, mit welchen Vorurteilen sie zu kämpfen haben?«

»Mo-om.« Leo fügte eine zusätzliche Silbe hinzu, als er durch die Tür rief. »Können wir jetzt los?«

Ich rief zurück: »Ziemlich ungeduldig für jemanden, der seine kleine Schwester hängen lässt, wenn sie um die Häuser ziehen und Süßes oder Saures rufen will.«

Auf der anderen Seite der Tür grunzte Leo.

»Ich habe den Verdacht, Leo könnte zum Teil Zombie sein«, sagte ich.

Sams Handy klingelte. Seine Aufmerksamkeit verschob sich von mir auf das Display. Was auch immer gerade zwischen uns geschehen war, jetzt war es genauso tot wie ein Zombie.

»Musst du los?«, fragte er, und sein Ton schob mich geradezu Richtung Tür.

Ich begegnete seinem Blick, versuchte in seinen Augen zu lesen und verschränkte die Arme. »Ich hab noch ein paar Minuten Zeit«, entgegnete ich.

Der Anruf landete auf der Mailbox, doch das Telefon fing sofort wieder zu klingeln an.

»Tut mir leid«, sagte er, »aber da muss ich rangehen.«

Sam hielt mir die Tür auf und wartete, bis ich draußen war, bevor er den Anruf entgegennahm.

5

Die Ziegelfassade der Santa Rosa High, eine der ältesten Schulen im ganzen Bundesstaat, hatte sicher schon einiges gesehen. In einer Stunde wären die Parkplätze voll, doch jetzt konnte ich Leo noch direkt vor dem Eingang absetzen.

Gleich vom Schultor aus bat ich meine Assistentin Zoe – außerdem meine beste Freundin –, die Termine für diesen Morgen zu verschieben, damit ich bei der Bank anrufen und bei der Apotheke vorbeifahren konnte. Dann folgte der zeitraubendste Teil des Vormittags: die Zulassungsstelle. Während ich auf einem der billigen Plastiksitze wartete, ging ich mehrfach auf die Webseite unserer Regionalzeitung, um nachzusehen, ob dort irgendetwas über den Angriff oder den Zustand des Opfers berichtet wurde. Der Vorfall hatte sich wahrscheinlich zu spät ereignet, um es noch in die aktuelle Printausgabe zu schaffen, aber ich hoffte, online etwas zu finden. Nichts. Es war wohl noch zu früh.

Als ich endlich gegen Ende der Mittagszeit auf den Parkplatz vor meiner Tierarztpraxis fuhr, galt mein erster Gedanke Sam. Hier hatte ich ihn kennengelernt, als ich gerade seit einem Monat mein Praktikum machte – und sich eine Tragödie ereignet hatte: Prinzessin Jellybean war krank geworden. Sam arbeitete zu dieser Zeit als Vertretungslehrer in Mrs. Hawkings Vorschulklasse und hatte hektisch versucht, das Meerschweinchen wieder zur Aufnahme von Trocken- und Grünfutter zu bewegen, bevor den Kindern etwas auffiel. (Und ja, Prinzessin Jellybean war ein männliches Meerschweinchen, das von einer Gruppe fünfjähriger Mädchen getauft worden war.)

Der Tierarzt, für den ich damals arbeitete, hatte ihr Antibiotika und eine spezielle Diät verordnet, sodass Sam gezwungen war, Prinzessin Jellybean mit der Hand zu füttern. Selbst jetzt musste ich noch lächeln, wenn ich daran dachte, wie er mit einer Spritze in der Hand über das Nagetier gebeugt dastand.

Ein paar Wochen später waren Sam und das Meerschweinchen zurückgekehrt. Prinzessin Jellybean hatte einen gesunden Eindruck gemacht, wirkte sogar ein bisschen pummelig, aber Sam hatte behauptet, dem Nagetier würde sicher Akupunktur guttun. Er brauchte einen weiteren Monat und mehrere Termine, bevor er den Mut aufbrachte, sich mit mir zu verabreden.

An Sam dachte ich jetzt wegen des Telefonats. Nach siebzehn Jahren Ehe hatten wir keine Geheimnisse mehr voreinander. Das hatte ich wenigstens geglaubt, bevor er mich an diesem Morgen aus dem Zimmer gescheucht hatte, weil er telefonieren wollte.

Als ich die Praxis betrat, saß Zoe zusammen mit Smooch – ihrer einäugigen getigerten Katze, die neben ihrem Stuhl in ein Körbchen geschmiegt war – am Empfangstresen. Smooch blinzelte zum Gruß, bevor sie wieder wegdöste. Katzen.

Zoe sprang auf, und ich wappnete mich. Meine Freundin mit den lavendelfarbenen Haaren war eins achtzig groß und bestand aus muskulösen Kurven und einem überschwänglichen, gebleachten Lächeln. Außerdem umarmte sie gern. An diesem Morgen war ihre Umarmung jedoch zögerlich, als fürchtete sie, alles Stärkere könnte mich beschädigen.

»Bist du okay?«, fragte sie. Heute gab es kein Lächeln für mich.

»Ich bin okay.«

»Sicher?«

»Ganz sicher.«

Zoe war hektisch vor Neugier, gab sich aber erst einmal geschäftsmäßig: »Daryl ist mit Lester auf dem Weg hierher.«

Bevor ich noch nach dem Grund fragen konnte, flog die Eingangstür schon auf. Normalerweise stürmte Lester mit fliegenden Pfoten, Quadratschädel und wild wedelndem Schwanz in den Raum. Aber an diesem Tag stolperte er herein und sank dann wie ein Häufchen Elend in sich zusammen. Als ich mich ihm näherte, wimmerte der Labrador und schaute mich unter dem Rand seiner Halskrause hervor an, doch außer seinen Augenbrauen bewegte sich nichts an ihm. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich an Lester das letzte Mal eine schlaffe Leine gesehen hatte.

Ich kniete mich hin und kraulte den Labrador hinter einem seiner weichen Ohren. »Was ist mit unserem Jungen denn los?«, fragte ich.

Obwohl Daryl die Haarfarbe und das unbefangene Temperament seines Hundes teilte, waren sie, was ihre Bewegungen betraf, normalerweise das genaue Gegenteil voneinander. Da der Hund nun aber vor seinen Füßen lag, schien Daryl Lesters nicht verbrauchte Energie zu absorbieren. Seine Schultern zuckten, sie waren den Mangel an Zug auf der Leine wohl nicht gewohnt.

»Seit der Operation gestern Abend geht es ihm schlechter«, erklärte Daryl.

Besorgt führte ich Daryl und Lester ins Behandlungszimmer. Wir hoben den Labrador auf den Edelstahltisch, und ich überprüfte den Verband über der Wunde. Es gab keine Anzeichen einer Schwellung und auch kein Sekret.

»Wann hat er zum letzten Mal gefressen?«, fragte ich.

»Zum Frühstück. Gestern Abend ging es ihm gut, aber heute Morgen hat er sich dann so verhalten, als hätte er ein ganzes Blech Spacebrownies runtergeschlungen.«

»Könnte das denn sein? Dass er Spacebrownies gefressen hat?« Es ging um Daryls Hund. Ich musste fragen.

»Nee«, entgegnete Daryl. »Zuerst dachte ich, vielleicht sind es die Medikamente.«

»Das Betäubungsmittel?« Noch einmal, es ging um Daryls Hund. Es war besser, alles nachzuprüfen.

»Ja.«

»Er war also benommen, hat aber gefressen. Mit normalem Appetit?« Als Daryl nickte, fragte ich weiter. »Hat er auch Wasser getrunken?«

Im Behandlungszimmer war es kühl, aber Lester fing an zu hecheln, und Sabber tropfte von seiner Zunge auf den Untersuchungstisch. »Ja, er hat getrunken. Was stimmt nicht mit ihm, Doc?«

Zwei verzweifelte Augenpaare fixierten mich. Ich hätte Daryl gern gesagt, dass das Verhalten für den Tag nach einer Operation normal sei, oder wenigstens etwas wie: Das haben wir gleich. Keins von beidem stimmte.

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete ich, zog Lesters Lippen zurück und überprüfte sein Zahnfleisch und die Innenseite seiner Wange. Beides war blass. Da er gerade erst operiert worden war, befürchtete ich, dass das blasse Zahnfleisch auf eine innere Blutung hindeutete. Er brauchte sofort eine Blutuntersuchung, und im Stillen ging ich die Tests durch, die ich dafür bestellen musste.

Dann folgte die Augenuntersuchung, in der ich die Reaktivität der Pupille checkte, was auch in Bezug auf Vergiftungen aufschlussreich sein konnte.

»Hast du ihn letzte Nacht in seinem Verschlag gelassen?«, fragte ich

»Sie wissen ja, wie er ist, Doc. Es ist schwer, ihn aus allen Schwierigkeiten rauszuhalten«, entgegnete er. »Aber ich hab mein Bestes getan. Hab ihn letzte Nacht in den Verschlag gesteckt. Hab ihn mit ins Bad genommen, als ich geduscht hab. Ich hab ihn nur einmal aus den Augen gelassen, und zwar als ein Typ an der Tür war und mir was über mein Seelenheil erzählen wollte, aber selbst das hat keine Minute gedauert, vielleicht dreißig Sekunden.«

»An Seelenheil hast du wohl nicht so viel Interesse, wie?« Ich hörte Lester ab. Einhundertsechzig Schläge pro Minute.

»Nee, hatt ich noch nie. Da stimmt was nicht, oder?«

Plötzlich war da dieses vertraute Bauchgefühl, halb Intuition, halb Erfahrung.

»Sein Herz schlägt schneller als normal, und er hat auch Schwierigkeiten beim Atmen.« Daryl streichelte Lesters Fell und versuchte, ihn zu beruhigen, doch das Wimmern des Hundes wurde nur noch lauter. »Hat er sich erbrochen oder Durchfall gehabt?«

»Nein.«

»Übermäßig viel uriniert?«

»Nein.«

Ich dachte an Lesters stolpernden Auftritt von vorhin. »Zittern?«

»Nichts in der Art.« Doch dann verfinsterte sich Daryls Miene. »Er war tatsächlich ein bisschen zittrig.«

Lester machte gut mit, als ich seine Temperatur maß. Normalerweise zappelte er so sehr herum, dass ich ein zweites Paar Hände brauchte. Als ich dann seinen Bauch abtastete, jaulte er auf. Da hatte er also Schmerzen.

»Seine Temperatur ist leicht erhöht«, erklärte ich. »Hatte Lester in dieser unüberwachten Minute oder sonst irgendwann Zugang zu Giften?«

»Sie glauben, Lester hat was gefressen, das er nicht fressen sollte.« Er formulierte es nicht als Frage. Wir kannten beide den Hang des Labradors, unverdauliche Dinge zu fressen, wie zum Beispiel die Münzen, die ich vor kaum vierundzwanzig Stunden chirurgisch hatte entfernen müssen.

»Es könnte alles Mögliche sein – verschimmeltes Essen aus dem Müll, Frostschutzmittel, Medikamente, bestimmte Pflanzen, Schokolade. Köder für Schnecken oder Erdhörnchen. Nikotin. Kommt davon irgendwas infrage?«

In Lesters Maul hatte ich zwar keine Verbrennungen feststellen können, wie das Verschlucken von Chemikalien sie hinterlassen hätte, aber solche Anzeichen brauchten manchmal mehrere Stunden, um sich zu manifestieren.