All die glücklichen Familien - Hervé Le Tellier - E-Book
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Hervé le Tellier

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Beschreibung

»Mir war schon immer klar, dass meine Mutter verrückt ist.« Muss man seine Familie lieben? Eine intrigante Mutter, die ihren Sohn bei ihren Eltern abgibt, um im Ausland das Scheitern ihrer Ehe zu verwinden; ein geiziger Stiefvater mit einem geheimen Nummernkonto in der Schweiz; ein nur »Erzeuger« genannter biologischer Vater samt osteuropäischer Geliebter; eine Tante mit legendärem Männerverschleiß; ein verkappt homosexueller Onkel; ein patriarchaler Großvater – und mittendrin: Hervé Le Tellier, der Erzähler, der erschreckt feststellt, dass er für alle diese Komödianten seiner eigenen Familie nichts empfinden kann.

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Seitenzahl: 204

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Hervé Le Tellier

All die glücklichen Familien

Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Zitat

Stammbaum des Erzählers

Stammbaum des Erzählers

I

Die Dialektik des Monstrums

II

Die Beerdigung des Stiefvaters

III

Das Klavierkonzert Nr. 2 von Rachmaninow

IV

Grosspapa

V

Marceline

VI

Meine Schwester, diese Nutte

VII

Genitor

VIII

Guy

IX

Das Haus Le Tellier

X

Die nackte Wahrheit

XI

Cuvilly

XII

Das Konto in der Schweiz

XIII

Fragmente einer Kindheit

XIV

Der grosse Ausbruch

XV

Piettes Tod

XVI

Krieg und Frieden

XVII

Das alte Paar

XVIII

All die glücklichen Familien

Anmerkung

Über Hervé Le Tellier

Über das Buch

Impressum

 

 

 

Für Melville

 

 

 

»Die Wunde ist die Stelle, wo das Licht in euch eindringt.«

 

Jalâl al-Dîn Rûmî

Stammbaum des Erzählers

I

Die Dialektik des Monstrums

»Höre auf deinen Vater, der dir das Leben geschenkt hat, und missachte nicht deine alt gewordene Mutter.«

Sprüche 23.22

Es dürfte ein Skandal sein, seine Eltern nicht geliebt zu haben. Ein Skandal, sich auch nur die Frage gestellt zu haben, ob es eine Schande sei oder nicht, wenn man in seinem Innersten, trotz aller Anstrengungen in der Jugend, nicht ein so normales Gefühl wie die sogenannte Sohnesliebe empfindet.

Kinder dürfen nicht gleichgültig sein. Sie sind also dazu verdammt, auf immer Gefangene der Liebe zu sein, die sie spontan ihren Eltern entgegenbringen, ganz gleich, ob diese gut oder böse, intelligent oder idiotisch, in einem Wort: liebenswert sind oder nicht. Verhaltensforscher bezeichnen diese unkontrollierbaren und angeborenen Bezeugungen von Zuneigung als Prägung. Fehlende Sohnesliebe ist nicht nur eine Beleidigung für den Anstand, sondern auch eine Messerattacke auf das schöne Gebäude der Kognitionswissenschaft.

Ich war zwölf Jahre alt. Es muss ungefähr elf Uhr abends gewesen sein, und ich schlief noch nicht, denn es war einer dieser sehr seltenen Abende, an denen meine Eltern zum Essen ausgegangen waren. Allein daheimgeblieben, habe ich wohl gelesen, sicher Isaac Asimov oder Frederic Brown oder Clifford D. Simak. Das Telefon klingelte. Mein erster Gedanke war: Das ist die Polizei, es hat einen Autounfall gegeben, meine Eltern sind tot. Ich sage »meine Eltern«, um zu vereinfachen (man muss immer vereinfachen), denn es handelte sich um meine Mutter und meinen Stiefvater.

Es war nicht die Polizei. Es war meine Mutter. Sie verspäteten sich, sie wollte mich beruhigen.

Ich habe aufgelegt.

Soeben hatte ich entdeckt, dass ich mir keine Sorgen gemacht hatte. Ich hatte ihr Verschwinden ohne Angst oder Trauer ins Auge gefasst. Ich war erstaunt, so rasch meine Situation als Waise akzeptiert zu haben, erschrocken auch über ein kleines enttäuschtes Zwicken im Bauch, als ich die Stimme meiner Mutter erkannt hatte.

Da wusste ich, dass ich ein Monster war.

 

*

*  *

 

Von Serges Tod erfuhr ich an einem sonnigen Nachmittag. Serge ist mein Vater. Man fuhr mich gerade im Auto zum Festival von Manosque. Ich erinnere mich, dass außer dem Fahrer mindestens noch der Dichter Jean-Pierre Verheggen und der Schriftsteller Jean-Claude Pirotte im Wagen saßen.

Das Handy hatte geklingelt, die angezeigte Nummer war mir unbekannt und ich nahm ab. Es war meine Schwester. Ich sage »meine Schwester«, obwohl sie in Wahrheit meine Halbschwester ist, auch wenn mir nie wirklich bewusst war, dass ich eine Halbschwester hatte. Sie ist sieben oder acht Jahre jünger als ich; infolge meiner Adoption durch den Stiefvater tragen wir nicht denselben Nachnamen, und wir sind uns wohl nur ein halbes Dutzend Mal in unserem ganzen Leben über den Weg gelaufen. Ich habe indes eines Tages begriffen, dass sie mir den heroischen und mystifizierenden Mantel des großen, fernen Bruders umgehängt hatte, ein imaginäres Prunkgewand, das aus mir ihren Bruder machte, ohne dass es meinerseits irgendetwas gegeben hätte, das aus ihr meine Schwester machte. Aber ich hatte es aufgegeben, ihr diese grundlegende und enttäuschende psychologische Wirklichkeit nahezubringen. Wir hatten einander seit mehreren Jahren nicht mehr gesprochen.

– Unser Vater ist tot, hat sie mir gesagt.

Ich habe, unfähig zu antworten, durch die Scheibe geschaut, während die provenzalische Autobahnlandschaft an mir vorbeizog.

Wir beide teilten so etwas wie die Abwesenheit eines Vaters, da ich ihn nie wirklich gekannt und sie das väterliche Domizil mit ungefähr fünfzehn verlassen hatte, um sich zu ihrer Mutter zu flüchten, und sie ihn in der Folge nur selten wiedergesehen hatte. Diese Leerstelle, der fehlende Vater in unser beider Leben, war im Übrigen der einzige konkrete Gegenstand unserer sehr seltenen Gespräche. Im Unterschied zu mir, der ich mich schließlich mit dieser Abwesenheit abgefunden hatte, war sie, die ihre Kindheit mit ihm verbracht hatte, dazu nicht in der Lage und litt darunter. An jenem Morgen hatte sie wirklich unseren abwesenden Vater verloren.

– Unser Vater ist tot, hat sie wiederholt.

– Ah? Er ist tot? Seit wann denn?

Ich spürte die Stille, die sich im Auto eingestellt hatte. Das ist häufig die Wirkung des Wortes »tot«.

Sie erklärte mir kurz, er sei wegen Atembeschwerden ins Krankenhaus gekommen, die Lage habe sich dort verschlimmert, und in der Nacht sei er von einer Lungenembolie hinweggerafft worden.

Ich erkundigte mich nach den praktischen Details, nach Tag und Ort der Beerdigung. Ich habe kurz daran gedacht, ihr mein Beileid auszudrücken, aber das wäre nicht sehr elegant gewesen. Ich habe noch eine lange Minute Trauer vorgetäuscht, dann aufgelegt. Jean-Pierre Verheggen schaute mich besorgt an.

Zu seiner Beruhigung sagte ich lächelnd: »Nichts Schlimmes. Mein Vater ist gestorben.«

Jean-Pierre hat gelacht, und da wusste ich, dass ich ein Monster war.

 

*

*  *

 

Ich habe vom Tod meines Stiefvaters während des PEN-Festivals in New York erfahren, durch einen Anruf des Krankenhauses Bichat. Ich war in die Vereinigten Staaten geflogen, als er bereits seit einer Woche auf der Intensivstation lag. Es bestand aber keinerlei Lebensgefahr, und in Paris zu bleiben, um einen Mann zu besuchen, der im künstlichen Koma gehalten wurde und meiner Mutter Beistand vorzuspielen, schien mir nicht zwingend erforderlich.

Ich rief einmal täglich an, ich verstand, dass Guys Zustand sich nach und nach verschlechterte, dass die Antibiotika sich mit den Entzündungshemmern in einem eher ineffizienten und auf die Dauer tödlichen Wechselspiel befanden. Ich habe vorgezogen, nicht dort zu sein. Betroffenheit zu simulieren wäre noch schändlicher gewesen, als meine Gleichgültigkeit durchscheinen zu lassen, und das gegenüber einem Krankenhauspersonal, das schon alles gesehen hat und sich nichts mehr vormachen lässt.

Ich habe meinen Stiefvater nie geliebt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Mangel an Gefühlen nicht gegenseitig war. Es ist, wie man so sagt, niemals der Funke übergesprungen.

Ich war anderthalb Jahre alt, als er meine Mutter heiratete. Die Stelle des Vaters stand weitestgehend zur Disposition, aber er riss sich nicht darum, sie zu besetzen, und im Übrigen war auch ich nicht wirklich bereit, sie durch ihn besetzen zu lassen. Die Stelle ist schließlich nie vergeben worden. Die einen werden hierzu mit Gewinn die Studie von Pedersen et al. (1979) über den bestimmenden Einfluss des Vaters auf die kognitive Entwicklung des männlichen Nachwuchses lesen. Den anderen erklärt man am besten, dass die Vaterfigur einen anderen Weg einschlug.

Guy und ich passten nie zusammen. Ich kann mich an keinerlei Zärtlichkeit, keinerlei Vertraulichkeit erinnern, und ich hatte wohl kaum das sogenannte Alter der Vernunft erreicht, als ich entschied, dass er ein Dummkopf sei, ein sicherlich verfrühtes Urteil, das indes niemals in irgendeiner Weise widerlegt wurde.

Eines Tages ließ ich zu Hause eine persönliche Meinung verlauten. Eine Unbedachtheit, denn so etwas passierte mir nur selten, da die Debatten, die durch die von mir vertretenen Ideen ausgelöst wurden, mich nie zufriedenstellen konnten. Ich war elf Jahre alt, es war der Mai ’68, und ich hatte – ohne viel Federlesens, das stimmt – de Gaulles Innenminister, Michel Debré, als »dummes Arschloch« bezeichnet. Die Antwort meines Stiefvaters war: »Wäre er ein so dummes Arschloch, wäre er nicht da, wo er ist.« Diesem Satz verpasste ich umgehend das Etikett ›unterwürfige Blödigkeit‹, wenngleich mir spontan die Formulierung: »Dieser Kerl ist ein wirklich dummes Arschloch« durch den Kopf ging, was beweist, dass das Wort »Arschloch« mir leicht von der Zunge ging. Ich beschloss, keine Zeit mit einem fruchtlosen Streit zu verlieren, was in der Adoleszenz, jener Phase, die den Persönlichkeit konstruierenden Konflikten günstig ist, zweifellos ein Beleg sowohl für Weisheit als auch für einen Überlegenheitskomplex darstellt.

Mein Stiefvater respektierte jede Form von Autorität, Vorgesetzte, die Polizei, Ärzte; und übrigens gehorchte er auch meiner Mutter. Den Starken gegenüber war er schwach, den Schwachen gegenüber natürlich stark. Als Lehrer liebte er es, seine Schüler zu demütigen, sich über den einen vor den anderen lustig zu machen. Das war seine Art, Pädagoge zu sein.

Bei der Befreiung von Paris war der Ende 1931 geborene Guy zwölf Jahre alt, und fünfundzwanzig, als die Ereignisse in Algerien sich auszuweiten begannen. Eine Generation, die Glück hatte und doch eine Generation von Zwittern, mit einer Jugend, die eingeklemmt war zwischen Besatzung und Algerienkrieg. Er war zu spät geboren, um zum Kollaborateur zu werden, zu früh, um während seines Militärdienstes zu foltern. Nichts beweist, dass er das eine oder andere getan hätte. Selbst für schändlichste Taten bedarf es einer gewissen Kragenweite. Wahrscheinlich hätte er sich nicht geweigert, auf einen Wachturm zu steigen.

Meine Mutter und Guy bildeten den seltenen Fall eines symbiotischen Paares ohne Liebe. Sie niemals ohne ihn, er niemals ohne sie, niemals beide zusammen.

Dass Guy starb, berührte sie in keiner Weise, abgesehen von der Aussicht auf eine wirkliche, alltägliche Einsamkeit, die sie sich noch nicht vorstellen konnte. Doch war es ihr wichtig, dass man ihr keine Indifferenz unterstellte. Den Schein zu wahren, war eine gesellschaftliche Aktivität, auf die sie seit jeher sehr viel Energie verwandt hatte. So fand sich meine Mutter täglich im Krankenhaus ein, wie es – sie wurde nicht müde, es zu wiederholen – die Pflicht von ihr verlangte. Sie nahm ein Sudoku mit, setzte sich vor ihren Ehemann, der im tiefen Koma lag, doch rasch stellte sich Langeweile ein. Das hielt sie eine Zeit lang aus, konnte dann aber nicht anders, als bei einer Krankenschwester oder einem Arzt die Legitimation für ihren unmittelbar bevorstehenden Aufbruch zu erwirken. »Ich werde bald nach Hause gehen«, sagte sie, »es nützt doch nichts, dass ich bleibe, oder?« Dergestalt moralisch entlastet, floh sie dann rasch aus dem Zimmer.

Ich erfuhr also von Guys Tod, während ich in New York war. Aus der Ferne regelte ich die organisatorischen Fragen. Dann flog ich zurück. Zur Beerdigung.

Und da entdeckte ich, dass meine Mutter verrückt war.

Verstehen wir uns richtig.

Ich wusste immer schon, dass meine Mutter verrückt war, aber ich will nicht jetzt davon sprechen.

Seit Langem schon hatte sie jede Berührung mit der Realität verloren, doch ihr Ehemann regelte die Dinge des Alltags so gründlich, dass es ihm gelungen war, diese offensichtliche Wahrheit zu verschleiern. Mit seinem Hinscheiden erreichte die mütterliche Verrücktheit burleske Ausmaße.

Die Leichenhalle war fast menschenleer. Wir waren zu fünft, vielleicht zu sechst.

Die Totengräber, und das sind ja diese Männer von den Bestattungsunternehmen, haben ihr eigenes Vokabular. Meine Mutter hat das ihre, etwas direktere. Beide passen nicht zusammen.

Als der Leichnam hergerichtet und in der Seide des Sargs aufgebahrt dalag, wandte sich einer der Männer meiner Mutter zu und fragte mit sanfter Stimme:

– Madame, möchten Sie, dass er präsentiert wird?

– Wem? Mir? Aber ich kenne ihn doch … empörte sich meine Mutter. Das ist mein Mann!

Der Angestellte hatte sicher schon einiges zu hören bekommen und begann mit den protokollarischen Details. Er wollte wissen, ob der Sarg noch zur Hälfte geöffnet bleiben sollte, damit die Angehörigen, einer eher morbiden Tradition folgend, ein letztes Mal das Angesicht des geliebten Wesens zu sehen bekämen. Aber er formulierte es so:

– Wünschen Sie eine Ausstellung?

– Was denn für eine Ausstellung?, fragte meine Mutter mit ängstlicher Stimme.

Sie fügte hinzu, und diese rationale Überlegung gab ihr Sicherheit:

– Er besaß viele Krawatten.

Der Angestellte schaute sie verständnislos an.

Dann kam der Moment, da der Sarg zugeschraubt werden musste.

Es war ohnehin niemand da.

– Wir schließen nun, Madame.

Meine Mutter warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

– Sie schließen zwischen zwölf und zwei?, fragte sie voller Angst.

Ich habe gelacht. Und da wusste ich, dass ich ein Monstrum war.

II

Die Beerdigung des Stiefvaters

»Es gibt Menschen, denen der Tod eine Existenz verschafft.«

Louis Scutenaire, Meine Inschriften

Man möge mir dieses meteorologische Incipit des Kapitels verzeihen, aber es war im Monat Mai, und da die Temperatur auf 33° Celsius stieg, war das Trottoir vor der Pariser Kirche beinahe vollkommen menschenleer. Wir warteten auf den Leichenwagen.

Man könnte anführen, dass viele Greise einsam sterben, nachdem ihre Freunde ihnen einer nach dem andern in den Tod vorangegangen sind. Aber Freunde hatten meine Eltern keine. Als Kind fand ich es nicht sonderbar, dass, abgesehen von meinen Großeltern oder den Cousins, uns nie jemand zu Hause besuchte. Zum Tee, Kaffee oder Abendessen. In Ermangelung von Vergleichselementen kann Kindern das Verrückte normal erscheinen: Schließlich hatten sich Romulus und Remus auch nicht darüber gewundert, von einer Wölfin aufgezogen zu werden, Mogli von einem Bären und Tarzan von Menschenaffen. Erst später wurde mir das Befremdliche an meiner Normalität bewusst.

Sicher, zu Beginn ihrer Ehe mieteten mein Stiefvater und meine Mutter eine winzig kleine Pariser Wohnung, die für Einladungen wenig geeignet war. Aber als ich neun Jahre alt wurde, zogen sie um in eine »atypische« Wohnung, wie man das in den Immobilienanzeigen nennt, deren große, mit Bäumen bepflanzte Terrasse auf die lauten Boulevards Barbès und Ornano hinausging. Von dort hatte man eine freie, unverbaubare Aussicht auf Montmartre und Sacré-Cœur. Dieses Postkartenpanorama hätte aus der Wohnung einen Ort für Feste machen und ihr gesellschaftliches Leben umwälzen können. Nichts änderte sich.

Gelegentlich, aber das geschah nur äußerst selten, waren meine Eltern bei – wie man so sagt – Bekannten eingeladen. Ich habe meine Mutter nie anders als nörgelnd oder gar ungehalten von diesen Abendessen zurückkommen sehen. Ständig, und sehr gereizt, wiederholte sie: »Wenn ich nur daran denke, dass man diese Einladung erwidern muss.«

Meine Mutter lud nicht ein, sie »erwiderte« Einladungen. Und das »kotzte« sie an.

Also fand sich auf diesem sonnigen Pariser Trottoir kein einziger Freund des Verblichenen ein, und wir warteten »im engsten Familienkreis« auf den Leichenwagen, das heißt mit den Geschwistern der Mutter meines Sohnes, meiner Tante, meinen Cousins und Cousinen sowie einigen ihrer Kinder. Fügen wir noch die jugendlichen Gesichter der Freunde meines Sohnes hinzu, die ihn hatten begleiten wollen. Und vergessen wir schließlich nicht jene wenigen Personen, die, ich bin geneigt zu sagen: aus Pflichtgefühl, gekommen waren: ein älterer Herr, der gelegentliche Reparaturarbeiten bei meinen Eltern ausführte, der Gärtner des Landhauses und seine Frau, die ernstlich bedrückt zu sein schienen.

Niemand von den hier Anwesenden, der nicht einige Jahre zuvor zum fünfzigsten Hochzeitstag meiner Eltern eingeladen worden wäre. Die Feier zur Goldenen Hochzeit hatte aus einer quälenden Rundfahrt mit dem »Bateau Mouche« auf der Seine bestanden, für die man zu viele »Petits Fours« und zu viel Champagner bestellt hatte, mit Gästen, die sich nur wenig zu sagen hatten, allesamt vier Stunden lang gefangen auf dieser Flussfahrt vom Pont de l’Alma zum Pont de l’Alma. Ich habe das als eine Art Parabel auf meine Jugendzeit durchlebt, mit jener stechenden Empfindung, dass ich mich abermals, um von Bord zu kommen, ins kalte Wasser stürzen müsste.

Eine Dame in Schwarz, eine welke Endfünfzigerin, näherte sich meiner Mutter, um ihr ihr Beileid auszusprechen. Ich kannte sie nicht, und meine Mutter stellte sie mir sogleich vor:

– Das ist Anna.

– Anja, korrigierte die Dame in Schwarz. Anja Zewlakow.

Meine Mutter erwiderte:

– Ja, genau. Anna putzt bei mir. Sie macht das übrigens sehr gut.

Welch sicheres Gespür für Komplimente. Nach dieser spontanen Taktlosigkeit entfernte sich meine Mutter, und ich blieb allein zurück mit dieser Dame, die verlegen den Blick senkte. Ich verabschiedete mich von ihr, indem ich in meinen Blick und meine Geste so viel Höflichkeit und Respekt legte, wie ich aus mir herauszuholen vermochte.

Die Fluktuation bei den Putzfrauen meiner Mutter war höchst beachtlich. Sie kündigten rasch, weil sie es leid waren, des Diebstahls bezichtigt zu werden – meine Mutter ließ auf den Tischen Bündel großer Geldscheine herumliegen, um ihre Ehrlichkeit in Versuchung zu führen –, oder sie waren den Ton leid, in dem sie mit ihnen sprach. Madame Zewlakow hielt durch bis zum Jahresende, stellte damit einen Weltrekord von zwei Jahren auf, den niemand ihr je wieder streitig machen sollte.

Der Leichenwagen kam endlich an und hielt in zweiter Reihe vor dem Tor. Die Herren im zerknitterten schwarzen Anzug stiegen aus, öffneten die Heckklappe und zogen den Sarg heraus, indem sie ihn an den kupfernen Griffen anhoben und ihn sich dann mit einem diskreten »hop« auf die Schultern wuchteten.

Aber es war eine Pariser Kirche: Die Autos parkten, trotz der doch eindeutigen Parkverbotsschilder, Stoßstange an Stoßstange.

Der Verantwortliche des Bestattungsunternehmens schien zu zögern. Zwischen einer großen deutschen Limousine und einem japanischen Hybridmodell hatte er eine schmale Lücke ausgemacht, durch die ein dünner Mann sich zur Not durchzwängen konnte. Er machte eine Geste mit dem Kinn in Richtung der Angestellten. Diese wiederum tauschten untereinander einen Blick aus und beurteilten die Lage ganz professionell. Ich begriff sofort, dass sie die Herausforderung für annehmbar hielten, in einem prekären Drahtseilakt einen Sarg von mindestens 120 Kilo im Gänsemarsch zwischen den beiden Autos hindurch zu balancieren.

Sogleich stellte ich mir den Unfall vor. Der Sarg, der ihnen unweigerlich entgleiten musste, würde die Kühlerhauben eindrücken, die Windschutzscheiben zerschmettern, sich vielleicht gar öffnen? Der Unfallbericht würde sicher für ein amüsiertes Lächeln in den Büros der MAIF – Die militanten Versicherer – sorgen: »Ich bin der Sarg A. Sie sind das Fahrzeug B.«

Ich teilte dem Verantwortlichen meine starken Bedenken mit. Er willigte darin ein, keine unnötigen Risiken einzugehen, und so gingen die Angestellten, den Sarg immer noch auf den Schultern, die Straße bis zum Zebrastreifen dreißig Meter weiter hoch. Dort, vor der Kneipe an der Ecke zur Avenue, machten sie kehrt. Die Leute, die auf der Terrasse unter Sonnenschirmen ihren Kaffee tranken, schienen verstört, beunruhigt. Einige Gäste waren so beeindruckt von dem Vorbeiziehen des Todes in weniger als einem Meter Entfernung, dass sie sogar ihre Tasse absetzten.

Das alles spielte sich nichtsdestoweniger mit größtmöglicher Würde ab.

Camus fasste seinen Roman Der Fremde in einem Satz zusammen: »In unserer Gesellschaft riskiert jeder, der bei der Beerdigung seiner Mutter nicht weint, zum Tode verurteilt zu werden.« Wenn der Nobelpreisträger die Wahrheit sagt, lief meine Tante Raphaëlle keinerlei Gefahr. Sie weinte. Die Schwester meiner Mutter hat auf Beerdigungen immer geweint. Das ist eine Frage des Naturells. Hätte man einen ihr näher bekannten Hamster beerdigt, so hätte sie nicht weniger geweint.

Ihr ostentatives Schluchzen irritierte meine Mutter. Schulterzuckend schaute sie zu ihrer Schwester hinüber, dieser Schwester, die ihr gewissermaßen ihren Schmerz raubte. Plötzlich geriet sie in Rage und zischelte zwischen den Zähnen:

– Findest du nicht, dass die da übertreibt? Man könnte meinen, es sei ihr Mann, der gestorben ist.

Eine Stunde später sollte meine Tante in aller Aufrichtigkeit, aber auch reichlich unbedacht Folgendes ins Kondolenzbuch schreiben: »Meinem Schwager, in Liebe. Raphaëlle.«

Sie wusste noch nicht, wie meine Mutter diesen Satz deuten würde. Aber greifen wir nicht vor.

III

Das Klavierkonzert Nr. 2 von Rachmaninow

»Wenn ich lache, tue ich das nicht absichtlich.«

Erik Satie, Der Tagesablauf des Musikers

Das Marfan-Syndrom ist eine Veränderung des Bindegewebes. Es betrifft in etwa eine von fünftausend Personen. Das Gen, dessen Mutation die Krankheit auslöst, befindet sich auf dem Chromosom 15, und diese Mutation weist annähernd tausend Varianten auf. Ihre Symptome sind ein Aortenaneurysma, starke Kurzsichtigkeit und ein anormales Knochenwachstum. Die betroffenen Menschen sind häufig sehr hochgewachsen, und ihre Finger sind lang und dünn.

Der britische Schauspieler Peter Mayhew, der durch seine Rolle des behaarten Wookiee Chewbacca in Star Wars berühmt wurde, hat diese Krankheit. Abraham Lincoln soll sie auch gehabt haben, heißt es. Aber das ist ein anderes Thema.

Auch der Komponist und Pianist Sergei Rachmaninow litt an ihr, wenn man dem British Medical Journal vom Dezember 1986 Glauben schenken darf. Die Krankheit erklärte zum Teil seine Virtuosität, seine Fähigkeit, sehr große Akkorde zu greifen. Die größte Handspanne eines Pianisten, vom Daumen bis zum kleinen Finger, beträgt oft zweiundzwanzig Zentimeter. Sie erlaubt, problemlos Nonenakkorde zu spielen. Die Handspanne von Rachmaninow umfasste mehr als dreißig Zentimeter. Sein Klavierkonzert Nr. 3 in d-Moll op. 30 enthält Elftonakkorde, die man einhändig spielen muss, und sein Ruf, das am schwersten zu spielende Klavierstück der Welt zu sein, hat ihm den Spitznamen »Rach 3« eingebracht, so wie man auch »Mach 3« für die dreifache Schallgeschwindigkeit sagt.

Den größten Erfolg hat indes sein im Jahre 1901 komponiertes Klavierkonzert Nr. 2 in c-Moll op. 18. Es beginnt mit acht Takten, die ausschließlich auf dem Klavier angeschlagen werden, einer langsamen Folge von Akkorden, deren Volumen crescendo ansteigt, bis das Orchester einsetzt. Die Melodie wurde recht populär und ist auch Dutzende Male als Filmmusik verwendet worden, unter anderem von Claude Lelouch, und Tausende von Eiskunstläufern haben sich beim zweiten Teil im Adagio Sostenuto auf die Nase gelegt.

Das Klavierkonzert Nr. 2 ist nur wenig leichter zu spielen als das Rach 3. Auch hier muss man Dezimen greifen. Zu kleine Hände müssen an dieser Aufgabe scheitern. Aber man kann sich verbessern, der Körper ist lernfähig: Durch andauerndes Einüben des Repertoires, das eine größere Spannbreite der linken Hand erfordert, gewinnen die meisten Pianisten einen Zentimeter mehr Spannbreite auf der Linken. Man kann auch schummeln, wie zum Beispiel alle chinesischen Klaviervirtuosen, die das Konzert mit sehr flinken, aufgelösten Akkorden spielen, sie arpeggieren statt sie gleichzeitig zu greifen.

In der Mitte unseres Wohnzimmers thronte ein schwarzer Stutzflügel aus Ebenholz, ein Schimmel. Es war weniger ein Instrument als eine sperrige Dekoration, dunkel und glatt lackiert, die, mathematisch gesprochen, mindestens ein Zwanzigstel der gesamten Grundfläche der Wohnung einnahm, was ausreichte, um dem seltenen Besucher die musikalische Kultur anzuzeigen, die uns beseelte. Aber mein Stiefvater spielte nur sehr selten. Außer hin und wieder dieses höllische Klavierkonzert Nr. 2 von Rachmaninow. Ehrlich gesagt, spielte Guy nur das 2. Klavierkonzert von Rachmaninow, da er – leider, leider – zu wenig übte, um sich an andere Stücke zu wagen. Er war nicht sehr groß, seine Hände waren entsprechend proportioniert, und er arpeggierte, so viel ist gewiss. Er muss es übrigens früher einmal recht gut gespielt haben, denn es waren ihm ein paar sehr flüchtige und brillante Takte geblieben. Er spielte es immer seltener, bis zu dem Moment, da sein Vergnügen unter falschen Tönen erstarb und er das Klavierspiel ganz aufgab.

Aber er hörte es sich dennoch weiterhin an. In der Interpretation von Swjatoslaw Richter, mit ihren langen, dramatischen, hypnotischen Steigerungen. Oder in der von Rafael Orozco, ausladend und generös, sogar ein wenig zu sehr, wie manche sagen. Selbst in der von Wladimir Aschkenasi, von großartiger Intensität, bei der aber der Pianist manchmal zu vergessen scheint, dass da auch noch ein Orchester spielt. Aber gleichviel: Hab ich’s schon gesagt? Mein Stiefvater liebte dieses Konzert, und zwar so sehr, dass er meiner Mutter den Wunsch anvertraut hatte, es dereinst auf dem Totenbett liegend, in dem Moment, da sein großer Abschied unmittelbar bevorstehe, ein letztes Mal hören zu wollen.

Was würde ich selbst im letzten Moment meines Lebens gerne hören? Wenn ich darüber nachdenke, vielleicht gar keine Musik. Die Stimme eines Freundes, meines Sohnes, einer geliebten Frau. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich werde ich die Ohren spitzen, um, im Gegenteil, einen gänzlich unerwarteten letzten Laut zu hören, einen zufälligen und unpassenden Laut, einen Laut, der noch zum Leben gehören würde, das Lachen einer Pflegerin im Schwesternzimmer des Krankenhauses, ein ungeduldiges Hupen auf der Straße oder das einfache Klappern von Absätzen auf den Fliesen. Vielleicht ist da ja noch ein kleines Geräusch, bevor die letzten Zellen für immer erlöschen. Ich werde nehmen, was kommt.

Ich weiß auch nicht, welche letzte musikalische Erinnerung ich meinen Angehörigen während der sogenannten Abschiedszeremonie gerne hinterlassen würde. Das Hallelujah von Leonard Cohen erscheint mir doch zu banal, selbst in der Interpretation von Rufus Wainwright. In einem Moment, der noch zu bestimmen wäre, hätte ich gerne Knocking on Heaven’s Door, in der Soloversion von Bob Dylan oder im Duett mit Bruce Springsteen. Das eher feurige Peter Gunn Theme der Blues Brothers wäre ziemlich passend als Begleitmusik zur Einäscherung. Dies sind nur Anregungen. Wenn ich länger darüber nachdenke, wäre im Idealfall der Komponist meiner Beerdigungsmusik zurzeit noch nicht gezeugt.

Mein Stiefvater hatte also eines Tages das 2. Klavierkonzert als Musik für den Antritt der Reise ins Jenseits angesprochen. Es ist der Abend eines 2. April, als er, so die spätere Diagnose, mit einer Darmblutung ins Krankenhaus kommt. Am Morgen des 4