All Lovers Lost - Madeleine Puljic - E-Book
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Madeleine Puljic

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Beschreibung

Wer wirst du sein, wenn dir die Nacht zu Füßen liegt? In Madeleine Puljics romantisch-düsterem Vampir-Roman »All Lovers Lost« muss Jung-Vampirin Sina lernen, die Frau zu werden, die sie wirklich sein will. Die Hamburger Medizinstudentin Sina ist ebenso geschockt wie fasziniert, als sie herausfindet, wer der Mann wirklich ist, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hat. Denn Lazar ist ein Vampir – und er bietet Sina weitaus mehr als nur Unsterblichkeit in ewiger Nacht. Doch der Traum von Liebe wird zum Albtraum, als die beiden auf brutale Weise voneinander getrennt werden. Auf sich allein gestellt in einem Leben, das ihren Prinzipien in allem widerspricht, muss Sina entscheiden, wer sie wirklich sein will: eine verfolgte Kreatur, die der Vergangenheit nachtrauert – oder eine Jägerin, die nach völlig neuen Regeln spielt. Düster, sexy und romantisch: »All Lovers Lost« ist ein schaurig-schöner Vampir-Roman mit einer starken, unabhängigen Heldin und einer ordentlichen Portion Frauen-Power.

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Seitenzahl: 519

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Madeleine Puljic

All Lovers Lost

Der Sog der NachtRoman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Wer wirst du sein, wenn dir die Nacht zu Füßen liegt?

In Madeleine Puljics romantisch-düsterem Vampirroman All Lovers Lost muss Jung-Vampirin Sina lernen, die Frau zu werden, die sie wirklich sein will.

Die Hamburger Medizinstudentin Sina ist ebenso geschockt wie fasziniert, als sie herausfindet, wer der Mann wirklich ist, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hat. Denn Lazar ist ein Vampir – und er bietet Sina weitaus mehr als nur Unsterblichkeit in ewiger Nacht.

Doch der Traum von Liebe wird zum Albtraum, als die beiden auf brutale Weise voneinander getrennt werden. Auf sich allein gestellt in einem Leben, das ihren Prinzipien in allem widerspricht, muss Sina entscheiden, wer sie wirklich sein will: eine verfolgte Kreatur, die der Vergangenheit nachtrauert – oder eine Jägerin, die nach völlig neuen Regeln spielt?

Düster, sexy und romantisch: All Lovers Lost ist ein schaurig-schöner Vampirroman mit einer starken, unabhängigen Heldin und einer ordentlichen Portion Frauen-Power.

Inhaltsübersicht

Widmung

TEIL I

Kapitel 1 Lazar

Kapitel 2 Sina

Kapitel 3 Lazar

Kapitel 4 Lazar

Kapitel 5 Sina

Kapitel 6 Lazar

Kapitel 7 Sina

Kapitel 8 Lazar

Kapitel 9 Sina

Kapitel 10 Lazar

Kapitel 11 Sina

Kapitel 12 Lazar

TEIL II

Kapitel 13 Sina

Kapitel 14 Lazar

Kapitel 15 Romina

Kapitel 16 Lazar

Kapitel 17 Cassius

Kapitel 18 Sina

Kapitel 19 Lazar

Kapitel 20 Sina

Kapitel 21 Lazar

Kapitel 22 Cassius

Kapitel 23 Sina

Kapitel 24 Lazar

Kapitel 25 Sina

TEIL III

Kapitel 26 Sina

Kapitel 27 Lazar

Kapitel 28 Sina

Kapitel 29 Lazar

Kapitel 30 Sina

Kapitel 31 Lazar

Kapitel 32 Romina

Kapitel 33 Sina

Kapitel 34 Sina

TEIL IV

Kapitel 35 Sina

Kapitel 36 Lazar

Kapitel 37 Cassius

Kapitel 38 Sina

Kapitel 39 Lazar

Kapitel 40 Romina

Kapitel 41 Sina

Kapitel 42 Lazar

Kapitel 43 Sina

Kapitel 44 Sina

Kapitel 45 Romina

Kapitel 46 Sina

Kapitel 47 Sina

Kapitel 48 Sina

Kapitel 49 Cassius

Kapitel 50 Sina

TEIL V

Kapitel 51 Cassius

Kapitel 52 Sina

Kapitel 53 Cassius

Kapitel 54 Sina

Kapitel 55 Cassius

Kapitel 56 Sina

Kapitel 57 Romina

Kapitel 58 Sina

Kapitel 59 Cassius

Kapitel 60 Sina

TEIL VI

Kapitel 61 Sina

Kapitel 62 Sina

Kapitel 63 Romina

Kapitel 64 Cassius

Kapitel 65 Sina

Kapitel 66 Romina

Kapitel 67 Sina

Kapitel 68 Sina

Kapitel 69 Romina

Kapitel 70 Sina

TEIL VII

Kapitel 71 Sina

Kapitel 72 Cassius

Kapitel 73 Sina

Nachwort und Danksagung

Für alle, die zweifeln oder nach dem Sinn des Lebens suchen.

Für alle, die das Unbekannte fürchten oder das, was sie schon kennen. Und für alle, die sich der Dunkelheit stellen.

Ihr seid nicht alleine.

TEIL I

Fremde in der Nacht

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1Lazar

Aus den Schatten einer Seitengasse heraus beobachtete Lazar die Sterblichen, die aus der U-Bahn strömten. Müde von ihrem Arbeitstag trotteten sie die Stufen der Haltestelle hoch. Sie waren leichte Beute,das graue Wetter und die Alltäglichkeit ihrer Umgebung machten sie unachtsam. Er brauchte nur zu warten, bis die Menge sich zerstreute.

Eine Frau in ihren Vierzigern schleppte sich unmittelbar an seinem Versteck vorbei. Den Kragen ihrer Übergangsjacke hatte sie gegen den einsetzenden Nieselregen hochgeschlagen. Ihr Blick war starr auf den Boden gerichtet, ihre Arme beladen mit Einkaufstüten und einer überdimensionierten Handtasche.

Lazar ließ sie ziehen. Jemand wie sie hatte Familie, jemanden, dem etwas auffallen könnte. Wozu ein Risiko eingehen? Er hatte Zeit, die Nacht war noch jung.

Er musste nicht lange auf seine nächste Chance warten.

Ein kleiner Mann mit Halbglatze eilte die Straße entlang. Nervös sah er sich um und drückte dabei eine abgegriffene Aktentasche fest an den hageren Körper, als fürchte er, jemand könnte ihm das alberne Ding entreißen. Lazar hatte kein Interesse daran. Für ihn zählte einzig das Blut in den Adern des Mannes – der angstbeschleunigte Pulsschlag, der ein verheißungsvolles Stakkato in Lazars Ohren hämmerte.

Der Typ war bestimmt keine Delikatesse, aber Lazar war nicht wählerisch. Auch er hatte einen harten Tag hinter sich. Eine Zehnstundenschicht im Lager forderte ihren Tribut, selbst von einem Vampir. Er brauchte Stärkung. Also sandte er seine Gedanken aus. Wie eine unsichtbare Hand streckte er sie dem Mann entgegen und schlang sie um den von Übermüdung geschwächten Geist.

Der Fremde verlangsamte seine Schritte. Irritiert blickte er in Richtung der Gasse, in der sein Jäger lauerte.

Lazar empfing eine diffuse Ahnung von Finanzgeschäften, von dräuenden Deadlines und Mobbing in einem Großraumbüro, ehe er die Gedanken des Menschen zurückdrängte. Er wollte die Sorgen seines Opfers nicht kennen, wollte so wenig über seine Beute wissen wie möglich. Stattdessen verstärkte er seinen mentalen Griff. Er lockte den Mann zu sich, mit einem Versprechen, das keinerlei Erklärung bedurfte. Weg von all dem, was ihn erschöpfte. Fort von dem Alltag, den Ängsten, der Ödnis. Hinein in die Dunkelheit.

Von einer animalischen Gier erfüllt, die er nicht unterdrücken konnte, beobachtete Lazar, wie der Sterbliche näher kam und ein paar Schritte in die Sackgasse tat. Außer Sichtweite der Passanten blieb er stehen. Lazar selbst war von durchschnittlicher Statur, trotzdem reichte ihm der dürre Kerl gerade einmal bis zur Schulter. Das würde ein kurzes Mahl werden.

Aus der Nähe betrachtet, wirkte der Kerl außerdem deutlich älter als aus der Ferne. Seine Haut war teigig, die kahle Stelle auf seinem Schädel war feucht vom Regendunst. Der Glanz auf seiner Stirn jedoch rührte von etwas anderem: Unappetitlicher Schweißgeruch umgab den Mann wie eine Wolke.

Angewidert kniff Lazar die Augen zusammen, aber der Hunger war stärker. Lazar fasste sein Opfer am Nacken und drehte den Kopf des Mannes zur Seite. Er atmete flach, als er sich über den schlecht rasierten Hals beugte, und konnte sich des Schweißgestanks dennoch nicht erwehren. Wütend versenkte er seine Reißzähne in dem wehrlosen Fleisch. Der Sterbliche zuckte, doch der Schmerz war ebenso schnell vorbei, wie er gekommen war, und der dürre Kerl versank erneut in die Trance, in die Lazar ihn versetzt hatte.

Blut spülte in Lazars Mund. Augenblicklich vergaß er den Gestank und den Schmutz seines Opfers. Erinnerungen seiner Beute füllten seine ganze Welt aus, Gefühle umspülten seine Sinne. Bilder, Farben, Geräusche wirbelten durcheinander, ein übermächtiges Crescendo, das die Welt um ihn einfach ausblendete. Und über allem dröhnte, pulsierte und vibrierte der Herzschlag des Mannes.

Dieses Spektakel machte Lazar jedes Mal aufs Neue trunken. Gierig labte er sich, schluckte Schwall um Schwall, bis der Puls des Mannes sich verlangsamte. Es kostete ihn gewaltige Überwindung, sich von seinem Opfer zu lösen. Es war nicht genug, er wollte alles. Die Empfindungen, zu denen er selbst nicht länger fähig war. Das heiße Blut, das seinen Hunger für kurze Zeit stillte. Er brauchte mehr.

Aber mehr zu nehmen, hätte den Menschen getötet – und das war eine Schwelle, die er niemals überschritt. Ausgesaugte Leichen warfen Fragen auf, in der heutigen Zeit mehr denn je. Tote verlangten nach Schuldigen, und damit konnten sie selbst für einen Unsterblichen gefährlich werden.

Also riss Lazar mit einem Fingernagel über die Kuppe seines Daumens und drückte einen einzelnen Tropfen Blut aus dem Schnitt. In einer raschen Bewegung strich er über die Bissspur. Das Gift, das in seinem Blut lauerte, tat auch an Sterblichen seine Wirkung: Innerhalb weniger Augenblicke schloss sich die verräterische Wunde an der Halsschlagader seines Opfers. Zurück blieb nur eine kaum wahrnehmbare Narbe – zwei winzige Punkte, etwas blasser als die umliegende Haut. Und ein Tropfen Blut, den Lazar einfach fortwischte.

Dann trat er einen Schritt zurück. Einmal mehr verschmolz er mit den Schatten der dunklen Gasse, ehe er den Griff um den Geist des Sterblichen löste.

Einen Moment lang stand der Mann mit glasigen Augen da. Schließlich blinzelte er, blickte sich verwirrt um – und sah die Hauptstraße hinter sich liegen.

»Falsch abgebogen?« Immer noch leicht betäubt, schüttelte er den Kopf und ging langsam zurück. »Ich brauch Kaffee …«

Bei seinen ersten Schritten taumelte er noch, aber er fing sich rasch. Nach ein paar Metern hatte er sein übliches Tempo wieder erreicht. Die schmächtige Gestalt hastete weiter und verschwand im Strom der Passanten.

Lazar warf einen raschen Blick auf die Straße. Es war alles wie zuvor, niemand hatte etwas bemerkt. Das wunderte ihn nicht. Menschen wollten nicht aus ihrer Bequemlichkeit gerissen werden. Sie waren bereits mit ihren eigenen kümmerlichen Existenzen überfordert, und das Leben in der Großstadt hatte sie gelehrt, lieber wegzusehen, als unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.

Doch man musste vorsichtig sein. Die Welt war gefährlich für seinesgleichen, heute mehr denn je. Überall waren Kameras, jeder verfluchte Sterbliche trug eine bei sich.

Aus purer Gewohnheit wischte Lazar sich mit dem Ärmel über den Mund. Ein kleiner, blutiger Fleck blieb an dem zerschlissenen Stoff seines Pullovers zurück und brachte die Erinnerung an den Schweißgestank des Mannes mit sich. Übelkeit überrollte Lazar wie eine dunkle Welle.

Warum tat er sich das an? Nacht für Nacht diese erzwungene Nähe … Er ekelte sich vor den Menschen, die schon lange vor ihrem Tod nach Verwesung stanken, und dem Schmutz, in dem sie lebten. Am meisten jedoch widerte ihn seine eigene erbärmliche Existenz an. So mancher Vampir sah sich als unbesiegbar an, als Krone der Schöpfung, doch dieser Illusion hatte Lazar sich niemals hingegeben. Er wusste, was er war: ein Monster, das nur zu feige war, zu sterben. Ihn wunderte es nicht, dass so viele seiner Art den Freitod wählten. Der Lebenswandel, zu dem man gezwungen war, jahrhundertelang, zermürbte die Seele – bis sie irgendwann dem Druck nachgab und zerbrach.

»Lazar.«

Die leise Stimme erschreckte ihn nicht. Die Anwesenheit des anderen Vampirs war ihm nicht entgangen. Lazar hatte nur versucht, ihn zu ignorieren.

Genervt wandte er sich um. »Was willst du, Cassius?«

»Mich freut es auch, dich zu sehen.« Die schlanke Gestalt trat lautlos aus dem Dunkel.

Vor Lazar stand ein Mann mit schwarzen Haaren und aristokratischem Gesicht. Kurz flatterte sein dünner Ledermantel, dann hing das Kleidungsstück wieder so reglos herab, als hätte sein Träger sich keinen Millimeter bewegt.

Die dunkle Kleidung half ihnen, auf ihren Jagdzügen unsichtbar zu bleiben. Cassius jedoch betrachtete sein Aussehen als Waffe. Er benutzte es als Mittel, um seine Jagd zu perfektionieren, in jeder Epoche aufs Neue. Er betrachtete es als unter seiner Würde, den Menschen seinen Willen aufzuzwingen.

Nun, jeder von ihnen hatte seine eigene Jagdtechnik entwickelt. Für Lazar war das in Ordnung.

Cass dagegen kniff die Augen zusammen und seufzte gekünstelt.

»Du solltest dir wirklich mal Gedanken über deine Ernährung machen, mein Freund.«

»Wir sind keine Freunde«, wehrte Lazar ab.

Der andere lachte leise. »Wie du meinst. Dann bin ich eben das, was einem Freund am nächsten kommt.«

Lazar schnaubte verächtlich. Cassius und er waren zwei Unsterbliche, die sich aneinander gewöhnt hatten und gemeinsam durch die Jahrhunderte gingen. Das bedeutete nicht, dass Lazar die Anwesenheit des anderen besonders schätzte. Vor allem, weil Cass ein unausstehlicher Besserwisser war.

»Als dein Freund sage ich dir jedenfalls: Du bist, was du isst.«

»Kannst du es nicht endlich gut sein lassen?« Lazar hatte keine Lust auf diese Diskussion. Nicht schon wieder.

»Ich mache mir eben Sorgen um dich«, beharrte Cassius. Er deutete die Gasse hinab zur Hauptstraße hin. »Würdest du nicht immer an diesen menschlichen Ratten nuckeln, würdest du dir auch nicht immer über dieselben Dinge den Kopf zerbrechen.«

Mit einem raschen Schritt trat er an Lazar heran. Der Blick seiner eisblauen Augen bohrte sich in Lazars braune.

»Ich kenne dich, Lazar. Ich weiß, warum es dich in solche Gegenden treibt. Es ist nicht die leichte Beute. Wenn du leichte Beute willst, gehst du in den Park oder holst dir betrunkene Partygänger. Stattdessen kommst du hierher, suchst dir den Abschaum und die Ungeliebten aus, bei denen du dich wahrscheinlich halb ankotzt, während du ihnen am Hals hängst. Du quälst dich mit Absicht. Und wenn du so weitermachst, weilst du nicht mehr lange unter uns.«

Lazar funkelte seinen Verfolger wütend an. Er brauchte niemanden, der für ihn den Babysitter spielte. »Ich tue, was nötig ist, um zu überleben.«

»Und genau da liegt dein Fehler.« Cassius schüttelte den Kopf. »Überleben ist nicht dasselbe wie leben. Such dir ein Hobby, verdammt!«

»So wie du?« Lazar schnaubte. »Du weißt, dass mir deine Methode zuwider ist. Ich will nicht mit ihnen reden.«

Menschen waren Nahrung. Sie als etwas anderes zu sehen, würde es nur schwerer machen. Für Cassius mochten sie ein amüsanter Zeitvertreib sein, aber Lazar wusste, wozu er selbst fähig war. Besser, er brachte sich nicht in Versuchung.

Sein Gefährte zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst. Aber meine sind wenigstens sauber.«

Mit einem missmutigen Brummen wandte Lazar sich ab. Für ihn war das Gespräch beendet, für Cassius offensichtlich noch nicht.

»Warte«, bat er. Der Spott war aus seiner Stimme verschwunden. »Ich brauche deine Hilfe.«

»Für dein Hobby?«

Cassius zog die schmalen Augenbrauen zusammen. »Mach dich nur lustig über mich. Dieses Problem geht uns beide an! Jemand tötet in unserer Stadt.«

Lazar hielt mitten in der Bewegung inne.

»Du redest nicht von einem Menschen«, schlussfolgerte er, denn das hätte Cassius nicht der Rede wert befunden. Der Täter musste einer von ihnen sein, ein Unsterblicher.

Ausgesaugte Leichen warfen Fragen auf.Jeder wusste das. Jeder hielt sich daran – sofern er überleben wollte.

»Weißt du, wer es ist?«

»Noch nicht.« Cass’ Ausdruck verfinsterte sich. »Aber wer es auch ist – er jagt in meinem Revier. In meinen Klubs.«

»Dann bist vielleicht du derjenige, der seine Ernährungsweise überdenken sollte.«

Die Klubs waren ohnehin ein riskantes Jagdgebiet. Es hatte seine Gründe, dass Lazar sie immer gemieden hatte.

»Und was soll das jetzt noch bringen?« Cassius knurrte. »Wenn die Vetrani erst einmal auf Hamburg aufmerksam geworden sind, werden sie hier keinen Stein auf dem anderen lassen. Glaubst du wirklich, dass sie dann nicht auch dich finden werden?«

Mit seiner Jagdmethode blieb Lazar jedenfalls eher unter ihrem Radar als Cassius. Dennoch hatte sein Gefährte recht. Die Vetrani in Dei Signo waren zwar nur ein Teil des globalen Netzwerks von Vampirjägern, es war ihnen jedoch nicht ohne Grund gelungen, sich die meisten anderen europäischen Orden einzuverleiben. Die Krieger Gottes waren Bluthunde. In den vergangenen Jahrhunderten hatten sie es geschafft, die Unsterblichen nahezu auszulöschen.

Cassius ballte seine Hände zu Fäusten und rammte sich dabei die Fingernägel ins Fleisch. Der Geruch von Blut drang in Lazars Nase.

»Sie haben gerade erst einen von uns in Prag erwischt«, stieß er aus. »Viktor war kein Neuling, sondern fast so alt wie ich. Und jetzt zieht jemand eine Spur aus Leichen durch Hamburg. Sie führt zu mir – und damit auch zu dir.«

Cassius hatte recht: Dieses Problem ging sie beide an.

Kapitel 2Sina

Die Tür des Krankenzimmers schwang auf. Ertappt ließ Sina das Buch sinken und sah der Pflegerin entgegen, die mit einem Tablett in den Händen eintrat.

Marla war eine Springerin. Sina kannte sie zwar von der Kardiologie, hatte jedoch noch keinen Dienst mit ihr zusammen gehabt. Also setzte sie nur ein freundliches Lächeln auf. »Hallo.«

»Du bist noch hier?« Die Krankenschwester runzelte die Stirn. »Ich dachte, du schaust nur kurz nach der Patientin.«

Sina schüttelte den Kopf. »Ich habe Feierabend.«

Und genau genommen war Frau Ullrich auch nicht mehr ihre Patientin, aber das musste sie Marla nicht unbedingt auf die Nase binden.

Ihre Auskunft entlockte der Schwester ohnehin nur ein irritiertes Schulterzucken. »Wie geht es ihr heute?«, erkundigte sie sich mit einem Nicken in Richtung des Krankenbetts.

Frau Ullrich hatte die Augen geschlossen, tiefe, regelmäßige Atemzüge hoben ihre Brust. Im Schlaf glätteten sich die Falten in ihrem Gesicht, was sie jünger – und glücklicher – wirken ließ. Die Träume nahmen ihr den Schmerz des Vergessens.

Allerdings war Frau Ullrich gerade eben noch wach gewesen – so weit ihr das möglich war. Entweder hatte sie einen beneidenswerten Schlaf, oder sie war eine begnadete Schauspielerin.

Sina wusste jedoch, worauf die Krankenpflegerin hinauswollte: Es war Zeit für das Abendessen. Ein guter Tag bedeutete, dass die Patientin dabei nur geringe Hilfe benötigte, um nichts zu verschütten. Ein schlechter Tag, dass man ihr bei jedem Bissen und jedem Schluck assistieren musste.

Sina streckte die Hand nach dem Tablett aus. »Ich kann das übernehmen.«

»Sicher?« Marla blinzelte verwundert. »Du bist doch eine von Dr. Steinhäusers Studentinnen. Ich weiß nicht, ob er das gutheißen würde.«

Die Antwort auf diese Frage kannte Sina selbst: Das würde er nicht. Sie war angehende Ärztin, und in den Augen ihres Ausbilders sollten Studierende das Praxisjahr nutzen, um sich in Professionalität zu üben. Das wiederum bedeutete, Abstand zu wahren und keine Patienten bevorzugt zu behandeln. Ärzte waren kein Pflegepersonal, das war Steinhäusers Meinung.

Allerdings war Frau Ullrich schon seit Wochen nicht mehr Sinas Patientin. Sie hatte die alte Dame betreut, bevor diese von der Kardiologie auf die Palliativstation verlegt worden war, und sie brachte es nicht über sich, die arme Frau jetzt einfach im Stich zu lassen – ganz gleich, was Doktor Steinhäuser dazu sagte. Frau Ullrich hatte keine Familie, die sie hätte besuchen können, Sinas Familie dagegen wohnte vierhundert Kilometer weit entfernt. Also was schadete es, wenn sie der alten Frau abends ein wenig Gesellschaft leistete?

Sina hielt weiterhin die Hand ausgestreckt. »Von mir wird Steinhäuser es nicht erfahren«, versicherte sie.

»Okay …« Nach kurzem Zögern übergab Marla ihr das Tablett. Ein paar Minuten Pause … Das war ein Geschenk, das in der Pflege niemand leichtfertig ablehnte. »Danke dir!«

Sina lächelte. »Klar, kein Problem.«

Kaum hatte sich die Tür hinter der Schwester geschlossen, öffnete Frau Ullrich die Augen. »Was gibt es denn?«, fragte sie. Ihre Hand zitterte, als sie die Abdeckung des Tellers anhob. Enttäuscht sah sie auf die belegten Brote darunter. »Keinen Pudding?«

»Nachtisch gibt es nur beim Mittagessen«, erklärte Sina geduldig. »Möchten Sie, dass ich die Brote klein schneide?«

»Ach was.« Frau Ullrich griff nach dem Käsebrot. Als sie hineinbiss, klackte ihr Gebiss leise.

Sina schmunzelte. Es war einer von Frau Ullrichs guten Tagen.

Aber die Hand, die das Brot hielt, zitterte immer stärker. Die Käsescheibe sackte herab und plumpste auf die Bettdecke. Tränen stiegen der alten Frau in die Augen.

»Einen Augenblick, ich helfe Ihnen.« Sanft wischte Sina die Butter fort.

Das war das Schlimmste an dieser Krankheit: die klaren Momente, in denen die Patientin genau merkte, dass ihr sowohl Körper als auch Geist nicht länger gehorchten und sie sich Stück für Stück mehr verlor. Alles, was ihr einmal wichtig gewesen war, verschwand. Ihre Erinnerungen, ihre Gegenwart, ihre Autonomie.

Frau Ullrich war einmal Professorin für Kunstgeschichte gewesen, hatte man Sina erzählt. Ab und zu blitzte dieses umfangreiche Wissen durch und offenbarte eine Frau mit scharfem Verstand und pikantem Humor. Aber diese Tage wurden seltener. Morgen würde sie sich nicht mehr daran erinnern, wer Sina war – oder dass sie ihr die Abenteuer von Pu dem Bären mittlerweile bestimmt zum zwanzigsten Mal vorlas.

Das Handy in der Seitentasche von Sinas Kittel vibrierte, doch sie ignorierte es. Stattdessen schnitt sie das Brot in mundgerechte Stücke und half Frau Ullrich, diese zum Mund zu führen.

»Ich schaffe das schon«, beharrte die alte Frau.

»In Ordnung.« Sina ließ die Hände sinken.

»Lesen Sie lieber weiter, Kind. Ich will wissen, ob sie … ob sie das … das Wuschel fangen.«

»Gern.« Das war zwar nicht das Kapitel, das sie vorhin gelesen hatte, aber das war nicht ungewöhnlich.

Sie wollte nach dem Buch greifen, als die Tür erneut aufging.

»Wir sind noch nicht fertig«, sagte Sina, doch die Krankenschwester schüttelte den Kopf.

»Dr. Steinhäuser ist unterwegs hierher.« Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich. »Du solltest gehen. Ich übernehme hier.«

»Danke.« Sina biss sich auf die Unterlippe. Der Koordinator des Praktischen Jahres war Kardiologe. Was tat er auf der Palliativstation? So viel war klar: Wenn Steinhäuser ihretwegen kam, sollte sie ihm besser nicht über den Weg laufen.

»Wir lesen morgen weiter, ja?«, wandte sie sich an ihre Patientin, doch Frau Ullrich sah bereits durch sie hindurch. Der lichte Moment war vorbei.

Sina legte das Buch zurück in die Schublade des Nachtschränkchens, zupfte die Decke ihrer Patientin zurecht und warf gewohnheitsmäßig einen Blick auf den Monitor neben dem Kopfende des Krankenbettes. Die bunten Linien zeichneten gleichförmige Zacken auf den schwarzen Hintergrund. Für jemanden in Frau Ullrichs Alter waren die Vitalparameter in Ordnung, ihr Kreislauf war stabil. Damit war die Behandlung in den Augen der Kardiologen abgeschlossen. Für Dr. Steinhäuser zählten nur die Werte auf dem Krankenblatt, nicht die Patienten selbst. Und laut den Werten ging es der Patientin gut. Wie es in ihr drinnen aussah, interessierte den Arzt nicht, das war eine Angelegenheit für Physiotherapeuten und Krankenpfleger, nicht für eine Medizinstudentin im zwölften Semester.

»Danke für die Warnung«, murmelte sie Marla im Vorbeigehen zu.

»Kein Problem. Schönen Abend!«

»Danke, ebenso.«

Sina schloss die Tür zu Frau Ullrichs Zimmer hinter sich und bog ihren schmerzenden Rücken durch. Erst der Dienst auf der Kardio, danach das lange Sitzen auf dem harten Plastikstuhl. Sie war fix und fertig. Zeit, nach Hause zu gehen und sich in die Wanne zu legen.

Im Vorbeigehen winkte sie einer anderen Schwester zu, die am Stationsschalter Dienst tat. Dann erkannte sie die hochgewachsene, grauhaarige Gestalt im weißen Kittel, die den Flur entlangkam, und bog hastig Richtung Fahrstuhl ab, während die Pflegerin mit müdem Gesichtsausdruck ihr Winken erwiderte.

Sina zwängte sich in den Aufzug, kaum dass sich die Türen öffneten, und drückte sofort auf den Knopf, der sie wieder schloss. Endlose Sekunden vergingen, in denen sie auf den Flur starrte, in der Erwartung, jeden Moment ihrem Oberarzt gegenüberzustehen.

Endlich setzten sich die beiden Stahlflächen in Bewegung und schirmten sie ab. Sina atmete auf. Doch statt sich vollends zu schließen, stoppten die Türen des Aufzugs plötzlich und glitten wieder auf. Vor ihr stand genau der Mann, dem Sina zu entgehen versucht hatte.

»Frau Neubert.« Durch seine Brillengläser maß Steinhäuser sie mit strengem Blick.

Schlagartig fühlte Sina sich winzig klein. Das grau melierte Haar des Oberarztes war dezent nach hinten gekämmt, der Mund zu einem missbilligenden Strich zusammengekniffen. Im Gegensatz zu ihr trug der Kardiologe keinen Arztkittel über seiner weißen Krankenhausmontur. Wozu auch? Ihn hielt garantiert niemand irrtümlich für einen Pfleger. Er war ein Mann, außerdem bestimmt schon Mitte fünfzig. Und allein sein herrisches Auftreten machte deutlich, dass er jemand mit Autorität war.

Auffordernd hob Steinhäuser eine buschige Augenbraue. »Warum sind Sie hier?«

»Ich …« Verdammt, wusste dieser Kerl überhaupt, wie einschüchternd er auf seine Studierenden wirkte? »Ich habe nur eine ehemalige Patientin besucht.«

Er nickte. »Davon habe ich gehört. Aber meine Frage lautete: Warum?«

»Warum denn nicht?«, rutschte es Sina heraus.

Sofort biss sie sich auf die Zunge, doch es war zu spät. Steinhäusers Miene wurde hart.

»Weil es nicht mehr Ihre Patientin ist«, erklärte er knapp. »Ihre Aufgaben liegen anderswo.«

»Das weiß ich. Es war ein privater Besuch, ich habe mich schon ausgetragen.«

Gut, sie hätte vermutlich die Krankenhauskleidung ablegen sollen, um zu verdeutlichen, dass sie nicht länger im Dienst war. Aber dass der Oberarzt sie extra abfing, nur um ihr das zu sagen?

»Sie müssen lernen, loszulassen«, mahnte Steinhäuser. »Denken Sie daran, auf welcher Station Sie sich hier befinden.«

Als ob Sina das vergessen könnte. Auf der Palliativstation landeten die unheilbar Kranken. Diejenigen, bei denen nur noch Symptome und Komplikationen behandelt werden konnten, nicht mehr das zugrunde liegende Problem. Diese Patienten starben, doch gerade deshalb kam Sina hierher. Frau Ullrich hatte niemanden, der ihr beistand.

»Ich mag sie«, fasste Sina zusammen. »Da kann ich sie doch in meiner Freizeit besuchen?«

Der Oberarzt sah das offensichtlich anders. »Empathie ist eine Sache, Frau Neubert. Mangelnde Abgrenzung eine andere. Sie sollten sich nicht zu sehr einbringen. Für das letzte Trimester haben Sie sich auf der Onkologie beworben, nicht wahr?«

»Ja?« Der abrupte Themenwechsel verwirrte Sina.

Steinhäuser nickte. »Dort werden Sie noch weit mehr Patienten verlieren als auf der Kardiologie, das ist Ihnen hoffentlich klar. Und das erfordert Professionalität auf allen Ebenen.«

Wieso sagte er das? Hielt er sie etwa für zu emotional, um ihren Job zu erledigen?

»Ich schaffe das«, versicherte Sina.

»Das hoffe ich.« Mit einem müden Seufzen trat er aus dem Aufzug, wandte sich dann aber noch einmal um. »Sie machen Ihre Sache bisher gut, ich würde Sie ungern verlieren. Aber Sie müssen lernen, ein gesundes Maß an Abstand zu wahren, andernfalls sieht es nicht gut für Sie aus.«

Fassungslos starrte Sina ihn an. Hatte er gerade gedroht, sie durch die Examensprüfung rasseln zu lassen – und das nur, weil er ihre Anteilnahme für eine Schwäche hielt? War ihre Empathie für ihn etwa ein Zeichen dafür, dass sie für den Arztberuf nicht geeignet war?

Die Aufzugtüren schlossen sich, doch Sina fühlte sich unfähig, auf den Knopf zu drücken.

Falls Steinhäuser sie wirklich als zu emotional einstufte und bei Dr. Dybvik gegen sie unkte, damit dieser ihre Bewerbung hintanstellte, konnte sie das Trimester auf der Krebsstation vergessen. Kurzfristig eine neue Praktikumsstelle zu bekommen, war so gut wie unmöglich. Und wenn sie auch noch durch die Prüfung fiel …

Sina schluckte. Ein vergeudetes Semester konnte sie sich nicht leisten, ihr Samstagsjob reichte ohnehin kaum, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Als jemand, der nicht aus einer Akademikerfamilie stammte, hatte sie sich ihren Studienplatz hart erarbeitet und alles selbst finanziert. Sie hatte immer mehr Einsatz zeigen müssen als ihre Kommilitonen. Und jetzt wurde sie dafür auch noch bestraft?

Steinhäuser konnte sie mal kreuzweise! Er war genau die Art von Arzt, die sie nie sein wollte: ein Gott in Weiß, der seine Patienten nur als Fälle betrachtete, als Zahlen in der Statistik. Nein, er war wahrlich kein Vorbild.

Sina würde das Hammerexamen bestehen. Auf ihre Weise.

Entschlossen drückte sie die Taste für das Erdgeschoss.

Wieder vibrierte ihr Handy, und diesmal zog Sina es aus der Tasche.

Mädelsabend!!!, schrieb ihre ehemalige Studienkollegin und beste Freundin in Hamburg. Brezel dich auf – es ist Gothic Night!

Sina stöhnte. Die Verabredung mit Levke hatte sie vollkommen vergessen. Oder vielmehr verdrängt. Das Letzte, worauf sie nach der Konfrontation mit Steinhäuser Lust hatte, war, sich in einem finsteren Nachtklub zu betrinken. Das würde sie doch erst recht runterziehen!

Aber sie hatte es versprochen. Ihre Freundin hatte gerade eine fiese Trennung mit viel kaputtem Geschirr und einem noch kaputteren Herzen hinter sich, ein wenig Ablenkung würde Levke guttun. Und Sina selbst brauchte auch einmal wieder etwas anderes als Prüfungssorgen und die halb verdurstete Topfpflanze in ihrem Einzimmerapartment.

Aber ausgerechnet Gothic Night? Sina schauderte. Seit ihrer Schulzeit war sie nicht mehr im Grufti-Look herumgelaufen.

Andererseits … Es war zumindest einmal etwas anderes. Vielleicht würde es ja ganz lustig werden. Nach dem Schreck mit Steinhäuser konnte sie ein paar Drinks jedenfalls gut gebrauchen.

Einfach mal feiern und Spaß haben. Was war schon dabei? Es war schließlich nur ein Klub.

Kapitel 3Lazar

Die fröhlichen Stimmen der Kneipenbesucher und die bunten Lichter der Laufhäuser blieben hinter ihnen auf der Reeperbahn zurück. Stattdessen empfing sie nun das schnelle Wummern von Basstönen.

Lazar verzog den Mund. Wieso hatte er sich auf diesen Mist nur eingelassen? Er warf Cassius einen missbilligenden Blick zu.

Sein Freund verdrehte die Augen und packte ihn am Arm. »Du wirst es überleben.« Damit zog er Lazar unbarmherzig auf den schwarz getünchten Kellerabgang zu, über dem eine blutrote Neonleuchte den Namen Sacre Cœur verkündete.

Lazar brummte verdrossen. Cassius war überzeugt, das Jagdmuster des Eindringlings durchschaut zu haben. Die Etablissements, in denen die verdächtigen Mordopfer zuletzt gesehen worden waren, entsprachen in der Tat seiner eigenen Jagdrunde, was nahelegte, dass Cassius und der fremde Vampir einen ähnlichen Geschmack besaßen. Entsprechend hatte der Vorschlag, den Rest von Cassius’ Stammlokalen abzuklappern, zunächst vernünftig geklungen. Da hatte Lazar allerdings auch noch nicht geahnt, wie viele davon es in St. Pauli gab. Das Sacre Cœur war bereits der fünfte Klub, den sie aufsuchten, und bisher keine Spur von dem Unsterblichen. Allmählich bezweifelte Lazar, dass sie auf diese Weise fündig werden würden.

Er persönlich verstand auch nicht, weshalb Cassius sich so an dieses Revier klammerte. Die Gegend war heruntergekommen. Billige Nachkriegsbauten quetschten sich zwischen marode Gründerzeithäuser, an den Wänden prangten stümperhafte Graffiti. Die meisten dieser Gebäude waren seit Jahren renovierungsbedürftig, wenn nicht seit Jahrzehnten. Der einzige Reiz, den Lazar hier sah, lag in der unmittelbaren Nähe zum Rotlichtmilieu. Nirgendwo sonst wurden so wenige Fragen gestellt – zumindest, was die Besucher betraf. Willkommen war, wer zahlen konnte.

Der breitschultrige Türsteher des Sacre Cœur warf ihnen bloß einen finsteren Blick zu, ehe er mit einem Nicken die metallverstärkte Tür aufstieß. Augenblicklich schwoll die Bassmusik an, verdichtete sich zu einer Art Melodie, zusammengehalten von dem blechernen Getöse eines Schlagzeugs. Die Musik drückte ihnen auf die empfindlichen Ohren, der Rhythmus vibrierte in Lazars Zwerchfell. Der Gestank aneinandergedrängter Menschen in einem schlecht durchlüfteten Raum waberte ihm entgegen, vermengt mit dem künstlichen Rauch einer Nebelmaschine.

Ohne zu zögern, stieg Cassius die Treppe hinab und tauchte in das zuckende Licht ein. Lazar folgte ihm mit weit weniger Enthusiasmus.

Die fortgeschrittene Stunde machte sich bemerkbar, der Klub war gut besucht. Dutzende schwarz gekleidete Gestalten bewegten sich auf der Tanzfläche. An ihren Hälsen glänzten Ketten und Stachelhalsbänder; Netzstoffe und dunkles Latex schimmerten an ihren Körpern. Im flackernden Licht wirkten die Bewegungen der Tanzenden abgehackt und grotesk, als würden sie nicht von ihrem eigenen Willen gelenkt, sondern von Stromstößen, die durch ihre Leiber zuckten. Weitere Gäste drängten sich an den runden Stehtischen am Rand des niedrigen Raums oder in der Nähe des Tresens, um sich mit Getränken versorgen zu lassen.

Lazar fragte sich, wie Cassius das aushielt. Der ältere Vampir schien das alles sogar zu genießen! Einem Raubtier gleich blickte er sich um, auf der Suche nach dem leichtesten Opfer. Oder vielmehr: nach dem lohnendsten.

Es war ein Fehler gewesen, ihn hungrig aufbrechen zu lassen. Lazar war nicht mitgekommen, um zuzusehen, wie Cassius sich an betrunkenen Discobesuchern labte. Heute Nacht jagten sie etwas anderes, und dafür sollten sie ihre Sinne beisammenhalten.

Er wollte seinem Begleiter bereits vorschlagen, erst einmal eine Mahlzeit einzunehmen, als ihn ein nervöses Kribbeln in der Magengrube aufmerken ließ. Sie waren nicht alleine. Er spürte die Anwesenheit eines weiteren Unsterblichen. Aber wo?

Lazar ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Der infernalische Lärm, die beißende Luft und das unstete Licht bereiteten ihm Kopfschmerzen und machten es ihm schwer, sich auf seine vampirischen Sinne zu konzentrieren.

Er schloss die Augen, versuchte, den Krach und Gestank auszublenden.

Links von ihm … An der Bar. Einer der Barkeeper? Nein, die waren eindeutig menschlich, auch wenn ihre bleiche Gesichtsfarbe etwas anderes suggerieren sollte. Das war nur Schminke. Was Lazar spürte, war Alter, Macht. Ein Unsterblicher, zweifellos. Älter als er, womöglich sogar älter als Cassius.

Lazar widmete sich den Gestalten am anderen Ende des Tresens. Da. Er entdeckte sie im selben Moment, als Cassius neben ihm verkündete: »Na, wenigstens hat sie Geschmack.«

Sie. Es handelte sich nicht um irgendeinen Gegner, sondern um eine Vampirin. Unwillkürlich krampfte sich Lazars Hand zur Faust.

Wie Cassius schien sie sich zwischen all den Sterblichen durchaus wohlzufühlen. Ihre Haltung war entspannt, ihr spitzenbesetztes Mieder und der schwarze Rüschenrock fügten sich nahtlos in die Szenerie der übrigen Klubbesucher. Doch das war es nicht, was Cassius gemeint hatte.

Die Unbekannte beugte sich zu einer jungen Frau, deren dunkle Locken einen scharfen Kontrast zu der blonden Mähne der Vampirin bildeten. Ihr leerer Blick hing an den blutrot geschminkten Lippen der Unsterblichen, die ihr in einer zärtlichen, fast schon tröstlich wirkenden Geste über die Wange strich. Mitleid empfand die Vampirin jedoch sicher nicht mit ihrem Opfer. Sie wisperte einen Befehl, und die Sterbliche rutschte von ihrem Hocker. Gefangen in tiefer Trance ließ sie sich von ihrer Todesbringerin an der Hand nehmen und folgte ihr ergeben durch die Schar der Tanzenden. Zur Treppe und hinaus ins Freie, wo sie zweifellos in einer finsteren Gasse ihr Ende finden würde, ihres Lebens beraubt und weggeworfen wie ein Stück Müll.

Lazar wollte den beiden in den Weg treten, doch Cassius hielt ihn zurück.

»Warte«, mahnte er. »Draußen können wir sie leichter stellen.«

Es kostete Lazar erstaunlich viel Kraft, den beiden Frauen nicht hinterherzustürmen. Es war eine Sache, von Toten und Opfern zu sprechen, solange sie gesichtslos blieben. Zuzusehen, wie diese junge Frau ihre letzten Schritte tat, war etwas ganz anderes. Es weckte Erinnerungen, die er lieber begraben lassen wollte.

Er musste das unterbinden. Andernfalls war er nicht besser als die Unsterbliche, die dem Mädchen das Leben stahl.

Endlich löste Cassius seinen Griff. »Komm.«

Er musste Lazar nicht zweimal bitten. Sie eilten die Treppe hoch, an dem missmutigen Türsteher vorbei. Frische Nachtluft empfing sie – sofern man bei dem beißenden Gestank von Urin von »frisch« reden konnte. Dennoch atmete Lazar auf. Hier oben war es nicht länger ein Problem, der Aura der Unsterblichen nachzuspüren. Allerdings würde zweifellos auch die Vampirin bemerken, dass sie nicht länger allein war. Im Klub war sie von ihrer Beute abgelenkt gewesen, doch diesen Vorteil würden sie bald verlieren. Sie mussten sich beeilen.

Das Glück war auf ihrer Seite. Die Vampirin war ungeduldig, und ihre menschliche Begleitung verhinderte, dass sie schnell vorwärtskam. Sie fanden die beiden nur eine Ecke weiter, im Halbdunkel zwischen zwei Straßenlampen, wo die Unsterbliche gerade ihre Zähne ausfuhr und grob den dünnen Stoff des Shirts vom Hals ihres Opfers riss.

Als sie die Schritte ihrer Verfolger hörte, sah sie auf. Ein unwilliger Ausdruck erschien auf ihrem filigranen Gesicht.

»Ich teile nicht«, knurrte sie.

Cassius trat vor. »Davon bin ich auch nicht ausgegangen«, entgegnete er. »Die wievielte blutleere Leiche wird das hier? Die vierte?«

Die Vampirin lachte. »Soll ich etwa mitzählen?«

Grob stieß sie die Sterbliche zu Boden. Das Mädchen reagierte nicht, als sein Kopf aufs Pflaster schlug, es blieb einfach liegen.

»Was wollt ihr?«, fauchte die Unsterbliche. »Habt ihr nichts Besseres zu tun, als mir nachzustellen? Was seid ihr, Aasgeier? Sucht euch gefälligst eigene Beute.«

»Es geht nicht um das Mädchen«, entgegnete Cassius. »Es geht um dich.«

Erneut lachte sie. »Ich spiele außerhalb eurer Liga. Wobei …« Die Vampirin neigte nachdenklich den Kopf zur Seite, während sie Lazar und Cassius musterte. Genießerisch leckte sie sich die Lippen. »Es ist lange her, dass ich unsterbliches Blut getrunken habe.«

In Erwartung eines Kampfes spannte Lazar seine Muskeln an. Erneut hielt Cassius ihn zurück, doch auch er zeigte nun seine Reißzähne.

»Du mordest in unserem Revier«, erklärte er. »Und das auf nachlässigste Weise. Jemand mit deiner Erfahrung sollte seine Spuren besser verwischen. Du ziehst Aufmerksamkeit auf dich. Und auf uns.«

»Tue ich das?« Die Vampirin zog eine mitleidige Schnute. »Habt ihr etwa Angst vor ein paar schwachen Menschlein?« Sie grinste. »Oder den Vetrani?« Ihre Finger tanzten durch die Luft, als spräche sie von einem Schreckgespenst, mit dem man Kinder zur Artigkeit erzog.

Lazar knurrte. »Wenn du sie nicht fürchtest, ist es ein Wunder, dass du noch existierst.« Die Vetrani waren alles andere als ein Schauermärchen, er hatte einige ihrer Opfer gekannt – und teilweise gesehen, was von ihnen übrig geblieben war. Ein Reißwolf war harmlos dagegen.

»Vielleicht bin ich einfach besser als sie, ist dir diese Idee noch nicht gekommen?« Die Vampirin trat einen Schritt auf Lazar zu, wobei sie achtlos über die bewusstlose Frau zu ihren Füßen hinwegstieg. »Ganz gleich, wie gut sie organisiert sein mögen, es sind Menschen. Und Menschen sind schwach, dumm und beschränkt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sollten sie mich dennoch bemerken, verschwinde ich eben aus der Stadt.«

Cassius bleckte die Zähne. »Und dabei lieferst du ihnen jeden anderen Vampir in Hamburg aus!«

»Also euch beide?« Sie hob eine sorgfältig gezogene Augenbraue. »Warum sollte mich das kümmern?«

Ihre absolute Gleichgültigkeit war bemerkenswert.

»Willst du dir wirklich nicht nur die Vetrani, sondern auch deine eigene Art zum Feind machen?«, fragte Lazar ungläubig.

Mit einer Bewegung, die schneller geschah, als ein Mensch sie hätte erfassen können, war die Unsterbliche heran. Sie griff jedoch nicht an, streckte nur eine Hand nach ihm aus. Lazar erstarrte.

»Du gefällst mir«, gurrte die Vampirin. »Vielleicht bist du ein wenig naiv, aber damit kann ich arbeiten.« Ihre dunkel lackierten Fingernägel strichen über seine Unterlippe. »Du würdest einen guten Diener abgeben. Komm mit mir, und ich zeige dir, wie du dich von deiner Angst befreist.«

»Danke, ich verzichte.« Er stieß sie von sich. »Du bist nicht die Erste, die meint, mich abrichten zu können.«

Einen Moment lang sah er tatsächliches Interesse in ihren Augen aufblitzen, doch dann trat Cassius neben ihn und drängte die Unsterbliche zurück. Cass’ Finger zuckten, als würde er unsichtbare Krallen ausfahren.

»Du willst Hamburg verlassen?«, fragte er. »Dann tu es jetzt.«

Die Vampirin bleckte die Zähne. »Und wenn nicht?«

»Werden wir dafür sorgen, dass du es bereust.«

»Ihr beide?« Sie lachte hämisch, und ihre Reißzähne blitzten im Licht der Straßenlaternen. »Euch zerquetsche ich wie Fliegen.« Ohne Vorwarnung ging sie auf Lazar los.

Er empfing sie mit einem Faustschlag, dem sie jedoch mühelos auswich. Sie bog den Rücken nach hinten durch, wirbelte in der Luft herum und knallte Cassius den Absatz ihres Stiefels ins Gesicht.

Cassius knurrte. Blut troff aus seinem Mund.

Lazar wollte nachsetzen, aber da hörte er ein Wimmern. Er warf einen kurzen Blick zurück in die Gasse und fluchte.

Das Mädchen! Die verdammte Vampirin hatte die Trance gelöst. Ganz gleich, ob absichtlich oder weil sie durch den Kampf abgelenkt gewesen war – die Sterbliche war bei Bewusstsein. Sie hatte sich aufgerappelt und starrte mit großen Augen zu ihnen herüber, versuchte zu begreifen, was sie sah. Jeden Augenblick würde sie schreien.

Hastig erwog Lazar seine Möglichkeiten. Sie befanden sich nicht weit von der belebten Reeperbahn, wo sich eine Unmenge von Menschen auf die eine oder andere Weise vergnügte, und das Sacre Cœur lag nur eine Straßenecke entfernt. Zumindest die Leute vor dem Klub würden sie hören. Vielleicht würden sie eingreifen, vielleicht auch nicht. Es spielte keine Rolle. Ein einziger Schaulustiger mit Handy genügte, und die Vetrani würden ihre Gesichter zu sehen bekommen. Die junge Frau durfte nicht schreien. Er musste sie zum Schweigen bringen. Jetzt.

Ihm blieb keine Zeit für Feingefühl. Die Gedanken, die er der Sterblichen sandte, waren keine tastenden Finger – es war eine mentale Faust, die er mitten in ihren Geist rammte. Sie verdrehte die Augen und sackte erneut zusammen. Lazar sprang vor und fing sie auf, ehe sie ein weiteres Mal auf den Pflastersteinen aufschlagen konnte. Sanft ließ er sie zu Boden gleiten. Ein Fehler, wie ihm gleich darauf klar wurde.

Cassius schrie auf und brüllte seinen Namen. Lazar fuhr herum. Sein Freund lag auf der Straße und versuchte aufzustehen, doch irgendetwas stimmte nicht. Sein linkes Bein gab immer wieder nach. Dunkle Feuchtigkeit glänzte an seiner Hose. Doch Cassius wollte keine Hilfe. Hektisch deutete er nach oben.

Lazar legte den Kopf in den Nacken – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Vampirin spinnengleich die Fassade des Backsteinhauses erklomm und sich auf das Dach hievte.

»Worauf wartest du?«, rief Cassius. »Hol sie dir!«

Unschlüssig blieb Lazar stehen. Sein Freund war verletzt. Vampirische Wunden heilten zwar schnell, aber nicht augenblicklich. Außerdem hatte Cassius diese Nacht noch nichts getrunken, was die Heilung zusätzlich verzögerte. Das Mädchen hingegen würde garantiert in Panik geraten, wenn Lazar es aus seiner Kontrolle entließ. Und das würde unweigerlich geschehen, sobald er sich entfernte. Die Sterbliche würde die halbe Reeperbahn zu Hilfe rufen – und Cassius keine Gelegenheit geben, ungesehen zu verschwinden.

Lazar hatte keine Wahl. Er blieb stehen. »Sie hat gesagt, dass sie die Stadt verlassen will. Das wird sie jetzt erst recht tun.«

»Ja. Aber erst, nachdem sie sich ein anderes Opfer gesucht hat!« Mit einem Knurren kam Cassius auf die Beine. Er presste eine Hand an den blutgetränkten Stoff seiner Hose. »Morgen früh wird es eine neue Leiche in Hamburg geben.«

»Aber nicht hier.« Lazar schüttelte den Kopf. »Sie muss trinken. Davon hätten wir sie so oder so nicht abhalten können.«

Cassius stieß einen leisen Fluch in seiner Muttersprache aus. Dann nickte er in Richtung der Sterblichen. »Ist sie tot?«

»Nein.« Ihr Puls ging zwar flach, aber Lazar konnte ihn deutlich hören. Und er fühlte das Flackern ihrer Gedanken unter seiner Umklammerung. Das Mädchen lebte.

»Gut.« Humpelnd kam Cassius näher. »Hilf mir mal, ja?«

Es dauerte einen Moment, bis Lazar begriff, was sein Begleiter vorhatte. Energisch trat er ihm in den Weg. »Nein!«

Cassius zog die Augenbrauen hoch. »Du verarschst mich, oder?« Er wollte sich an Lazar vorbeischieben, aber in seinem geschwächten Zustand war es nicht schwer, ihn zurückzudrängen.

Lazar blieb eisern. »Wir haben sie nicht vor dieser Irren gerettet, damit du dich jetzt an ihr vergehst!«

»Sie lebt doch, oder nicht?« Cassius stieß ihm gegen die Brust. »Das ist mehr, als sie ohne uns gehabt hätte. Ich brauche Blut, also spiel nicht den Samariter.«

»Nein.« Das Mädchen hatte genug durchgemacht.

Natürlich hatte Cass recht. Es sollte keine Rolle spielen, wen er aussaugte. Doch die Begegnung mit der Vampirin hatte alte Erinnerungen heraufbeschworen. Womöglich waren sie es, die ihn empfindlich werden ließen. Aber der Gedanke, dass Cassius seine Zähne in die junge Frau schlug, während er selbst sie im Zustand der Besinnungslosigkeit gefangen hielt, sorgte dafür, dass sich alles in Lazar zusammenkrampfte. Es war falsch.

»Das ist nicht unsere Art. Weder meine noch deine.«

Cass stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Du verfluchter Mistkerl! Erst lässt du mich im Stich, weil du dich lieber um diese Sterbliche kümmerst, und jetzt das?« Er schüttelte den Kopf, Zorn und Schmerz verzerrten seine Züge.

Lazar wusste, was ein derartiger Blutverlust bei einem ohnehin hungrigen Vampir bedeutete. Er sah auf die junge Frau hinab, die zu seinen Füßen auf dem feuchten Boden lag. Ihre Lider flatterten. Sie war stärker, als er es für möglich gehalten hätte, kämpfte gegen seine Kontrolle an.

»Zum Teufel mit dir«, schimpfte Cass. »Mach doch, was du willst. Demnächst ernährst du dich wirklich noch von Ratten.« Damit drehte er sich um und humpelte davon.

Cassius hatte recht. Er brauchte Blut.

Lazar sah auf die bewusstlose Frau in seinem Arm hinab, deren dunkles Haar ihr in sanften Locken in die Stirn fiel. Sein Entschluss stand fest.

Ihres bekommt er nicht.

Kapitel 4Lazar

Vorsichtig half Lazar der jungen Frau auf die Beine. Sie schwankte, ließ es jedoch bereitwillig zu, dass er sich einen ihrer Arme um die Schultern legte und seinen um ihre Taille schlang. Immer noch war sie in Trance gefangen, doch lange würde er sie nicht mehr darin halten können. Er musste sie aufwecken. Allerdings nicht hier. Wenn sie in einer düsteren Seitengasse zu sich kam, würde sie garantiert erneut in Panik geraten – besonders angesichts der Blutspur auf dem Boden. Er musste sie in eine Umgebung bringen, in der sie sich sicher fühlte, an einen vertrauten Ort. Sosehr ihm der Gedanke auch widerstrebte – die beste Lösung wäre, in den Klub zurückzukehren. Dort lag ihre letzte Erinnerung, bevor erst die Vampirin und dann er selbst ihren Geist zurückgedrängt hatten.

Also verstärkte Lazar seinen Griff um das Mädchen, hakte die Finger in die Gürtelschlaufen ihrer schwarzen Jeans und lotste sie zurück zum Eingang des Sacre Cœur. Schön vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen.

Jetzt, wo die Aufregung von ihm wich, nahm er die Nähe der Sterblichen immer deutlicher wahr. Er fühlte die Wärme ihres Körpers an seinem, roch den leichten, blumigen Duft ihres Shampoos. Hunger regte sich in ihm, und es kostete ihn enorme Willenskraft, nicht selbst das zu tun, wovon er Cassius abgehalten hatte. Dabei hatte er bereits getrunken! Aber die weichen Konturen, die er unter dem Shirt ertastete, ihr Kopf, der an seiner Schulter ruhte, ihr Atem, der seine Wange streifte …

Unwillkürlich zog er sie in eine engere Umarmung und atmete ihren Geruch ein. Wie lange war es her, dass er die Nähe einer Frau genossen hatte? Hatte er sich das nach seiner Verwandlung überhaupt jemals gestattet? Die Jahrhunderte verwischten seine Erinnerungen, und doch fühlte sich ihr Körper an seinem seltsam vertraut an, als wäre sie für ihn bestimmt …

Lazar schüttelte die Eindrücke ab und konzentrierte sich auf den Weg. Er war nicht er selbst. Die Begegnung mit der Vampirin sowie die unerträgliche Nähe zu dermaßen vielen Menschen setzten ihm zu. Sobald er in seine selbst gewählte Einsamkeit zurückkehrte, würde er sich besser fühlen. Der Klub war nicht mehr weit. Er musste das Mädchen bloß absetzen, dann konnte er aus ihrem Leben verschwinden. Nur noch ein paar Schritte.

Allerdings hatte er die Rechnung ohne den Türsteher gemacht. Der breitschultrige Mann, der ihn bereits beim ersten Mal mit unverhohlenem Missmut angesehen hatte, trat ihm nun in den Weg, die Arme in die Seiten gestemmt.

»Kein Ausschank an Betrunkene«, erklärte er finster. »Das Mädel kann ja kaum noch stehen.«

Lazar unterdrückte den Impuls, den Kerl mit Gewalt beiseitezuschieben. »Ich will sie auch nicht abfüllen. Wir suchen nur nach ihrer Freundin.«

»Ja, klar.« Als Türsteher hatte der Kerl bestimmt schon jede Ausrede gehört. Er rührte sich keinen Millimeter. »Ich kann der Kleinen ein Taxi rufen oder für dich die Polizei. Deine Entscheidung.«

Unter anderen Umständen hätte Lazar dem Mann für seinen Einsatz vermutlich Respekt gezollt, doch im Augenblick machte sein Berufsethos den Türsteher zu einem Widerstand, den es zu überwinden galt. Und Lazar fehlte die Geduld, das auf die nette Tour zu erledigen.

»Lass mich durch.«

Er legte mehr als nur Überzeugung in seine Stimme. Die Augen des Mannes wurden groß und leer. Ohne ein weiteres Wort trat er zur Seite.

Diese Beeinflussung hatte jedoch ihren Preis. Lazars Griff um den Geist des Mädchens glitt ab. Sie stöhnte, versuchte, sich von ihm zu lösen. Hastig schob er sie durch die Tür. Sobald sie außer Sicht waren, würde der Türsteher sie vergessen, und Lazar könnte sich wieder ganz der jungen Frau an seiner Seite widmen. Ein letztes Mal zwang er sie unter seine Kontrolle und führte sie die Treppe hinab in den Nachtklub, in dem sich in der Zwischenzeit noch mehr Gäste eingefunden hatten. Diese verdammten Menschen waren einfach überall!

Aus dem Augenwinkel bemerkte Lazar zwei Gestalten, die sich eng umschlungen auf dem Treppenabsatz an die Wand pressten. Cassius. Er hielt einen jungen Kerl fest. Seine Hände umklammerten die Handgelenke des Sterblichen auf Schulterhöhe, sein Mund klebte am Hals seines Auserwählten.

Das war Cassius’ bevorzugte Jagdmethode: Er suchte sich ein Opfer, das ihm gefiel. Meist waren es Frauen, aber letztendlich war ihm das Geschlecht egal. Er zog die unglückliche Person in eine dunkle Ecke und gab ihr einen »Kuss«. Im Gegensatz zu Lazar brauchte er dafür keine mentalen Fähigkeiten. Sein etwas fragwürdiger Charme genügte, um zu bekommen, was er wollte – und er wusste, wie weit er gehen musste. Nach seinem Biss waren die Betroffenen völlig durcheinander, und Cassius konnte sie leicht davon überzeugen, dass sie einfach nur zu viel getrunken hatten. Er bugsierte sein Opfer in ein Taxi, das natürlich nicht er bezahlte, und verschwand aus ihrem Leben. In der darauffolgenden Nacht besuchte er ein anderes Lokal, und das Spiel begann von vorn.

Cassius wechselte die Klubs wie Lazar die Haltestellen und Seitengassen. Bis er wieder im Sacre Cœur angekommen war, hatten die Betroffenen und alle anderen Anwesenden sein Gesicht vergessen. Niemand schöpfte Verdacht. Das jedenfalls behauptete Cassius.

Lazar drängte sich an seinem Freund vorbei und führte seinen Schützling zu einem der Tische abseits der Tanzfläche. Kurz entschlossen stieß er einen schlaksigen Kerl von seinem Hocker und ignorierte den Protest des Sterblichen. Er packte den Sitz, zog ihn an einen winzigen Tisch und ließ das Mädchen darauf fallen. Dann endlich wagte er es, den mentalen Griff zu lösen.

Erleichtert atmete er auf. Die Beeinflussung aufrechtzuerhalten, hatte ihn ungemeine Kraft gekostet. Kein Wunder, dass ihn in der Nähe der Sterblichen ungute Gedanken befielen. Er war froh, wenn er diesen Ort hier hinter sich lassen konnte.

Die junge Frau blinzelte und sah sich um, als würde sie aus einem Traum erwachen. Ihr Blick fand seinen, und ein unsicheres Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Tut mir leid!« Sie musste schreien, um die krachende Musik zu übertönen. »Ich war wohl gerade nicht ganz da. Worüber haben wir geredet?«

Lazar wollte sich zurückziehen. Er hätte es tun sollen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Ihre dunklen Locken, der sanfte Blick ihrer Augen, der weiche Mund … Er fragte sich, wie sie unter dem düsteren Make-up aussehen mochte. Und ehe er so recht wusste, was er tat, erwiderte er ihr Lächeln.

Es lag nicht in seiner Absicht, war nur ein Reflex, eine Erinnerung an die Zeit, als er noch unter Menschen gewandelt war. Dennoch merkte er, wie allein dieser kurze Austausch die Distanz, die er stets so sorgfältig bewahrte, ins Wanken brachte.

Betont gelassen hob er die Schultern. »Den Sinn des Lebens?«

Sie hob zweifelnd die Brauen. Im ersten Moment dachte er, sie würde einfach aufstehen und gehen.

Stattdessen beugte sie sich vor. »So viel Zeit hast du?«, fragte sie mit schlecht gespieltem Ernst. Schalk blitzte in ihren Augen und ließ ihre Mundwinkel verdächtig zucken.

»Eigentlich …« Eigentlich nicht.

Das sollte er sagen, auch wenn er über mehr Zeit verfügte, als sie es sich in ihren schlimmsten Albträumen ausmalen konnte. Aber er war wie gebannt von ihrer Nähe.

Erneut schlug ihm ihr Geruch entgegen, umhüllt von den Alkoholschwaden und anderen Ausdünstungen des Klubs. Menschlich, weiblich. Beute … und mehr.

Er räusperte sich. »Eigentlich wollte ich mich gerade vorstellen.« Es war ein Fehler, das wusste er, noch ehe er die Worte aussprach. Und doch ließ er sie zu. »Ich bin Lazar.«

Wieder lächelte sie, und diesmal lag keine Unsicherheit darin. »Sina.« Sie verdrehte die Augen und lachte, so leise, dass selbst Lazar den Klang im Donnern der Bässe nur erahnte. »Also eigentlich Kristina, aber … na ja …« Ihre Hand tastete über den kleinen Tisch, so als suchte sie ein Glas. Wenn sie eines besessen hatte, war es an der Bar zurückgeblieben, als die Vampirin sie zum Abendmahl auserkoren hatte.

Erneut befiel Lazar ein schlechtes Gewissen. Gerade noch hatte er sie davor bewahrt, als Cassius’ Snack zu enden, und nun suchte er selbst ihre Nähe? Das war doch sonst nicht seine Art. Menschliche Ratten, das war sein Beuteschema! Nicht aus Selbsthass, sondern weil es sicherer war. Keine Verfolger, keine Sympathien … keine Reue.

Dann geh!, forderte sein Verstand ihn auf. Hau endlich ab! Geh nach Hause und vergiss sie.

Stattdessen hörte er sich fragen: »Möchtest du etwas trinken?«

Sina lächelte erleichtert. »Gute Idee.« Sie rutschte von ihrem Hocker herunter und ging an ihm vorbei in Richtung Bar.

»Okay.« Eigentlich hatte er geplant, ihr etwas zu bringen, aber offenbar war diese Tradition aus der Mode gekommen.

Als wäre nun er derjenige in Trance, folgte Lazar ihr durch die stetig dichter werdende Menge der Klubbesucher. Die Berührungen der fremden Leiber spürte er kaum, all seine Sinne waren auf die Frau vor sich ausgerichtet.

Zugleich fühlte er eine wachsende Unruhe in sich. Was tat er da? Wieso war er noch hier? Hatte er nicht verschwinden wollen, sobald er sie abgesetzt hatte? Die Gefahr war gebannt, er hatte seine Pflicht erfüllt. Warum also sträubte sich alles in ihm dagegen, Sina zurückzulassen? Sie war nur ein Mensch! Und es war schließlich nicht so, als würde dieses Getränk etwas ändern. Er würde gehen und sie nie wiedersehen.

Abrupt blieb er stehen, als er begriff, dass es genau das war, was ihn zurückhielt.

Er wollte sie wiedersehen, sie kennenlernen. Eine Sterbliche!

Der Gedanke war idiotisch. Nein, mehr als das: Er war gefährlich, für ihn ebenso wie für sie.

Davon abgesehen hatte Lazar ohnehin keine Ahnung, wie er so etwas überhaupt anstellen sollte. Es war eine Ewigkeit her, dass er mit jemandem auf diese Weise gesprochen hatte. Jahrhunderte! Neben der Bekanntschaft mit Cassius waren knappe Gespräche mit seinen Kollegen die einzige soziale Interaktion, die Lazar sich leistete – und selbst die beschränkte er auf das absolute Minimum. Soweit er sich erinnerte, war seine Frau die Letzte gewesen, die …

Die Erinnerung rief ihn augenblicklich zur Besinnung.

Lazar warf einen Blick zur Bar, wo Sina sich inzwischen darum bemühte, die Aufmerksamkeit einer Barkeeperin auf sich zu lenken. Ihr Shirt war am Kragen zerrissen, ihre Hose staubig von der Straße. Sie war dem Tod heute Abend nur knapp entgangen.

Das war es, was Vampire taten: Sie labten sich an Sterblichen und ließen sie danach fallen wie Unrat. Wenn ihm das Leben dieses Mädchens irgendetwas bedeutete, dann musste er daraus verschwinden. Jetzt. Ehe es zu spät war.

»Was nimmst du?« Sinas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

Sie wartete auf seine Antwort. Offen und ohne Argwohn sah sie ihn an. Ihn. Nicht das Monster, das er in sich fühlte, sondern den Mann, der er einmal gewesen war – und von dem er nicht einmal geahnt hatte, dass es ihn noch gab. Ob er es wollte oder nicht, seine Entscheidung war längst gefallen.

Er kramte ein paar Geldscheine hervor und schob sie über den Tresen.

»Das Gleiche wie du.«

Kapitel 5Sina

Die Garderobe des Fitnesscenters war leer. Sina war die Erste, die zur Yogastunde erschien. Kein Wunder – die meisten Leute hatten samstags etwas Besseres zu tun, als um acht Uhr morgens den herabschauenden Hund zu praktizieren. Sie selbst wäre ebenfalls am liebsten zurück ins Bett gekrochen. Aber das Dehnen und die Anstrengung würden ihr helfen, die Nachwirkungen der Gothic Night aus ihrem müden Körper zu vertreiben und fit für ihre Mittagsschicht in Bodos Burger zu werden – sofern sie bei den Meditationsübungen nicht einschlief.

Sie ließ ihre Sporttasche auf die Bank der Umkleide plumpsen und schlüpfte aus ihren Sneakers.

Während sie sich umzog, trafen nach und nach die anderen Kursteilnehmerinnen ein. Die meisten von ihnen grüßte Sina mit einem Nicken. Außer einem gemeinsamen Trainingsplan verband sie mit den anderen Frauen nur wenig.

Sie griff nach dem Handtuch und ihrer Wasserflasche und wollte gerade in den Kursraum gehen, als Levke die Umkleide betrat.

Sina ließ die Flasche sinken. Ihre Freundin sah in etwa so aus, wie sie selbst sich fühlte. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab, die zum Teil von unvollständig entferntem Mascara stammten. Ihr Gesicht war aufgedunsen von zu viel Alkohol und das sonst so gepflegte kastanienrote Haar zu einem lockeren Knoten zusammengefasst – eine Frisur, die Levke nur in Erwägung zog, wenn alles andere versagte.

Im Gegensatz zu Sina schien sie allerdings überraschend gute Laune zu haben.

»Na du?«, grüßte sie mit einem breiten Grinsen.

Sina legte die Stirn in Falten. »Hattest du einen schönen Abend?«, murrte sie.

Überrascht zog Levke die Brauen hoch. »Du etwa nicht?«

»Du hast mich sitzen lassen!« Sina ignorierte die genervten Blicke der anderen Frauen. »Wie war das von wegen Mädelsabend?«

Ihre Freundin sah sie an, als würde sie in fremden Zungen sprechen. »Du bist doch diejenige, die sich anderweitig umgesehen hat!«, behauptete sie. »Und, bin ich dir etwa böse? Nein. Ich gönne dir deinen Spaß! Ich hab mir dann nur eben auch eine andere Begleitung gesucht.«

Sina schüttelte den Kopf. »Wovon redest du?« Lazar hatte sie nur angesprochen, weil sie allein in einer rappelvollen Disco herumgesessen und vermutlich ziemlich mitleiderregend ausgesehen hatte.

»Du wolltest Getränke holen«, erinnerte Levke sie. Mit einer geschmeidigen Bewegung glitt sie aus ihrem Pullover. Darunter trug sie bereits ihr Sporttop. »Und das Nächste, was ich sehe, ist, wie du an der Bar mit dieser Frau flirtest.«

»Mit einer Frau?«

Levke grinste. »Finde ich gut, dass du neue Sachen ausprobierst.«

»Aber ich habe nicht …« Das Gespräch wurde immer bizarrer!

Klar, Lazars Haare waren etwas länger, als sie es normalerweise für gut befand. Aber mit einer Frau war er nun wirklich nicht zu verwechseln, seine Statur war eindeutig männlich. Genau das wollte Sina ihrer Freundin erklären, doch da schob sich ein ungebetenes Bild vor ihr geistiges Auge: eine blonde Frau, mit blutroten Lippen und einem Dekolleté, von dem man selbst als heterosexuelle Frau nur schwer den Blick abwenden konnte. Marcella.

Sina runzelte die Stirn. War das eine Erinnerung?

Das Bild verschwand so schnell, wie es gekommen war. Vielleicht hatte sie sich die Szene nur eingebildet. Sie hatte zwar einiges getrunken in der Nacht – hauptsächlich, um ihre Nervosität unter Kontrolle zu bekommen –, aber definitiv nicht genug für einen Blackout. Sie konnte sich an jedes Detail der letzten Nacht erinnern.

Levke hatte sich inzwischen ihrer Socken entledigt und schien von Sinas Verwirrung nichts mitzubekommen. Mit drei gewaltigen Schlucken trank sie ihre Wasserflasche leer, dann wischte sie sich über den Mund und füllte die Flasche am Waschbecken neu auf.

»Na ja, falls es dich tröstet – meine tolle Begleitung hat es nicht mal bis zum Taxi geschafft, bevor er sich übergeben hat, immerhin in einen Mülleimer. Es war trotzdem nichts, was ich fortführen wollte.«

»Das verstehe ich.« So viel zu Levkes Plan, sich über ihre Trennung hinwegzutrösten. »Tut mir leid für dich.«

»Was soll’s. War trotzdem gut fürs Ego.« Als eine der anderen Kursteilnehmerinnen ein empörtes Schnauben ausstieß, fuhr Levke lauter fort: »Ja, sich flachlegen lassen kann Wunder bewirken. Sollten Sie auch mal probieren!«

Entrüstet zog die Frau von dannen.

Levke verdrehte die Augen und wandte sich wieder Sina zu. »Wozu lernen wir denn die ganzen Verrenkungen, wenn wir sie nicht einsetzen?«

»Es ist Yoga«, murrte Sina. »Kein Tantra.«

Levke zwinkerte ihr zu. »Tu nicht so, als hätte es nicht trotzdem seine Vorteile.«

Sina zuckte mit den Schultern. Auf diese Diskussion wollte sie sich nicht einlassen. Dann hätte sie nämlich zugeben müssen, dass sie sich nicht einmal daran erinnern konnte, wann sie das letzte Mal die Gelegenheit gehabt hatte, das auszuprobieren.

Ganz sicher hätte Levke sie daraufhin erst recht zum Notfall erklärt. Aber es war nun mal so, dass ihr neben Job, Prüfungsvorbereitungen und Praktikum nicht allzu viel Zeit für Liebschaften blieb; irgendwie musste sie schließlich ihre Miete bezahlen. Und wenn sie einmal ein freies Wochenende hatte, verbrachte sie es im Normalfall damit, ihre Familie in Köln zu besuchen und damit ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.

Ihre Mutter verstand immer noch nicht, weshalb man für ein Medizinstudium unbedingt nach Hamburg musste. Das mit dem Flüggewerden war etwas, was nicht so recht in ihr Weltbild passte. Genau deshalb war es Sina so wichtig gewesen, diesen Schritt zu tun, und sie hatte es auch nie bereut. Der Abstand tat ihr gut, nur die Zugfahrten waren die Hölle.

»Also.« Mit verschwörerischem Grinsen beugte Levke sich zu ihr herüber. »Die Blonde und du?«

»Da war nichts.«

»Und warum schaust du dann so übernächtigt aus?«

Sina schnaubte. Wortlos wickelte sie das Handtuch um ihr Handgelenk und gleich wieder ab.

»Da war ein Mann«, gab sie schließlich zu und bereute es im selben Moment.

»Ach?« Levke war ganz Ohr, und natürlich ließ sie es nicht bei dieser Auskunft bewenden. »Und weiter?«

»Nichts weiter.« Das war es ja. »Wir haben etwas getrunken und geredet. Das war’s.«

Wobei, genau genommen … Getrunken hatte nur sie etwas, Lazar hatte sein Alsterwasser kaum angerührt. Und geredet hatte eigentlich auch nur sie. Er hatte zugehört. Richtig zugehört, was ihrer Erfahrung nach bei Männern ja schon fast an ein Wunder grenzte, vor allem bei Zufallsbekanntschaften in irgendwelchen Klubs. Und das, obwohl sie vermutlich mal wieder viel zu viel von Krankenhausdiensten und schlechten Science-Fiction-Filmen erzählt hatte. Nicht das beste Flirtmaterial, wie ihr gerade klar wurde, aber ihn schien es nicht gestört zu haben.

Auch sonst unterschied sich Lazars Verhalten deutlich von dem der Typen, die Sina von der Uni her kannte. Die ganze Zeit über hatte er seine Hände bei sich behalten, selbst als sie aus dem dröhnenden Klub in die Gasse davor gewechselt waren, um sich nicht länger anbrüllen zu müssen. Keine anzüglichen Kommentare, obwohl er keine Sekunde lang die Augen von ihr genommen hatte. Und als sie erklärt hatte, dass sie vor ihrer nächsten Schicht ein paar Stunden schlafen müsse, hatte er sie schlicht und einfach zur U-Bahn begleitet und sich äußerst höflich verabschiedet. Kein Abschiedskuss. Nur ein langer Blick, der ihr das Gefühl vermittelt hatte, dass womöglich auch für ihn die Nacht zu früh geendet hatte.

»Klingt nach einem vergeudeten Abend«, befand Levke. »Wenn du ihn nicht mal mit nach Hause nehmen wolltest …«

Sie hatte leicht reden! Mit ihrer selbstbewussten Art, den hüftlangen Haaren und einer Figur, die jeden Hollywoodstar neidisch machen würde, brauchte ihre Freundin bloß mit den Wimpern zu klimpern, und schon standen die Kerle bei ihr Schlange – allerdings nicht alle auf die angenehme Weise.

Levke war es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen, und sie genoss die Aufmerksamkeit. Sina dagegen bemühte sich normalerweise, irgendwo im Strom mitzuschwimmen.

Umso ungewohnter war es für sie, dass ein fremder Mann ihr glaubhaft das Gefühl vermittelte, etwas wirklich Besonderes zu sein. Die meisten Männer schreckte es eher ab, wenn sie hörten, dass sie bald einen Doktortitel tragen würde.