21,99 €
Sunday lebt mit ihrer sechzehnjährigen Tochter Dolly noch immer in dem Haus, in dem schon sie aufgewachsen ist. Sie ist anders als die meisten Menschen. An manchen Tagen isst sie ausschließlich weißes Essen und sie hat einen Ratgeber aus den Fünfzigern, der ihr in komplexen sozialen Situationen hilft. Sundays geordnetes Leben gerät jedoch aus den Fugen, als die charismatische Vita mit ihrem Mann nebenan einzieht. Gänzlich von der schillernden Person eingenommen, freunden die beiden Familien sich schnell an, gehen im Haus der anderen ein und aus. Sunday fühlt sich akzeptiert und geliebt wie selten zuvor. Auch Dolly ist zunehmend fasziniert von Vita. Genau hier liegt das Problem, denn was Sunday nicht ahnt: Unter der makellosen Fassade versteckt sich etwas Dunkles. Eine Mutter, ein Ratgeber und eine charismatische Nachbarin, die jede Regel bricht: All die kleinen Vogelherzen, der Debütroman von Viktoria Lloyd-Barlow, ist eine authentische Auseinandersetzung mit dem Leben als Autistin. Der Own-Voice-Roman einer neuen literarischen Stimme aus England war für den Booker Prize 2023 nominiert und wurde von Sabine Längsfeld ins Deutsche übersetzt. Das gleichnamige HörErlebnis erscheint als digital only bei GOYALiT und wird eindrücklich von Katja Danowski interpretiert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 456
Veröffentlichungsjahr: 2024
Viktoria Lloyd-Barlow
Roman
Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
Für meinen Mann
SLB
Es ist erst drei Jahre her, dass ich Vita zum ersten Mal sah. Der Tag begann, wie meine Tage damals immer begannen, mit der Begrüßung einer Tochter, für die Adoleszenz bedeutete, mir immer kleiner werdende Einblicke in sich zu erlauben. Ich weckte sie vor dem Duschen und Anziehen und musste sie dann, erwartungsgemäß, ein zweites Mal wecken, ehe ich nach unten ging. Ich befand mich in jenem Sommer in einer ausgeprägten Phase weißer Lebensmittel, und meine Frühstücksmahlzeit umfasste diverse Variationen: Toast, Haferflocken oder Crumpets. An Tagen, an denen meine Nahrung nicht trocken sein muss, gelten außerdem Rührei oder Omelett als weiß. Mir ist erst klar, ob es ein Tag ist, an dem ein Ei ein weißes Nahrungsmittel ist, wenn ich es in der Hand halte. Für mich bedeutet es eine kleine, aber tiefgehende Freude, dass ich als Erwachsene jeden Tag selbst entscheiden kann, ob ein Ei sich als weiß und damit essbar qualifiziert, ohne mich rechtfertigen zu müssen. Ohne dass man mir sagt, ich mache mich lächerlich. Dass ich hysterisch bin, nach Aufmerksamkeit giere und ignoriert werden muss, bis ich etwas in mich hineinzwinge, das von brutaler Farbe ist.
Gelegentlich, und nur in Dollys Beisein, aß ich damals demonstrativ etwas, das nicht auf meiner mir selbst zugewiesenen Lebensmittelliste stand. Du kannst auch normal essen; du kannst dich benehmen wie wir alle, ohne Theater. Das waren die Worte meiner Mutter, sie sagte es oft. Als sie noch lebte, antwortete ich ihr stumm und tue es jetzt, wo sie tot ist, immer noch: Solche Verstöße haben ihren Preis, Mutter, haben immer ihren Preis, und ich bin diejenige, die ihn bezahlt. Ich bin diejenige, deren Kehle und Körper brennen, wenn ich gehorsam Nahrung falscher Farbe schlucke; es ist mein Arm, der juckt, wenn eine Nachbarin mich begrüßt, indem sie mir sanft die Hand auf die Haut legt. Ich trage die Male dieser Begegnungen, dieser schmerzhaften Sinnesstörungen. Tatsächlich fühlte sich der Preis immer etwas niedriger an, wenn es meine Tochter war, für die ich funktionierte. Weil sie das Einzige ist, das ich von Anfang an mehr geliebt habe als die Einhaltung meiner Routinen. Schon damals machte mir das, was zwischen uns stand, Angst. Eine gefräßige Kreatur, die schnell wuchs und uns Tag für Tag ein Stück weiter voneinander trennte. Dollys Distanziertheit begegnete ich schon immer damit, noch härter an der Illusion von Normalität zu arbeiten. In ihrem Beisein konzentrierte ich mich darauf, meine natürlichen Verhaltensweisen außer Kraft zu setzen, wann immer es mir möglich war. Während einer weißen Phase wagte ich es, meinen Mahlzeiten zugegebenermaßen blasse, aber trotzdem nicht-weiße Elemente hinzuzufügen: geschälte und geschnittene Äpfel, blassgrüne Weintrauben, ein wenig pochierten Lachs oder Hühnchen. In einer Periode, in der für mich ausschließlich Obst und rosaroter Joghurt essbar waren, stellte ich uns zum Fernsehen einen Teller Käse und Cracker hin und erschauderte insgeheim, wenn die trockenen Krümel sich wie Tannennadeln in meiner Kehle spreizten.
In dem Jahr, ehe Vita kam, hatte eine Katze Gefallen an unserem Garten gefunden. Ein sehniges, graues Geschöpf, ein Kater, der den Blick starr in die Ferne gerichtet hielt, wann immer er sich näherte. Ein kleiner Staatsmann, der sich von Berührungen belästigt fühlte und doch um Höflichkeit bemüht war. Trotz seines offensichtlichen Desinteresses an unserer Gesellschaft besuchte er uns eine Weile regelmäßig, brachte uns die kleinen Leichen von Feld- und von Wühlmäusen. Diese legte er uns sorgsam zu Füßen, bevor er sich mit offensichtlichem Widerwillen neben uns setzte, den Körper angespannt, das kleine Gesicht abgewandt. Anfangs versuchten wir, ihn zu streicheln, doch obwohl er seine eingenommene Position nicht veränderte, erschauderte er bei unserer Berührung sichtlich und lehrte uns auf die ihm eigene traurige Weise, ihn vollständig zu ignorieren.
Wenn ich für meine Tochter nicht-weiße Dinge aß, hielt ich mich innerlich so straff gespannt wie der Kater und hoffte, wie er, darauf, dass meine Opfergabe wortlos und ohne Aufhebens gewürdigt wurde. Dolly war penibel darauf bedacht, meine Bemühungen, mit meinem eigentümlichen Essverhalten zu brechen, nicht direkt zu kommentieren. Ich entschied mich dazu, ihr adoleszentes Desinteresse an mir als Diskretion zu interpretieren, so wie ich es häufig tat. Im Gegenzug widerstand ich dem Drang, ihr zu erklären, wie erschreckend die Lebendigkeit und Beschaffenheit der breiten Nahrungsmittelpalette auf mich wirkten, die sie für gut erachtete. Ich erkenne jetzt, dass diese Behutsamkeit zwischen uns womöglich nur in meiner Vorstellung existierte; für mich fühlte sich all das Nichtgesagte, die vielen unausgesprochenen Kompromisse nach Liebe an. Jetzt sehe ich, dass meine Tochter im Schweigen keinen Trost findet, dass dies nur für mich gilt. Ich weiß jetzt, dass wir verschieden sind, einander unähnlich, was dies und auch vieles andere betrifft. Ich hätte daran denken müssen, wie schnell sie die Katze hasste.
Kurz nachdem ich Dolly an jenem Morgen zum zweiten Mal geweckt hatte, knallte die Haustür ins Schloss und informierte mich darüber, dass sie zur Schule gegangen und ich jetzt allein im Haus war. Trotzdem flüsterten aus dem ersten Stock eindringliche Stimmen zu mir herunter in den Flur. In ihrem Zimmer lief noch der Fernseher, wie so oft, plapperte in den leeren Raum hinein wie ein älterer, verwirrter Gast. Der Apparat war ein relativ neues Geschenk von Dollys Vater, und die asketische schwarze Eckigkeit stand in befriedigendem Widerspruch zu dem sonst sehr mädchenhaften Zimmer. Dollys Großmutter hatte die Möbel vor vielen Jahren ausgewählt, und die Laura-Ashley-Rüschen hatten schon eine ganze Weile nicht mehr Dollys kultivierterem Geschmack entsprochen. Als sie dreizehn wurde und eine Teenagerin war, machten wir Pläne, ihr Zimmer zu ihrem sechzehnten Geburtstag umzugestalten, und hatten mehrfach über verschiedene Wandfarben oder Tapeten und über die Vorhänge diskutiert, die sie sich dann aussuchen würde. Unsere Pläne waren jedoch zu einer Zeit entstanden, als 1988 in unglaubwürdig ferner Zukunft schien, genauso unwirklich wie die Vorstellung, dass aus meiner kleinen Tochter eine junge Frau werden würde. In dem Sommer, als Vita in unser Leben kam, war Dolly bereits sechzehn, und unsere Gespräche über die Neugestaltung des Zimmers waren meinem Schweigen gewichen, während sie laut darüber nachdachte, sich ein Jahr Auszeit zu nehmen oder bald zum Studium wegzugehen. Wie oft werde ich überhaupt noch hier sein?, fragte sie. Sie tat es mit einem Lächeln und einer Hand auf ihrem spitzen Forrester-Kinn. Wie oft würde sie überhaupt noch hier sein? Weil, ähm … Reisen … und neue Freunde und, na ja … eine berufliche Karriere, vermutlich. Als sie das Wort Karriere aussprach, holte sie kurz Luft, das Kichern eines Kindes, das im Biologieunterricht ein peinliches Wort aussprechen muss.
Wenn Dolly über ihre Zukunft redete, war ihr Tonfall besonders leicht und anmutig. Ein hübsches Lied, dessen Melodie mir gut gefiel, der Text jedoch nicht; diese Beschreibung passt auf vieles, das meine Tochter in jenem Sommer zu mir sagte. Ihre Äußerungen waren wohlklingende Ablenkungsmanöver, die Wunden spürte ich erst später, als sie schon nicht mehr da war. Die Fröhlichkeit, mit der sie darüber sprach, wegzugehen, war für mich genauso schrecklich wie der Gedanke an sich.
Obwohl ich Dollys Zimmer an jenem Vormittag mit der Absicht betreten hatte, den Fernseher auszuschalten, wurde ich von der sachlichen Natur der Diskussion daran gehindert. Ein älterer Professor wurde von einer kecken Frau in einem bunten Kleid interviewt, dessen Muster sich eigenständig zu bewegen und zu flackern schien wie Interferenzen auf dem Bildschirm. Der Professor war Experte für die Kultur des Viktorianischen Zeitalters und verbrachte den Sommer auf einem Kreuzfahrtschiff, wo er Vorträge hielt und signierte Bücher verkaufte, von denen er jetzt eines in der Hand hielt. Ab und zu gelang es ihm sogar, es in die Kamera zu halten.
Die Moderatorin im Studio war auf fröhliche, ignorante Weise enthusiastisch, doch die räumliche Trennung der beiden erschwerte das Gespräch. Die durch die Satellitenübertragung entstandene Verzögerung wurde weder erwähnt noch erklärt, was bei dem Interviewten den Anschein von Unentschlossenheit erzeugte. In der unmittelbaren Pause nach jeder Frage – Wann haben die Briten damit begonnen, zu Weihnachten einen Baum zu schmücken? Wieso sind Dickens’ Romane so lang? – starrte der Professor stumm und mit resolut unveränderter Miene in die Kamera. Sobald die Frage ihn endlich erreichte, verwandelte sich sein Gesichtsausdruck, und seine Züge wurden sichtlich lebendig. Die anfänglich starre Mimik und die verzögerten Antworten erinnerten mich schmerzlich an meine Interaktionen im Alltag. Ich fühlte mich zurückversetzt zu dem Ellbogenrempler einer sich schämenden Mutter gegen meinen Schulblazer, während ich stumm im Kopf vollendete Sätze bildete, jedoch Schwierigkeiten hatte, sie an die Oberfläche zu holen, wie eine wendige, unter der Wasseroberfläche gefangene Schwimmerin. Sowohl Fremde als auch Bekannte wiederholen regelmäßig ihre Fragen, weil es mir misslingt, innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens zu reagieren, der sich mir nicht erschließt. Ihre Blicke fixieren mich, als ob die darin liegende Strenge die unausgesprochenen Worte in irgendeiner Weise aus mir herausholen könnte.
Die Antworten des Professors waren, als sie schließlich kamen, exakt gefeilt. An einem Ort, dachte ich, wo Gespräche in einer so gedehnten Zeitspanne abliefen, könnte ich unerkannt bestehen. Die verzögerte Reaktion und das damit einhergehende Unbehagen waren mir so vertraut, dass ich den Arm ausstreckte, um den Fernseher auszuschalten. Der Professor starrte leidenschaftslos zurück, während er zusammen mit dem Bild verblasste, ein einsames Gesicht, umgeben vom endlosen Ozean, während er stumm darauf wartete, dass seine Worte an Land gingen.
Ich machte mich daran, Dollys Zimmer aufzuräumen, und genoss die wiedergewonnene Stille in meinem Zuhause. Als ich die Vorhänge aufzog, strömte das grelle Morgenlicht herein und blendete meine Sicht auf die über uns liegenden Felder. Unsere Stadt liegt in einem ausgehöhlten Tal. (Wo saubere Straßen auf der einen Seite von Farmland und auf der anderen von dem flachen See begrenzt sind. Das graue Wasser breitet sich besitzergreifend über die ganze Länge unserer Stadt aus und mauert uns ein.) Die Straße hinter unserer wird von Äckern berührt, die sich resolut aufwärts neigen, weg von der Stadt. Weil ich immer hier gelebt habe, weiß ich, dass mit dem Ende des Sommers die Flammen über diese Felder kommen. Nach jeder Ernte fühle ich mich dazu hingezogen, zuzusehen, wie die Bauern kindergroße Feuer entfachen, die alles fressen, was strohtrocken auf dem Boden liegt. Der Rauch zieht rasch in die darunter liegenden Gärten, und er ist faulig, aber auch voll süßer Erkenntnis. Und Jahr für Jahr sage ich währenddessen Bruccia la terra, bruccia la terra … vor mich hin. Damit beschreiben die Italiener die Intensität, mit der die Sizilianer ihr Land bestellen: Verbrenn die Erde. Ich flüstere es leise wie ein Gebet, damit die Brände gut und reinigend wirken. Diese Brände im Anschluss an die Ernte haben mich gelehrt, dass Feuer mit Licht verwechselt werden und einen auf dieselbe Weise rufen kann.
Als meine Augen sich an das Sonnenlicht gewöhnt hatten, sah ich auf dem Rasen nebenan eine kleine, dunkelhaarige Frau liegen. Unser Nachbarhaus war ein Ferienhaus, es gehörte Tom und seiner Frau, die jedes Jahr im Sommer herkamen und ab und zu auch an langen Wochenenden. Eigentlich mochten die Einheimischen die Sommerleute nicht, die in den letzten Jahren zunehmend mehr geworden waren, aber Tom war freundlich genug, um nicht in diese Kategorie zu fallen. Er hatte drei Kinder; sie lagen vom Alter her so dicht beieinander, dass es einige Jahre so aussah, als würde er immer wieder mit demselben Baby zurückkehren und als wären die wahren Neuzugänge die Kleinkinder, die wackelig hinter ihm her tapsten. Toms Frau hatte helles Haar und war selbst so weich und sanftgesichtig wie ein Kind. Die Frau im Garten war nichts von alledem.
Es berührte mich unmittelbar, wie sie da lag, nicht ahnend, dass ich sie anstarrte, Arme und Beine in einem Maße von sich gestreckt, dass es unnatürlich wirkte; als wäre sie aus beträchtlicher Höhe herabgestürzt oder von jemandem bewusstlos dort drapiert worden. Mir bot sich das Vergnügen der Beobachtung ohne die Ambivalenz von Blickkontakt, der seinen Preis hat und trotzdem immer undurchsichtig bleibt. Auf die gleiche Weise beobachtete ich einst meine Tochter, während sie unbeschwert auf dem Rücken treibend über den Monitor eines Ultraschallgeräts schwebte. Ich liebe dich am längsten, sagte ich manchmal zu Dolly, wenn ich sentimental wurde, um meinem Standpunkt Nachdruck zu verleihen, in einem Wettstreit, auf den sie sich nicht, unter keinen Umständen, einließ. Ich habe dich zuerst gekannt, sagte ich immer und immer wieder zu meiner Tochter. Ich habe dich gesehen und geliebt, bevor du mich zum ersten Mal gesehen hast. Zu Beginn sagte ich es in ihr wachsames Babygesicht und später mit dem gleichen zärtlichen und unangebrachten Besitzanspruch in ihr gleichmütiges Frauengesicht hinein. Ihre Augen blieben vom Alter unverändert; sie war immer gleichermaßen misstrauisch und bedenkenvoll.
Die Frau, die meine eigene Vita werden sollte, lag auf Toms grüngestreiftem Rasen im Sonnenschein, so herzergreifend regungslos wie die Obstbäume um sie herum. Der vorherige Sommer war lang gewesen, beiderseits ergänzt durch einen warmen Frühling und einen milden Herbst; zu seinem Höhepunkt hatte uns die Luftlosigkeit ins Haus verbannt wie ein streitlustiger Vater. Das Jahr von Vita begann mit einer Demonstration von Sonnenschein, einer visuellen Zurschaustellung des Sommers ohne echte Hitze. Jene ersten Tage waren denkwürdig strahlend mit einer flimmernden Lichtqualität, die von einer Wärme sprach, die ihr nicht innewohnte. Im Rückblick betrachtet wirkt diese Zeit, als wäre sie eine Art Kostümprobe für alles gewesen, was später im Jahr passierte, für die Explosion von Hitze, die durch unsere diesigen Straßen marschierte, mit starrem Grinsen und gereckten, lichterloh brennenden Armen.
Vitas Arme lagen horizontal abgespreizt, und die Handflächen zeigten nach oben, als warte sie auf angekündigte Geschenke. Ihr sorgsam hochgestecktes Haar und die tintenschwarze Reinlichkeit ihrer Kleidung ängstigten mich. Eine derart formelle Aufmachung ließ ihre Körperhaltung eher so scheinen, als wäre sie zusammengebrochen oder gewaltsam niedergestreckt worden. Ich rannte die Treppe hinunter und in meinen Garten hinaus, schloss dabei geräuschvoll die Terrassentür und öffnete die knarzende Tür vom Schuppen, um ihre Reaktion zu kontrollieren. Ihr Kopf bewegte sich in meine Richtung, und als sie die Augen aufschlug, schauten wir einander über den niedrigen Holzzaun hinweg direkt an, zwischen uns die Intimität ihres Wachwerdens. Dabei blieb ihr schönes Gesicht absolut gleichgültig, und sie stand auf und ging ins Haus, völlig unbefangen, als wäre sie allein und unbeobachtet.
Dann klingelte es, und sie war da. Vor meiner Haustür, blinzelte verschlafen und streckte mit hinter dem Rücken verschränkten Fingern die Arme hinter sich in den falschen Sonnenschein aus. »Mhm…«, summte sie sich leise zu, und dann sah sie mich und lachte. »Ich bin – noch – nicht ganz wach!«, sagte sie.
Noch. Nicht. Wiederholte ich stumm. Noch. Nicht.
Ich ahme ständig die Aussprache anderer Leute nach und habe gelernt, dies möglichst für mich zu behalten. Ich klopfe gerne die Silben mit und zeichne sowohl die Betonung als auch die Weichheit nach. Im Gespräch höre ich aufmerksam zu; diese Übung beschützt mich seit meiner Kindheit vor Augen, die in Unterhaltungen oder bei Begrüßungen nach meinen suchen. Normalerweise sagt mir ein Gesichtsausdruck nicht mehr als das gesprochene Wort. Was zu mir spricht, ist die Art zu reden – der Tonfall, die Stellen des Zögerns, die Betonung – all diese Dinge.
»Hallo! Ich bin Vita!«, sagte die kleine, wohlduftende Frau, die auf meiner Türschwelle stand.
Da-dam! DAAA di di-di, imitierte ich sie still, auf der Suche nach Mustern, die vielleicht Hinweis auf eine andere Herkunftsgegend – Grafschaft oder Ausland – oder ihre gesellschaftliche Stellung gaben. Vitas Vokale stachen heraus wie bei einer Fremdsprachlerin mit makellosem, bestens eingeübtem Akzent.
Es ist für mich von großer Hilfe, beim Zuhören die Finger zu verwenden, ähnlich wie ein Dirigent, aber ich habe festgestellt, dass das mein Gegenüber ablenken und verwirren kann. Bei einer ersten Vorstellung ist es üblich, zuerst die Begrüßung und dann den Namen zu nennen, aber Vitas bewusst gesetzte Pause vor dem Personalpronomen verlieh ihr die Aura einer heiß ersehnten Berühmtheit – Hier bin ich endlich!
Mein ehemaliger Schwiegervater pflegt eine langjährige, häufig erwähnte Freundschaft zu einem lokalen und leidlich berühmten Schauspieler. Ich bin diesem Mann im Haus meiner Schwiegereltern ein paar Mal begegnet, und jedes Mal begrüßte er mich, als wäre es das erste Mal, und mit unveränderlicher Routine: Er neigte den Kopf und sah bescheiden auf, ehe er mit einem kleinen, leicht verzerrten Lächeln seinen Namen nannte, so als wären diese Formalitäten nur ein Spiel, weil es bei seiner Bekanntheit völlig unnötig war, sich vorzustellen. Vita dagegen beweihräucherte sich nicht selbst.
Der enthusiastische Tonfall ihrer Begrüßung fühlte sich an wie die Anerkennung von etwas zwischen uns; ihr betontes ich schien mich einzubeziehen. Es war, als hätte ich sie bereits erwartet, oder zumindest, als hätte ich von ihrer Existenz gewusst, als wäre ich in gewisser Weise mit ihr vertraut.
Stets ist es die Pflicht der ortsansässigen Anwohnerin, eine freundliche Willkommensgeste zu entbieten. Wird von der alteingesessenen Nachbarin keine Einladung ausgesprochen, ist es am Neuankömmling, die ortsüblichen Gepflogenheiten im Umgang mit den neuen Nachbarn zu observieren und persönliche Informationen unaufgefordert weder zu teilen noch einzufordern. Meine Referenz diesbezüglich war ein oft konsultiertes Buch, das ich als Jugendliche mit dem Ziel erworben hatte, einige der omnipräsenten gesellschaftlichen Rätsel zu entwirren, mit denen ich mich konfrontiert sah. Benimmregeln für Damen; ein Ratgeber für gesellschaftliche Anlässe aller Art wurde 1959 von Edith Ogilvy verfasst, einer betagten und produktiven Autorin von Liebesromanen und Trägerin von Diamanten und kirschrotem Chiffon, auch bei Tageslicht. Edith war peinlich genau auf Etikette bedacht und zugleich annehmbar exzentrisch, eine schwer zu erreichende Balance, die ich immer noch zu meistern hoffte. Die inzwischen verstorbene Lady Ogilvy war zweimal verheiratet gewesen, und beide Ehemänner verhalfen ihr zu Adelstiteln und einem glamourösen Lebenswandel. Auf diese glücklichen Umstände wurde in ihren Schriften und auf den zugehörigen Fotografien regelmäßig Bezug genommen. Aus diesem Grund kreisten ihre Sorgen um eher seltene Themen – beispielsweise die Aufsicht des Personals auf dem Landsitz und die angemessene Begrüßung von Würdenträgern –, doch die gesellschaftlichen Ratschläge waren im Allgemeinen vernünftig. Edith widmete der Pflege nachbarschaftlicher Beziehungen und neuen Bekanntschaften ein ganzes Kapitel. Trotzdem ließ sich dort nichts über die Möglichkeit finden, eine Fremde im Schlaf zu beobachten, die dann erwacht und uneingeladen vor der Haustür steht.
»Ich habe dich eben gesehen und konnte es gar nicht erwarten, mich vorzustellen. Ich wollte dich sofort kennenlernen. Mein Mann sagt, ich sei immer so darauf versessen, mich mit Leuten anzufreunden, dass ich niemandem jemals die Chance gebe, uns zuerst einzuladen!« Vita lachte. Ihr Lachen war laut und unverfroren, sie hielt sich nicht die Hand vor den Mund, und sie versuchte nicht, ihre Belustigung hinunterzuschlucken, wie Menschen das sonst tun, sondern machte den Mund noch weiter auf und zeigte glänzende, kleine Zähne.
Beruhig dich, beruhig dich, still, still, still, war ich als Kind ermahnt worden, sobald ich laut wurde. Sprich lauter, nicht so leise, sag das noch mal, bekomme ich seit meiner Jugend regelmäßig zu hören, aber Vitas Bereitschaft, ihren Eifer über die Etikette zu stellen, befreite mich angesichts dieser spiegelverkehrten Vorstellung von allen Schuldgefühlen, und ich war dankbar dafür. Ihr Akzent trug die wohlüberlegte Präzision eines Lebens in Wohlstand in sich, Tennisstunden, Privatschulen und Sommerferien im Ausland. Ihr Tonfall war selbstsicher und beruhigend; es war der Tonfall, mit dem ein Gast bei einem unerfahrenen Barkeeper Getränke bestellt. Mir wurde klar, dass Vitas Akzent überhaupt nicht fremdsprachlich klang, sondern der britischste Akzent war, den ich je gehört hatte. Ihre Betonung war so perfekt, dass selbst ich, die es sich zur Übung gemacht hat, Inkongruenzen aufzuspüren, anfänglich geglaubt hatte, es würde sich um eine gewollte und sorgsam ausgeführte Zurschaustellung handeln, eine Parodie. Aber ihre Stimme klang rein und völlig unangestrengt. »Was machen Sie in Toms Haus? Sind Sie eine Freundin von ihm?«, fragte ich.
Ihre schlanke Eleganz ließ sie von Weitem jünger wirken, aber aus der Nähe betrachtet, sah ich, dass sie deutlich älter war als ich. Die zarten Linien in ihrem Gesicht verorteten sie vielleicht in den mittleren oder späten Fünfzigern, sie hatte durchdringende Augen und eine Haut, die zur Pflege regelmäßig und sorgfältig eingeölt dem Sonnenlicht ausgesetzt werden muss. Von dem Teint wird ihr in unserer Stadt nicht mehr viel übrig bleiben, wenn der August erst vorüber ist. Außerdem wird sie hier kaum noch Gelegenheit haben, ihren Teint zu präsentieren, so, wie wir hier meistens in Schal und Mantel gehüllt sind. Dies sagte ich im Tonfall meiner Mutter zu mir, aber noch während ich Vita stumm rügte, wusste ich, dass diese Frau das ganze Jahr über gebräunt sein würde und dass sie jede Menge Anlässe finden würde, Kleider zu tragen, in denen ihre sonnenverwöhnte Haut zur Geltung käme. Vitas Körper besaß einen glänzenden Schimmer, wie ich ihn noch bei niemand anderem gesehen hatte. Ich erwarte nicht, je eine andere Vita kennenzulernen. Sie war ein in Menschenform geschliffener Edelstein, etwas, das tief unter der Erde geschürft und ans Tageslicht befördert wurde, um zwischen Kieselsteinen zu leben, eine schimmernde Erinnerung an unsere Stumpfheit. Wo ich blass und unbedeutend bin, war Vita dunkel und sorgsam geformt, so wahrhaftig wie ein Stück Marmor. Und genauso kalt unter der Hand. Ich dagegen bin ein Gestotter von Mensch, eine flackernde Macke; ich bin die von der Sommersonne flirrende Luft.
»Tom? Oh, ja, Tom! Er ist ein guter Freund von uns. Ein lieber, lieber Mensch, nicht wahr? So lieb. Und wie heißt du?«
Ihre überraschende Anwesenheit auf meiner Türschwelle an jenem Tag war mir unangenehm, und in meinem Kopf blätterte ich hektisch in den Aktenmappen für Erstbegegnungen. Vita sah mich unverwandt an, doch es fehlte das vertraute Tick-Tack des Wartens; sie wirkte völlig frei von Neugier oder Zweifeln. In ihrem ruhigen Blick lag keinerlei Erwartung, und das war gleichzeitig neu und beruhigend. Irgendwann stellte ich mich vor, versuchte, das Muster ihrer Begrüßung zu wiederholen: Da-dam! DAAA di di-di.
»Hallo! Ich bin Sunday.« Als ich meinen Namen nannte, machte ich einen Schritt zurück, um zwischen uns Platz zu schaffen. Ich weiche ständig vor Menschen zurück; die ganze Welt ist eine rotierende Abfolge von Räumen, die ich versehentlich betreten habe. Und nie bekomme ich genug Zeit, um anzukommen, sondern werde stattdessen sofort in einen anderen Raum gerufen, der wiederum eine andere unbekannte Reihe an Verhaltensweisen erfordert. Manchmal drücke ich mich flach an die Wand, während ich vor einer Bekannten fliehe, und bewege mich dann seitwärts weiter, krabbenhaft und steifgliedrig. Sagen Sie stets ›Wie geht es Ihnen?‹ und niemals, auf gar keinen Fall, ›Erfreut, Sie kennenzulernen‹, flüsterte die unsichtbare Edith mir ins Ohr. »Wie geht es Ihnen?«
Vita antwortete: »Du bist Sunday? Fantastisch, Darling! Fantastisch. Wie geht es dir?« Sie klang so begeistert, als hätten wir vereinbart, uns Namen auszudenken, und meine Wahl würde ihr gefallen.
Ich bat Vita nicht, mir ihre Andeutung auf Komplizenschaft hinsichtlich meines Vornamens zu erklären; ich sagte ihr nicht, dass man sich bei der ersten Begegnung nicht duzt. Ich habe den Teil in mir, der von anderen Menschen Klarheit erwartet, schon vor langer Zeit gezügelt. Aber Verwirrung zu akzeptieren bedeutet, allein im Kaninchenloch zu leben. Es bedeutet, dass ich mich an allen Fakten und Realitäten festklammern muss, die sich bestätigen lassen, an Akzenten und Stimmmustern, die mir die Wahrheit sagen. Es bedeutet, ein zeichentrickhaftes Leben zu führen, in dem Unmögliches und Unwissenschaftliches nicht infrage gestellt werden dürfen, egal, wie absonderlich es wirkt. Der örtliche Posthalter begrüßt mich nicht mit dem fröhlichen »Hallo!«, welches er für die restliche Kundschaft benutzt. Betrete ich an einem wolkenverhangenen Tag seinen Laden, dann fragt er mich: »Was haben Sie mit der Sonne gemacht?« Er spricht scharf und ohne Humor, als würde ich ihm etwas vorenthalten, das rechtmäßig ihm gehört. Er begrüßt mich auch mit der Frage, weshalb ich Regen mitbrächte, oder Schnee, oder Wind; er macht mich und nicht die Jahreszeiten für jeden einzelnen Temperaturwechsel verantwortlich. Seine bevorzugte und häufig zum Einsatz kommende, für den Abschied reservierte Floskel ist das ebenso sinnfreie »Morgen bringen Sie den Sommer mit, in Ordnung, Liebes?«. Für schönes Wetter bedankt sich der Mann mit dem höflichen und routinierten Tonfall von jemandem, der sein Wechselgeld entgegennimmt.
Für Menschen, die so mit mir reden, habe ich einen Laut wie ein Ausatmen perfektioniert: Ha! Er deutet wirkungsvoll an, dass mich ihre Bemerkung sowohl amüsiert als auch erreicht hat. Ha! ist die Antwort auf alle zwischenmenschlichen Rätsel, die sich nicht durch die Alternative Wie interessant lösen lassen. Den Menschen gefällt auch diese Beobachtung, aber beide Entgegnungen dürfen ausschließlich in den Pausen zwischen ihren Aussagen getätigt werden und auf keinen Fall während ihrer Äußerungen fallen, auch dann nicht, wenn sie sich wiederholen. Auf keinen Fall sind andere auf die Wiederholung hinzuweisen oder zu korrigieren, egal wie sehr sie sich faktisch auch täuschen mögen. Außerdem mögen Menschen Blickkontakt. Aber nicht zu viel. Ich habe dafür ein System entwickelt, so wie für viele der zwischenmenschlichen Situationen, mit denen ich konfrontiert bin. Ich halte den Blick meines Gegenübers fünf Sekunden lang, sehe sechs Sekunden lang weg und wiederum fünf Sekunden lang hin. Falls ich fünf Sekunden nicht halten kann, versuche ich es stattdessen mit drei, bevor ich mir erlaube, den Blick abzuwenden.
Menschen mögen kein Gezappel, kein Fingerklopfen oder allgemein zu viel Bewegung; sie bevorzugen Regungslosigkeit. Und Lächeln. Edith Ogilvy insistiert: Ein Lächeln vermag noch das fadeste Gesicht attraktiv zu machen. Wem Schönheit versagt ist, der muss sich dennoch um eine freundliche und fröhliche Miene bemühen. Ein Lächeln zeitigt gesellschaftlichen Erfolg, wohingegen eine verdrießliche Miene, möge das Gesicht auch noch so hübsch sein, dem Bemühen, Freundschaften und neue Bekanntschaften zu schließen, entgegensteht.
Ich hingegen konzentriere mich auf die bevorstehende Erleichterung, wenn mein Gegenüber spricht, und schaue stirnrunzelnd zurück. So viele Regeln und Ermahnungen, dass ich vom Gesagten kaum ein Wort verstehe.
Vita interpretierte meine Rückwärtsbewegung als Einladung und betrat das Haus, wobei sie sich laut über die Ähnlichkeit unserer beiden Häuser ausließ. Sie tätschelte im Vorbeigehen mein Handgelenk, und der dunkelblaue Stoff ihres Kostüms auf meiner Haut war überraschend weich. Ihr Selbstvertrauen umwehte sie wie Parfum, und ich atmete es ein. Sie äußerte sich wohlwollend zu den durchweg weißen Wänden überall im Haus, aber sie tat es auf diese nicht vereinnahmende Weise, mit der jemand eine vorbeiziehende Aussicht oder ein flüchtig erblicktes Artefakt kommentiert. Mir war, natürlich, schon klar, dass ihr Zuhause, wo immer das sein mochte, vor Farben genauso überbordete wie vor Besuchern, Bildern, Durcheinander, Lärm. Edith Ogilvy war, was Inneneinrichtung betraf, äußerst streng, das Interieur hatte natürlich und unprätentiös zu sein und dabei Behaglichkeit auszustrahlen. Um guten Geschmack zu zeigen, sollte im eigenen Zuhause die Zurschaustellung von Protz vermieden werden, desgleichen offensichtlich neue oder neuartige Möbelstücke wie auch Fotografien, die allein darauf abzielen, gesellschaftliche Verbindungen zu demonstrieren. Zumindest hinsichtlich der letzten Anweisung bin ich erfolgreich gewesen.
Toms und mein Haus bilden ein einsames Zwillingspaar in unserer ruhigen Straße, zwei frühviktorianische Gebäude, die sich inmitten einer Ansammlung von Doppelhaushälften aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts aneinanderklammern. Toms Haus, das als Erstes errichtet wurde und am hintersten Ende der Sackgasse liegt, genießt die abgeschiedenere Lage. Der Erbauer unserer beiden Häuser ging in Konkurs, ehe er seinen Plan, die gesamte Straße mit diesen massiven, roten Backsteinhäusern zu bebauen, verwirklichen konnte. Die beiden freistehenden viktorianischen Gebäude mit ihren klaren, ernsthaften Linien sind also mit den kleineren verputzten Häusern in ihrer Nachbarschaft unvereinbar, und dieses gemeinsame Anderssein verleiht unseren Häusern einen Hauch von entschiedener Solidarität gegen ihre später hinzugekommenen Nachbarn. Das Gefühl, das ich für mein Haus hege, ist schmerzhaft; es ist das Gefühl eines Ehepartners, der über seinem Stand geheiratet hat und dessen Liebe permanent von der eiskalten Panik durchdrungen wird, plötzlich verlassen zu werden. Ich selbst hätte mir niemals ein Haus kaufen können, und ich denke oft über das Leben nach, das ich statt diesem vielleicht gelebt hätte, in einer feindseligen Institution hausend oder obdachlos und ungewaschen auf der Straße, ein Schrecken für mich selbst und andere. Es ist dem Fleiß meiner Eltern und ihrem bescheidenen Lebenswandel zu verdanken, dass sie die Hypothek für das Haus mehrere Jahre vor ihrem zehnten Hochzeitstag abbezahlt hatten, eine Leistung, die mich jedes Mal erstaunt, wenn ich an mein eigenes, klägliches Einkommen denke.
Vita und ich betraten meine Küche, in der immer noch die türkisfarbenen Küchenschränke mit dem bernsteinfarbenen Riffelglas stehen, die mein Vater eingebaut hat, als ich ein Kind war.
»Was für eine hübsche Farbe!«, sagte sie und streichelte unbefangen über die Fronten, so wie ich es vielleicht selbst getan hätte.
Doch da war es bereits zu spät, noch zu ändern, was ich eigentlich geplant hatte zu sagen. Ich habe festgestellt, dass die Leute bei einer ersten Begegnung normalerweise wissen wollen, wo du wohnst und was du beruflich machst. Weil Vita bereits wusste, wo ich wohne, hatte ich einen Satz vorbereitet, der meine Arbeit auf der Farm beschrieb. Mit einem Themenwechsel hin zu Inneneinrichtung hatte ich nicht gerechnet, es kostet mich Zeit und erhebliche Anstrengung, meine Erwiderungen oder meinen Fokus anzupassen. Ich beneide andere Leute nicht um ihre Fähigkeit, sich anzupassen; ich finde das erschreckend. Ihr Verstand ist wie ein Fisch im Netz, glänzend und zappelnd und damit beschäftigt, sich fortwährend völlig sinnlos im Kreis zu drehen. Solche wie ich schwimmen einfach weiter, unberührt von den Veränderungen der Strömung um sie herum.
»Ich arbeite auf einer Farm. In den Gewächshäusern.« Ich musste es aussprechen; sobald das Vorbereitete gesagt ist, bin ich imstande, mich dem Gesprächsverlauf, den mein Gegenüber gewählt hat, anzuschließen. Trotzdem war mir klar, dass Vita das Timing dieser Information merkwürdig erscheinen würde, weshalb ich es absichtlich leise sagte, beinahe zu mir selbst. Dann sagte ich, lauter: »Die Schränke hat mein Vater selbst gebaut. Sie stehen schon seit meiner Kindheit hier.«
Die Küchenschränke sind ein Ausbruch an Farbe, der nicht mit meinem sonst sehr weißen Haus zusammenpasst. Meine Mutter interessierte sich nicht für Inneneinrichtung. Sie liebte das Wasser, das sanft wogend draußen auf sie wartete; es war eine Straße entfernt, und man konnte es von ihrem Schlafzimmerfenster aus sehen. Wann immer mein Vater sie fragte, in welcher Farbe ein Zimmer gestrichen werden sollte, entschied sie sich für Weiß.
Wenn er sich nicht damit zufriedengab, sagte sie: »Dann entscheide du, Walter«, und verstummte.
Er ertrug es nicht, wenn sie schwieg. Also hielt er sich beim Streichen der Wände an ihre erste Antwort, und wir hatten ein weißes Zuhause, dessen sämtliche Möbel und Einbauten von meinem Vater ausgewählt und arrangiert worden waren. Er arbeitete schweigend an der türkisfarbenen Küche, während meine zehn Jahre alte Schwester und ich, nur ein Jahr jünger als sie, ihm stundenlang vom Flur aus zusahen. Wir verkündeten seine Bewegungen in nüchternem Raunen, als wären wir zwei Anthropologinnen, die versuchten, ein seltsames, uraltes Ritual einzuordnen. Er zeichnet mit dem Bleistift an die Wand, er hält einen Hammer, Vorsicht, er hat mich gesehen!
Vita nickte angesichts der Küchengestaltung meines Vaters anerkennend. Außerdem zählte sie begeistert die gemeinsamen Charakteristika unserer beiden Häuser auf. Dem verantwortlichen Architekten und Erbauer hatten es Verzierungen anscheinend angetan, und Vita registrierte jeden doppelten Schnörkel, jeden kunstvollen Bogen und Kamin, die mit jenen in Toms Haus übereinstimmten. Offensichtlich war sie eher erfreut als enttäuscht, dass es eine Reproduktion ihres Zuhauses auf Zeit gab; all das sagte sie zu mir, während sie sich umsah und geistesabwesend meinen Arm tätschelte, beiläufig, wie eine enge Freundin es getan hätte. Ich bot Vita einen Stuhl an dem kleinen Küchentisch an, jedoch nichts zu trinken. Die Benimmregeln für Damen mahnen, es sei unangebracht, beim ersten Besuch eines unvertrauten Gastes gänzlich neue Gebräuche einzuführen. Anstelle protziger Gesten, die nicht aufrechterhalten werden können, sollte die Gastgeberin der Besucherin einen Geschmack von ihren eigenen Gepflogenheiten vermitteln. Angeberei war Lady Ogilvy noch mehr zuwider als schlechte Manieren. In meiner Vorstellung kam in Ediths hauchdünne rosarote Rüschen ein wenig Bewegung, ehe sie um ihren weichen Körper herum wieder zur Ruhe kamen (körperliche Kraftanstrengung ist für Damen generell nicht wünschenswert, es sei denn, es handelt sich um einen gesellschaftlichen Zeitvertreib wie Tennis oder Krocket), während sie einen Vortrag über die Gefahren der Prahlerei hielt, vor denen sie so eindringlich warnte wie vor nichts sonst. Auch was die Gesprächsthemen betraf, über die man sich mit neuen Nachbarn unterhalten könnte, war sie strikt: Mein Vorschlag lautet, sich über die unmittelbare Umgebung zu unterhalten wie Einkaufsmöglichkeiten und Häuser und so weiter. Unter keinen Umständen darf das Thema auf individuelle Charakterzüge, Verhaltensweisen oder Gewohnheiten eingesessener Nachbarn gelenkt werden: Gespräche dieser Art zeugen von sehr schlechtem Benehmen.
Ich erzählte Vita die Geschichte unserer zusammengehörigen Häuser und vom Architekten, den sein Optimismus ruiniert hatte. Ich hatte ihn mir immer als einen ernsten Mann mit dünnem Schnurrbart vorgestellt, der danach strebte, in seiner Gemeinde Wohnraum zu schaffen, und sich für sein Versagen schämte. Sie reagierte, indem sie mit geschlossenem Mund ausatmete, ein Geräusch, das auch Dolly häufig von sich gab. Es war eine Andeutung, dass eine Sache zu vorhersehbar komisch war, um den Aufwand für ein echtes Lachen zu rechtfertigen.
»Aber ich finde das sehr traurig. Du nicht?«, sagte ich und imitierte dabei ihre vertrauliche Anrede.
Vita antwortete ohne zu zögern: »Traurig? Nein! Ich glaube, er war ein Luftikus wie ich! Ich denke mir auch jeden Tag eine neue Möglichkeit aus, um reich zu werden. Zum Glück weist mein Gatte mich jedes Mal auf die Mängel in meinen großartigen Plänen hin.« Ihr ei bei mein war langgezogen, und ihr Gatte besaß ein zusätzliches h, wie ein Hauch: mEIn GHA-tte. Ich probierte es stumm für mich selbst: Zum GLÜck weist mEIn GHA-tte … während Vita weitersprach. »Wäre er mit Rols verheiratet gewesen, hätte unser lieber Bauherr sich niemals ruiniert. Dann würden wir jetzt in einer Straße voller Häuser wohnen, die genauso aussehen wie unsere. Stattdessen sind wir die Außergewöhnlichen. Mir ist es so jedenfalls lieber, dir etwa nicht, Sunday?«
Sowohl die Verwendung meines Namens als auch meine Einbeziehung in ihre Außergewöhnlichen schmälerten auf einen Schlag sämtliche Sympathien, die ich für den hoffnungsfrohen Mann mit dem dünnen Schnurrbart, der mein Haus gebaut und damit alles verloren hatte, je gehegt hatte. Sein Niedergang wurde für uns zu einem Geschenk der Exklusivität.
»Rols handelt mit Häusern. Das ist sein Ding. Er ist schrecklich clever. Ein bisschen zu gut, um genau zu sein, denn unser Townhouse kam auf den Markt und war schon am selben Tag verkauft. Ausländische Käufer: Du weißt schon.« Die letzte Bemerkung war ein lautes Raunen, bei dem sie ihre Zähne zeigte.
Stumm probierte ich diesen unvertrauten, neuen Satz aus und wandte mich dabei von ihr ab: Ausländische Käufer: Du weißt schon. Ich sprach so, wie sie es getan hatte, stülpte die Lippen vor, um die Zähne nicht zu berühren, als wären die Worte an sich ungenießbar. Ausländische Käufer: Du weißt schon.
»Selbst die noch nicht fertiggestellten Immobilien sind alle reserviert. Aber ehe wir völlig auf der Straße standen, hat uns der liebe Tom unter die Arme gegriffen. So ein Schatz! Weißt du, seine Frau bekommt schon wieder ein Kind. Noch eins! Strikte Bettruhe, dieses Mal. Komplikationen.« Sie sprach das Wort auf dieselbe vertrauliche, zahnige Art aus wie eben bei den ausländischen Käufern. »Deshalb können sie diesen Sommer nicht hier sein.« Sie verzog den Mund und machte ein übertrieben trauriges Gesicht, wie um die Information pantomimisch darzustellen. Schau nur! So fühle ich mich, weil Toms Frau zu strikter Bettruhe verdonnert wurde und nicht in ihr Ferienhaus kommen kann. Siehst du? Dann, genauso schnell, lächelte sie wieder. »Deshalb hat er uns das Haus vermietet.« Schweigen senkte sich zwischen uns. »Hast du Kinder?«, fragte sie schließlich. Ihre Aufmerksamkeit zuckte durch die Küche wie auf der Suche nach Beweisen für Nachwuchs; ihre hellbraunen Augen ähnelten den glänzenden Scheiben mit dem schwarzen Mittelpunkt, die für teure Puppen verwendet werden. Es war leicht, sich diese Augen, rund und starr und vervielfacht in den ordentlichen Reihen eines Spielzeugwarenlagers vorzustellen.
»Ich habe eine Tochter. Sie ist allerdings schon sechzehn.« Als ich dies sagte, veränderten sich Vitas Augen, wurden entweder weicher oder schärfer; ich sah nur, dass es eine merkliche Veränderung gab. Die Gesichter neuer Menschen sind für mich besonders unbegreiflich und irritierend. Was darin zu lesen ist, ist oft nutzlos, als würde man zwar die Nationalität eines Fremdsprachlers erkennen, die Sprache selbst aber nicht verstehen.
»Dann ist sie ja erwachsen! Fuck, Gott sei Dank!« Ihre abgehackten Vokale mäßigten die Obszönität, denn das a war kaum zu hören, es klang wie f-ck. Damals machte es mich noch nervös, jemanden fluchen zu hören. Meiner Erfahrung nach folgte einem solchen Ausdruck stets ein Streit oder Kampf. Doch wenn Vita fluchte, verschaffte ihr die Diskrepanz zwischen Tonfall und Inhalt die nötige Distanz, wie eine Art akustische Abmilderung. Sie benutzte derbe Ausdrücke mit einer Beiläufigkeit, ließ die Worte fallen wie achtlos weggeworfene Zigarettenstummel. Sie sammelten sich zu ihren Füßen, ohne sie je zu berühren. »Unser Haus in der Stadt war von Kindern umzingelt! Und unsere Freunde bekamen ständig Nachwuchs. Sogar meine beste Freundin hat gerade erst …« Als sie verstummte, wurde sie zum ersten Mal vollständig still, auch körperlich, und schloss die Augen. Dann gingen die Augen wieder auf, und sie war wieder da, ihr blitzendes Lächeln fast ungetrübt, aber nur fast. »Dies hier ist die Rückkehr in die Welt der Erwachsenen, Sunday. Endlich!«
»Hast du keine …?«, entgegnete ich und verstummte, als mir die intime Natur dieser Frage bewusst wurde. Edith wäre mit einer derart direkten Erkundigung bei einer ersten Begegnung, wo das Gespräch allgemein gehalten werden sollte, nicht einverstanden gewesen. Mutterschaft stand auf der langen, langen Liste von Dingen, die man niemals fragen darf, zusammen mit allem anderen, was ich jemals hatte wissen wollen. Wie groß sind Sie? Das möchte ich von allen Fremden wissen, denen ich begegne. Können Sie Auto fahren? Haben Sie je über die Auswirkungen der Vereinigung Italiens auf den Süden nachgedacht? Fahren Sie gerne Bus? Und dieses Buch? Gefällt Ihnen dieses Buch? Ich lasse diese Worte nicht aus mir heraus, sondern schlucke sie hinunter, Tag für Tag; sie krabbeln wie Ameisen in mir herum, kitzelnd, beißend, ungenutzt. Schweigsamkeit wird als seltsam empfunden und ist für die Menschen trotzdem weniger herausfordernd als Fragen. Ich habe die Formel für die Anzahl von Fragen, die man stellen darf, noch nicht gefunden; ich weiß, dass meine immer zu viel sind. Und dass nur eine Frage für keine der beiden Seiten befriedigend ist.
»Kinder?«, beendete Vita den Satz. »Nein, Darling, vielen Dank. Das erscheint mir grässlich anstrengend zu sein!« GRÄH-sslich, versuchte ich es für mich, und lächelte. GRÄH-sslich. Das war nicht schlecht, auch wenn f-ck an erster Stelle blieb.
»Aber du bist verheiratet.« Das hätte ich auch gewusst, wenn sie ihren Ehemann nicht bereits erwähnt hätte. Wenn sie sprach, tanzten ihre Hände mit den funkelnden Ringen ungeduldig durch die Luft, als ob sie ihr Sprechen antreiben wollten. In Vitas überschwänglicher Gegenwart, dachte ich, könnte ich mein eigenes Sprechen vielleicht tatsächlich mit den Fingern dirigieren.
»Ja. Und du?« Sie zog die beiden letzten Worte zu einem zusammen, mit der Betonung auf der zweiten Silbe, und es klang wie undu? Ich benutzte die drei mittleren Finger, um ihren Worten zu folgen, klopfte sie mir aufs Bein, endete mit einem leichten Aufwärtszeichen meiner Hände, das sich als freundliches Interesse äußerte, nicht als Aufruf zur Anpassung.
»Nein. Nicht mehr«, sagte ich. Nichtmehr. Ich betonte es absichtlich auf diese Weise, weil mir der Klang ihrer verschmolzenen Worte gefallen hatte. Doch bei mir klang es harsch, die Konsonanten in der Mitte machten ein schabendes Geräusch, im Gegensatz zu der französischen Weichheit ihrer Betonung. Vitas Gesicht wurde in Reaktion auf meinen Tonfall deutlich weicher und offensichtlich desinteressiert. Verheiratete Frauen interessieren sich häufig für meine Scheidung und bohren beklommen nach, als würde ich so einen meiner Fehler enthüllen und sie damit gegen das gleiche Schicksal wappnen. Doch Vita besaß zu viel Kultiviertheit, um mich zu bedrängen.
»Rols wollte nie Kinder«, fuhr sie fort und führte uns sanft von dem verstörenden Thema meiner einstigen Ehe weg. Sie hielt den Blick mit einem kleinen, strahlenden Lächeln starr auf das Küchenfenster gerichtet, als stünde dort ein unsichtbarer Fotograf, der sie darum gebeten hatte. »Das hat er sehr früh deutlich gemacht. Er hat immer gesagt, er könne mich unmöglich mit einem Kind teilen. Obwohl ich glaube, dass er sich inzwischen nicht mehr ganz so sicher ist.« Sie senkte den Blick und musterte ihren Verlobungsring, drehte den großen Stein nach oben, sodass er ausdruckslos aufblitzte. Ich wartete, aber sie erläuterte nicht näher, worauf sich der mögliche Sinneswandel ihres Ehemannes bezog: seinen Wunsch, kinderlos zu bleiben, oder seine Sentimentalität ihr gegenüber.
Sie beobachtete mich weiter, und ich konzentrierte mich darauf, ihre Worte nicht lautlos mit den Lippen nachzuformen. Ich überlegte, was ich sagen wollte, nämlich, dass das Leben ohne Mutterschaft in meiner Vorstellung sehr erfüllend sein konnte. Vita lehnte sich zurück und zuckte in unser Schweigen hinein leichthin mit der Schulter, als würde sie ein kleines, harmloses Insekt abschütteln. Direkt unterhalb ihrer Kehle war eine lockere Schleife gebunden, aus dem dünnen Stoff ihrer Bluse, die unter dem Jackett nur zu erahnen war, und sie strich glättend und tätschelnd mit einer Hand über die losen Bänder.
Ihre Finger waren zierlich und sie hatte Hände wie ein Kind, abgesehen von den burgunderrot lackierten Nägeln, die dunkel glänzten, wenn sie gestikulierte, was oft geschah. Ich berühre andere Menschen generell nicht gern, aber in diesem Moment wollte ich meine Hand über Vitas kleiner Hand schließen und sanft ihre Finger beruhigen, die über ihre Brust tanzten. Irgendwann später tat ich es, und ihre Haut war, wie ich bereits gewusst hatte, kalt. Ich wusste auf jene instinktive Weise Dinge über Vita, wie die meisten Menschen sie übereinander wissen. Ich hatte immer gedacht, es würde sich um eine übernatürliche Fähigkeit handeln, bis mir klar wurde, dass es dasselbe ist, wie bereits im Vorfeld genau zu wissen, wie sich Erde oder Pflanzen anfühlen. Die Dinge, die ich zutreffend über Vita erkannt hatte, waren nicht die wichtigen Dinge, wie sich herausstellte. Immerhin – das, was ich über sie wusste, erschloss sich mir mit einer Mühelosigkeit, die Liebe nachahmte.
»Rollo arbeitet in der Stadt. Er ist gerade noch dort.« Sie sprach mit der aufgesetzten Gleichgültigkeit einer Lottogewinnerin, als wäre die ständige Abwesenheit ihres Ehemannes ein zu großes Glück, um sie als Absicht zu bezeichnen. »Wir haben früher öfter zusammengearbeitet, aber ich bin alt geworden, und er nicht. Männer altern nicht, habe ich recht?«
Doch, natürlich tun sie das, dachte ich verstört. Das ergibt keinen Sinn.
Und ausnahmsweise muss meine Verwirrung offensichtlich gewesen sein, denn sie fuhr fort, wie zur Erklärung. »Sie haben länger die Wahl als wir, das ist alles. Rols könnte immer noch einen Stall voller Kinder kriegen.« Sie machte eine ausladende Geste, als wären wir bereits von diesem gespensterhaften und nie gezeugten Nachwuchs umgeben. »Und ich nicht.« Sie presste die Hände zusammen, beendete das Thema und lächelte strahlend. »Wie heißt deine Tochter?«
»Dolly.« Ich konnte ihren Namen nicht aussprechen, ohne zu lächeln, kann es noch immer nicht.
»Oh, ich liebe diesen Namen«, gurrte Vita. »Wie hübsch! Meiner klingt nach einer dicken alten Omi …«
Ich wusste, dass ihre übertriebene Betonung von Oo-mi mit dem langgezogenen Vokal am Anfang affektiert war, dass sie eigentlich den Begriff Großmutter verwendet hätte, jede einzelne Silbe so knapp und eindeutig wie der Atem einer Schwimmerin. Das weiß ich, weil meine eigene Art zu sprechen ebenfalls durchlässig ist und den Akzent anderer Leute nachahmt. Das Ding, das zwischen mir und der Sprache existiert, zwischen mir und anderen Leuten, ist fadenscheinig und wechselhaft. Vita hatte ihre Vokale sanft in die Länge gezogen, um den Unterschied zwischen uns zu verwischen. Den Klang ihrer echten Stimme mochte ich lieber; Vita sprach wie eine der Mitford-Schwestern oder eine weiß behandschuhte Debütantin, aus der Ferne auf Schwarzweißfilm gebannt. Ich stellte mir vor, wie ich Dolly am Abend nach der Arbeit von unserer neuen Nachbarin erzählen würde. Ich würde sagen, »Vita spricht nicht, sie trillert. Wirklich, sie trillert. Wie ein kleiner Vogel.«
Vita redete immer noch. »… und wenn ich mir selbst einen Namen aussuchen würde, wäre es genau dieser. Dolly.« Sie schaute in den Garten hinaus, als würde sie ernsthaft darüber nachdenken, ihn zu benutzen, diesen Parallelnamen. Door-ley. Ich wurde es nicht müde, sie den Namen meiner Tochter sagen zu hören. Nicht einmal, als sie Dolly Doorls nannte. Nicht einmal ganz zum Schluss. Ich glaube, ich würde sie es immer noch gerne sagen hören.
»Eigentlich ist das die Kurzform. Dollys ganzer Name lautet Dolores, nach meiner Schwester. Meine Schwester Dolores.« Ich wiederholte den Namen in der Hoffnung, dass sie ihn dann vielleicht ebenfalls aussprach.
So, wie Dolly nach meiner Schwester benannt worden war, war meine Mutter nach ihrer verstorbenen Großmutter väterlicherseits benannt worden, Marina. Sie war das älteste von sieben Geschwistern, die alle in ihr eine zusätzliche Mutter sahen und Schwierigkeiten hatten, ihren Namen auszusprechen, weshalb sie bei allen nur Ma hieß. Davon erzählte ich Vita nichts. Es war mir nicht wichtig, sie den Namen meiner Mutter aussprechen zu hören.
»Deine Schwester? Wie nett, und ich vermute, die beiden stehen sich sehr nahe? Lebt sie in der Nähe?«, fragte Vita.
»Sie ist nicht … war nicht … Also, meine Schwester ist nicht … mehr da. Meine Eltern auch nicht, um genau zu sein. Nur noch Dolly und ich …« Wieder verstummte ich, es tat mir sofort leid, dass ich damit angefangen hatte, und ich bereute die Tatsache, dass es Fragen nach sich ziehen würde, Ausrufe des Bedauerns und, besonders unangenehm, Versuche zu trösten. »Früher«, sagte ich, als wäre ich eine Lehrerin, die auf die Frage einer Schülerin antwortet, »glaubten die Menschen in Süditalien an die Wiedergeburt der Seele, dieser Glaube ging so weit, dass ein Neugeborenes automatisch den Namen jener nahen Verwandten oder Geschwister bekam, die zuletzt verstorben waren. So kam es, dass Eltern mehreren Kindern denselben Namen gaben, jeweils fortlaufend den Namen des Kindes wiederholend, das sie zuletzt verloren hatten. Das überlebende Kind wird bevorzugt behandelt, denn es trägt die Seele vieler und muss für die anderen mitgeliebt werden.«
Vita hörte mir geduldig zu. Dann, als ich schließlich verstummte, wiederholte sie den letzten Teil wie ein Echo für mich. »… und muss für die anderen mitgeliebt werden? Ja, das ergibt Sinn.«
Sie beugte sich zu mir und schaute mir ins Gesicht, ganz dicht vor mir und völlig unbefangen. Ich bekam das Gefühl, als hätte ich eine unsichtbare zwischenmenschliche Linie überschritten, die ich nicht hätte übertreten dürfen, als hätte ich den Weg verlassen und die verbotene Wiese betreten. Ich wandte den Blick ab und schaute hinaus in meinen Garten. Doch als sie wieder sprach, tat sie es so behände wie eine Mutter, die mit einem Griff ihr stolperndes Kind vor dem Sturz bewahrt. »Wie schön, dass du deiner Tochter einen Namen aus der Familie gegeben hast, Darling. Das war absolut richtig so. Und ich weiß jetzt schon, dass du Dolly genug für sie beide liebst.«
Mit dieser Bestärkung schenkte Vita mir eine Gewissheit, die mir bis dahin völlig unbekannt gewesen war. Es war nicht der wärmende Trost, den ich mir von der Gewissheit erwartet hatte, sie raunte eher etwas Schlafendem in mir leise zu. Etwas, das seit Ewigkeiten geschlafen hatte.
Am Morgen nach unserer ersten Begegnung, kurz nachdem Dolly in die Schule gegangen war, tauchte Vita wieder vor meiner Haustür auf. Diesmal war sie im Schlafanzug. Sie stellte sich nicht noch einmal vor und entschuldigte sich nicht für den frühen Besuch. Sie bewegte sich leichtfüßig und elegant durch meinen Flur und in die Küche, als wären diese Besuche eine Gewohnheit von uns. Sie begann das Gespräch ohne Einleitung oder Hinführung, sondern redete, als befänden wir uns bereits mitten in einer Diskussion. Es war lange her, seit ich mir die Nähe zu einem anderen Menschen gewünscht oder mir auch nur erlaubt hatte, an die Möglichkeit von Nähe zu glauben. Doch in dem Moment wollte ich diese Nähe, konnte spüren, wie das Bedürfnis danach wie ein aufgeregtes, kleines Tier in mir herumzappelte, rhythmisch und rasend schnell wie ein zu kleines Herz.
»Hast du Milch? Wir haben rein gar nichts im Kühlschrank außer Wein. Ich bin eine fürchterliche Hausfrau. Rols sagt immer, ohne die ganzen Freunde und Restaurants würde er in der Stadt verhungern.« Als sie verhungern sagte, legte sie sich wie beschirmend je eine Hand an die Außenseite jedes Auges, schaute zu Boden und schüttelte langsam den Kopf. Es sah aus, als würde sie das Schamgefühl für ein weit entferntes Publikum darstellen. Vita war in sämtlichen Äußerungen extravagant und theatralisch, und damals mochte ich das. Ihr Lächeln blieb strahlend, als sie wieder zu mir hochsah, die Hände immer noch halb vor ihren großen Augen. »Was soll er hier oben nur machen?«
»In der Stadt gibt es ein Café. Und einen Chinesen. Es gibt einen Chinesen, der Essen zum Mitnehmen anbietet. Du wirst es mögen«, sagte ich in der Absicht, sie zu beruhigen, wie ich es mit Dolly gemacht hätte.
Ich wiederholte stumm ihre Betonung: rein GAAH nichtsim Kühl-schrank; FÜRCH-ter-li-che Haus-frau; ver-HUN-gern. Noch war mir unklar, inwiefern diese scheinbar zufällige Betonung solcher Worte mit dem Inhalt des Gesagten in Zusammenhang stand. Meine Aussprache ist monoton, und manchmal imitierte Dolly meine Sprechweise, benutzte eine übertriebene Roboterstimme, mit der sie uns beide zum Lachen brachte.
»Gu.Ten. Mor.Gen. Mut.Ter.«, sagte sie als Antwort auf meine tonlosen Begrüßungen und bewegte die Arme und Beine dazu so steif, als wäre sie aus Metall gegossen.
Vitas Tadel hinsichtlich des leeren Kühlschranks und ihres ehefraulichen Versagens war keine Selbstherabsetzung, sondern Selbstbeglückwünschung. Das erkannte ich daran, dass sie breit lächelte, als ich ihr prüfend ins Gesicht sah, begeistert darüber, dass sie nicht funktionierte wie die anderen Frauen in unserer Straße. Vita hatte ein offenes Gesicht; sie besaß die vollkommene Kombination aus symmetrischen Gesichtszügen und einem tiefgreifenden Desinteresse daran, anderen zu gefallen. Diese Faktoren machten ihr Gesicht vermeintlich so leicht lesbar wie ein Kindergesicht. Dieser Anschein von Natürlichkeit war in Wirklichkeit ein Konstrukt, aber ein schönes. Auch was sie sagte, war ansprechend; ich war nie auf den Gedanken gekommen, dass unsere Unfähigkeit als Ehefrauen gefeiert werden könnte. Edith Ogilvy war der Auffassung, dass Ehefrau zu sein das größte und erstrebenswerteste Privileg des Frauseins darstellte, auch wenn dies nicht auf mich zugetroffen hatte. Vita setze sich an den Küchentisch und ließ sich lässig gegen die Stuhllehne sinken, als käme sie mich schon seit Jahren besuchen.
Damals wusste ich nicht, dass man eine Nachbarin um etwas bitten durfte, noch dazu, wenn der Mangel des betreffenden Gegenstandes auf schlechte Planung zurückzuführen war und nicht auf einen Notfall. Dies war mit Sicherheit in Ediths Buch nirgendwo erwähnt worden.
Vita gähnte laut, während sie mir zusah, wie ich den übergroßen Kühlschrank aufmachte, den Dollys Großvater uns letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Er hatte die altmodischen Schauschränke im Laden durch kantige Modelle mit silbernen Leisten und Glasfronten ersetzt. Ich hatte mich über das Geschenk gefreut, denn ich tätige derart kostspielige Anschaffungen nicht gerne. Auf meinem Bankkonto befindet sich noch immer eine beträchtliche Summe, doch derartige Beträge kann ich alleine nicht erarbeiten.
In jenem Sommer belief sich mein Erbe noch exakt auf die Hälfte der ursprünglichen Summe, und ich kann nicht sagen, wann mir das Geld ausgehen würde, würde ich verschwenderischer leben. Ich lebe mein Leben heute, wie auch damals, in der Annahme, dass mir das Geld gerade reicht. Doch was Dolly betraf, galten diese Beschränkungen nie.
Ich reichte meiner Besucherin eine Flasche kalte Milch, und sie legte die Hände auf jene dankbare und begehrliche Weise darum, wie Menschen es manchmal tun, wenn sie einen heißen Becher Tee bekommen. Sie ging nicht wieder zurück nach Hause. Obwohl sie den erbetenen Gegenstand erhalten hatte, blieb sie bei mir und redete weiter. Ich setzte mich gegenüber von ihr an den kleinen Formica-Tisch, der zu den vielen Relikten aus der Ehe meiner Eltern gehört. Ich trinke weder Tee noch Kaffee; Dolly hatte sich diese Dinge, seit sie noch sehr jung war, immer selbst zubereitet. Falls es das war, was sie wollte, würde Vita warten müssen, bis Dolly wieder zu Hause war. Sie trug ein Haarband und einen blau gestreiften Schlafanzug, der auf einer Brustseite säuberlich mit den dunkelblauen Initialen RJB bestickt war. Der Stoff war einer dieser dünnen Sommerstoffe, die sich nicht die Mühe machen zu verstecken, was sie bedecken. Ich konnte sehen, wie sich ihre Brust unter dem dünnen Material beim Sprechen hob und senkte, konnte die Bewegungen ihrer kleinen Brüste sehen, ungehindert und weich. Mich hatte noch nie jemand im Schlafanzug besucht, und ich war mir unsicher, ob ihr Aufzug in Ediths Kategorie der Dinge, die nicht erwähnt werden dürfen fiel, deshalb sagte ich vorsichtshalber nichts. Aber als Vita beiläufig ihre zerzauste Erscheinung mit meiner nüchternen, praktischen Arbeitskleidung verglich, war ich diejenige, die errötete, als wäre meine genau beobachtete Auslassung eine Lüge oder ein Geheimnis, das ich für mich behalten hätte. Vita hatte eine Narbe, die beinahe ihre ganze Hand bedeckte, eine silbrig rosarote Hülle wie Fischschuppen, in der sich das Licht fing, als ihre Finger über die Flasche glitten.
Bei dem Anblick dachte ich wie so oft an die Fische, die diese Küche ausgefüllt hatten, als meine Eltern noch am Leben waren. Fische, die auf jeder freien Fläche lagen, aufgeschnitten wie OP-Patienten in ärztlicher Obhut. Mein Vater hatte während der Urlaubssaison jeden Tag frühmorgens Touristen auf seinem Boot mit raus auf den See genommen und den Fang anschließend zu meiner Mutter gebracht, die ihn für die Ehefrauen und Vermieterinnen dieser Männer kochfertig machte. Ma stand gern am Schlafzimmerfenster und hielt Ausschau nach dem Boot meines Vaters, und eine frühe Rückkehr sagte ihr, dass die Urlauber bereits zufrieden waren.
In unserem kleinen Haus roch es permanent nach dem See und den schillernden Fischen, die Tag für Tag zwischen den Händen meiner Eltern zitterten. Ma war Autodidaktin und sie schuppte und filetierte die Fische so fachgemäß, wie die einheimischen Frauen strickten und nähten; ihre Finger kannten sich so gut mit Messern aus wie deren Finger mit Nadeln. Unsere Küche war regelmäßig mit Gräten übersät, zierlich und weiß wie Milchzähne, als wäre sie vor Kurzem Schauplatz einer Tragödie gewesen.
»Meine Eltern haben Fische gefangen«, sagte ich zu Vita. »Mein Vater war Fischer hier am Ort.«
»Mein Vater hat auch gefischt!« Sie sagte es aufgeregt, als handle es sich um eine seltene, außergewöhnliche Beschäftigung, eine drollige Schrulle, die die beiden gemeinsam hatten. »Aber das Schießen war ihm noch lieber. Hat deiner auch gejagt?«
»Nein. Er hat nur gefischt«, erwiderte ich. Aber sie redete schon weiter, erzählte von ihren eigenen Schießtriumphen.
Während Vita sprach, musterte ich die perlmuttern rosa Narbe auf ihrem Handrücken; sie wirkte damit auf mich fragil und zerbrechlich. Mein Verstand ist eine unter Hochspannung stehende und ungewollte Macht. Alles berührt vieles andere, und die Welt kann nur an diesen Schnittstellen richtig verstanden werden. Ich wusste bereits, dass Dolly, wenn ich ihr Vitas Besuch beschrieb, die Geduld verlieren würde, wenn ich über das eigenartige Schillern dieser Narbe und deren Verbindung zu den Fischen meiner Eltern sprach; wenn ich dieses rosarote Schillern als Beweis bemühte, sowohl für die Zerbrechlichkeit unserer neuen Nachbarin als auch dafür, dass sie uns offensichtlich brauchte. Meine Tochter war Pragmatikerin und duldete solche Reden nicht. Sie warf mir oft vor, dass ich mich auf die falschen Einzelheiten konzentrierte. Sie wollte Fakten, keine Geschichten, und so war es das, was ich versuchte, einzusammeln und ihr jeden Abend mit nach Hause zu bringen. Allerdings wusste ich nie, welche dieser Antworten als akzeptabel galten und welche dafür sorgten, dass meine Tochter seufzte und nach oben in ihr Zimmer verschwand.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: