All die Frauen, die das hier überleben - Natalja Tschajkowska - E-Book

All die Frauen, die das hier überleben E-Book

Natalja Tschajkowska

0,0

Beschreibung

DER SCHMERZ, DIE STILLE, DAS STIGMA – UND ENDLICH: FREIHEIT Ein Sog, der uns hinabzieht in die Realität unzähliger Frauen Martas Mann Maxim ist tot. Nach der Beerdigung nimmt sie Beileidswünsche entgegen, ein Mensch nach dem anderen reicht ihr die Hand, will Trost spenden – was man ihr nicht ansieht: Marta selbst ist erleichtert, befreit; dumpf spürt sie die Angst all der Jahre in sich, die ihr Leben mit Maxim begleitet hat. Ein Neuanfang hätte es für Marta damals sein sollen: die schnelle Heirat nach dem Tod ihrer eigenen Mutter, das Zusammenleben mit einem Partner an ihrer Seite, dessen Glanz sie wie ein Spiegel einzufangen gedachte. Es fühlte sich an, als wäre Maxim ein Mann, der Marta selbst "besser" machen könnte; schöner, bewundernswerter. Wie weit können und müssen wir gehen, um uns selbst zu schützen? Doch es dauert nicht lange, bis Maxim eine andere Seite von sich zeigt. Stück für Stück, Tag für Tag: Maxim isoliert seine Frau mehr und mehr. Maxim trinkt mehr und mehr. Maxim wird jedes Mal ein kleines bisschen wütender, härter. Martas Umgebung beginnt stutzig zu werden. Letzen Endes muss Marta eine Entscheidung treffen: für sich selbst; für ihr eigenes Überleben. Natalja Tschajkowska erzählt mit herausragender Wucht die Geschichte einer gewaltvollen Beziehung Dieser Roman handelt – in bewundernswerter Klarheit verfasst, beinahe lakonisch wirkend – von den Untiefen des Menschlichen. Natalja Tschajkowska hat mit "All die Frauen, die das hier überleben" einen Text geschaffen, der die brutale Alltäglichkeit von Gewalt, Wut und Zweifel, die gesellschaftliche Wertung, die Sehnsucht nach Liebe und Schutz – die Ambivalenz von Gefühlen – einfängt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 499

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Natalja Tschajkowska

All die Frauen, die das hier überleben

Roman

Aus dem Ukrainischen von Jutta Lindekugel

2021

JuniDonnerstag

Der Trauerzug bewegt sich in Richtung Friedhof. Vorneweg Kreuze, Prozessionsbanner, die Mitglieder des Kirchenchors. Dahinter fährt langsam, mit quietschenden Rädern, das Auto, auf dem die Leiche meines Mannes liegt.

Heute ist es kühler als in den vergangenen Tagen. Der Wind schüttelt die Baumwipfel, schaukelt sie, als ob er sie in den Schlaf wiegen wollte, streicht sanft über meinen Körper und spielt mit meinem kurz geschnittenen Haar. Endlich bin ich die verhassten langen Locken losgeworden, die mich fünf Jahre lang geplagt, mir aber gleichzeitig auch geholfen haben.

Oksana, meine ehemalige Kollegin aus dem Kindergarten, kommt zu mir, nimmt meine Hand und spricht mir flüsternd ihr Beileid aus: „Es tut mir so leid, Marta. Es muss schrecklich sein, was du in den letzten fünf Tagen durchgemacht hast.“

Ich seufze und ziehe meinen Kopf zwischen die dünnen, knochigen Schultern. Sie hat nicht die leiseste Ahnung davon, was ich in den letzten fünf Jahren durchgemacht habe.

Oksana bleibt zurück und schließt sich der Menge an. Besser so. Ich kann jetzt keine Gesellschaft gebrauchen.

Wir betreten das Friedhofsgelände, eigentlich würde ich mich gern umdrehen und weglaufen. Entlang der Gräber ziehen sich asphaltierte Wege. Ich trete leise auf, berühre kaum den Boden. Die Schritte hinter mir höre ich deutlich, meine eigenen jedoch nicht. Ich habe mir angewöhnt, mich lautlos zu bewegen, als wäre ich nicht da, als ginge nicht ein Mensch, sondern ein Schatten. Auch diese Angewohnheit will ich loswerden.

Wir biegen rechts ab, und am Ende der Reihe bemerke ich eine ausgehobene Grube, sie versteckt sich hinter Kreuzen und Grabmälern mir unbekannter Menschen. Ich senke den Kopf, bemühe mich, das Gesicht zu verbergen. Keine Tränen. Warum schluchze ich nicht? Falle nicht in Ohnmacht?

Eine Berührung an der Schulter lässt mich schaudern. Ich wende den Kopf und sehe Maksyms Chef Andrij Andrijowytsch.

„Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen“, sagt er und drückt meine Hand. Er schwitzt.

Wie kommen alle darauf, dass ich mitfühlende Worte hören will? Ich stelle mir vor, wie die Anwesenden, und das sind nicht wenige, in einer Reihe antreten, um mich zu trösten, zu beruhigen und zu stützen.

Im Laufe des heutigen Vormittags habe ich eine Million Mal zu hören bekommen: „Mein Beileid“, „Es tut mir leid“, „Halten Sie durch“, „Seien Sie tapfer“, „Was für ein Verlust“, „So ein sinnloser Tod“, „Wir werden für Sie da sein“, „Möge er ruhen und auf uns warten“ … Es ist gut, gut und noch mal gut. Es soll ja so sein. Ich bin hoffnungslos. Ich mache alles falsch. Ich fühle falsch.

Ich denke falsch. Ich habe keine Ahnung, was man in solchen Situationen tut, daher schweige ich einfach.

Ich seufze schwer und bemerke, wie das Geräusch hunderter Schritte hinter mir mein bedeutungsvolles und bitteres Seufzen überdeckt.

Wir halten vor der tiefen Grube, in die in ein paar Minuten Maksyms Körper hinabgelassen wird. Die Leute stehen dicht beieinander, ich höre, wie sie atmen und schnaufen.

Ich starre auf den Sandhaufen, der Maksym bedecken wird, betrachte die Inschrift auf der Platte, die an einem Metallkreuz befestigt ist, dann wische ich mir mit der Handfläche den Schweiß von der Stirn und seufze erneut.

In mir herrscht Leere. Trostlosigkeit erfüllt die Gedanken und setzt sich tief in meinem Herzen fest. Ich spüre keinerlei Regung, keinen Verlust. Es tut mir nicht weh.

Der Priester geht um das Grab herum, schwenkt das Weihrauchfässchen und murmelt vor sich hin.

Mein Körper ist starr. Die Hände sind klamm, die Beine taub und schwach, der Rücken steif. Ich würde gern nach Hause gehen. Ich möchte die Türe schließen und mich vor der ganzen Welt verstecken. Ich möchte fliehen vor den unaufrichtigen Kondolenzen, vor den mitleidigen Blicken, vor den Leuten, die nicht verstehen, was für ein bedeutsamer und ernster Tag heute ist.

Ich möchte den Priester anschreien: „Warum dauert das so lange? Schneller. Es soll aufhören. Ich ertrage das nicht.“

Vielleicht hat er meine Gedanken gelesen, denn er weist die Anwesenden an, vom Verstorbenen Abschied zu nehmen.

Da Maksyms Mutter nicht zur Beerdigung gekommen ist, was mich überhaupt nicht wundert, darf ich mich als Erste verabschieden. Maksyms Schwester Wira, die im Rollstuhl sitzt, sieht schweigend zu. Ihre Hände sind zu Fäusten geballt, auf ihrem Kopf liegt ein durchsichtiger schwarzer Schal und auf ihrem Schoß zwei Rosen. Sie weint nicht.

Ich nähere mich dem Sarg, neige mich nach vorn und erstarre. Sein Gesicht hat sich verfärbt, er sieht nicht mehr aus wie Maksym. Der Mund ist blau, die Wangen sind eingefallen und um die Augen haben sich violette Kreise gebildet. Ich sollte mich hinunterbeugen und seine kalte Stirn küssen, aber ich weiß, dass ich das nicht tun werde. Es ist zu viel, eine solche Prüfung übersteigt meine Kräfte. Ich falle auf die Knie. Ich kann nicht. Ich bin nicht dazu in der Lage. Ich bedecke mein Gesicht mit den Händen, und der Schrei, der sich aus meiner Brust löst, steigt hinauf bis zu den Baumwipfeln, die sich noch immer im Wind wiegen.

Ich schreie durchdringend und aufrichtig. Ich schreie, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien habe.

Ruslan läuft zu mir, legt mir die Hände auf die Schultern und flüstert: „Beruhige dich. Fang dich wieder. Es ist vorbei.“

Meine Schultern beben, mein Körper zittert und zuckt. Um mich herum höre ich fremde Menschen rascheln und flüstern.

„Arme Marta. Wie sie kämpft“, sagt einer unserer Nachbarn, mit denen wir nie etwas zu tun hatten.

„So ein Verlust“, antwortet ein anderer.

„Er ist so sinnlos gestorben“, sagen die, die wir nicht einmal gegrüßt haben. Die Maksym gar nicht und mich nur als Kind kannten. Wie können die sich jetzt so etwas zuflüstern?

Gott, warum halten diese Leute nicht einfach die Klappe? Das kann doch alles nicht wahr sein. Sie machen sich mit ihren landläufigen Phrasen über mich lustig.

Ruslan zieht mich auf den asphaltierten Weg und schüttelt mich nun. „Beruhige dich, Marta.“

„Mhm“, gebe ich von mir.

Mein Kopf schwankt auf meinen Schultern wie ein aufblasbarer Ball. Das Gefühl, als würde er im nächsten Moment herunterfallen und davonrollen, ist mir vertraut.

„Okay“, sage ich, als ich mich wieder gefangen habe, „keine Sorge. Alles wird gut.“

Gegen drei Uhr ist die Beerdigung zu Ende und Ruslan bringt mich nach Hause. Er bietet mir an dazubleiben, aber ich bitte ihn, mich allein zu lassen.

Ich gehe ins Haus und betrete das Bad. Ich lasse Wasser ein und tauche unter. Das Wasser ist kühl. Es erfrischt und belebt mich.

Als das Grau der ersten Dämmerung in der Luft liegt, öffne ich das Fenster und setze mich auf die Fensterbank. Ich höre eine Grille und lächle.

Anschließend gehe ich in die Küche und entkorke eine Flasche Wein, gieße das rote Getränk in ein Glas und setze mich wieder ans Fenster.

Die ersten Sterne erscheinen am Himmel. Die Nacht riecht nach Freiheit.

Eine leichte Brise weht in den Raum. Ich strecke meinen Kopf aus dem Fenster, schaue in den Sternenhimmel und sage laut: „Gott, wie habe ich auf diesen Tag gewartet. Ist er wirklich gekommen?“

Ich trinke viel Wein, mein lautes Lachen steigt zu den Sternen empor.

2016

SeptemberMittwoch

„Hast du alles zusammengepackt?“, höre ich eine Stimme hinter mir.

Bohdana kommt ins Zimmer und setzt sich aufs Bett. Sie ist fast dreißig, sieht aber aus wie ein Teenager: kurzer Haarschnitt, strahlend grüne Augen, eine hohe Stirn und keine einzige Falte im Gesicht.

„Ich habe gar nicht gemerkt, dass du gekommen bist“, sage ich und schiebe den ganzen Kram aus der Schublade in die Schminktasche.

Bohdana kaut Kaugummi und schaut mich an. Abgetragene Jeans, ein weißes T-Shirt, eine darüber geworfene Jeansjacke. Ich werde sie vermissen, vor allem unsere belanglosen Gespräche über die neuesten Modetrends oder den blöden Abteilungsleiter, der die Mädchen auf den Redaktionsfluren begrabscht. Bohdana arbeitet schon seit vier Jahren für eine Onlineredaktion, verdient gut, schwört aber jeden Abend, bei der erstbesten Gelegenheit zu kündigen. Meiner Meinung nach kann sie sich nicht beschweren, denn sie verdient doppelt so viel wie ich in meinem Job als Erzieherin im Kindergarten.

„Wann holst du die Sachen ab?“, fragt Bohdana.

„Ich weiß es nicht, vielleicht am Montag.“

„Hast du den Verstand verloren, Marta?“, schreit sie. Sie schreit immer, schreit und fuchtelt dabei mit den Händen. „Du heiratest am Sonntag und dann willst du dich am Tag nach der Hochzeitsfeier mit diesem Kram herumschlagen?“

„Wir machen keine Hochzeitsfeier“, sage ich und senke den Blick.

„Aaaah“, sagt sie gedehnt, „ihr lasst nur die Eheschließung registrieren.“

Ich nehme meine Schuhe aus dem Schrank und stelle sie ganz unten in meine schwarze Reisetasche. Ich nehme nur wenig mit, ich besitze nicht viel, also werde ich, wie ein armer Schlucker, alles in ein einziges Gepäckstück stopfen.

„Zeigst du mir wenigstens hinterher Fotos?“, fragt Bohdana. Doch sie klingt verständnislos. Warum verhält sie sich so?

Ich setze mich neben sie aufs Bett und seufze. „Bist du sauer?“, frage ich, obwohl ich die Antwort schon kenne.

„Nein, keine Sorge. Das ist schließlich deine Sache und deine Hochzeit. Du kannst einladen, wen du willst.“

„Wir laden niemanden ein. Es wird eine bescheidene Zeremonie ohne viel Drumherum.“

„War das deine Idee?“ Ihre Frage hat einen bitteren Beigeschmack. Ich wünschte, sie würde damit aufhören.

„Nicht meine. Es war unsere gemeinsame Entscheidung.“ Bohdana legt ihren Kopf auf meine Schulter, und ich ver misse sie jetzt schon. Drei Jahre haben wir zusammengewohnt, zusammen Suppe gekocht, Kleider getauscht, nachts geflüstert, uns gegenseitig getröstet und über TV-Komödien gelacht. Ich weiß alles über Bohdana: Ich weiß sofort, welche Laune sie hat, ich schätze ihre Offenheit und habe mich mit ihrem Temperament abgefunden. Ich kenne alle Lieder von Oleksandr Ponomarjow auswendig, weil sie ihn anbetet. Alle paar Tage koche ich Pilaw nach dem Rezept meiner Mutter, weil Bohdana sagt, dass sie noch nie etwas Besseres gegessen hat.

Als sie sich von ihrem Freund getrennt und ihr Kind verloren hat, habe ich sie unterstützt, so gut ich konnte. Die Fehlgeburt hat sie traumatisiert, auch wenn Bohdana so tut, als hätte sie sich längst mit dem Verlust abgefunden. Jetzt ertränkt sie ihren Kummer mit billigem Wein in Nachtclubs, raucht Gras, das ihr den Kopf vernebelt, und schläft jede Nacht mit einem anderen Mann, womit sie sich, wie sie erklärt, dafür rächt, dass sie einst verlassen wurde.

Ich kenne sie besser als sie mich. Ich bin es gewohnt, meine Ängste und Probleme für mich zu behalten, ich versuche, mich anderen gegenüber nicht zu öffnen, und kann damit gut leben.

„Wir sehen uns!“, sage ich, nur um irgendetwas zu sagen. Sie schweigt und die bedrückende Stille lastet wie ein schwerer Stein auf meiner Brust. Der Grund dafür ist einzig, dass Maksym und sie sich nicht mögen. Zuerst dachte ich, dass Bohdana mich tief in ihrem Inneren beneidet. Jetzt erst verstehe ich, dass es um etwas anderes geht.

Sie erhebt sich vom Bett und geht in die Küche. Ich bleibe im Zimmer und gehe im Kopf das Gespräch noch einmal durch. Warum verhält sie sich so?

Niemals zuvor hat Bohdana sich in mein Leben eingemischt, sie hat mir nie ihre eigene Sichtweise aufgezwungen, sie hat sich nicht ein einziges Mal zu meinen Entscheidungen geäußert. Irgendetwas stimmt nicht. Oder versuche ich vielleicht zu sehr, meine Welt vor fremden Blicken zu schützen? Ist das die übliche Aufregung? Wahrscheinlich ja, denn alle Bräute sind nervös und achten auf Dinge, die es nicht wert sind, beachtet zu werden.

Meine innere Stimme wispert immer weiter, sie lässt sich nicht beruhigen. In meinem Herzen setzt sich eine bohrende Sorge fest.

Bohdana schaut ins Zimmer, in der einen Hand hält sie ein Wurstbrot, in der anderen einen Becher Tee, und sagt etwas, das mir endgültig den Boden unter den Füßen wegzieht: „Weißt du, Marta, entweder ist dein Maksym einfach nur ein Geizhals oder er ist wirklich das, wofür ich ihn halte“, wirft sie mir entgegen, fährt aber dann nicht fort.

Ich wende mich schweigend von Bohdana ab, hole den alten Rucksack heraus und beginne, sorgfältig meine kleine Porzellanpuppensammlung darin zu verstauen.

SeptemberDonnerstag

Das Büro von Zoja Pawliwna befindet sich am Ende des Korridors. Nach der ersten Schicht im Kindergarten gehe ich zur Leiterin. Eine für diesen Ort untypische Stille zeigt an, dass die Kinder schlafen.

Zoja Pawliwna lehnt sich in ihren hohen Sessel, in dem sie fast untergeht. Eine Brille mit dünnem Rahmen hält sich gerade so auf ihrer Nasenspitze – ich würde sie ihr gern ein wenig nach oben schieben. Auf die dünnen Lippen hat sie eine dicke Schicht roten Lippenstift aufgetragen, auf den Wangen ist so viel Puder, dass er abzufallen droht, die Augen verlieren sich im grell geschminkten Gesicht. Sie ist groß, breitschultrig und besitzt eine eher maskuline Statur. Das fällt vor allem auf, wenn sie ein Kleid trägt, denn dann wirken die Schultern besonders gedrungen.

Im Büro der Kindergartenleiterin hängen Abschlüsse und Diplome an den Wänden; in ein frei gebliebenes Fleckchen hat sie das Porträt des Nationaldichters Schewtschenko gequetscht, an dem sie oben das traditionell bestickte Tuch befestigt hat. Ein typisches Büro einer typischen Leiterin.

„Komm herein“, sagt sie, als sie mich an der Tür bemerkt. Der ganze Kindergarten weiß von meiner Heirat, denn, wie Zoja Pawliwna gerne wiederholt: „Wir sind eine Familie, und zwischen Kollegen darf es keine Geheimnisse geben.“ Ich bin damit zwar nicht einverstanden, doch behalte ich das für mich.

„Wann ist es so weit?“, fragt sie und schaut mir tief in die Augen.

„Am Sonntag.“

„Diesen Sonntag?“, hakt sie erstaunt nach.

„Ja.“

Dass ich kurz angebunden bin, mag sie nicht, aber ich kann es nicht ändern. Ich gehöre nicht zu jenen, die im Büro der Vorgesetzten herumsitzen und von ihren Hochzeitsvorbereitungen schwafeln – vom Schleier bis zu den Plänen für künftige Kinder. Es ist lachhaft, aber würde man mich nach dem Schleier fragen, würde ich ausweichen, denn ich werde ein ganz normales, fliederfarbenes Kleid tragen. Und wir haben keine Pläne für Kinder. Zumindest bis jetzt.

Ich weiß, dass ich kein interessanter Gesprächspartner bin und meine Hochzeit einfach nur schlicht und gewöhnlich, also uninteressant sein wird. Nach den Maßstäben der Klatschtanten aus unserem Kindergarten natürlich.

„Werden Sie den Antrag unterschreiben?“, frage ich und lege ein Blatt Papier mit nach rechts geneigten Buchstaben auf den Tisch.

„Für wie viele Tage?“, fragt Zoja Pawliwna, bevor sie auf das Geschriebene blickt.

„Für zwei.“

Ihre Augenbrauen schnellen vor Überraschung nach oben und verschwinden unter einer blonden Mähne. In diesem Moment sieht sie aus wie ein Clown, dem es gut gelingt, Verwirrung zu mimen.

„Für zwei?“, hakt sie nach.

„Ja.“

„Aber … Das ist ganz schön wenig. Ich kann dir eine Woche freigeben.“

„Nein, danke“, wende ich ein, „zwei Tage reichen.“

Sie denkt nach und versucht dabei gar nicht, ihre Verlegenheit zu verbergen.

„Wir fahren nicht in die Flitterwochen“, sage ich dann, ohne zu wissen, warum.

Meine Worte klingen wie eine Rechtfertigung, obwohl ich mich nicht rechtfertigen will. Wen geht das etwas an? Meine Hochzeit ist meine Hochzeit. Und mein Eheleben ist mein Eheleben.

„Aber“, sagt Zoja Pawliwna und ihre Brauen kehren langsam an ihren Platz zurück, „das ist nicht der Punkt. Natürlich kann sich nicht jeder von uns eine Hochzeitsreise leisten. Ich dachte nur, dass du dich gerne ausruhen, in der neuen Wohnung einrichten würdest.“

Ich schweige. Was soll man dazu sagen?

„Du ziehst doch zu ihm?“, fragt sie und durchbohrt mich mit ihrem Blick.

Ich meine zu schrumpfen.

„Ja, ich werde umziehen.“

„Hat er eine Wohnung?“

Zum Teufel, was geht sie das an? Wohnung, Palast oder Holzhütte? Warum müssen die Leute unbedingt ihre Nasen in das Leben anderer stecken und in allem herumschnüffeln?

„Ja, eine Wohnung. Groß genug für eine Kleinfamilie“, sage ich widerstrebend. Ich lege die Hände auf die Knie und fühle mich wie ein Schulmädchen, das ins Büro des Direktors zitiert wurde.

„Ah!“ Zoja Pawliwna lacht und rückt ihre Brille zurecht. „Vielleicht wäre es besser, bei deinem Vater zu wohnen?“

Jetzt werden die schweren Geschütze aufgefahren: Die Leiterin verteilt allzu gern Ratschläge. Zoja Pawliwna kannte meine Mutter gut, deshalb erklärt sie ihre Sorge um mich immer mit mütterlichen Gefühlen. „Du bist wie eine Tochter für mich“, sagt sie häufig und ich bin sicher, sie glaubt, dass ihr die alte, freundschaftliche Beziehung zu meiner Mutter das Recht gibt, sich in mein Privatleben einzumischen. Aber ich bin da anderer Meinung.

„Na, wie du willst“, seufzt sie und unterschreibt den Antrag.

„Ich will nur dein Bestes.“

„Danke“, antworte ich und versuche zu lächeln.

Obwohl ich mich nicht im Spiegel sehe, weiß ich, dass mein Lächeln schief und angestrengt wirkt und die Augen ängstlich und besorgt blicken.

„Marta“, ruft Zoja Pawliwna, als ich mich schon zur Bürotür bewege, „ich wünsch dir Glück.“

„Danke.“

Ich zwinge mich, noch einmal zu lächeln, und trete auf den Flur hinaus.

SeptemberSonntag

Die Registrierung unserer Ehe wird von einer Frau vorgenommen, die ich gerne zu einem Kindergartenfest einladen würde, damit sie die Märchenfigur Baba Jaha oder den Babaj spielt. Sich schminken und die Rolle üben müsste sie nicht, sie ist offenbar schon so auf die Welt gekommen.

Ich schaue zu Maksym. Er sieht aus, als würde er gleich losprusten. Mir ist dagegen nicht zum Lachen. Das ist schließlich unser Tag und so eine Hexe erklärt uns zu Mann und Frau.

Ich trage das beigefarbene Kleid, das Bohdana am Morgen aus ihrem Kleiderschrank geholt und mir wild mit den Händen fuchtelnd anzuziehen befohlen hat. Laut Bohdana steht mir die Farbe Lila nicht, und das Kleid, das ich anziehen wollte, wäre zu einfach und zu gewöhnlich gewesen. „Willst du wie ein Huhn aussehen?“, hat sie geklagt. Ich habe kapituliert und mich ihrem Willen gefügt. Triumphierend nannte sie Maksym erneut einen Geizhals, denn ihrer Meinung nach hätte er von meinem mickrigen Gehalt wissen und mir ein Kleid besorgen müssen. Das beige Kleid ist schön, da widerspreche ich gar nicht, aber es spannt ein wenig an der Brust, und deshalb fühle ich mich eingeengt. Bohdana hat sich um mein Make-up gekümmert und ist den halben Vormittag um mich herumscharwenzelt, um mein Äußeres zu perfektionieren. Es ist gut geworden, aber ich würde mich wirklich gern waschen, denn meine Haut fühlt sich an wie Pappe: Sie atmet nicht und fängt schon an zu jucken.

Schließlich beendet Baba Jaha die kurze Zeremonie und lässt den Bräutigam die Braut küssen.

„Jetzt gehörst du mir“, sagt Maksym und beugt sich über mich. Auf der Straße sauge ich gierig die frische Luft ein.

Wir setzen uns ins Auto und fahren zum Restaurant Zum Zarenmahl, in dem Maksym einen Tisch reserviert hat.

Wir bestellen. Die Kellnerin lächelt die ganze Zeit. Ihr unaufrichtiges Lächeln und ihre zusammengekniffenen Augen erinnern mich an die Frau vom Standesamt. Vielleicht sind sie miteinander verwandt?

Maksym erzählt von seiner Arbeit, freut sich über seine Erfolge und darüber, dass er von allen Kolleginnen und Kollegen die meisten Wohnungen verkauft. Er arbeitet als Immobilienmakler und hilft der Kundschaft bei der Wohnungssuche sowie mit den Unterlagen.

Der Wein wärmt mich von innen, ich entspanne mich und genieße die gemütliche Atmosphäre. Ein wenig benommen lehne ich mich in den weichen Stuhl zurück und bewundere meinen Mann.

Maksym ist größer als ich, breitschultrig, seine Körperhaltung gerade. Der Ausdruck seiner grauen Augen ist scharf und verrät Eigensinn. Er trägt einen teuren, milchweißen Anzug, ein weißes Hemd und glänzend polierte Schuhe. Das dichte, blonde Haar hat er ordentlich gekämmt. Ich weiß, dass er fleißig und beharrlich ist. Seine Stimme klingt stark und selbstbewusst, und ich muss zugeben, dass mich das an meinen Vater erinnert. Maksym lacht selten, obwohl er gern Scherze macht und unzählige Witze kennt. Er ist belesen, intelligent und besitzt ein gutes Gedächtnis. So beeindruckt er mich zum Beispiel mit Fakten, die ich nie behalten könnte. In Gedanken nenne ich ihn ein wandelndes Lexikon.

„Hörst du mir zu?“, fragt Maksym und legt seine rechte Hand auf meine.

„Ja, ich habe nur nachgedacht.“

„Erzähl mir von den Gedanken, die durch den Kopf meiner Braut schwirren.“

Statt einer Antwort schenke ich ihm ein Lächeln.

Der Nachtisch kommt. Ich sehe mich um und bemerke, dass nicht viele Gäste im Restaurant sind. An einem Tisch in der anderen Ecke des großen Saals sitzen zwei Frauen und unterhalten sich lebhaft. Ganz offensichtlich fühlen sie sich in solchen Etablissements wohl wie Fische im Wasser, im Gegensatz zu mir. Das trübe Licht erreicht kaum unseren Tisch. Ich schmiege mich ins Halbdunkel. Es ist, als wären wir auf einer verlassenen Insel, einsam und glücklich.

„Diesen Monat habe ich viel geschafft“, Maksyms Stimme holt mich aus meinen Gedanken zurück. „Ich habe schon drei Wohnungen verkauft.“

Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Drei – ist das viel? Wahrscheinlich schon, wenn er sagt, dass er viel geschafft hat. Offenbar steht mir die Verwirrung ins Gesicht geschrieben, denn Maksym erklärt: „Nicht jeder Immobilienmakler kann den Verkauf von drei Wohnungen in Luzk in so kurzer Zeit bewerkstelligen.“

„Bravo“, lobe ich ihn. Und im nächsten Moment mache ich mir Vorwürfe, dass ich meinem Mann gegenüber unaufmerksam war.

Er lächelt zufrieden und hebt sein Glas. „Auf uns“, sagt er.

„Auf uns“, bekräftige ich den Toast und nippe an dem trockenen Wein.

Wir reden über Verschiedenes, genauer gesagt, Maksym spricht, ich höre zu. Seine leicht raue Stimme hüllt mich ein.

Bald ruft Maksym die Kellnerin und bittet um die Rechnung.

„Schön haben wir gefeiert“, sagt er, vielleicht zu mir, vielleicht auch zu sich selbst.

„Ja. Das war schön.“

„Du bist nicht böse, dass wir niemanden eingeladen haben?“ Ich zögere einen Moment mit der Antwort, denn vor meinen Augen steht das Gesicht der verletzten Bohdana. Und Jaroslawa weiß noch nicht einmal etwas davon. Meinem Bruder Andrij habe ich auch noch nichts erzählt. Ich fühle, wie der Wein zusammen mit der Scham in meinem Kopf seine Wirkung entfaltet und meine Wangen dunkelrot anlaufen. Gut, dass die Beleuchtung so trüb ist.

„Ich finde nichts Schlechtes dabei“, kommt mir schließlich über die Lippen. „Es ist ja unser Fest und wir haben das Recht, selbst zu entscheiden, wie wir es feiern wollen.“

„Cleveres Mädchen“, flüstert Maksym.

Ich spüre einen bitteren Geschmack im Mund. Erstens mag ich es nicht, wenn man mich als „cleveres Mädchen“ bezeichnet, und zwar weil mein Vater mich einst so nannte. Denn er meinte es nicht als Lob, sondern wollte im Gegenteil meine Schwäche hervorheben. Zweitens finde ich eigentlich nicht, dass es richtig war, weder Verwandte noch Freunde einzuladen. Auch wenn wir nicht so viele Leute haben, mit denen wir diese Freude hätten teilen können, gibt es sie doch.

Aber was geschehen ist, ist geschehen. Ich wollte Maksym nicht verärgern, daher habe ich zugestimmt, als er vorschlug, im engsten Kreis zu feiern. Auch wenn ich noch nicht genau wusste, wie eng dieser Kreis sein würde.

Die Kellnerin bringt die Rechnung, Maksym holt sein Portemonnaie heraus. Dann blickt er auf den Betrag. In seinen Augen flammt Zorn auf. Dieses Feuer spiegelt sich einen Moment, nur einen winzigen Moment, in seinem Blick, doch mir ist nicht mehr wohl zumute.

„Na, Sie haben vielleicht Preise“, sagt Maksym und holt sein Geld heraus, „solche Preise locken wohl kaum viele Kunden an.“

Die Kellnerin lächelt weiter ihr falsches Lächeln. Ich aber möchte im Boden versinken, mich auflösen, verschwinden.

Maksym zählt das Geld ein zweites Mal nach. Ganz offensichtlich fürchtet er, mehr zu geben als nötig.

Die Kellnerin wartet geduldig, ich dagegen beiße nervös auf meiner Unterlippe herum und reibe, die Hände unter dem Tisch versteckt, meine Handflächen.

SeptemberMontag

Draußen ist es düster, am Himmel sind schwere Wolken aufgezogen. Ich glaube, es wird regnen.

Maksym macht sich für die Arbeit fertig, ich dagegen hülle mich in seinen blauen Frotteebademantel und schaue meinem Mann zu. Er holt ein weißes Hemd aus dem Schrank, wählt eine passende Krawatte und zieht seine Hose an.

„Ich wollte heute meine Sachen herholen. Könntest du mir dabei helfen?“, frage ich.

„Eher nicht. Ich habe heute viel zu tun. Du musst ohne mich auskommen“, sagt er und steckt sein Hemd in die Hose.

„Gut. Ich kriege das schon irgendwie hin“, sage ich und denke über verschiedene Varianten nach, mit denen ich die Situation lösen könnte. Es ist eigentlich nur eine Tasche, doch die ist schwer. Aber das ist nichts verglichen mit der Reaktion von Bohdana, wenn sie sieht, dass ich die Sachen alleine schleppe. Um nicht ihren Ärger abzubekommen, sollte ich es also vor dem Mittagessen machen, während sie noch bei der Arbeit ist.

„Sag bloß, du hast viel Gepäck“, sagt Maksym, während er sein Spiegelbild genaustens inspiziert. Manchmal glaube ich wirklich, er liest meine Gedanken.

„Nein, nicht viel.“

„Du siehst ja selbst, dass die Wohnung klein ist. Wenn wir sie vollstopfen, können wir uns nicht mehr rühren.“

Mir bleibt nichts anderes, als zuzustimmen, also stoße ich ein „Ja“ hervor und sehe mich um.

Die Wohnung gehört Maksyms Onkel, der seinem Neffen netterweise diese paar Quadratmeter vermietet. Was würde mein Vater sagen, wenn er die derart winzigen Kämmerchen sähe?

Es ist wirklich nicht viel Platz, aber mir gefällt es hier. Überall herrscht Ordnung: Auf dem Regal stehen in gerader Linie Duftwässer und Cremes, die vor und nach der Rasur aufgetragen werden. Im Kleiderschrank ist alles fein säuberlich gefaltet, auch die Küche beeindruckt mit auf Hochglanz polierten Töpfen.

„Warum hast du dir heute nicht freigenommen?“, frage ich.

„Wozu?“, wundert sich Maksym.

„Na ja, wir könnten zusammen sein. Der erste Tag unseres Ehelebens …“

„Werden wir noch lange genug“, antwortet er und konzentriert sich auf die Krawatte. „Gefällt es dir hier?“

„Ja, es gefällt mir“, sage ich mit einem aufrichtigen Lächeln, „eine Junggesellenhöhle, weder Topfpflanzen noch Bilder oder Blumensträuße in Vasen“, sage ich und schaue mich dabei noch einmal um. Aber als ich meinen Blick zu Maksym lenke, sehe ich bewölkte graue Augen. Ich hätte erwartet, dass er über meinen Witz lacht. Aber …

„Eine Höhle ist ein Ort, an dem Tiere leben“, sagt er mit stählerner Stimme, kaltem Blick. Die Augen scheinen ihre Farbe zu ändern und auf dem Gesicht erscheint ein zorniger Ausdruck.

Ich erstarre für einen Augenblick. Haben ihn meine Worte verletzt?

„Entschuldige“, flüstere ich mit blutleeren Lippen, „entschuldige, so habe ich das nicht gemeint.“

Der Zorn weicht langsam aus seinem Gesicht.

„Entschuldige“, wiederhole ich ein ums andere Mal. Maksym zieht Lederschuhe an, holt ein Jackett aus dem Schrank und bleibt an der Tür stehen.

„Bist du wütend?“, frage ich den Tränen nah.

„Nicht mehr“, sagt er, küsst mich auf die Wange und geht. Doch ich sehe, dass er sauer ist und mir keineswegs verziehen hat.

Eine bedrückende Stille senkt sich auf mich, und Tränen steigen in mir auf, an denen ich zu ersticken glaube.

Ich habe mit meinem unpassenden Witz alles vermasselt. Warum musste ich das sagen? Warum war ich nicht einfach still?

***

Jaroslawa sitzt mir im Café gegenüber und nippt an ihrem Tee. Unser Tischchen steht am Fenster, von wo aus der Flickenteppich der Stadt zu sehen ist. Neunstöckige Gebäude strecken sich in die Höhe, Schaufenster glitzern, Passanten schreiten eilig über die rechteckigen Pflastersteine. Ich glaube, sie bemerken dabei nicht, dass das Pflaster in Form eines Stickmusters verlegt wurde. Die Menschen haben es sich angewöhnt, zu eilen, zu rennen, sich nicht umzusehen, die Welt rundherum nicht wahrzunehmen.

Eine große, schlanke Frau zieht einen kleinen Jungen an der Hand, der sich weigert weiterzulaufen, ein schlaksiger, glatzköpfiger Mann wedelt mit seiner Aktentasche, als hätte er gerade einen lang ersehnten Job ergattert, und eine alte Großmutter tritt vor der Apothekentür von einem Fuß auf den anderen. Das Leben läuft unablässig weiter.

Ich aber freue mich über die Gelegenheit, durchzuatmen und Jaroslawas Gesellschaft zu genießen. Wir haben uns seit fast drei Monaten nicht gesehen, was für alte Freundinnen eine ziemlich lange Zeit ist. Daher haben sich viele Gesprächsthemen angesammelt.

Sie hat mich gegen drei Uhr nachmittags angerufen und vorgeschlagen, Tee zu trinken. Ich habe gerade meine Sachen ausgepackt, mein beliebtes Pilaw gekocht und die Wohnung auf der Suche nach einer Beschäftigung durchwandert.

Jaroslawa hat sich verändert: eine neue Frisur, manikürte Nägel, die Augen geschminkt und ein Kleid mit tiefem Ausschnitt.

„Kyjiw hat dich verändert“, ziehe ich meine Freundin auf.

„Kyjiw hat damit nichts zu tun“, lacht Jaroslawa und strahlt mich mit einem blendend weißen Lächeln an.

„Was ist dann das Geheimnis?“

„Ich habe mich verliebt“, sagt sie, als rezitiere sie ein Gedicht.

„Schon wieder?“ Ich kann es mir nicht verkneifen, das zu fragen, denn ich kenne ihre Schwäche. Die Männer in Jarosla was Leben wechseln so oft, dass ich mich, wenn wir uns auch nur eine Woche nicht sehen, in ihrem Liebeschaos nicht mehr zurechtfinde.

„Diesmal stimmt alles“, ruft sie und beginnt detailliert zu beschreiben, wie sie Ihor getroffen hat, das erste Date, seine Geschenke und wie er um Hand und Herz angehalten hat.

„Er hat dir also einen Antrag gemacht?“, frage ich, aufrichtig verwundert.

„Hat er, und ich habe Ja gesagt.“

„Das ist neu. Das kommt unerwartet“, sage ich offen.

„Mach dich ruhig lustig. Die Hochzeit findet im November statt, wir haben schon das Restaurant gebucht. Und du wirst meine Trauzeugin sein.“

Sie schwärmt weiter, ich aber verstumme. „Du wirst meine Trauzeugin sein“ – die Worte wirbeln in meinem Kopf umher. Ich schäme mich vor meiner Freundin. Sie hat eine solche Missachtung von meiner Seite nicht verdient.

„Jaroslawa“, unterbreche ich sie, „ich habe es noch nicht geschafft, dir zu sagen … Es ist so …“ Wie schwer es ist, die richtigen Worte zu finden, um nicht als noch größeres Scheusal zu erscheinen.

„Was ist passiert?“, fragt sie besorgt. „Ist etwas mit deinem Vater? Mit Andrij? Sag schon.“

„Ich habe geheiratet.“ Eigentlich verkünde ich eine freudige Nachricht, aber ich fühle mich wie Judas: Ich küsse und begehe gleichzeitig Verrat. Im Mund Bitterkeit, es schmeckt nach Verlogenheit.

„Oh“, ruft Jaroslawa und beugt sich über ihr Schokogebäck. Nimmt die Serviette in die Hand und faltet sie zu einem Fächer, zerknüllt sie dann und legt sie vor sich auf den Teller. „Wann ist das denn passiert?“

„Gestern.“ Meine Worte sind mir selbst zuwider.

Wir sind seit unserer Kindheit miteinander befreundet. Soweit ich zurückdenken kann, war Jaroslawa immer da. Unsere Eltern wohnen in der Nachbarschaft, zwischen ihren Häusern liegen nicht mehr als zweihundert Meter. Unsere Freundschaft ähnelt ein wenig meiner Freundschaft mit Bohdana, dauert aber schon länger, ist seit Jahren erprobt, tiefer und sorgloser. Wir haben Spielsachen, Äpfel und Kekse geteilt … Uns von den ersten Küssen erzählt, über Jungs diskutiert, die wir mochten, uns gegenseitig Tränen wegen einer unglücklichen Liebe abgewischt … Lange Telefongespräche, Unterstützung in schweren Momenten und die zuverlässige Schulter der Freundin … Mamas Krankheit, meine Trauer und die Auseinandersetzungen mit meinem Vater … Und sie, meine Jaroslawa, war immer für mich da. Immer.

Und jetzt das: Ich heirate, ohne ihr irgendetwas davon zu sagen. Ich bin ein schlechter Mensch. Wieder denke ich, dass es falsch war, Maksym nachzugeben und nur im engsten Kreis zu feiern.

„Du warst lange weg“, beginne ich, mich zu rechtfertigen.

„Natürlich. Drei Monate. Aber wir haben doch oft telefoniert.“ Diese Zurechtweisung habe ich verdient. Ich nehme den Schlag hin.

„Es tut mir leid“, beginne ich wieder, „wir kennen uns noch gar nicht so lange.“

„Bist du schwanger, Marta?“ Jaroslawa geht mögliche Szenarien durch.

„Nein. Bloß Maksym, mein Mann … Na ja, alles ging so schnell. Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht, ich habe Ja gesagt. Hm, das war vor einer Woche. Wir haben die Hochzeit nicht gefeiert. Wir haben nur die Eheschließung registrieren lassen, sind zu zweit ins Restaurant und fertig.“

„Aber warum die Eile? Warum diese Geheimniskrämerei?“

„Sag nicht so was. Ich habe nichts vor dir verheimlicht.“

„Aber du hast es mir auch nicht erzählt“, seufzt Jaroslawa.

„Maksym hat vorgeschlagen, so zu feiern, und ich war einverstanden.“

Sie nimmt eine andere Serviette und dreht sie in den Händen. „Andrij war auch nicht dabei?“ Noch ein Schlag, dem ich nicht ausweichen kann.

„Nein. Niemand war dabei.“

„Eigentlich ist das eure Sache.“ Die Freundin denkt laut nach.

„Aber irgendwie seltsam. Wie habt ihr euch denn kennengelernt?“

„Auf einer Party von Bohdanas Freundin.“

„Ah. Wenn Bohdana euch bekannt gemacht hat, bin ich beruhigt“, sagt Jaroslawa lächelnd. Und ich beschließe, nichts von der gegenseitigen Abneigung zwischen meiner Freundin und meinem Mann zu erzählen. Und die Gerüchte, von denen Bohdana mir berichtet hat, um mich vor einer voreiligen und unbedachten Entscheidung zu bewahren, braucht Jaroslawa auch nicht zu kennen.

Ich wechsle das Thema und frage nach Jaroslawas zukünftigem Ehemann. Sie erzählt begeistert, während ich, die Hände in der Tasche versteckt, nach dem Schlüssel zu Bohdanas Wohnung taste und mich in meinen Gedanken dorthin bewege. Als ich gekommen bin, um meine Tasche zu holen, war die Freundin nicht da, aber auf dem Tisch lag eine Notiz in unbeholfener Handschrift.

Keine Sorge, ich bin nicht böse. Ich habe mich wieder beruhigt. Ich hoffe, alles ist gut gelaufen und du bist glücklich. Vergiss die Worte, die ich letzte Woche gesagt habe. Ich werde mich nicht mehr in dein Leben einmischen, denn ich liebe dich und respektiere deine Wahl (selbst wenn sie so unvernünftig ist). Aber erwarte nicht, dass ich deinen Mann achten und gut finden werde. Ich mag ihn nicht!!! Und dafür gibt es einen Grund.

PS: Ich überlasse dir die Wohnungsschlüssel. Für alle Fälle. Ich habe Zweitschlüssel. Keine Widerrede. Wenn du die Schlüssel nicht einsteckst, nehme ich dir das übel.

Deine treue und unverwüstliche Bohdana.

SeptemberDienstag

Gestern Abend rief mein Bruder Andrij an und bezeichnete mich als seelenlose, herzlose Person. Im Supermarkt hätte er zufällig Jaroslawa getroffen, die ihm von meiner Heirat erzählt hat. Und natürlich hatte er eine Menge Fragen, auf die er keine Antworten finden konnte.

Ich bekannte mich schuldig und bat um Verzeihung. Doch dann lenkte er das Gespräch auf unseren Vater und machte damit alles kaputt. Man kann nicht einmal sagen, dass es einen Streit gab, es war eher eine wütende Anklage in drastischen Worten. Wir sind schon in unserer Kindheit nicht miteinander ausgekommen. Gemeinsame Gesprächsthemen, Insiderwitze oder Geheimnisse hatten wir nicht. Ich glaube, der Altersunterschied spielt in unserer Beziehung eine wichtige Rolle. Andrij ist dreiunddreißig (er und Maksym sind gleich alt) und ich bin sechsundzwanzig. Wie man es auch dreht und wendet, sieben Jahre machen viel aus. Als Andrij mit seinen Freunden auf der Straße vor unserem Hof herumtobte, lutschte ich noch am Daumen und saß im Kinderwagen. Als ich in die erste Klasse ging, rauchte mein Bruder heimlich hinter dem Haus Zigaretten. Als er sich verliebte, spielte ich mit Jaroslawa Puppen und beobachtete gemeinsam mit ihr im Verborgenen den Bruder und seine allabendlich wechselnden Mädchen. Er nannte mich „Kleine“ und ich ihn „Bruderherz“, wobei jedes Mal das linke Auge des „Bruderherzens“ zuckte.

Um ehrlich zu sein, bin ich ihm gegenüber misstrauisch. Denn er ist unserem Vater zu ähnlich – sowohl im Aussehen als auch, was Wesen, Charakter und Temperament betrifft. Beide sind groß, gedrungen, mit langen Armen, die, wie mir in meiner Kindheit schien, bis zu den Knien reichten. Aber das ist nicht der Punkt. Sowohl Vater als auch Andrij besitzen eine hitzige Natur und einen schwierigen Charakter. Sie explodieren plötzlich und unvermittelt, und es dauert lange, bis sie sich wieder beruhigen. Wenigstens kann ich mich damit trösten, dass Maksym ganz anders ist. Er ist gebildet, zurückhaltend und ausgeglichen. Machen wir uns nichts vor, natürlich wird auch Maksym manchmal wütend, aber das ist keine große Sache. Schließlich gewöhnen wir uns gerade aneinander, es gibt noch Reibungen und Anpassungsschwierigkeiten. Hauptsache, ich quatsche nichts Unnötiges daher wie das mit dieser „Junggesellenhöhle“. Keiner hat dich danach gefragt? Dann setz dich hin und halt den Mund.

„Gehst du heute wieder nicht zur Arbeit?“, fragt Maksym, während er seinen Tee schlürft.

„Nein. Ich habe zwei Tage beantragt.“

„Warum?“, fragt er und zieht überrascht die Augenbrauen hoch.

Wenn ich mir seine Reaktion ansehe, verstehe ich selbst nicht mehr, warum.

„Ich gehe morgen wieder arbeiten“, sage ich und versuche selbstsicher zu wirken. Doch meine Stimme lässt mich im Stich.

„Na, dann ruh dich aus“, seufzt Maksym und zieht sein Jackett an, „ich hingegen werde heute einen harten Tag haben.“

Er geht und vergisst, mich zu küssen. Ich öffne die Tür und rufe nach ihm. Maksym sieht sich um, winkt aber nur mit der Hand und eilt den langen Gang entlang.

Na, was soll’s. Er ist in Eile. Das kommt vor. Ich hätte selbst daran denken können, statt zu erwarten, dass er an alles denkt.

***

Gestern hat es trotz des bedeckten Himmels nicht geregnet, aber heute schüttet es den ganzen Tag wie aus Eimern, obwohl keine Schauer vorhergesagt wurden.

Es wird Abend. Ich sitze auf der Fensterbank in der Küche und schaue auf eine menschenleere Straße, die sich von Minute zu Minute mehr in der Dämmerung verbirgt. Die breite Fahrbahn, die Bürgersteige und die Dächer der Geschäfte sind vom Regen überflutet. Ein Trolleybus voller Menschen fährt vorbei. Morgen werde ich auch wieder eine der Personen in der Menge sein, doch heute bin ich eine einsame Braut. Maksym hatte ja recht damit, anzudeuten, dass mir die beiden freien Tage nichts bringen. Wobei ich gedacht hätte, dass er auch freinehmen würde, um Zeit mit mir zu verbringen. Andererseits: Wie sollte er von meinen Absichten wissen, wenn ich sie nicht zu äußern wagte? Ich bin jedenfalls selbst nicht darauf gekommen, darüber zu sprechen, also bin ich auch selbst schuld.

Die Wohnung riecht nach frisch gekochter Frikadellensuppe. Ich habe es heute geschafft, den Boden zu wischen und das Bad zu putzen. Das war noch vor dem Mittagessen erledigt. Danach aber blieb die Zeit stehen, als hätte jemand den Uhrzeiger wieder zurückgedreht.

Die in unserem Haus tagsüber herrschende Stille weicht allmählich dem abendlichen Lärm. Müde Nachbarn kehren von der Arbeit heim, Schlüsselklappern ist zu hören, das Knarren von Türen, Kinderstimmen, Lachen und Gesprächsfetzen. Alle grüßen sich. Ich jedoch hatte noch keine Gelegenheit, jemanden kennenzulernen. Aber was gibt’s da kennenzulernen, ich bin noch nicht einmal in meinem neuen Zuhause angekommen, auch am dritten Tag kommt es mir noch kalt und fremd vor.

Unruhig springe ich von der Fensterbank. Mir fällt ein, dass ich meine Porzellanpuppen noch nicht ausgepackt habe. Ich sammle sie seit zehn Jahren, seit Jaroslawa mir eine dieser Schönheiten zum Geburtstag geschenkt hat: eine blauäugige Blondine in einem schwarzen Abendkleid. Inzwischen besitze ich acht davon. Alle sind beinahe gleich groß, unterscheiden sich jedoch durch ihre Kleidung, die Haarfarbe und die Gesichtszüge. Sie schauen bedeutungsvoll und selbstsicher vor sich hin und spielen sich voreinander auf.

Ich hole meine Lieblingspuppe heraus: die mit den langen, dunkelblonden Haaren, einem grünen Kleid und dem dazu pas senden Hut. Sie unterscheidet sich durch nichts Besonderes von den anderen, aber sie liegt mir am Herzen, weil meine Mutter sie mir ein Jahr vor ihrem Tod geschenkt hat.

Ich hole einen Hocker und stelle meine Sammlung im Regal auf. Einen anderen Platz finde ich nicht.

So, das wäre erledigt. Ich trete ein paar Schritte vom Regal zurück zum Bett und betrachte die Puppen wie Trophäen. Sie lachen mir zu.

Da höre ich im Flur ein Kind weinen, was mich vom Betrachten der Porzellanschönheiten ablenkt. An der Wohnungstür schaue ich durch den Spalt. Im langen Gang steht ein circa fünfjähriges Mädchen. Zwei dicke, straff geflochtene Zöpfe, ein rosa Kleidchen. Sie ist barfuß.

Ich verlasse die Wohnung und gehe auf die Kleine zu. Tränen kullern über ihre Pausbäckchen. Sie schaut sich um, als suche sie jemanden.

„Hallo“, sage ich zu ihr und gehe in die Hocke, um sie besser anschauen zu können.

Das süße, engelsgleiche Geschöpf verstummt für einen Moment und sieht mir interessiert in die Augen. Die Neugier überwiegt und sie fragt: „Wer bist du?“

„Ich bin Marta. Und du?“

„Ich bin Nastja.“ Das Mädchen wischt eine Träne weg.

„Warum weinst du denn?“

„Ich suche Papa.“ Die Unterlippe des Kindes beginnt zu beben. Es ist kurz davor, wieder loszuheulen.

„Nicht weinen. Ich helfe dir.“

Sie sieht mich an und fragt dann: „Bist du eine Fee?“

„Nein“, sage ich lächelnd, „aber ich kenne auch alle möglichen Zaubertricks.“

„Zeigst du mir welche?“

„Na klar. Aber zuerst finden wir deinen Papa.“

Ich nehme die kleine Hand. Nastja protestiert nicht, sondern führt mich zum Ende des Korridors.

„Wir wohnen irgendwo hier“, sagt sie und ihre Stimme zittert wieder, „aber das ist nicht unsere Tür. Unsere Wohnung ist verschwunden.“

„Wo warst du denn gerade?“

„Ich habe bei Myschka gespielt, aber dann hat er gesagt, er will gar nicht mehr spielen, obwohl ich noch was aus Legosteinen bauen wollte …“ Das sanfte, süße Stimmchen verstummt, das Mädchen lässt ihr Köpfchen hängen.

„Und dann wolltest du heimgehen?“

„Mhm“, murmelt Nastja, „aber mein Zuhause ist nicht mehr da.“

„Keine Sorge. Wir finden dein Zuhause. Wartet dein Papa auf dich?“

„Mhm.“

„Und die Mama?“

„Nein. Ich wohne bei Papa.“

Unser Gespräch ist in eine Sackgasse geraten. Ich habe etwas Falsches gefragt, als ob ich zu tief in ihre Privatsphäre eingedrungen wäre. Bevor Nastja die Hoffnung verliert, dass die Fee überhaupt zu irgendetwas gut sei, muss ich eine Lösung finden.

„Wohnt Myschka auf dieser Etage?“

„Nein. Auf der fünften.“

„Und auf welcher Etage wohnst du, Nastjalein?“

„Auf dieser. Auf der sechsten.“

„Aber das ist nicht die sechste. Das ist die siebte. Du hast dein Stockwerk verpasst, als du von Myschka weggegangen bist.“

Ich führe sie die Treppen hinunter und halte sie dabei fest an der Hand. Was macht eigentlich der Vater, dass er sein Kind allein von Stockwerk zu Stockwerk laufen lässt? Und wenn das Mädchen auf die Straße gegangen wäre? Wenn sie von Betrunkenen belästigt worden wäre? Allein die Vorstellung ist schrecklich. Ich muss ihren Vater unbedingt ermahnen.

Und wenn ihr Vater selbst ein Trunkenbold ist? Warum hat Nastja nichts von der Mama gesagt? Höchstwahrscheinlich wächst sie in einer dysfunktionalen Familie auf, ist meine Schlussfolgerung.

Wir gehen in den sechsten Stock hinunter, wo das Mädchen ihre Tür wiedererkennt, die mit billigem Kunstleder bezogen ist. Ich stehe im Eingang und trete vor Verlegenheit von einem Fuß auf den anderen. Hinein oder zurückgehen?

Nastja ruft ihren Papa. Ein rund fünfunddreißigjähriger Mann schaut aus der Küche. Er trägt eine Schürze mit einem lächelnden Bären darauf. Sein Gesicht ist mit Mehl bestäubt, in der linken Hand hält er einen Topf, in der rechten einen Mixer. Er wendet seinen Blick zu mir, und in seinen Augen lese ich die Frage: „Wer bist du?“

Ich grüße und erzähle hastig, dass Nastja sich verlaufen hat und ich ihr geholfen habe, nach Hause zu finden. Er stellt den Topf mit dem Mixer auf eine Ablage neben der Eingangstür, wischt sich die Hände an der Schürze sauber und hockt sich neben Nastja. Sie umarmt seinen Hals mit beiden Ärmchen, verbirgt ihr Gesicht und flüstert, dass sie Angst hatte.

Vor lauter Verwirrung gelingt es mir nicht, meine Gedanken zu sammeln und etwas mehr oder weniger Kluges zu sagen. Ich hatte schließlich erwartet, dass mir entweder ein besoffener oder ein angesoffener Mann mit einer Flasche Bier in der Hand entgegenkommen würde. Aber … ein Mixer, ein Topf, eine Bärenschürze?

Die Sorge in seinen Augen sagt mehr als all das leere Gerede, das ich von den Eltern im Kindergarten zu hören bekomme. Er ist wirklich erschrocken.

Er hebt Nastja auf den Arm, streichelt ihr übers Haar und drückt sie an sich.

Da meine Mission erfüllt ist, drehe ich mich zur Tür.

„Warten Sie“, sagt der Mann. Seine Stimme ist sonor und ruhig. „Wir stehen in Ihrer Schuld.“

„Nicht doch. Ich habe nur getan, was jeder an meiner Stelle getan hätte.“

„Ich danke Ihnen.“

Sein Dank klingt aufrichtig, die Augen – was haben sie nur für eine Farbe, ich kann es nicht erkennen – sehen mich freundlich an. Dunkelblondes Haar fällt in die hohe Stirn, er lächelt und zeigt mit der Hand auf die Küchentür.

„Kommen Sie herein. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie dankbar ich Ihnen bin.“ Er umarmt das Kind immer noch fest. „Deshalb möchte ich Ihnen für die Rettung meiner Tochter Mlynzi spendieren.“

„Danke für die Einladung, aber ich muss gehen. Vielleicht ein andermal.“

Nastja schenkt mir ihr schönstes Lächeln, obwohl bei diesem Kind jedes Lächeln ganz zauberhaft ist, und winkt mit der Hand. Als ich schon auf dem langen Korridor bin, höre ich seine Stimme rufen: „Wie heißen Sie eigentlich?“

Ich sehe mich um und antworte: „Marta. Und Sie?“

„Ruslan.“ Er hält schon wieder den Topf mit dem Mixer in der Hand und Nastja steht neben ihm. „In welchem Stockwerk wohnen Sie?“

„Im siebten. Genau über Ihnen.“

„Also wir wohnen in der Nummer 68 und Sie in der 78?“

„Ja“, sage ich und gehe nach oben.

Die Tür zu unserer Wohnung steht offen. Weil ich es so eilig hatte, zu dem weinenden Kind zu kommen, habe ich offenbar vergessen, sie zu schließen. Wenn Maksym inzwischen zu Hause ist, wird er wütend sein, und das nicht ohne Grund.

Aber die Wohnung ist leer.

Ich sehe nach, wie spät es ist. Acht Uhr abends. Er ist schon ganz schön lange weg.

***

Maksym kommt gegen neun, und schon als er noch auf der Türschwelle steht, rieche ich den Alkohol. Er ist fröhlich und gut gelaunt.

„Wo warst du so lange?“, frage ich.

„Ich habe ein bisschen mit den Jungs gefeiert. Ich musste doch zum Ende meines Junggesellenlebens den Kollegen ein Bier ausgeben. Wir haben uns im Obolon ein bisschen amüsiert.“ Maksym zieht seine Schuhe aus und fällt aufs Bett. Ich will gerade von meinem Abenteuer mit dem verirrten Mädchen erzählen, da schaut er zum Schrank und bemerkt meine Puppensammlung.

„Was ist das denn?“

Seine Reaktion gefällt mir nicht sonderlich. Sie ist nicht eindeutig. Ist er etwa sauer, dass ich mich in der Wohnung einrichte?

„Das sind Porzellanpuppen. Ich sammle sie seit meiner Kindheit.“

„Puppen … aus Porzellan. Mhm.“

Er schaut von einer Puppe zur nächsten, und ich warte schweigend darauf, dass er seine Inspektion beendet. „Die erste Porzellanpuppe gab es bereits im 18. Jahrhundert“, beginnt er schließlich, „in Frankreich. Später haben auch die Deutschen solche Puppen hergestellt. Glänzende Augen, matte Haut, als wäre sie durchsichtig, präzise Gesichtszüge … Spielzeug für die Aristokratie. Denkst du, wir sind Aristokraten?“, fragt Maksym und durchbohrt mich mit seinem Blick.

Seine Stimme ist so ruhig und kalt, dass ich zu frösteln beginne. Warum erzählt er mir das alles? Was will er hören?

Da beginnt Maksym laut zu lachen. Sein eisiges Lachen dröhnt durch den Raum, sodass ich mir die Ohren mit den Händen zuhalten oder sogar weglaufen möchte. Er steht auf und kniet sich neben mich.

„Was hast du denn?“, fragt er, lacht aber weiter. Die Worte stecken in meiner Kehle fest.

„Ich hab doch nur Spaß gemacht.“

Er küsst mich und drückt mich an sich.

„Du bist meine Aristokratin.“

Ich lächle, aber in mir pocht es und in meinen Ohren dröhnt immer noch sein Lachen.

Ein Klopfen an der Tür durchbricht die Stille.

Maksym zieht überrascht die Augenbrauen hoch. „Erwartest du jemanden?“, fragt er.

„Nein“, antworte ich voller Gewissheit.

Maksym öffnet die Tür und ich höre Nastjas süße Stimme:

„Guten Abend. Wo ist denn Marta?“

Ich springe auf und eile zur Tür. Dort stehen Ruslan und Nastja. Das Mädchen hält einen Teller mit den versprochenen Pfannkuchen in den Händen und Ruslan ein Glas Marmelade.

„Wir wollten uns bedanken.“ Ruslans Stimme klingt unsicher.

„Also, noch mal unsere Dankbarkeit ausdrücken.“

Ich setze ein Lächeln auf und bitte sie hereinzukommen, aber Maksym steht weiter in der Tür und versperrt damit den Durchgang.

„Es ist schon ein bisschen spät“, sagt Ruslan, „vielleicht ein andermal.“

Ich nicke, denn ich verstehe, dass zu gehen das Beste ist, was sie jetzt tun können.

Maksym schließt die Tür und kehrt langsam zu mir zurück.

Er schweigt.

Da er nicht fragt, beginne ich zu erzählen. Ich erkläre meinem Mann, was sich heute mit dem Mädchen zugetragen hat, und erwarte, dass er stolz auf mich ist. Aber es kommt anders als gedacht.

Nachdem er mir zugehört hat, sagt Maksym: „Ich glaube nicht, dass du mit irgendjemandem aus diesem Haus Freundschaft schließen solltest. Vor allem nicht mit denen.“

Ich höre seine Worte, aber ich verstehe ihre Bedeutung nicht.

„Vor allem nicht mit denen“ klingt verächtlich.

„Warum denn?“, frage ich.

„Darum“, antwortet er.

Was soll man auf so eine vielsagende, aufschlussreiche Antwort entgegnen?

Wenig später kommt Maksym auf das Thema zurück: „Eine verheiratete Frau, die mit einem einsamen Witwer verkehrt. Was meinst du, wie schnell da Gerüchte entstehen?“

Die Tatsache, dass Ruslan Witwer ist, verblüfft mich mehr als Maksyms Verbot, ihn zu treffen. Die kleine Nastja wächst ohne Mutter auf! Das ist schrecklich. Furchtbar. Alle Verantwortung für die Erziehung des Mädchens liegt auf Ruslans Schultern. Welche Berge er wohl versetzen muss, um das Kind nicht nur zu ernähren und zu kleiden, sondern ihm auch die Mutter zu ersetzen und eine Atmosphäre zu schaffen, in der es sich fühlt, als würde es in einer vollständigen Familie aufwachsen.

„Hörst du mir zu?“ Maksyms Stimme holt mich in die Realität zurück.

„Ja. Du hast recht. Sei nicht böse, ich wollte nur dem Kind helfen, das sich verlaufen hatte.“

„Du hast ihm geholfen, und damit ist es jetzt gut.“

„Ja“, pflichte ich ihm bei und sehe ein, dass ich unbedacht gehandelt habe. Mein Verhalten und vielmehr noch eine Freundschaft mit Ruslan und Nastja könnten falsch verstanden werden, böse Zungen könnten Gerüchte in die Welt setzen, die weder wir noch Ruslan und Nastja brauchen können. Maksym hat wie immer recht.

***

Beim Einschlafen kommt mir der Gedanke, dass ich beim nächsten Mal nicht nur Maksym erzürnen, sondern auch seinen Ruf riskieren würde. Wenn er meint, dass eine anständige Frau sich nicht mit einem einsamen, verwitweten Mann anfreunden sollte, dann darf ich ihn nicht mit meinen Handlungen verärgern.

Alles scheint ganz klar, und doch steht mir die kleine Nastja vor Augen, die nicht nach Hause gefunden hat. Das Mädchen, dessen Mutter verstorben ist. Ein Mädchen, das Zuneigung und Zärtlichkeit braucht. Und irgendwo tief in meinem Herzen setzt sich Verständnislosigkeit gegenüber Maksyms Worten fest: Warum soll ich mich nicht mit einem Kind treffen?

Zur Wand gedreht versuche ich einzuschlafen. Da legt Maksym seine Hand auf meine Schulter und zieht mir das Nachthemd aus. Er setzt sich neben mich, beugt sich zu mir und küsst mich. Ich umarme ihn und erwidere den Kuss.

Sein Mund ist warm und feucht. Alles wäre gut, wäre da nicht der säuerlich-schale Alkoholgeruch, der das Atmen und Entspannen schwer macht. Ein beißender Geruch, der das ganze Zimmer erfüllt. Ein scharfer und stechender Geruch, den ich seit meiner Kindheit kenne. Ätzend und toxisch.

Wobei es weniger ein Geruch ist als vielmehr ein Gestank.

Mein Vater hat so gestunken.

SeptemberMittwoch

Die Kinder begrüßen mich freudig, alle ziehen gleichzeitig an mir. Ich habe schon immer gedacht, Erzieherinnen müssten aus Gummi sein, dann könnten sie sich ohne Schmerzen gut verbiegen. Unser Kindergarten ist geräumig, einer der renommiertesten in Luzk, wie Zoja Pawliwna unermüdlich wiederholt. Er besitzt ein großes, von einem Metallgitter umzäuntes Gelände, auf dem so viele Bäume wachsen, dass ich im Frühjahr und Sommer manchmal glaube, im botanischen Garten zu sein. Hier gibt es Lebensbäume, Zierweiden und Blautannen. Märchenhaft.

Gegen zehn Uhr schaut Zoja Pawliwna bei unserer Gruppe herein. Die Brille hält sich kaum auf ihrer Nasenspitze, wieder würde ich sie gerne hochschieben, damit sie nicht herunterfällt.

„Wo ist unsere Braut?“, fragt sie die Kinder, die sogleich überlegen, wer von ihnen heute diese Rolle spielt.

„Ich bin die Braut“, sagt Solomijka, die hinter mir hervorlugt, während ihre schrille Stimme durch den Raum hallt.

„Nicht du“, entgegnet Zoja Pawliwna etwas unpassend, „unsere Braut ist Marta Adamiwna.“

Die Kinder blinzeln verdattert, ich verziehe das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und klatsche in die Hände. Warum redet die Leiterin solchen Unsinn?

„Das ist ein Spiel“, greife ich den Faden auf, „heute werde ich die Braut sein und morgen Solomijka.“

„Und ich?“, fragt Katrusja und gibt Laute von sich, die einem Weinen ähneln. „Ich will, ich will.“

Katrusja benimmt sich immer so. Wenn sie einmal nicht die Erste ist, kommen sofort Tränen, in der Regel vorgetäuschte, keine echten. Aber wenn ich sie die Erste sein lasse, dann weint sie ebenfalls, denn, das muss man verstehen, die Erste zu sein, ist beängstigend. Eine kleine Dramaqueen also.

„Marta Adamiwna sieht nicht aus wie eine Braut“, gibt Wika zu bedenken.

Zoja Pawliwna betrachtet mich von Kopf bis Fuß und wirkt mit meinem Aussehen – Jeans, blauem Sweater, an den Füßen Mokassins – unzufrieden. Schon klar, was an mir sieht schon nach Braut aus?

Die Leiterin macht eine Handbewegung, als verscheuche sie Fliegen, wobei sie zu den Kindern sagt, sie seien noch zu klein und verstünden nichts. Mir streckt sie die feuchte Hand entgegen, schüttelt mich dann aber an der Schulter.

Ich habe keine Ahnung, was sie will. Erst einen Moment später dämmert mir allmählich die Bedeutung ihrer Worte: Sie gratuliert mir.

Wenn sich im Leben der Erzieherinnen etwas Wichtiges ereignet, wie die Geburt eines Kindes oder Enkels, eine Hochzeit oder ein Geburtstag, sammeln wir normalerweise in der Gruppe Geld, um zu gratulieren, und der Betroffene gibt dem Kollektiv einen aus. Diesmal ist es aber anders, denn bei mir handelt es sich um das schwarze Schaf. Mein Geburtstag am 1. Januar zum Beispiel fällt direkt auf einen Feiertag. Wenn die Kolleginnen nicht sowieso vergessen, mir zu gratulieren, dann tue ich so, als hätte ich vergessen, dass ich ihnen was ausgeben muss. Verpflichtungen dieser Art sind nicht meine Stärke, das gebe ich zu. Außerdem waren mir leeres Geschwätz und hohle Trinksprüche schon immer unangenehm. Deshalb „spiele ich die Dumme“, wie Bohdana zu sagen pflegt.

Allerdings hat sich schon morgens der Gedanke eingeschlichen, dass ich es kaum umgehen kann, meine Hochzeit mit den Kolleginnen zu feiern, und ich habe Maksym darauf hingewiesen, dass wahrscheinlich etwas in der Art auf uns zukäme. Er schaute mich daraufhin erstaunt an und fragte dann, ob ich im Kollektiv Freundinnen hätte. Er sei sich sicher, dass dem nicht so ist.

„Ich sehe also keinen Grund, wegen der Ansprüche dir fremder Leute Geld auszugeben“, schnauzte er.

Ich verspürte den Drang, ihn daran zu erinnern, dass er unsere Hochzeit ja auch mit seinen Kollegen im Obolon gefeiert hätte, aber ich schwieg. Denn ich hatte ja beschlossen, meinen Mann nicht zu verärgern, und blieb dabei.

Jetzt, da ich unter den neugierigen Blicken von Zoja Pawliwna zusammenschrumpfe, bedauere ich, dass ich nicht darauf bestanden habe. Wie auch immer erwartet man von mir zumindest Tee und Kuchen.

„Wenn Sie nichts dagegen haben“, flüstere ich ins Ohr der Leiterin, „könnten wir nach dem Mittagessen, während die Kinder schlafen, ein wenig Tee trinken.“

Ein breites Lächeln von einem Ohr zum anderen zeigt, dass sie einverstanden ist. Ihr roter Lippenstift glänzt noch mehr.

***

Ich überlasse die Kinder der Aushilfserzieherin Wita und gehe schnell einkaufen. Gut, dass es in Luzk an jeder Ecke einen Supermarkt gibt. Ich werfe zwei Kuchen, zwei Flaschen Wein, Tee, Kaffee und Obst in den Einkaufswagen. Natürlich reißt das ein Loch ins Budget, aber ich nehme mir vor, den ausgegebenen Betrag mit dem Geld auszugleichen, das mir die Kolleginnen schenken werden.

Auf dem Weg zum Kindergarten lächle ich bei dem Gedanken, alles richtig zu machen. Denn Geiz ist keine Tugend, auf die man stolz sein kann. Ob es mir gefällt oder nicht, ich werde mit diesen Leuten noch lange zusammenarbeiten müssen, und das heißt, dass man sowohl die freudigen als auch die betrüblichen Momente miteinander teilt.

Dann trifft mich, wie ein Pfeil in den Rücken, ein Gedanke, der dem vorherigen widerspricht und ihn überschattet: Heute ist erst der dritte Tag nach der Hochzeit und schon hintergehe ich meinen Mann. Ich habe dennoch vor, den Mund zu halten und nichts von der heutigen Aktion auszuplappern. Lügen werde ich nicht, aber schweigen. Denn Verschweigen und Betrügen sind unterschiedliche Dinge.

Zwar habe ich das nun mit mir selbst ausgemacht, dennoch bleibt ein bitterer Nachgeschmack.

OktoberMontag

„Hast du dir schon ein Kleid gekauft?“, fragt mich Oksana, mit der zusammen ich in einer Gruppe arbeite.

„Noch nicht“, antworte ich und bin froh, dass sie mich daran erinnert. Ich habe das passende Outfit für das Herbstfest völlig vergessen.

Unter den Erzieherinnen hat sich eine Art Tradition gebildet: Zu jedem Fest muss ein neues Kleid her.

Oksana beugt sich über ihre Papiere und schreibt sorgfältig ein Gedicht über ein Ahornblatt ab, das sie gerade im Internet gefunden hat. Äußerlich sind wir sehr verschieden. Ich bin klein, dünn und habe dichte, blonde Locken auf dem Kopf. Oksana hat kurzes, schwarzes Haar, das ständig über den Papierbögen hängt, sodass sie sich dauernd widerspenstige Strähnen hinters Ohr steckt. Ihre Schultern sind breiter als meine, sie hat lange Beine und ein blendendes Lächeln. Sie ist zwar nur zwei Jahre älter, glaubt aber, viel mehr Lebenserfahrung zu besitzen. Oksana hat mit zwanzig geheiratet, sie hat einen sechsjährigen Sohn, einen Trottel von Ehemann und eine hysterische Schwiegermutter. Trotzdem verteilt sie großzügig Ratschläge.

„Ich bin klein, aber von mir ist genug für alle da. Sei freundlich zu denen, die Freundlichkeit verdienen, und flöße jenen Angst ein, die deinen Frieden stören“, scherzt sie oft, aber ich meine, dahinter Kummer und Müdigkeit zu bemerken. Deshalb versuche ich, ihr nicht zu widersprechen. Um ihr nicht weh zu tun.

„Wem können wir diesen Text zutrauen?“, fragt sie, während sie noch schreibt. Ihre Fähigkeiten haben mich immer beeindruckt, ich habe sogar mal gescherzt, dass sie eine entfernte Verwandte von Julius Cäsar sein müsse, denn gleichzeitig zu reden, zu kauen, zu schreiben und sich um Kinder zu kümmern, das kann nicht jeder.

„Vielleicht Solomijka?“, schlage ich vor.

„Solomijka ist vor Publikum ein bisschen verloren, also nicht selbstsicher genug.“

„Na ja, viele unserer Kinder sind vor Publikum verloren, aber das heißt nicht, dass sie keinen Text bekommen.“

„Es ist so …“ Oksana schreibt die letzten Verszeilen auf. Dann setzt sie sich gerade hin, streicht eine Strähne hinters Ohr und starrt mich an.

„Ja?“

Was will sie denn? Was passt ihr nicht?

„Was ist denn nun?“

„Mach mich nicht nervös, Marta. Ich rede von deinem Kleid. Wann wirst du es kaufen?“, fragt Oksana – ohne jeden Scherz.

„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht“, sage ich wahrheitsgemäß.

„Interessant“, sagt sie und ihre Augen sprühen Funken. „Ist dein Kopf noch so voll von der Hochzeitsnacht, dass du keine Zeit hast, über solche Banalitäten wie das Herbstfest nachzudenken?“

„Ich lasse mir was einfallen“, sage ich leicht verärgert.

„Natürlich lässt du dir was einfallen. Das Fest ist am Mittwoch, aber du musst noch nachdenken. Ts, ts, ts.“

***

Das erste Zwielicht legt sich wie eine graue Decke über die Stadt. Dichter Nebel verhüllt Häuser, Autos, Passanten.

Ich gehe am Park der Neunhundertjahrfeier von Luzk vorbei, der allmählich zur Ruhe kommt. Er ist leer, als wäre er vergessen worden. Schmale, ausgetretene Pfade schlängeln sich zwischen den Bäumen hindurch, führen in die Tiefe des Parks und verschwinden im dichten Nebel. Tagsüber sind hier viele Menschen, aber gegen Abend legt sich eine wohltuende Ruhe über die Baumkronen. Ich horche in die Stille hinein und beschließe, Maksym bald einmal vorzuschlagen, am Abend spazieren zu gehen, obwohl ich tief in meinem Herzen bezweifle, dass er mitkommt.

Müde und erschöpft kehre ich nach Hause zurück. Als ich die Straße entlangzuckele, ist es, als würde mich der Nebel verschlucken, und als ich die Haustür erreiche, muss ich blinzeln, weil mich das Licht gnadenlos blendet.

Der Aufzug funktioniert schon seit drei Tagen nicht. Ich gehe zu Fuß in den siebten Stock. Ich habe jetzt nur noch den Wunsch, mich unter die Dusche zu stellen und mich dann unter der warmen Decke zu verstecken. Schlafen, schlafen und noch einmal schlafen. Draußen ist Herbst und auch in meinem Herzen ist Herbst.

Im vierten Stock treffe ich Ruslan, der zwei Stufen überspringt und auf mich zustürzt.

„Ist etwas passiert?“, frage ich beunruhigt.

„Oh, guten Abend“, grüßt er und bleibt so nahe vor mir stehen, dass mich der Duft seines Aftershaves in der Nase kitzelt. Er trägt dunkelblaue Jeans, und unter der Ballonjacke lugt ein kirschfarbener Pullover hervor.

„Guten Abend“, grüße ich zurück und schaue an mir herab auf meine alte, ausgeblichene schwarze Hose und die vor zwei Jahren gebraucht gekaufte, zerschlissene Jacke. Ich sehe aus, als käme ich gerade vom Gärtnern, nicht von der Arbeit.

„Ich laufe zum Laden“, erklärt Ruslan lächelnd. „Wissen Sie, Nastja wollte ein Brötchen mit gezuckerter Kondensmilch beschmieren. Aber dabei ist ein Problem aufgetaucht: Wir haben nämlich zwar Brötchen, aber keine Milch.“

„Ah!“ Ich nicke. „Grüßen Sie Nastja von mir.“

„Ja, gerne.“

Ruslan bewegt sich zwar, bleibt aber stehen. Wir schweigen, keiner von uns geht weiter. Da stehen wir wie zwei Statuen im Park, die gerne ihren Platz verlassen würden, aber nicht können.