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Sie glaubt nicht an Geister ... bis die Frau aus Rauch und Nebel ihr die Tochter nimmt. Alice Jacobs kommt mit ihrer kleinen Tochter Abigail am Halloween-Abend nach Salem, um dort nach ihrem vermissten Ehemann zu suchen. Bald erfährt sie von dem Fluch, der die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt: 100 Jahre nach den berüchtigten Hexenprozessen soll der rachsüchtige Geist einer Frau aus der Hölle zurückgekehrt sein, um die Seelen der Kinder von Salem zu holen … Eine Frau, die man wegen Hexerei hängte, zusammen mit ihren sieben Kindern. Alice tut die alte Legende als törichten Aberglauben ab, bis Abigail von einer unheimlichen Frau aus Rauch und Nebel aus ihrem Bett gerissen wird. Eine gruselige Reise in eine kalte Halloween-Nacht, die durch vergessene Kerker, düstere Friedhöfe und verwunschene Wälder führt.
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Seitenzahl: 407
Veröffentlichungsjahr: 2025
Aus dem Amerikanischen von Heiner Eden
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe All Hallows Eve erschien 2020.
Copyright © 2020 by Michael Penning
Copyright © dieser Ausgabe 2025
Festa Verlag GmbH
Justus-von-Liebig-Straße 10
04451 Borsdorf
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
Titelbild: Verena Tapper / via 99design
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-233-9
www.Festa-Verlag.de
Für meine Mutter, die mir zu schreiben half,
1
Alice Jacobs stand am Rand des Kais und starrte entsetzt auf das Meer hinaus. Tausende Knochen wurden an Land gespült. Totenschädel und Wirbelsäulen und Bruchstücke von Skeletten überschwemmten den ausgedehnten Salem Sound und schlingerten in der Gischt. Ein unheimliches Klappern erfüllte die salzige Luft, als Welle um Welle Knochen aller Formen und Größen an die felsige Küste schwemmte. Geschützt in den ruhigeren Gewässern von Salem Harbor trieb eine mit der Tide hereingeschwemmte Masse aus Skelettresten und bedrängte die Handelsflotte. Mit jeder Minute wuchs die Zahl der schrecklichen umherschwappenden Knochen, die sich zwischen den Holzrümpfen der Schiffe sammelten.
Alice’ junge Tochter Abigail schmiegte sich an ihre Seite und schob ihre kleine Hand in die ihrer Mutter. »Woher kommen sie nur?« Ihre Stimme war klein und bange.
»Ich weiß es nicht, Abigail.« Alice spürte, wie sich ein nervöses Kribbeln in ihrem Magen breitmachte, während sie das makabre Panorama betrachtete. Sie wünschte sich nicht zum ersten Mal, seit sie Boston verlassen hatten, dass ihr Mann bei ihnen wäre. Samuel würde wissen, was zu sagen war; es waren immer seine Worte, die ihr kleines Mädchen besänftigten, nicht die von Alice.
Eine bitterkalte Böe wehte vom Meer herein. Ein Schauder packte Alice, als die salzige Seeluft auf ihre Haut traf. Die blasse Nachmittagssonne war hinter einer dicken Wolkendecke kaum zu sehen. Das düstere Licht des Oktobers schaffte es nicht, die trostlose Atmosphäre mit Wärme zu erfüllen. Im Osten, wo das Meer auf den Himmel traf, war der Horizont so mattgrau wie ein zugefrorener See. Irgendwo draußen auf dem offenen Ozean kam ein Sturm immer näher.
Alice und Abigail waren nicht allein, als sie die schier endlose Flut der heranspülenden Knochen beäugten. Der ganze lange Pier von Derby Wharf stand voller Frauen und Männer aus allen gesellschaftlichen Schichten. Es war ein Anblick, den man in den florierenden Jahrzehnten seit dem Unabhängigkeitskrieg nur selten zu sehen bekam: wohlhabende Kaufleute und Schiffseigentümer, die Schulter an Schulter mit den Decksmännern und Hafenarbeitern dastanden, die für sie tätig waren. Einfache Näherinnen und Haushälterinnen mischten sich unter die reichen Hausfrauen aus den Herrenhäusern an der Derby Street. Die verwitterten Planken von Salems längstem Kai ächzten und krümmten sich, als sie sich alle zusammendrängten, um Zeuge dieser grässlichen Erscheinung zu werden, die das Meer hereinbrachte.
Als die Menschenmenge mit jeder Minute größer und aufgeregter wurde, zog Alice ihre Tochter in die Falten ihres cremefarbenen Rocks. Sie schlang sich ihren Übermantel gegen den Wind eng um die Schultern und richtete ihr Mieder. Jeder, der sie ansah, hielt sie für eine atemberaubende Frau. Sie hatte gelocktes honigblondes Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte. Ihre großen Augen waren so klar und blau wie das Schmelzwasser eines Gletschers und ihre Haut war so weich wie Puderzucker. Sie hatte eine kleine Nase, die sich leicht nach unten neigte und wie ein winziger Regentropfen über ihrem vollen Mund hing. Ihre Schönheit wurde nur von der weißen Spalte einer kleinen Narbe, die sich über ihre pralle Unterlippe zog, unterbrochen.
»Was sind das für Knochen?«, fragte Abigail laut. Die Siebenjährige war das perfekte kleine Ebenbild ihrer jungen Mutter. Sie hatte dieselben markanten Augen und makellosen, symmetrischen Gesichtszüge. Unter ihrem weißen Übermantel trug sie ein rosafarbenes Kleidchen mit langen Ärmeln und einem Rundkragen. Eine Holzpuppe baumelte in ihrer Hand, während sie sich an Alice’ Hüfte schmiegte.
»Wal, kleines Fräulein«, erwiderte ein wettergegerbter Fischer, der sich durch die Menge nach vorn gedrängt hatte, mit rauer Stimme. Sein faltiges Gesicht war finster. »Das sind die Knochen von Walen. Und von Delfinen und Robben. Die Knochen aller großen Meerestiere. Die Ozeane haben sich in Gift verwandelt!«
Alice legte einen tröstenden Arm um Abigails Schultern und bedachte den Mann mit einem strengen Stirnrunzeln. Etwas in seiner Stimme hatte ihr eine Gänsehaut bereitet. Der alte Kerl war von dem, was er sah, nicht einfach nur beunruhigt. Er hatte Angst.
Die Stimme eines Jungen erhob sich über das Gemurmel der Schaulustigen. »Macht Platz! Macht Platz für Magistrat Holm!«
Die versammelte Menge teilte sich für einen stattlichen Mann mit breiten Schultern und einem gewölbten Brustkorb. Hamilton Holm war kein junger Mann mehr, doch er gab noch immer ein einschüchterndes Bild der körperlichen Tüchtigkeit und Stärke ab. Nur die nötigsten äußeren Merkmale ließen erkennen, dass er der Magistrat war. Er hatte den breiten Kragen seines schweren Wintermantels bis zu seinem kräftigen Kiefer aufgeschlagen und er trug keine Perücke, um seine volle Haarpracht, die nur im Ansatz ergraute, zu verbergen. Sein Kopf war kantig und gedrungen wie der einer Bulldogge, sein sehniger Nacken muskulös. In seinem Gesicht prangte eine missliche Ansammlung von Narben wie Souvenirs aus seinen Tagen als Soldat.
Ein älterer Gentleman schlich hinter Holm her. Mit seiner runzligen Hand hielt er sich am Ärmel des Magistrats fest, damit sie sich in der Menschenmenge nicht verloren. Der Mann war groß und schlaksig, seine Schultern breit und eckig wie ein Türrahmen und auf seinem Rücken zeichnete sich der Anflug eines Buckels ab. Er hatte ein langes, hageres Gesicht, das trotz seiner Altersfalten noch immer ansehnlich war. Er trug keine Perücke, und das Schneeweiß seiner Haare passte perfekt zu dem seines gepflegten Schnurrbarts. Während er sich mühte, mit Holm Schritt zu halten, blickte er durch eine Nickelbrille in das Menschengewühl um ihn herum.
Die letzten Leute machten einen Schritt beiseite, und der alte Mann erblickte den grauenhaften Anlass für die allgemeine Bestürzung. »Herr im Himmel …«
»Das ist das Werk der Hexe!«, rief eine Stimme aus der Menge.
»Nun wird sie sich die Kinder holen!«, rief eine andere.
»Die Prophezeiung wird in Erfüllung gehen!«
In den Stimmen lag Angst. Ihr giftiger Geruch hing schwer in der Luft.
Magistrat Holm wirbelte herum. »Genug mit dem Gerede!« Seine blassen Augen funkelten, als er herausfordernd in die Menge blickte und darauf wartete, dass die Menschen verstummten. Niemand sagte auch nur ein weiteres Wort.
Nervöses Gemurmel mischte sich in das Schweigen der Stadtbewohner. Die Nachricht hatte sich bis in jeden Winkel Salems verbreitet, und die Menschen ergriff eine wachsende Anspannung, ein beklemmendes Gefühl der Angst, die wie der Druck in einer Dampfmaschine immer stärker anschwoll.
Holm schlenderte an den Rand des Kais und bedeutete seinem betagten Begleiter, sich zu ihm zu gesellen, damit er einen besseren Blick hatte. »Was halten Sie davon?«
Der alte Mann verharrte schweigend. Sein Gesicht war grau und ernst, während er versuchte, dem grausigen Ereignis, dessen Zeuge er gerade wurde, einen Sinn zu entlocken. Seine Stimme war leise und brüchig, als er schließlich sprach. »Es ist das letzte Omen.«
Holm hielt inne und warf dem alten Mann einen Blick von der Seite zu. »Eine andere Erklärung gibt es nicht?«
»Nein, Sir.«
»Überhaupt keine?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »78 Jahre lang lebe ich nun schon in Salem. Bin hier geboren worden, genau wie mein Vater, in dem Haus, das sein Vater baute. 78 Jahre lang habe ich gesehen, wie sich die Geschichte der Stadt vollzog.« Er sah dem Magistrat in die Augen. »Doch solch ein Anblick ist mir noch nie untergekommen.«
Holm runzelte die Stirn. Er atmete die salzige Luft tief in seine Lunge und stieß sie wieder aus. »Danke, Mr. Emmons.«
Emmons!
Der Name des alten Mannes läutete wie eine Schiffsglocke in Alice’ Ohren, als sie sich mühte, das Gespräch der beiden Männer aufzuschnappen.
Benjamin Emmons war genau der Mann, für den sie die lange Reise aus Boston bis hierher auf sich genommen hatte, der Mann, an dem so viele ihrer verzweifelten Hoffnungen hingen.
Magistrat Holm wandte sich dem strohblonden Jungen zu, der ihnen den Weg durch die Menschenmenge gebahnt hatte. »Los, Junge! Lauf zur Kirche und hole Reverend Warwick her!«
Der Junge machte auf dem Absatz kehrt und wollte gerade davoneilen, als Emmons ihn sanft an der Schulter hielt. »Spar dir die Mühe, Duncan. Gott hat damit nichts zu tun.«
Emmons’ Blick verweilte noch einen Moment auf der schauerlichen Küstenlinie, dann kehrte er dem Meer den Rücken zu und ließ sich von dem Jungen wegführen. Der Magistrat blieb in Gedanken versunken zurück.
Alice packte ihre Tochter und drängte sich durch die Masse hinter ihnen her. »Mr. Emmons!«, rief sie über den brodelnden Tumult hinweg. »Mr. Emmons, könnte ich Sie kurz sprechen? Mein Name ist Alice Jacobs!«
Der alte Mann blieb abrupt stehen und drehte sich um. Er kniff die Augen hinter seinen Brillengläsern zusammen und suchte in der Menge nach der Stimme, die seinen Namen gerufen hatte. Sein Blick fand Alice und ihre Tochter, die sich an den Menschen vorbei in seine Richtung zwängten.
»Jacobs?« Er beäugte sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Neugier.
»Ja«, sagte Alice keuchend. »Mr. Emmons, ich bin hergekommen, weil …«
Emmons hob seine runzlige Hand. »Ich glaube, ich weiß, warum Sie hier sind, Mrs. Jacobs. Zweifellos sind Sie hergekommen, um Ihren Gatten zu finden – und ich bin der Letzte, der ihn lebend gesehen hat.«
2
Benjamin Emmons ging mit zügigen Schritten voran, als er Alice und Abigail in Richtung Nordosten die ausladende Derby Street entlangführte und sie das Chaos auf der Derby Wharf hinter sich ließen. »Sind Sie gerade erst in Salem angekommen?«
»Heute Nachmittag aus Boston.« Alice ließ ihren Blick umherschweifen. Salem hatte sich in den Jahrzehnten seit der berüchtigten Hexenhysterie im Jahre 1692 von einem ärmlichen Städtchen zu einer geschäftigen Hafenstadt entwickelt. Einige der wohlhabendsten Familien hatten ein Vermögen mit dem Dorschfang, der Kaperei und dem Orienthandel gemacht. Überall um sich herum konnte Alice die Zeichen des frischen Reichtums der Stadt erkennen.
Die Derby Street mit ihren Geschäften und Wohnhäusern war das Herz von Salem und verlief fast eine halbe Meile weit am Hafen entlang. Rechts von Alice deuteten zahlreiche Anlegeplätze wie dünne graue Finger ins Meer hinaus. Auf ihnen herrschte reges Treiben. Scharen von Matrosen und Hafenarbeitern wuselten auf den Docks umher, riefen einander zu und begafften die Knochen, die sich zwischen den Schiffsrümpfen ansammelten. Frachträume, in denen sich exotische Tees, Gewürze, Stoffe, Porzellan und unzählige andere Schätze aus dem Fernen Osten stapelten, standen offen und unbeachtet da. Eine lange Reihe aus Pferdewagen wartete unbeaufsichtigt vor den Kontoren, um beladen oder entladen zu werden. Der beißende Geruch von Rosshaaren und Pferdemist vermischte sich mit dem Gestank des vertrockneten Tangs und des Salzwassers.
Die prachtvollen Häuser der wohlhabendsten Kaufleute Salems standen auf der anderen Seite der Straße und sahen zum Meer hinaus. Die stattliche Größe dieser georgianischen Herrenhäuser übertraf alles, was Alice sich vorgestellt hatte, und konnte sogar mit den Häusern in Boston mithalten.
»Das dort drüben sieht wie ein Puppenhaus aus«, sagte Abigail staunend. Ihre strahlend blauen Augen funkelten, während sie ihre Holzpuppe zärtlich an sich drückte und neben ihrer Mutter herlief.
»Vielleicht wirst du eines Tages auch in einem Puppenhaus wohnen.« Alice blinzelte, als sie an der Reihe von majestätischen Herrenhäusern vorübergingen. Die bescheidenen Hütten der weniger betuchten Bewohner Salems lugten hier und da hinter ihren großen Nachbarn hervor wie die Zuschauer auf den Stehplätzen eines Theaters.
»Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise«, sagte Benjamin.
»Ausgesprochen angenehm«, log Alice. Die lange Fahrt von Boston hierher war alles andere als angenehm gewesen. Die Mietkutsche hatte nach billigem Parfüm und abgestandenem Tabak gerochen. Jedes Loch und jede Rille hatten ihr Rückgrat erschüttert, und sie war froh und dankbar, sich nach der langen, anstrengenden Fahrt die Beine vertreten zu können. Trotz des kühlen Herbstwindes, der vom Meer hereinfegte, genoss Alice die frische Seeluft und das Gefühl der Freiheit. Mit 27 war sie noch nie zuvor ohne eine Begleitung verreist. Es war aufregend und einschüchternd zugleich.
»Duncan!«, rief Benjamin dem strohblonden Jungen zu, der nun mehrere Meter vor ihnen herrannte. »Lauf vor und mach Feuer.«
»Aye, Großvater!«
Um Benjamins Augen bildete sich ein Netz aus Falten, als er grinsend zusah, wie sein Enkel die Straße entlangeilte.
Der alte Mann trat mit einer sanften Würde auf, die Alice bezaubernd fand. Seine Augen zeigten eine jugendliche Vitalität, die sein wahres Alter zu leugnen schien.
»Hat Ihr Enkel vielleicht Geschwister?«, fragte Abigail.
Benjamin senkte den Blick und schluckte schwer. »Dieser reizende junge Mann ist mein zweites Enkelkind. Seine große Schwester ist vor neun Jahren verstorben.«
»Oh, das … das tut mir leid«, stammelte Alice.
»Ist schon gut.« Benjamin setzte ein schwaches Lächeln auf, doch in seinen Augen spiegelte sich tiefe Trauer.
Alice spürte sein Unbehagen und suchte nach einem dezenten Weg, um das Thema zu wechseln. »Bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich falschliege, Mr. Emmons, aber war es vielleicht der Magistrat, den Sie unten am Kai begleitet haben?«
Benjamins Miene schien sich zu verdunkeln. »Aye. Magistrat Holm brauchte meinen Rat bezüglich der Angelegenheit mit den Knochen.«
»Wahrlich ein beunruhigender Anblick.«
»Wohl wahr. Die ganze Stadt ist deswegen in Aufruhr.«
»Bestimmt gibt es dafür eine rationale Erklärung. Vielleicht die natürliche Folge des Sturms, der sich über dem Meer zusammenbraut?«
Benjamin wurde etwas langsamer. Sein Adamsapfel bewegte sich in seinem langen Hals auf und ab, als er schwer schluckte, einen Blick auf Alice warf und seine Stimme senkte. »Es ist besser, wenn wir nicht vor der Kleinen davon sprechen.« Dann lief er weiter, ohne ein Wort zu sagen, und hielt schon bald vor einem klapprigen Zaun inne, der Salems East India Museum von der Derby Street trennte. »Da wären wir.«
Das Museum war das Relikt eines Gebäudes, das auf einem vergessenen Grundstück im ältesten Bereich der Hafenfront lag. Seine neueren georgianischen Nachbarn standen weit weg, als würden sie sich ihres alten Ahnen schämen.
Das Museumsgebäude selbst war klein und rechteckig, seine braunen Schindeln rissig und von der salzigen Seeluft verwittert. In seinem Mansardendach waren Lücken zu sehen, wo ein kräftiger Nor’easter die Holzschindeln davongetragen hatte. Fünf quadratische Fenster blickten zum Gehweg hinaus, ohne etwas von dem düsteren Inneren des Museums zu offenbaren.
Benjamin führte seine Gäste durch das offen stehende Tor und die knarzende Holztreppe hinauf zu einer schweren Doppeltür mit kleinen Buntglasfenstern.
Ein verblasstes Kupferschild über dem Türsturz pries das Museum in einer gestochenen schwarzen Schrift an. Darauf war auch das Bild eines Schoners zu sehen, an dessen Hauptmast die Flagge mit den rot-weißen Streifen eines Handelsschiffes wehte.
Benjamin stieß die Tür auf und geleitete sie in eine Halle, die so groß war, dass es ihnen unmöglich schien, dass sie in das Gebäude passte, das von draußen zu sehen war. Dunkle Holzwände reichten sechs Meter in die Höhe, wo sie auf eine hohe Kassettendecke trafen. Drei gewaltige eiserne Kronleuchter fluteten die Halle mit einem warmen gelben Licht. Eine Reihe aus waagerechten Schaukästen in Hüfthöhe in der Mitte des Museums erstreckte sich bis in die hintersten Winkel des Hauses. Parallele Reihen aus Walnussvitrinen erhoben sich auf beiden Seiten des Mittelgangs und reichten bis zur hinteren Wand. Jede der Vitrinen war auf Hochglanz poliert. Große Glastüren zeigten einige Stücke aus der vielseitigen naturgeschichtlichen Sammlung des Museums. Eine verblüffende Vielzahl von ausgestopften Tieren starrte Alice aus allen Ecken des Raumes an. Ein süßlicher Hauch von Balsamierflüssigkeit hing unter dem muffigen Geruch des Hausstaubs und des Holzwachses.
»Mutter! Sieh dir das an!« Staunend betrachtete Abigail eine riesige Muschelschale, die unter einer Glaskuppel auf einem Walnusssockel lag. »Hast du so etwas schon einmal gesehen?«
Alice las das Hinweisschild laut vor. »Menschenfressende Muschel von den Cookinseln. Eine großzügige Spende von Captain Walter P. Sayer vom Handelsschiff Actaeon.«
Abigails Augen wurden groß, und sie machte einen Schritt zurück. »Glaubst du wirklich, dass sie einen Menschen fressen kann?«
»Das bezweifle ich.« Alice lächelte und führte Abigail weg. Sie liefen hinter Benjamin her zu seinem Enkel, der nun an einer offenen Tür am hinteren Ende der Halle wartete.
»Dein Arbeitszimmer ist für Besuch hergerichtet, Großvater«, verkündete Duncan.
»Vielen Dank, Duncan.« Benjamin zerzauste den widerspenstigen Haarschopf des Jungen. »Mrs. Jacobs, kommen Sie bitte herein und nehmen Sie Platz. Sie müssen erschöpft sein.«
»Vielen Dank.« Alice warf Abigail einen Blick zu. »Wenn es Ihnen recht ist, Mr. Emmons, würde ich mich lieber unter vier Augen mit Ihnen unterhalten. Vielleicht möchte Master Duncan mit meiner Tochter einen Rundgang durch Ihr Museum machen?«
Duncan blickte auf und grinste, wobei er einen großen Vorderzahn zeigte, in den er noch nicht ganz reingewachsen war. »Sehr gern! Wir werden mit den Gastropoden beginnen. Folge mir bitte …« Er wirbelte herum und verschwand hinter einer Vitrine.
Abigails Blick folgte ihm. »Mutter, ich möchte nicht mit ihm gehen. Er ist … sonderbar.«
»So solltest du nicht von Menschen sprechen«, tadelte Alice. »Ich werde mich ein wenig mit Mr. Emmons unterhalten, doch es wird nicht lange dauern. Und außerdem hat ein junges Mädchen nicht jeden Tag das Glück, eine private Führung durch solch ein Wunderkabinett zu bekommen.«
Abigail nickte, und ihre Wangen kräuselten sich, als sie zurückhaltend lächelte und sich abwandte, um mit Duncan zu verschwinden.
Die Stimme des Jungen erhob sich eifrig irgendwo zwischen den Vitrinen. »Diese spezielle Art lebt an Land, doch es gibt viele, die im Wasser gedeihen. Schau mal hier, da siehst du …«
Alice wünschte dem kleinen Duncan Emmons viel Glück, als er mit seinem Vortrag fortfuhr. Er würde mehr als herkömmliche Schnecken brauchen, um das Interesse ihrer Tochter aufrecht zu erhalten.
3
Benjamin wartete, bis Alice sich auf einem Lederstuhl mit gesteppter Rückenlehne niedergelassen hatte, bevor er eine feine Teetasse aus Porzellan vor ihr auf dem schweren Schreibtisch abstellte. Eine zarte, wohlriechende Dampfwolke wirbelte daraus empor. »Eine köstliche Mischung aus dem Golf von Bengalen«, erklärte er. Alice’ Reaktion auf das exotische Aroma schien ihm zu gefallen. »Ein Geschenk von einem alten Freund, der noch immer auf den Docks arbeitet.«
Das bescheidene Arbeitszimmer, das Benjamin in seinem East India Museum hatte, war eine warme und behagliche Abwechslung von der steifen Brise, die vom Hafen hereinwehte. Das Feuer, das im Kamin prasselte, ließ im ganzen Zimmer Schatten tanzen. Der herzerfrischende Duft des brennenden Zedernholzes vermischte sich mit dem muffigen Geruch von Buchleder und Pergament. Regale, die mit Pamphleten und Manuskripten jeder Größe und jeden Alters vollgestopft waren, bedeckten die dunklen Holzwände. Miniaturschiffe, alte Gemälde und nautische Karten nahmen den verbliebenen Platz in Anspruch. Ein fahler Sonnenstrahl fiel durch ein quadratisches Fenster und fing Tausende Staubkörner ein, die träge durch die Luft schwebten.
Benjamin machte es sich in einem abgenutzten Lehnsessel, der hinter dem Schreibtisch stand, bequem und blickte Alice an.
»Sagen Sie, Mrs. Jacobs, welche Neuigkeiten gibt es bezüglich Ihres Gatten?«
Alice seufzte, nachdem sie an ihrem Tee genippt hatte. »Nur sehr wenige. Seine Kollegen an der Harvard University sind noch immer ratlos und die Inspektoren in Boston widmen sich nun anderen Fällen. Ihr offizielles Ergebnis lautet, dass Samuel von Indianern angegriffen oder von Wegelagerern überfallen und dem Tod überlassen wurde.«
»Aber Sie glauben nicht, dass so etwas passiert sein könnte?«
»Ich finde, es gibt nur wenige Hinweise, die eine dieser Vermutungen stützen. Ehrlich gesagt, Mr. Emmons, sind es genau diese mangelnden Fortschritte, die mich heute zu Ihnen bringen. Samuel wird nun schon seit drei Monaten vermisst, und ich kann mir den Luxus der Geduld nicht länger leisten. Wenn ich die Suche nicht selbst fortsetze, wird es niemand tun. So unwahrscheinlich es auch scheinen mag, es besteht noch immer die Möglichkeit, dass Samuel am Leben ist. Vielleicht hat er sich verlaufen und ist in der Wildnis verschollen. Die Untersuchungen haben nichts hervorgebracht, was dem widersprechen würde, und ich habe nicht die Absicht, meiner Tochter zu erklären, dass ihr Vater tot ist, bis alle Beweise mich glaubhaft überzeugt haben, dass ich die Wahrheit sage.«
Benjamin zog eine Augenbraue hoch. »Ihre Tochter weiß noch nicht, dass ihr Vater vermisst wird?«
»Ich habe Abigail weisgemacht, dass Samuel noch immer Forschungen für die Universität betreibt und dass wir diesen Ausflug nach Salem machen, um Ihr Museum zu besuchen.«
Die kleinen Falten um Benjamins Augen vertieften sich mitfühlend, als er einen Schluck Tee nahm. »Wie kann ich Ihnen helfen, Mrs. Jacobs?«
»Während die Behörden in Boston ihren Untersuchungen nachgingen, machte ich mich daran, mir die Forschungsunterlagen anzusehen, die Samuel für seine Reise hierher zusammengestellt hatte. Ich hatte gehofft, darin etwas zu finden, das uns weiterhilft, einen Hinweis, der übersehen wurde. Dabei erfuhr ich viel über die schrecklichen Hexenprozesse, die hier vor einem Jahrhundert abgehalten wurden.«
Benjamin nickte mit finsterer Miene.
»19 Stadtbewohner, die man wegen angeblicher Hexerei hängte. Ein weiterer, der zu Tode gequetscht wurde, als er sich weigerte, sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern. 20 Seelen, die wir nur wegen der wilden Anschuldigungen einiger missratener Dorfgören verloren. Seit 100 Jahren tragen wir in Salem schwer an der Last unserer Schuld. Ich schätze, das ist ein Teil der Wiedergutmachung, die wir für die unschuldigen Leben leisten müssen, die in jenen finsteren Zeiten geopfert wurden.«
Alice wartete, doch Benjamin sprach nicht weiter.
»Mr. Emmons, wie ich hörte, wohnte mein Mann zu der Zeit, als er verschwand, bei Ihnen und Ihrer Frau. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, was sich zugetragen haben könnte?«
Benjamin trank den Rest seines Tees, dann breitete er seine Arme aus. »Ihr Gatte schrieb mir in Bezug auf seine Nachforschungen über die örtliche Folklore in Harvard. Er bat um meine Unterstützung bei seiner Arbeit, die ich ihm nur allzu gern gewährte. Wissen Sie, schon während meiner Jugend als Matrose war die Heimatgeschichte eines meiner Steckenpferde.« Das Gesicht des alten Mannes wurde ernst. »Samuel interessierte sich besonders für Sarah Bridges.«
Alice blinzelte. Das war ein Name, den sie nicht aus Samuels Unterlagen kannte. »Wer ist Sarah Bridges?«
»Es mag sein, dass seit den dunklen Tagen der Hexenverfolgung ein Jahrhundert vergangen ist, Mrs. Jacobs, doch auch in diesen modernen Zeiten gibt es noch immer Hexen in Salem. Sarah Bridges ist die letzte Verbliebene einer Familie von Ausgestoßenen, die wegen ihrer heidnischen Praktiken vor Jahrzehnten aus Salem verbannt wurde.«
»Von welcher Art von Praktiken reden wir?«
»Schwarze Magie, Opferhandlungen, Beschwörungen. Viele Jahre lebten sie allein irgendwo tief in den nördlichen Wäldern. Niemand wusste, was sie dort draußen taten oder was aus ihnen wurde. Viele zogen es vor, zu glauben, sie wären tot. Mit der Zeit waren sie fast in Vergessenheit geraten, bis Sarah eines Nachts im letzten Jahr nach Salem zurückkehrte und einen schrecklichen Fluch prophezeite. Am nächsten All Hallows’ Eve – wenn der Schleier zwischen dieser Welt und der nächsten am dünnsten ist und die Seelen der Toten sich unter die Lebenden mischen können – wird angeblich der Geist von Rebecca Hale zurückkehren, um Rache zu nehmen.«
»Rebecca Hale?«, warf Alice ein. »Die Frau, die wegen Hexerei gehängt wurde?«
»Aye. Nicht alle der als Hexen Beschuldigten in Salem waren unschuldig, Mrs. Jacobs. In Salems finsterem Kerker schrieb Hale ihren Namen in Satans schwarzes Buch und verkaufte ihren Körper und ihre Seele an ihn. 100 Jahre der Folter in seiner Hölle für eine Nacht der Vergeltung in seinem Namen – so lauteten die Bestimmungen ihres Handels mit dem Teufel.« Benjamin erschauderte fast unmerklich. »Ein Jahrhundert ist seitdem vergangen, Hale hat ihre Schuld beglichen. Vier Omen, so verkündete Sarah Bridges, würden uns wissen lassen, dass ihre Prophezeiung zutreffend ist: Augenleiden, Blut, Fleisch und Knochen.«
»Ja, genau«, sagte Alice. »Eine Reihe von schrecklichen Zwischenfällen, die Salem heimgesucht hatten, machte die Runde. Das war es, was Samuel von Boston hierhergeführt hatte. Was können Sie mir darüber erzählen?«
Benjamin bemerkte, dass das Feuer nur noch schwach brannte, und erhob sich mit einem leisen Grunzen aus seinem Sessel. Er schritt durch das Zimmer und ging vor dem Kamin in die Hocke, um das Holzscheit darin mit einer Feuerzange umzudrehen. Die frische Seite des Zedernholzes entzündete sich und ging in Flammen auf. Benjamins Knie knackten, als er sich wieder auf seinem Sessel niederließ. Er legte die Stirn in Falten. Seine braunen Augen schienen abzukühlen, während sie Alice eingehend betrachteten.
»Das erste Omen zeigte sich kurz vor Weihnachten. An jenem bitterkalten Tag im Dezember wollte sich kein Feuer entfachen lassen.«
»Kein einziges?« Alice gab sich Mühe, ihre Skepsis zu verbergen.
Benjamin schüttelte den Kopf nur einmal. »Ich weiß, wie sich das für eine kultivierte Frau wie Sie anhören muss. Doch ich schwöre Ihnen, dass wir nicht einmal einen Funken schlagen konnten. Keine Kerzen, keine Lampen, kein Feuer – nichts. Für einen ganzen Tag im tiefsten Winter schlotterten wir in unseren unbeleuchteten Häusern, als … als wären unsere Augen von einer Finsternis befallen worden.«
Alice wartete einen Augenblick. »Was war das zweite Omen?«
Benjamin schluckte und kniff die Augen zusammen, als würde er versuchen, ein unerwünschtes Bild aus seinem Gedächtnis zu löschen. »Es vergingen Monate, bevor es sich uns zeigte. Eines Morgens im Mai erwachte die Stadt und fand die Grabsteine auf dem Friedhof mit Blut besudelt vor. Es war ein grässlicher Anblick. Sie ließen sich nicht reinigen. Es war, als würden die Grabsteine selbst bluten.«
Alice nickte. »Das war der Zwischenfall, der Samuels Interesse in Boston weckte. Ein Teil seiner Arbeit in Harvard besteht darin, den Aberglauben und die Wissenschaft unter einen Hut zu bringen. Seine Theorie lautete, dass das, was die Grabsteine hinunterrann und als Blut interpretiert wurde, in Wahrheit der Rost des Eisens war, der in den Steinen steckt.«
Benjamin zuckte höflich die Schultern. »Es dauerte nicht lange, bis Ihr Gatte ein Muster ausgemacht hatte. Jedes der Omen offenbarte sich an einem uralten heidnischen Festtag. Das erste Omen war am Tag des Julfests aufgetreten, das zweite an einem Festtag namens Beltane. Samuel glaubte, dass die dritte Heimsuchung nach der Sommersonnenwende am nächsten heidnischen Festtag auftreten würde.«
»Am Lammas-Tag, dem Fest der Weizenernte«, sagte Alice.
»Sie kennen sich mit den Gebräuchen der Alten Welt aus?«, bemerkte Benjamin überrascht. »Sie sind eine ungewöhnliche Frau, Mrs. Jacobs. Unabhängig und gebildet.«
»Mein Mann wird vermisst, und vielleicht bin ich schon bald Witwe. Eine Frau in meiner Lage kann es sich nicht erlauben, antiquierten Traditionen nachzuhängen. Nicht dass ich je Verwendung dafür gehabt hätte.« Sie hielt einen Moment lang inne. »Hatte Samuel recht?« Alice wusste, dass ihr Ehemann am dritten August nach dem Lammas-Fest verschwunden war. Gab es eine Verbindung?
Benjamin senkte den Kopf und sprach in einem bedrückenden Flüsterton. »Jedes Baby an jenem Tag war eine Totgeburt.«
Alice stockte der Atem, ohne dass sie es wollte.
»Zwei Lämmer, ein Fohlen, ein Wurf Hunde und … und Charlotte Meades armes kleines Mädchen. Alle Kreaturen Gottes kamen an diesem Tag tot zur Welt.« Benjamin sprach nun noch leiser und grimmiger. »Was das vierte Omen betrifft, nun, das haben Sie selbst mitangesehen, Mrs. Jacobs.«
»Die Knochen«, murmelte Alice.
»Aye. Heute ist Samhain, der letzte heidnische Festtag des Jahres. Sarah Bridges’ Prophezeiung hat sich erfüllt.«
Alice schluckte ihren Spott für den Aberglauben des schrulligen alten Mannes herunter. »Und niemand hat diese Frau ins Verhör genommen?«
»Richtig. Es ist die Angst, die die Leute davon abhält, sie zu ergreifen und der Gerechtigkeit zuzuführen.«
»Gewiss kann der Aberglaube in der Stadt nicht die Liebe für die eigenen Kinder übertreffen. Ist die Liebe keine stärkere Kraft als die Angst?«
»Wenn es allein die Angst vor Geistern wäre, würde ich Ihnen recht geben. Doch die Wälder von Gallows Hill stehen auf einem verfluchten Boden, der von dem Blut, das vor einem Jahrhundert darauf vergossen wurde, vergiftet ist. Seit die Heimsuchungen begannen, haben einige der mutigsten Männer Salems – allesamt stark und kerngesund – versucht, ihnen entgegenzutreten, nur um von einer lähmenden Angst gepackt und in die Flucht geschlagen zu werden.« Benjamin stieß ein verbittertes Seufzen aus. »Leider schert sich das Übernatürliche nur wenig um die Liebe.«
Alice biss sich auf die Unterlippe und fuhr sich mit der Zungenspitze über ihre Narbe. Sie entschied sich, ihre Meinung für sich zu behalten. Samuel war bestrebt gewesen, Gallows Hill und die nördlichen Wälder zu erkunden, und es war genau dieser Ort, an dem die örtlichen Constables nicht nach ihm gesucht hatten. Trotz ihrer Ausflüchte hatte Alice das Zögern der Behörden auf ebenjenen Aberglauben geschoben, von dem Benjamin ihr gerade berichtete. Sie beschloss, dass Gallows Hill der erste Ort war, den sie am nächsten Morgen aufsuchen wollte. Bestimmt würde sie einen Führer finden, der seine Angst für etwas Hartgeld überwinden konnte. Viel hatte Alice zwar nicht, doch ihr blieb keine andere Wahl. Die Suche nach Hinweisen musste mit einer Erkundung der mysteriösen Wälder beginnen.
Der schrille Glockenschlag einer kleinen Uhr hallte durch das Arbeitszimmer und verkündete, dass es jetzt 16 Uhr war.
»Ach, du meine Güte.« Benjamin erhob sich mit einem plötzlichen Anflug von Dringlichkeit von seinem Platz. »Bitte entschuldigen Sie, aber ich fürchte, ich muss mich von Ihnen verabschieden. Meine Tochter ist krank und erwartet mich vor Einbruch der Dämmerung. Ich möchte sie nicht warten lassen, und schon gar nicht heute Abend.«
Auch Alice stand auf. »Bitte, Mr. Emmons, was können Sie mir sonst noch von Gallows Hill erzählen? Wenn es Ihnen möglich wäre …«
»Es tut mir leid, dass ich Sie so unversehens verlassen muss, aber ich habe schon zu viel Zeit vertrödelt.« Benjamin nahm sich seinen Mantel von einem Kleiderhaken in der Ecke. »Nun, da der Fluch der Hexe über uns gekommen ist, habe ich veranlasst, dass Duncan und die Kinder aus dem Waisenhaus die Nacht in der Kaserne von Fort Pickering auf Winter Island verbringen werden. Dort werden sie bewacht, bis die Sonne aufgeht.«
Alice wartete, während der alte Mann sich einem ordentlichen Bücherregal hinter seinem Schreibtisch zuwandte. Anders als das wüste Durcheinander auf den Regalen daneben enthielt dieses nur eine Handvoll gut sortierter Bücher.
Benjamin zog ein kleines, in Leder gebundenes Buch heraus und reichte es Alice. »Am Tag seines Verschwindens ließ Samuel sein Notizbuch zurück. Ich habe es hier sicher verwahrt. Alles, was Sie über die Erkenntnisse Ihres Gatten wissen möchten, werden Sie darin finden.«
Alice spürte einen Kloß in ihrem Hals, als sie das Notizbuch ihres Mannes erblickte. »Haben Sie es den Ermittlern gezeigt?«
Benjamin nickte. »Sie fanden darin nichts von Bedeutung.«
Trotzdem fand Alice es seltsam, dass die Behörden die Existenz des Notizbuches ihr gegenüber nicht ein einziges Mal erwähnt hatten. Waren sie einfach nur nachlässig gewesen? Alice hatte oft das Gefühl gehabt, dass sie ihre Ermittlungen nur oberflächlich durchgeführt hatten, trotz ihrer Versicherungen des Gegenteils. Was sie noch mehr in Unruhe versetzte, war die Möglichkeit, dass sie ihr das Notizbuch willentlich vorenthalten hatten. Falls das stimmte, welchen Grund gab es dafür?
Das unerwartete Auftauchen von Samuels persönlichen Notizen ließ eine Flut von Gefühlen auf sie niedergehen. Fest entschlossen, sich nicht von ihnen überwältigen zu lassen, klemmte sich Alice das dünne Büchlein unter den Arm und schluckte schwer.
»Vielen Dank, Mr. Emmons. Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geschenkt haben.«
Benjamins weiße Augenbrauen zogen sich zusammen, als er das leichte Flattern in ihrer Stimme hörte.
»Mrs. Jacobs, ich will nicht unverschämt sein, wenn ich sage, dass Ihr Gatte seiner Arbeit mit großem Eifer nachging, jedoch glaube ich, dass Sie stets seine wahre Leidenschaft waren. Er liebte es, Geschichten zu erzählen, aber seine Augen funkelten immer am hellsten, wenn die Geschichten von Ihnen handelten.«
Alice spürte eine Enge in ihrem Brustkorb, als würde die Hand eines Toten ihr Herz umklammern. Ein Riss offenbarte sich in ihrem kultivierten Auftreten, als sie gegen die Tränen kämpfte und schnell zur Tür schritt.
»Mrs. Jacobs …«
Alice blieb an der Tür stehen und schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter.
Benjamin machte ein düsteres Gesicht, als er sie von der anderen Seite des Raumes betrachtete. »Mrs. Jacobs, Sie und Ihre Tochter sind herzlich eingeladen, die Nacht mit uns im Fort zu verbringen.«
Alice öffnete den Mund und wollte ablehnen, doch Benjamin hob seine Hand. »Ich erwarte nicht, dass Sie alles, was in der Stadt vor sich geht, verstehen oder akzeptieren. Doch um Ihrer Tochter willen möchte ich Sie eindringlich bitten, dass Sie sich uns anschließen.«
Alice stöhnte innerlich. Sehr gern hätte sie dem großväterlichen Mann gesagt, dass All Hallows’ Eve eine Nacht wie jede andere war. »Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen, Mr. Emmons, doch das Gasthaus ist ein gut besuchter öffentlicher Ort. Dort werden wir sicher genug sein.«
»Ich bete, dass Sie recht haben, Mrs. Jacobs«, sagte Benjamin. »Doch wenn in Sarah Bridges’ Prophezeiung auch nur ein Funke Wahrheit steckt, fürchte ich, dass niemand von uns heute Nacht sicher genug sein wird.«
4
Magistrat Holm blieb noch am Hafenkai, lange nachdem die Stadtbewohner wieder auseinandergegangen waren. Sein Gesicht war eine Maske der Gelassenheit, eine Illusion, und er benötigte seine ganze Willenskraft, um sie aufrechtzuerhalten. Er sah zu, wie die Wellen sanft auf ihn zurollten und eine Ladung Knochen gegen die mit Seepocken überzogenen Stützpfeiler unter seinen Füßen krachen ließen.
Holm fuhr sich mit einer Hand über die rauen Bartstoppeln an seinem Kinn. In sorgenvolle Gedanken versunken, bemerkte er nicht, wie die salzige Gischt auf seine Stiefel spritzte. Als Oberst hatte er während des Unabhängigkeitskrieges in der Schlacht von Bunker Hill heldenhaft gekämpft. Er hatte die abscheulichen Folgen des Krieges mitangesehen, während sie den Angriffen der Briten ausgesetzt waren – Männer, von Bajonetten aufgespießt und ausgeweidet, von Musketenfeuer zerfetzt, von Kanonenkugeln ausgelöscht.
Nichts davon hatte ihn so sehr erschaudern lassen wie das, was er nun vor sich sah.
Es war schon spät am Nachmittag, als Holm sich von dem grausigen Schauspiel auf dem Meer abwandte. Er verschränkte seine Hände hinter seinem Rücken, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte den langen Weg am Kai entlang. Er hörte das bange Gemurmel der wenigen Schaulustigen, die noch am Pier standen und die von Knochen übersäte Küstenlinie begafften, die sich nach Nordosten in Richtung Cat Grove und des kleinen Hügels, der Winter Island war, erstreckte. Holm bemerkte, wie sie verstohlen zu ihm herübersahen, als er an ihnen vorbeischlenderte, und spürte das Gewicht ihrer nach Antworten suchenden Blicke in seinem Rücken.
Holms Ruf als furchtloser Patriot, den er sich während des Krieges erworben hatte, hatte ihm ein hohes Ansehen innerhalb des Stadtrats verschafft. Obwohl Salems Wohlstand stetig anstieg, hatte es noch kein Stadtrecht erhalten und wurde noch immer von einem Rat verwaltet. Salem hatte keinen offiziellen Bürgermeister, doch die Bürger blickten zu Holm auf, wenn sie Führung brauchten. Er betrachtete es als eine Ehre. Die Freiheit der Menschen, sich ihre Vertreter selbst auszusuchen, war ein Recht, für das er gekämpft und geblutet hatte. Er war fest entschlossen, ihr Vertrauen in ihn zu rechtfertigen.
Aber wie konnte er ihnen nach diesem grausigen Schauspiel ihre Ängste nehmen? Konnte das irgendjemand?
Holm überquerte die Derby Street und ließ den Kai hinter sich, als er nach Norden in Richtung Salem Common lief. Während der salzige Gestank des Hafens in der Ferne verschwand, klackten seine schweren Stiefelabsätze auf dem Kopfstein und hallten von den gedrungenen Mauern der umliegenden Gebäude zurück. Die verwinkelte Straße war bis auf ein paar wenige Hafenarbeiter, die zum Kai hasteten oder davon wegeilten, menschenleer. Hier war Salem ein ruhigerer Ort, einer, der noch mit seinen uralten Wurzeln verbunden war. Normalerweise hätte Holm einen Spaziergang durch dieses alte Viertel genossen, doch seine Laune war nun so finster wie der aufgewühlte Himmel über ihm.
Auf dem Schlachtfeld hatte Holm mitangesehen, was mit Männern geschah, die ihrer Angst nachgaben. Die Folgen waren brutal und unerbittlich. Angst führte zu Panik und Hysterie, und wenn ein Mob hysterisch wurde, dann mussten Menschen sterben. Seit jener schrecklichen Nacht, in der Sarah Bridges nach Salem zurückgekehrt war, hatten sich die Leute in der Stadt völlig verunsichert gefühlt und sich davor gefürchtet, was All Hallows’ Eve mit sich bringen würde. Holm hatte erlebt, dass sich das Gerede wie eine Seuche in der Stadt verbreitet hatte: Es ist das Zeichen einer bösen Hand, die nach uns greift … Der Geist der Hexe kommt … Gott hat nicht vergessen, was Salem diesen armen Seelen vor einem Jahrhundert angetan hat …
Als Holm den weitläufigen Park von Salem Common erreichte, fand er Eclipse, sein Pferd, noch immer an dem Pfahl vor, an dem er es vor Stunden angebunden hatte. Es war am frühen Nachmittag gewesen, während Holm das Tier hier hatte grasen lassen, als Benjamin Emmons’ Enkelsohn ihm die Nachricht von Knochen, die an das Ufer trieben, überbracht hatte. Die Straßen waren schon voller Menschen gewesen, und so hatte er Eclipse zurücklassen und zu Fuß gehen müssen.
Nun war Holm froh, wieder mit seinem geschätzten Streitross, das ihn durch so viele Schlachten getragen hatte, zusammen zu sein. Jeder in der Stadt erkannte die Araberstute an ihrem kastanienbraunen Fell und der flachsblonden Mähne. Einige machten sich sogar darüber lustig, dass Holm einer weiblichen Gesellschaft nie näher war als mit diesem Tier. Eclipse wieherte liebevoll und streckte Holm ihre Nüstern entgegen, als sie angelaufen kam, um von seiner Hand gestreichelt zu werden. Holm strich ihr über den Hals und ließ seinen Blick über die herrschaftlichen Häuser am Rand des Parks schweifen.
Die Fensterläden waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen, die Lichter erloschen.
Die ganze Stadt wappnete sich für den Einbruch der Nacht.
Holm verzog das Gesicht erschrocken, als in der Nähe ein explosionsartiges Krachen ertönte. Hangabwärts absolvierte ein Trupp Milizsoldaten eine Reihe von militärischen Manövern. Eine wogende Wolke aus blauem Rauch stieg über ihnen empor und der beißende Geruch ihrer abgefeuerten Musketen erfüllte die Luft. Holm erkannte das schnittige Profil von Captain Ollie Dennard, der gerade seine Befehle erteilte.
Dennard bemerkte den Magistrat, der sie oben vom Hügel aus beobachtete. Er löste sich von seinen Männern und eilte über das offene Gelände zu ihm hinüber. Der Captain war ein drahtiger Mann mit ungewöhnlich großen Augen und einem spitzen Gesicht, als hätte sich ein Adler mit einer Eule gepaart.
»Ist es wahr?«, fragte Dennard und rang nach Atem. »Was man über die Knochen sagt? Ist es wahr?«
Holm blickte finster drein und nickte.
»Guter Gott.« Dennard schüttelte den Kopf. »Was hat der alte Emmons gesagt?«
Holm zog seine Mundwinkel nach unten. Er hatte gehofft, dass Emmons eine rationale Erklärung für das plötzliche Auftauchen der Knochen hatte. Der Magistrat mochte den alten Historiker. Emmons war ein treuer Freund der Patrioten gewesen und hatte sogar als Freibeuter gedient und während der ersten Monate des Krieges britische Kriegsschiffe gekapert. Anstatt seinen Anteil der Beute für nutzlose Schwelgereien zu verschwenden, hatte er seine verwitwete Tochter und ihren Sohn unterstützt. Mit dem Rest hatte er sein uriges Museum voller Kuriositäten der Natur eröffnet. Solch eine selbstlose Hingabe für die Familie und das Gemeinwesen hatte ihm Holms tiefen Respekt eingebracht. Emmons hatte den Großteil seines Lebens auf See zugebracht, und der Magistrat vertraute seinem Urteil. Bestimmt waren die Knochen ein natürliches Phänomen der einen oder anderen Art? Etwas, das der altgediente Seefahrer schon einmal gesehen hatte?
Letzten Endes war Emmons genauso angsterfüllt wie alle anderen gewesen.
»Emmons hat noch nie dergleichen gesehen«, antwortete Holm.
»Es ist das letzte Zeichen der Prophezeiung!«, platzte es aus Dennard heraus. »Rebecca Hale wird heute Nacht auferstehen!«
Holm konnte sich einen mürrischen Blick nicht verkneifen. Er war der einzige Ratsherr gewesen, der sich gegen Dennards Plan, die Miliz von Fort Pickering aufmarschieren zu lassen, ausgesprochen hatte. Fest davon überzeugt, dass die Menschen von Salem sich in großer Gefahr befanden, sobald sich die Sonne an All Hallows’ Eve senkte, hatte Dennard seinen Trupp angewiesen, auf den Straßen zu patrouillieren. Nur sein Leutnant und eine Handvoll junge Gefreite waren im Fort auf Winter Island zurückgeblieben. In Holms Augen war es eine unbesonnene Idee. Fort Pickering war der einzige Schutz, den Salem Harbor hatte. Zwar war die Gefahr eines Angriffs der Briten nicht länger gegeben, doch es kam noch immer zu Überfällen durch Piraten und Indianer. Sie waren Holms unmittelbare Sorgen, nicht irgendeine törichte Geistergeschichte.
Holm nahm die Muskete aus dem Holster, das an Eclipse’ Sattel geschnallt war, spannte den Hahn und überprüfte die Waffe. Das Brown-Bess-Gewehr im Kaliber 75 war ein Prachtstück, das er nach reichlich Übung in einem erstaunlichen Tempo von nur zehn Sekunden laden konnte. Die Muskete hatte seit dem Ende des Krieges keinen Menschen mehr getötet, doch im letzten August hatte er damit noch zwei Weißwedelhirsche aus einer Entfernung von 100 Metern und auf seinem Pferd sitzend erlegt.
Dennard sah zu, wie der Magistrat den Inhalt seines Schießpulverbeutels inspizierte. »Was haben Sie vor?«
»Was wir schon vor Monaten hätten tun sollen. Ich werde selbst in die Wälder gehen und diese schreckliche Frau aus dem Loch zerren, das sie ihr Zuhause nennt.«
Dennard erblasste. »Sie wollen wirklich …« Ein Name blieb ihm im Hals stecken, als würde es Dämonen und den Tod heraufbeschwören, wenn man ihn laut aussprach. »Sie wollen wirklich … sie aufsuchen?«
Die Muskeln an Holms Schläfen traten hervor, als er seinen Kiefer anspannte. »Haben Sie gegen solch ein Vorgehen etwas einzuwenden?«
»Nein, Sir, natürlich nicht.« Dennard schluckte. »Es ist nur so, dass Ihnen höchstens ein paar Stunden Tageslicht bleiben und … Nun ja, Sie kennen ja die Geschichten, die sich um die Wälder von Gallows Hill ranken. In ihnen spukt es.«
Holm schnaubte verächtlich, als er sich in den Sattel schwang. »Captain, so etwas wie rachsüchtige Gespenster gibt es nicht. Ich finde es ausgesprochen unerfreulich, dass Sie lieber an den Geist einer toten Hexe glauben als an einen Übeltäter aus Fleisch und Blut. Trotz all des Geredes in der Stadt über uralte Flüche scheint es mir eindeutig zu sein, dass es eine sterbliche Frau ist, die die Schuld an den Schrecken trägt, die uns heimgesucht haben. Ich weiß zwar nicht, wie sie es getan hat, aber sobald ich aus den nördlichen Wäldern zurückkehre, werden wir dafür sorgen, dass Sarah Bridges für die Verbrechen, die sie verübt hat, bezahlen muss.«
»Möchten Sie, dass ein paar meiner Männer Sie begleiten?«, fragte Dennard zähneknirschend.
»Nein, ich werde allein gehen. Wenn Sie schon darauf beharren, in den Straßen zu patrouillieren, können Ihre Männer den Bewohnern bis zu meiner Rückkehr wenigstens ein gewisses Maß an Sicherheit bieten.« Holm wendete Eclipse, und mit einem Ruck am Zügel waren sie auf und davon und hinterließen einen Strudel aus totem Laub in ihrem Gefolge.
Dennard kam ein verstörender Gedanke, als er den Magistrat davonreiten sah: Womöglich war er schon bald die letzte Person, die Holm lebend gesehen hatte.
5
Alice und Abigail standen vor den rostigen Toren des Friedhofs, als sich die Kinder Salems im Burying Point versammelten. Sie waren alle verkleidet. Viele trugen einfache Masken aus Sackleinen, doch ein paar von ihnen verbargen ihre Gesichter hinter primitivem und unförmigem Pappmaschee. Einige hatten sich sogar Nachahmungen von Skelettknochen auf ihre abgewetzte, kaum noch tragbare Kleidung gemalt. Jedes Kind hielt eine Kürbislaterne, deren Inneres von einem geschmolzenen Kerzenstummel beleuchtet wurde, in der Hand.
Ein orangefarbener Schlitz zog sich im Westen durch den Himmel, wo die Sonne beinahe den Horizont erreicht hatte. Der Nachmittag verblasste wie das Licht auf einer Bühne, in deren Kulissen schon die Dämmerung auf ihren Auftritt wartete.
Alice stand hinter dem krummen Zaun, Samuels Notizbuch fest in einer Hand, die Hand ihrer Tochter in der anderen, während die versammelten Kinder um die Gräber huschten und ihre Laternen auf den zerbröckelnden Grabsteinen abstellten.
»Es ist ein Brauch aus der Alten Welt«, erklärte Alice. Die gespenstische Schönheit der im Abendlicht leuchtenden Kürbislaternen fesselte Abigails Aufmerksamkeit. »Die Kinder bringen ihre Laternen als Gaben für die Toten her, um den umherwandernden Geistern an All Hallows’ Eve den Weg zurück in ihre Gräber zu weisen.«
Seit über einem Jahrhundert beerdigten die Menschen von Salem ihre Toten im Burying Point. An einem Abhang gelegen, der auf den South River hinuntersah, drängten sich Grabsteine aller Formen und Größen auf dem Friedhof. Einige davon waren schon uralt und mit grünen Flechten bedeckt, und ihre Inschriften waren kaum noch zu entziffern. Andere waren neuer und standen gerade da. Sie waren mit geflügelten Totenschädeln und finsteren Memento mori graviert.
Die Eltern der Kinder schlenderten in der Gasse am Rand des Friedhofs umher. Sie tauschten vage und nervöse Begrüßungen aus, während sie warteten, doch sonst sagten sie kaum etwas und blieben lieber für sich. An dieser Zusammenkunft war rein gar nichts gesellig.
Ein Windstoß löste sich von dem herannahenden Sturm und ließ die knochigen Arme der Ulmen erzittern. Von ihren Ästen gerissen, taumelten die vertrockneten Blätter umher und fegten über die Gräber hinweg, wo sie wie Nägel über die uralten Grabsteine aus Kalkstein und Granit kratzten. Die Veränderung der Luft war greifbar, als wäre sie zum Leben erwacht, um Kraft zu sammeln.
Alice raffte den Kragen um ihren Hals enger zusammen, während ihr Blick einen kleinen Jungen fand, der vor einem zerklüfteten Zahn von einem Grabstein kniete. Er wischte das tote Laub beiseite, stellte seine Laterne auf dem Boden ab und neigte den Kopf in stiller Ehrfurcht, als würde er an irgendeinem feierlichen Ritual teilnehmen.
Anstatt einer Maske zierte weißes Mehl das Gesicht des Jungen. Jemand hatte ihm dunkle Kohleringe um seine blauen Augen gemalt, sodass sie wie aus Höhlen herausstarrten. Weitere Kohlestriche unter seinen Wangenknochen ließen seine Miene gespenstisch und skelettartig erscheinen.
Alice konnte nicht umhin, diskret die Stirn zu runzeln, als der Junge sich erhob und zu seiner wartenden Mutter zurückkehrte. Wie konnten die Eltern ihren Kindern nur solche Absurditäten eintrichtern, wo doch alles Unerklärliche mit jedem Tag ein Stückchen mehr unter dem Gewicht des wissenschaftlichen Fortschritts zerbröckelte? Sogar wenn man Sarah Bridges’ Prophezeiungen ernst nahm, würden diese symbolischen Gaben nicht helfen, die erzürnten Geister der wegen Hexerei Hingerichteten zu besänftigen. Burying Point war der letzte Ruheort für viele Knochen, doch die von Salems angeblichen Hexen waren nicht darunter. Ihnen war ein anständiges christliches Begräbnis verwehrt geblieben, und ihre Leichname wurden in namenlosen Gräbern irgendwo in der Nähe von Gallows Hill verscharrt.
Alice wandte sich vom Friedhof ab und führte Abigail weg, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen.
»Können wir nicht noch ein bisschen bleiben?«, protestierte Abigail.
»Wir haben heute mehr als genug gesehen«, entgegnete Alice. »Es ist schon spät, und wir werden im Gasthaus erwartet.«
Die Straße wurde immer düsterer und leerer, je weiter sie den Friedhof hinter sich ließen. Benjamins Wegbeschreibung zufolge sollten die Charter Street und das Gasthaus gleich hinter der nächsten Ecke sein. Der alte Mann hatte Alice angeboten, eine Kutsche zu bestellen, doch das hatte sie abgelehnt. Sie wollte ein wenig Zeit für sich haben, um ihren Kopf nach dem beunruhigenden Schauspiel am Kai frei zu bekommen. Der gespenstische Anblick all dieser schrecklichen Knochen, die an das Ufer gespült wurden, hatte sie mehr mitgenommen, als sie zugeben wollte. Sie konnte es noch immer sehen, wenn sie die Augen schloss: Knochen, die an die Küste trieben und sich zu grässlichen Haufen türmten, während sie mit dem Auf und Ab der Gezeiten klappernd gegeneinanderschlugen.
Alice verdrängte die Bilder und versuchte, sich auf die Entdeckungen des Tages zu konzentrieren. Ihr erster Nachmittag in Salem hatte ihr viel zum Nachdenken gegeben, und in ihrem Kopf schwirrte es vor Fragen. Hatte ihr Mann eine rationale Erklärung für die sonderbaren und schrecklichen Vorkommnisse gefunden, die Salem heimgesucht hatten? Und was hatte er von Sarah Bridges’ Prophezeiung gehalten? Bestimmt hätte er die Vorstellung von rachsüchtigen Geistern, die aus der Hölle emporsteigen, als eigentümlich und reizvoll, aber auch als töricht abgetan. Hatte er seine Gedanken dazu in dem Notizbuch, das nun unter Alice’ Arm klemmte, festgehalten?
Begierig, Samuels Notizen zu lesen, legte Alice einen Schritt zu, bis sie Abigail einen Blick zuwarf und bemerkte, dass etwas fehlte. »Abigail, wo ist dein Püppchen?«
Abigail sah zu ihr auf. »Ich habe es im Museum gelassen.«
Alice stieß ein verärgertes Seufzen aus. »Du musst besser auf deine Sachen aufpassen. Wir werden es morgen früh holen. Also wirklich, Abigail, bis dein Vater zurückkehrt, können wir es uns nicht erlauben, dass du so sorglos mit deinem Spielzeug umgehst.«
»Aber ich war nicht sorglos, Mutter. Ich habe es absichtlich dort gelassen.«
Alice blieb abrupt mitten auf der Kopfsteinpflasterstraße stehen und starrte ihre Tochter an. »Warum hast du das getan?«
»Wegen dem, was der Junge gesagt hat.«
»Welcher Junge? Duncan?«
Abigail blickte hinunter auf die Messingschnallen ihrer Schuhe und nickte betreten. »Er sagte, dass Mädchen, die mit Püppchen spielen, Hexen genannt werden.« Ihre Stimme war so leise und zaghaft, dass sie kaum mehr als ein Flüstern war. »Ich will aber nicht Hexe genannt werden.«
Alice unterdrückte den Anflug von Ungeduld, der sich in ihr breitmachte. Samuel hatte Abigail die Holzpuppe geschenkt, kurz bevor er nach Salem aufgebrochen war. Sie war ihr liebstes Spielzeug; eine Erinnerung an den Vater, den sie seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Alice konnte sich kaum vorstellen, wie verängstigt ihre Tochter gewesen sein musste, um sich davon zu trennen.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob es vielleicht ein Fehler gewesen war, Abigail auf diese Reise mitzunehmen.
Hätte sie das Angebot ihrer Eltern annehmen und ihre Tochter in deren Obhut lassen sollen? War es vielleicht ein Fehler gewesen, überhaupt herzukommen?
