All We Lost Was Everything – Deine Liebe brennt wie Feuer - Sloan Harlow - E-Book

All We Lost Was Everything – Deine Liebe brennt wie Feuer E-Book

Sloan Harlow

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Beschreibung

Brandneue, heiße Romantic Suspense von der Queen of Thrill: abgründig, sexy, unwiderstehlich Als Rivers Haus niederbrannte, verlor sie alles: ihr Zuhause, ihre Musik, ihren Dad. Dann nimmt das Schicksal eine bizarre Wendung. Durch eine anonyme Spende wird River über Nacht zur Millionärin. Ihre beste Freundin Tawny findet, das Leben ist zu kurz, um so viel Geld abzulehnen. Aber wer ist der mysteriöse Spender? Der Einzige, der ganz sicher nichts damit zu tun hat, ist Rivers verdammt heißer Kollege Logan. Denn er lässt keinen Zweifel daran, wie sehr er sie hasst. Ihre körperliche Anziehung ist allerdings nicht zu leugnen. Oder sind da sogar echte Gefühle zwischen ihnen? Als River ein Familiengeheimnis entdeckt, stellt sie alles infrage – ganz besonders Logan, der sich in immer mehr Lügen verstrickt. Diese sexy Romantic Suspense ist voller Lügen und Twists, die du nicht kommen siehst. Die Tropes Hidden Past und Fatal Attraction sorgen garantiert dafür, dass du diesen New Adult Thriller nicht mehr aus der Hand legen willst! - Romantic Suspense voller unvorhersehbarer Lügen und Twists - Ein sexy Standalone-Thriller mit den starken Tropes: Hidden Past + Fatal Attraction - Für Fans von Karen McManus und Ana Huang

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Seitenzahl: 467

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sloan Harlow

All We Lost Was Everything

Deine Liebe brennt wie Feuer

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Henriette Zeltner-Shane

 

Über dieses Buch

 

 

Brandneue, heiße Romantic Suspense von der Queen of Thrill: abgründig, sexy, unwiderstehlich

Als Rivers Haus niederbrannte, verlor sie alles: ihr Zuhause, ihre Musik, ihren Dad. Dann nimmt das Schicksal eine bizarre Wendung. Durch eine anonyme Spende wird River über Nacht zur Millionärin. Ihre beste Freundin Tawny findet, das Leben ist zu kurz, um so viel Geld abzulehnen. Aber wer ist der mysteriöse Spender? Der Einzige, der ganz sicher nichts damit zu tun hat, ist Rivers verdammt heißer Kollege Logan. Denn er lässt keinen Zweifel daran, wie sehr er sie hasst. Ihre körperliche Anziehung ist allerdings nicht zu leugnen, und die beiden stürzen sich in eine leidenschaftliche Beziehung. Oder sind da plötzlich echte Gefühle zwischen ihnen? Als River ein Familiengeheimnis entdeckt, muss sie alles in Frage stellen – ganz besonders Logan, der sich in immer mehr Lügen verstrickt.

 

Diese sexy Romantic Suspense ist voller Lügen und Twists, die du nicht kommen siehst. Die Tropes Hidden Past und Fatal Attraction sorgen garantiert dafür, dass du diesen New Adult Thriller nicht mehr aus der Hand legen willst! 

»Ein geschickt gebauter Plot und schockierende Enthüllungen treiben diesen wendungsreichen, romantischen Thriller voran ... perfekte Balance von Trauer, Drama und Geheimnissen.« Publishers Weekly

 

 

Weitere Bücher von Sloan Harlow bei Fischer Sauerländer:

Everything We Never Said – Liebe lässt uns böse Dinge tun

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de

Biografie

 

 

Sloan Harlow träumt bereits seit ihrer Kindheit davon, Schriftstellerin zu werden. Zusammen mit ihrer Katze Pabu lebt sie im US-Bundesstaat Georgia, wo sie versucht, so viel violette Yams-Eiscreme wie möglich zu essen. »All We Lost Was Everything« ist ihr zweiter YA-Thriller.

Impressum

 

 

Dieses Buch kann sensible Themen enthalten. Weitere Informationen dazu findest du am Ende des Buches. (Achtung, diese Hinweise enthalten Spoiler!)

 

Zu diesem Buch ist beim Argon Verlag ein Hörbuch erschienen, das als Download und bei Hörbuch-Streamingdiensten erhältlich ist.

 

 

Erschienen bei Fischer Sauerländer E-Book

 

Copyright © 2025 Alloy Entertainment, LLC, and Sloan Harlow

Published by arrangement with Rights People, London.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2025, Fischer Sauerländer GmbH,

Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main

 

Lektorat: Frank Griesheimer

Covergestaltung: Alexander Kopainski, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

Coverabbildung: ###

ISBN 978-3-7336-0944-3

 

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

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Inhalt

[Widmung]

Prolog River

1 River

Sechs Monate später

2 River

3 River

4 River

5 River

6 Logan

7 River

8 River

9 River

10 River

11 Logan

12 River

13 River

14 River

15 River

16 River

17 Logan

18 River

19 River

20 River

21 River

22 Logan

23 River

24 River

25 River

26 River

27 Logan

28 River

29 River

30 River

31 River

32 Logan

33 River

34 River

35 River

36 River

37 River

38 Logan

39 River

40 River

Sechs Monate später

41 River

42 River

43 River

[Hinweis]

Dank

Für alle, die vom Gipfel gefallen sind, von unten hinaufgeschaut haben und trotzdem wieder losgeklettert sind.

PrologRiver

Jeden Freitag kaufte meine Mom Lose. Auf dem Heimweg vom Putzen in irgendeiner Villa, die in dieser Woche eben dran war, hielt sie an der Tankstelle und kaufte Rubbellose für den jeweils größten Jackpot.

Hin und wieder gewann sie. Kleine Summen – manchmal den Preis des Loses, manchmal ein bisschen mehr. Einmal machte sie sogar tausend Dollar. Aber meistens kam sie mit leeren Händen und schien davon jedes Mal wirklich überrascht zu sein. Ich denke, sie glaubte tatsächlich, dass das Glück eines Tages auf ihrer Seite sein würde. Dass sie eines Tages Millionärin wäre und ihr Leben – unser aller Leben – auf magische Weise besser würde. Die nie enden wollenden Schulden ihres nicht abgeschlossenen Collegestudiums wären dann einfach weg. Dass mein Dad sich einen Zweit- und manchmal sogar einen Drittjob suchen musste, wäre von heute auf morgen unnötig. Ich könnte aufs College gehen, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an Studiengebühren zu verschwenden.

Wir wären reich und glücklich, würden aber verantwortungsvoll damit umgehen. Eine Familie, die sich nicht durch ihren plötzlichen Reichtum von innen heraus selbst zerstörte.

Als ich fünfzehn wurde und etwas über die Wahrscheinlichkeiten von Lotteriegewinnen lernte – »eins zu dreihundert Millionen«, hatte mein Lehrer in Statistik verkündet –, da erklärte ich meiner Mom, sie solle ihr Geld lieber sparen, anstatt es jede Woche für Lose zu verplempern. Doch sie wackelte nur mit den Augenbrauen und meinte: »Jemand muss doch gewinnen. Warum nicht ich?«

Soweit ich weiß, hat sie nie den Jackpot gewonnen.

Aber ich. Und das kostete mich einfach alles.

1River

Friedhöfe sind die grünsten Orte in Scottsdale, Arizona. Grüner als der Golfplatz des schönsten Countryclubs der Stadt, den ich nur kenne, weil meine Mom dort als Hauswirtschafterin arbeitete, als ich sieben war, und ihr Boss mich Eis am Stiel vom Stand mit den Snacks am 13. Loch essen ließ.

Ocotillo Ridge Memorial Park ist da keine Ausnahme. Hier gibt es keinen roten Staub, keinen Schotter. Kein staubiges Gebüsch oder ausgebleichten Mulch. Nur eine saubere Fläche aus leuchtend grünem Gras (zum Teufel mit dem Wassermangel!). Das Meer aus Grün wird nur von Grabsteinen unterbrochen sowie von ein paar blühenden Bäumen, die die Luft mit dem Gummibonbon-Duft von Akazien und dem Traubensaft-Geruch von texanischem Berglorbeer parfümieren. Dad liebte die herabhängenden violetten Blüten, diesen süßen Duft. Deshalb habe ich in meinen GoFundMe-Topf gegriffen – und mein auf zweifelhafte Weise verdientes Reservegeld benutzt, obwohl ich geschworen hatte, das nur im Notfall zu tun –, um ihm einen Platz dort zu sichern. Damit er immer in der Nähe dieser Blüten sein kann.

Auf diese Bäume konzentriere ich mich jetzt. Auf ihr Schimmern im Morgenlicht. Nicht darauf, wie der Priester den Namen meines Vaters ausspricht – Jay San-TOS – und wie total falsch sich das mit seiner schwerfälligen Sprechweise anhört. So wie Vertretungslehrkräfte meinen Namen zu sagen pflegten: gleichgültig, ohne sich die Mühe zu machen, Vokale oder Aussprache zu begreifen, denn in einer Stunde existierte dieser Name für sie sowieso nicht mehr.

Würde ich mich darauf konzentrieren, wie falsch das klingt, müsste ich mich auch darauf konzentrieren, wie falsch das alles hier ist. Dass mein Dad in einem Sarg aus Zedernholz liegt und darauf wartet, in die Erde hinabgelassen zu werden, anstatt neben mir zu stehen. Dass meine Mutter nicht mal angerufen hat, ganz zu schweigen davon, dass sie zu seiner Beerdigung erschienen wäre. Das Leben, wie ich es kannte, ist vor gerade mal zwei Wochen bis auf die Grundmauern abgebrannt, als mein Zuhause Feuer fing und alles vernichtete – meine Gitarre, meine Songbooks, meine Tagebücher, meine Klamotten, alles.

Und was am wichtigsten war: meinen Vater.

Wegen der Ausmaße des Schadens konnte die Feuerwehr uns noch nicht sagen, was genau passiert ist, nur dass es wahrscheinlich eine elektrische Ursache hatte. Alles in unserem Haus war so alt und halb kaputt, deshalb hätte es ehrlicherweise alles sein können. Und nachdem das Feuer einmal ausgebrochen war, wütete es heiß und blitzschnell. Mein Dad schaffte es nicht einmal aus seinem Schlafzimmer. Alle sagen, es ist ein Wunder, dass ich überlebt habe. Dass ich solches »Glück« hatte, es irgendwie aus dem Haus und auf den Rasen davor zu schaffen, wo die Feuerwehrleute mich fanden, ohnmächtig vom eingeatmeten Rauch. Keine Ahnung, wie ich das geschafft habe. Meine einzigen Erinnerungen an diese Nacht sind verrauchte Momentaufnahmen, aber nichts, was man eine »waghalsige Flucht« nennen könnte.

Und ganz ehrlich? Ich würde auch nichts von alldem als »Glück« bezeichnen.

 

Durch den Nebel, der mich immer noch einhüllt, seit ich im Krankenhaus aufgewacht bin, bemerke ich nur, wie viele Menschen hier auf dem Friedhof sind. Die meisten kenne ich. Gertie, Besitzerin des Diners, wo ich seit Jahren jobbe, presst sich ein Taschentuch an die Nase. Lehrkräfte von der Scottsdale Senior Highschool, an der ich die Zwölfte besuche, aber auch Angestellte und Schüler der Mojave Prep, wo mein Dad die Footballmannschaft coachte, starren feierlich geradeaus. Seine Hilfscoachs bilden in ihren improvisierten Uniformen aus glänzenden Sakkos und Krawatten eine Reihe, während die Schüler trotz der Hitze ihre Mannschaftsjacken und dazu grimmige Mienen tragen.

Gott sei Dank ist Tawny hier, meine beste Freundin auf der ganzen Welt. Und nach allem, was passiert ist, so ziemlich meine einzige Freundin auf der ganzen Welt. Alle waren hilfsbereit und liebenswürdig, aber Tawny McGill ist die einzige Person, die ich in meiner Nähe aushalte. Es kommt mir auch so vor, als wäre sie die einzige noch lebende Person, die mich in- und auswendig kennt und die weiß, was ich brauche, ohne dass ich es überhaupt ausspreche.

Mein Ex, Noah Pierce, steht auch hier herum, obwohl er, seit sein Vater und er angekommen sind, Blickkontakt mit mir gewissenhaft vermeidet. Wobei das wahrscheinlich am besten ist, weil er wohl Tawnys Beschützerinstinkt zu spüren bekäme, wenn er näher als zwei Meter an mich heranträte.

Neben den Pierces steht ein Dutzend Typen von den regelmäßigen AA-Treffen meines Dads. Wobei das »anonym« sich längst erledigt hat nach Jahren mit Grillfesten im Garten oder gelegentlichen Begegnungen bei unserem wöchentlichen Frühstück im Diner, wenn jemand an unseren Tisch kam, um zu erzählen, dass mein Dad ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Leben gerettet hatte.

Wenn ich in das Meer aus tränenüberströmten Gesichtern um mich herum schaue, auf diese Menschen, die mein Vater mit Liebe und Unterstützung zusammengeschweißt hat, dann kann ich nicht verhindern, dass eine leise Stimme in mir fragt: Aber wo ist Dad?

Es ist ein vertrauter Refrain meines Lebens. Wann immer ich aufstand, um zu singen, seit meinem ersten Konzert mit acht bis zu meinem letzten mit siebzehn, war mein erster Gedanke, immer wenn ich auf die Bühne ging und meine Hacken auf dem alten, zerschrammten Holzboden widerhallten:

Wo ist Dad?

Ich schaute in die Menge, suchte ihn. Und ich fand ihn: mit dem Muttermal an seiner linken Wange, dem dichten, schwarzen Haar, seinen dunklen, lachenden Augen. Er hob dann seine Hand, winkte und winkte. In dem Moment war ich eine berühmte Sängerin, ein Star. Ich winkte auch immer zurück, bis Mom sein Handgelenk runterzog, verlegen, aber lächelnd, während sie sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr strich.

Wo ist Dad?, denke ich wieder. Die Antwort bricht mir das Herz.

Als würde sie merken, dass ich kurz davor bin, die Fassung zu verlieren, beugt Tawny sich zu mir und flüstert mir ins Ohr: »Ich bin da und fang dich auf, River.«

»Wir beide«, flüstert Tita Anna mir von der anderen Seite zu und verschränkt ihre Finger mit meinen.

Tawny legt einen Arm um meine Schulter und hält mich fest. Das ist der einzige Grund, warum ich nicht auseinanderfliege. Ich bleibe für den Rest der Zeremonie da, in ihrer Umarmung, während der Priester seine Predigt beendet und dann eine Person nach der anderen vortritt, um ihre Erinnerungen an meinen Vater zu teilen. Sie reden davon, auf wie tiefgreifende Weise er auf ihr Leben eingewirkt hat. Mit jedem Redebeitrag wird Tawny neben mir starrer. Sie verwandelt sich in einen Felsen, damit ich nicht zusammenbreche. Sie und Tita Anna tun ihr Bestes, um mich abzuschirmen, aber selbst sie können mich nicht vor dem Ende der Beerdigung beschützen, vor dem Moment, als sie den Sarg – meinen Dad – ins Grab runterlassen.

Ich bin nicht bereit dafür. Ich kann das nicht. Also drehe ich den Kopf und vergrabe mein Gesicht in Tita Annas schwarzem Kleid. Noch nicht.

Als alle an uns vorbeischreiten und abwechselnd murmeln: Tut mir leid, er war so ein großartiger Mann und Ich werde ihn vermissen, bleibe ich so reglos wie die Grabsteine, die uns umgeben.

»Wir sollten gehen, Liebes«, sagt Tita Anna schließlich und streicht mir die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Es fühlt sich an, als wären erst Sekunden vergangen, doch ein Blick auf meine Uhr sagt mir, dass es fast Mittag ist. Die Zeremonie ist also schon seit einer Stunde zu Ende. Nur Tita Anna, Tawny und ich sind geblieben, zusammen mit einem Friedhofsangestellten, der in respektvollem Abstand wartet, die Schaufel in der Hand.

»Warte!«, sage ich, plötzlich panisch, und suche nach Worten, um meine unmöglichen Gefühle auszudrücken. So sehr es mich fast umbringt, hier zu sein, wird in der Sekunde, wenn ich den Friedhof verlasse, alles unerträglich real sein. Ich kann nicht ohne meinen Dad weggehen. Ich kann ihn nicht allein hier zurücklassen.

Eine Hand sucht meine Schulter. Tita Anna. »Er wird klarkommen. Wir können ihn besuchen kommen, wann immer du willst.«

»Kann ich ihm einen Saguaro-Kaktus besorgen?«, frage ich, weil ich mich an alles klammere, was diesen Moment auch nur für eine Sekunde weniger schrecklich macht. Rechts neben dem rechteckigen Loch in der sandigen Erde ist ein kleiner freier Fleck, eine Stelle für Leben an diesem Ort, der so viel Tod in sich birgt.

»Natürlich«, sagt Tita Anna und lenkt mich sanft Richtung Auto. Tawny begleitet mich wie ein tröstlicher Schatten.

Während wir auf den Parkplatz zugehen, brummt ununterbrochen das Handy von jemandem. Ich merke erst, dass es meins ist, als Tawny meine Tasche anstupst.

»Willst du da rangehen?«, fragt sie. »Oder soll ich es für dich ausmachen?«

»Oh.« Ich hole mein Handy heraus, dessen Display voll mit Nachrichten ist. Es sind lauter Tut mir leid und Wenn ich irgendwas für dich tun kann. Ich wische die Litanei in meinem Nachrichteneingang weg und will das Gerät gerade ausschalten, als eine neue Benachrichtigung von GoFundMe aufpoppt …

Ein Teil von mir geniert sich immer noch dafür, dass eine Ecke des Internets meine ganze zum Heulen traurige Story kennt, und zwar in allen Einzelheiten. Aber ich kann nicht leugnen, wie hilfreich das Geld von GoFundMe gewesen ist. Wir waren mit den Rechnungen immer im Rückstand gewesen, und nach dem Brand stellte sich raus, dass unsere Versicherung für das Haus ausgelaufen war. Was bedeutete, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes mit nichts dastand, ohne Geld, um unser Zuhause wiederaufzubauen, ohne irgendeinen Gegenstand, den ich hätte verkaufen können, ohne irgendein Sicherheitsnetz. In der Sekunde, als ich meine Sorge über die Bezahlung der Krankenhausrechnung aussprach, hatte Tawny nur ungeduldig abgewunken.

»Mach dir keine Sorgen. Dafür ist schon gesorgt.«

»Aber wie?«, fragte ich verwundert.

Da hielt sie ihr Handy hoch und zeigte mir den Post, den sie auf GoFundMe gestellt hatte. Darin hatte sie geschildert, was passiert war, und dazu ein Foto von mir und meinem Dad im Prickly Pear hochgeladen. Das ist eine Musikkneipe, wo ich oft am Open-Mic-Abend sang.

»Das hättest du nicht tun müssen«, protestierte ich, aber sie hatte nur mit den Achseln gezuckt.

»Das ist echt das Wenigste, was ich tun kann, in Anbetracht von … tja, allem.«

In den knapp zwei Wochen vor der Beerdigung brummte mein Handy ständig wegen Benachrichtigungen. Eine Fünf-Dollar-Spende hier. Fünfundsiebzig Dollar da. Jemand gab sogar fünfhundert. Einige Spenden kamen von Namen, die ich kannte, andere von Leuten aus weit entfernten Bundesstaaten, die gelesen hatten, was passiert war. Und manche Spenden waren auch einfach anonym. Langsam war die Gesamtsumme gewachsen, erst in die Hunderte, dann in die Tausende und schließlich – was für ein Irrsinn – in die Zehntausende. Ich war überwältigt von der Großzügigkeit und Fürsorglichkeit der Leute. Gleichzeitig wurde mir schlecht bei der Vorstellung, dass ich jetzt irgendwie von dieser furchtbaren Tragödie profitierte. Als ich das Tawny gegenüber erwähnte, lachte sie nur kopfschüttelnd.

»Das schaffst auch nur du, River, etwas Gutes nehmen und es verdrehen. Es ist ja nicht deine Schuld, dass das Gesundheitssystem hier so teuer ist. Oder dass deine Eltern nicht unermesslichen ererbten Reichtum besaßen. Das ist auch kein Blutgeld, sondern ein Rettungsanker. Nimm es einfach und sag Danke.«

Also hatte ich genau das getan.

Aber jetzt bleibe ich wie angewurzelt stehen. Es dauert eine Sekunde, bis die Seite vollständig geladen ist.

Tawny und Tita Anna merken es erst nach ein paar Schritten. Dann dreht Tita Anna sich um und eilt an meine Seite, als sie mein Gesicht sieht. »Alles in Ordnung? Ist etwas passiert?«

Ich kann nicht sprechen, deshalb halte ich nur mein Handy hoch und zeige ihr und Tawny die aktuelle Summe bei GoFundMe. Die Zahl hat auf einmal viel mehr Nullen. Sehr viel mehr.

Denn jemand hat gerade anonym zwei Millionen Dollar gespendet.

Sechs Monate später

2River

Ich sitze auf einer Kiste mit fetten, reifen Orangen. Zusammengekauert, bibbernd und eingequetscht zwischen turmhohen Lebensmittelregalen im Kühlraum von Gertie’s Diner. Mein Kopf lehnt an einem Karton voller weißer Zwiebeln, die so schwer und Rund wie Softballs sind. Durch die kleinen Löcher an den Seiten des Kartons kann ich riechen, wie frisch sie sind und wie ich weinen werde, wenn ich sie beim Vorbereiten morgen in Scheiben schneide.

Ironischerweise passiert das, während ich jetzt – vergeblich – versuche, nicht zu weinen.

Schuld ist nur mein erster Tisch. Da saß eine Familie: eine Mom, ein Dad und ein kleines Mädchen mit langen schwarzen Haaren. »Drei Stücke Karottenkuchen«, hatte der Dad gesagt. »Ich weiß, es ist noch ein bisschen früh dafür, aber an ihrem Geburtstag essen wir immer Kuchen zum Frühstück.«

Für einen Augenblick hatte die ganze Szene sich verwandelt – für einen Augenblick waren das ich und meine Eltern gewesen, die hier saßen und Kuchen zum Frühstück bestellten, wie wir das bei jedem Geburtstag getan hatten, solange ich denken konnte. Doch genauso rasch hatte die Szene sich zurückverwandelt, und die Realität war in all ihrer Brutalität wieder da. Hier saßen nicht ich und meine Eltern – und so würde es auch nie wieder sein.

Ich konnte mich noch einigermaßen zusammenreißen, bis ich die schwere Metalltür aufriss und in die herrlich kalte Luft des Kühlraums trat, wo ich mich seit zehn sehr kalten Minuten verstecke.

Jetzt höre ich, wie die Tür zum Kühlraum aufgedrückt wird, dann das verräterische Flappen, als jemand sich durch die breiten Plastikstreifen zwängt. Von da, wo ich mich gerade hinter Stapeln aus Eierkartons und Ziegeln von Cheddarkäse verstecke, kann ich den Eingang nicht sehen, aber ich weiß, wer das ist.

Also wische ich mir über die Augen, hole tief Luft und versuche, mich zusammenzunehmen.

»Sorry, Tawn. Ich komm schon.«

Aber als ich die Augen aufmache, stockt mir erst mal der Atem, bevor er stoßweise Wölkchen in der kalten Luft bildet. Denn ich schaue nicht in die haselnussbraunen Augen meiner besten Freundin. Stattdessen sehe ich Logan Evans, den letzten Menschen, von dem ich je weinend in einem Kühlraum überrascht werden möchte.

»Du«, sage ich, »bist nicht Tawny.«

»Nein«, sagt er, »bin ich nicht.«

Er verschränkt seine muskulösen Arme und mustert mich mit schräg gelegtem Kopf, während der Kompressor geräuschvoll zum Leben erwacht. Eine Locke seiner dichten, dunklen Haare fällt ihm in die Stirn und berührt beinah seine hochgezogene Augenbraue. Er presst die Zähne zusammen, was sein Gesicht noch kantiger aussehen lässt als sonst.

Es lässt sich nicht leugnen: Logan Evans ist hot. Seit sieben Monaten arbeitet er jetzt hier, und seine Schönheit bringt mich immer noch aus der Fassung.

Als wir Logan letztes Jahr mit Gertie wegen des Schilds AUSHILFE GESUCHT im Schaufenster reden sahen, hatte Tawny fast ihren Tellerstapel fallen gelassen. »Wer zum Teufel ist das denn?«, hatte sie gesagt. »Der sieht ja aus wie ein Prinz, den Disney feuern musste, weil er zu viele frühzeitige sexuelle Erweckungserlebnisse verursacht hat.«

Aber an seinem ersten Tag lief ich versehentlich mit einem Tablett voller Diet Cokes in ihn rein. Eilig hatte ich nach einem Handtuch gegriffen, um sein durchweichtes Hemd trocken zu tupfen, und dabei eine Entschuldigung nach der anderen gemurmelt. Aber anstatt meine Hilfe anzunehmen, war er zurückgewichen, als hätte meine Berührung ihn verbrannt. Als unsere Blicke sich trafen, verschlug sein Ausdruck mir den Atem. In seinem Gesicht war unmissverständlich Wut zu lesen, als würde er mich hassen. Und das, obwohl er mich noch keine Stunde kannte.

Egal, wie sehr ich mich um Freundlichkeit bemühte, danach sprach er kaum mehr als das Allernötigste mit mir. So was wie »Kannst du die Majo nachfüllen?« war der einzige Smalltalk zwischen uns.

»Er weiß, dass er hot ist«, beklagte ich mich bei Tawny, als ich ihn einen Tisch mit zwei kichernden Großmüttern bedienen sah. Ich hasste es, wie mein dummes Herz klopfte, wenn ich ihn lächeln sah. Und ich hasste, wie sehr ich ihn beachtete, während er mich nie beachtete. Außerdem hasste ich, dass er mich beschäftigte, obwohl ich schon den perfekten Freund hatte. (Ich versuche, mich nicht zu lange bei »hatte« aufzuhalten. Ich versuche, mich überhaupt nicht mit Gedanken an ihn aufzuhalten.) »Der benutzt dieses Gesicht wie eine Waffe.«

Jetzt wische ich mir noch mal über die Augen und sehe Logan an. »Sorry, hab nur einen schlechten Tag.«

Logan geht in die Hocke, bis wir uns auf Augenhöhe befinden. Er kommt mir dabei so nah, dass ich die gelben Einsprengsel in seinen strahlend blauen Augen sehen kann. Ich könnte schwören, einen flüchtigen Moment lang eine Spur Wärme darin zu erkennen. Er streckt die Hand aus, und plötzlich höre ich auf zu atmen.

Wird Logan Evans, der bisher kaum fünf vollständige Sätze zu mir gesagt hat, der selten lächelt oder mir gegenüber irgendein anderes Gefühl als Gereiztheit gezeigt hat, mich etwa trösten?

Doch anstatt mich zu berühren, schiebt er sich an mir vorbei und greift nach etwas, das hinter meinem Rücken eingeklemmt ist. Die Bewegung bringt mich aus dem Gleichgewicht, sodass ich die Hände ausstrecken muss, damit ich nicht umfalle.

»Gertie schickt mich, ein paar Orangen zu holen. Wir haben keinen Saft mehr.« Sein Blick begegnet wieder meinem. »Du … sitzt auf unserer letzten Kiste.«

Perfekt. Einfach perfekt. Gerade als ich hoffe, dieser verschrammte Metallfußboden möge sich auftun und mich komplett verschlingen, fliegt die Kühlraumtür schon wieder auf.

»Ich hab mich um sie gekümmert. Ihnen den Karottenkuchen gebracht. Süße, ich kann mir gar nicht vorstellen …« Tawny verstummt und schaut blinzelnd auf Logans Rücken, während er stumm Orangen zusammensammelt.

Als er die Arme voll hat, steht Logan auf und schlängelt sich zwischen den Regalen durch. Dabei lässt er beinah eine Orange fallen, weil er so darauf bedacht ist, nur ja keine von uns zu berühren. Er würdigt uns keines Blickes, bis er den Kühlraum verlassen hat.

Tawny bläht die Nasenflügel. »Der tut ja so, als hätten wir seinen Welpen überfahren. Würde ihn das umbringen, zur Abwechslung mal nett zu sein?« Sie sieht mir forschend ins Gesicht. »Echt jetzt. Bist zu okay?«

Ich schniefe, und Tawny umarmt mich. Es fühlt sich gut an, sie auch zu umarmen, vom Kokosnussduft ihres Shampoos umgeben zu sein, der Wärme ihres Körpers in dieser Eiseskälte.

Ich schüttle den Kopf. »Alles gut. Abgesehen von dem Auf-Logans-Orangen-hocken-Fiasko.«

Tawny verdreht die Augen. »Ach, vergiss ihn! Der kann sich glücklich schätzen, dass du auf seinen Orangen hockst.«

Als ich so weit bin, geht Tawny voraus, damit wir den Stapel schmutziger Speisekarten vorne an der Theke abwischen können. Ich kratze gerade an einem zweifelhaften Fleck auf der Seite mit den Desserts, als mein Blick auf das Bild der Belgischen Waffeln fällt. Noahs Lieblingsnachtisch. Ich spüre einen Stich im Herzen, wie das immer passiert, wenn ich mich nur an seinen Namen erinnere.

Der perfekte, wunderschöne, herzzerreißende Noah.

»Hör sofort auf, an ihn zu denken!«, mischt Tawny sich in meine Gedanken. Das ist das Problem mit ihr als bester Freundin: Sie kann meine Gedanken lesen.

»Hab ich nicht«, lüge ich.

»In der letzten Minute hast du ganze dreimal geseufzt.« Tawny wirft eine weitere abgewischte Speisekarte auf den Stapel mit den sauberen. »Dein Geschmack bei Männern muss echt besser werden, Riv.«

»Du musst gerade reden.« Ich sehe sie an und ziehe eine Augenbraue hoch. »Immerhin habe ich nicht den widerlichsten Prom King der Welt angehimmelt.«

»Wie kannst du es wagen!« Spaßeshalber gibt sie mir einen Klaps mit einer Speisekarte. »Ich hab ihn nicht angehimmelt. Das war eher ein Wettspiel. Außerdem ist das passiert, als ich noch jung und dumm war.«

»Das war vor fünf Monaten«, sage ich todernst.

Tawny schleudert ihren Pferdeschwanz in meine Richtung. »Wie ich schon sagte: jung und dumm.«

Ich greife nach der nächsten Speisekarte und kratze etwas getrocknetes Eigelb von einer Ecke. »Du weiß, er hätte Ja gesagt, wenn du ihn gefragt hättest, ob er ein Date mit dir will.«

Da bin ich mir absolut sicher. Sie ist umwerfend hübsch, mit blonden Haaren, die sie ständig in allen möglichen Farben tönt, Haselnussaugen und einem herzförmigen Gesicht. Aber Tawny ist nicht nur wunderschön, sondern auf eine Weise charmant, die einem unter die Haut geht und einen sofort in ihre Umlaufbahn zieht.

Sollte es auch nur ein kleines bisschen Glück in meinem Leben geben, dann ist sie das. Dank irgendeiner Göttin der Stundenpläne saß sie in der Zehnten in Spanisch neben mir. Damals war sie neu an der Schule, aber irgendwie nahm am Ende sie mich unter ihre Fittiche, als wäre sie schon immer dagewesen. Zusammen mit Tita Anna ist sie jetzt, was für mich einer Familie noch am nächsten kommt.

»Also bitte.« Tawny winkt mit einer lässigen Handbewegung ab. »Matt ist Schnee von gestern, Baby. Auf Insta hab ich gesehen, dass er total besoffen bei der Graduation-Feier aufgekreuzt ist. Und als er auf die Bühne kam, oder soll ich sagen: torkelte, wollte er ans Rednerpult, um eine Ansprache zu halten.«

»Uaah.« Ich blinzle. »Und was hat er gesagt?«

»Ich glaube, er hat nur ›Springflut!‹ geschrien. Immer wieder.« Tawny zuckt mit den Achseln. »Siehst du? Kugel abgewehrt.«

Mein Lachen erstirbt. »Tut mir leid, dass du die Live-Show verpasst hast. Dass du alles verpasst hast.« Ich sage das leise, weil ich spüre, wie der schmerzhafte Druck von vorhin wieder in meiner Brust hochsteigt.

Ich hätte es nicht über mich gebracht, zur Zeugnisverleihung zu gehen, ohne dass jemand von meinen Eltern im Publikum gesessen hätte. Aus Solidarität hatte Tawny den Tag mit mir im Kino verbracht. Wir waren von einer Vorstellung in die nächste gegangen, sie hatte mir Popcorn und Sour Patch Kids gekauft, ein Taschentuch nach dem anderen gereicht, ohne mir jemals das Gefühl zu geben, ich sei ein Häufchen Elend.

»Hey. Hey.« Tawny sieht mich mit gerunzelter Stirn ernst an. »Wage es bloß nicht, dich zu entschuldigen! Mein Platz ist an deiner Seite. Immer.« Sie streckt eine Hand aus und drückt meinen Arm.

»Außerdem wäre Mom sowieso nicht dagewesen. Berlin diesmal. Die haben sie zehn Tage am Stück arbeiten lassen.« Sie zuckt mit den Achseln. »Ich kann’s mir nicht vorstellen … einfach nonstop übers Meer fliegen. Hin und zurück, hin und zurück. Was für eine Übung in Vergeblichkeit.«

Tawnys Mom ist Flugbegleiterin. Und vielbeschäftigt. Ständig macht sie Überstunden und schiebt Extraschichten, damit sie als Alleinerziehende klarkommt. Sie ist fast nie zu Hause. Das tut mir für Tawny leid, wobei die sagt, ich soll mir mein Mitleid für jemand anders sparen. Aus ihrer Sicht funktioniert das Arrangement ganz großartig. Minimale Überwachung bedeutet, dass sie ihr Leben führen kann, wie sie möchte, ohne ständige Streitereien. »Ich schwöre, wir lieben uns mehr, weil wir uns weniger sehen«, sagt sie immer.

Oder besser: hat sie immer gesagt. Denn zurzeit achtet sie darauf, nie irgendwas in der Art zu sagen, wenn ich in der Nähe bin.

Logan geht mit einem Packen Speisekarten an uns vorbei. Seine blauen Augen blicken stechend. »Du hast einen Tisch, Santos. Dreimal Wasser und eine Coke.«

»Oh«, setze ich an. »Danke, Logan. Das hättest du nicht …«

Aber er hört nicht mal hin, hat mir schon den Rücken zugekehrt. Ich hasse mich nur ein bisschen dafür, dass mir auffällt, wie sich die Muskeln unter seinem T-Shirt bewegen und wie perfekt seine Jeans sitzt.

Schnell rufe ich mich selbst zur Ordnung, bevor Tawny es mitbekommt und mich ausschimpft. Dann gehe ich an meinen Tisch, um die Bestellungen aufzunehmen, wobei ich mich in aller Form für die Wartezeit entschuldige. Die Gäste sind unglaublich freundlich und lassen ein großzügiges Trinkgeld zurück. Als ich die gefalteten Scheine in der Hand halte, schlägt mein Herz schneller. Wie immer frage ich mich:

Waren sie es? Könnten sie die anonymen Spender gewesen sein?

Das Spiel spiele ich unwillkürlich fast jeden Tag. Aber jeder Hinweis, dem ich in den letzten sechs Monaten nachgegangen bin, erwies sich als Sackgasse. Ex-Spieler meines Vaters, die jetzt Profis sind. Angehörige seiner Gruppe Anonymer Alkoholiker. Ein insgeheim reiches Familienmitglied. Ich habe es sogar bei GoFundMe versucht. Nein, nein und nochmals nein, das verstößt gegen unsere Regeln.

»Die nicht«, säuselt Tawny, als sie an mir vorbeifegt und mich abwesend auf mein Trinkgeld starren sieht.

Schon wieder dieses nervige Gedankenlesen. Schnell stecke ich die Scheine in meine Tasche. »Woher weißt du das?«

Sie winkt ab. »Ich weiß es natürlich nicht. Aber, Riv, das haben wir doch schon ausführlich besprochen. Warum spielt es überhaupt eine Rolle, wer es war? Geld ist Geld.«

Ein Teil von mir weiß, dass sie recht hat, aber der größere Teil kann dieses Rätsel nicht einfach abhaken. Weil es sich anfühlt wie ein weiterer loser Faden meines sich sowieso schon aufribbelnden Lebens. Und irgendwie ist es was anderes, zwanzig Dollar von hier und zwanzig von da anzunehmen. Aber zwei Millionen von einer einzigen Person? Wer hat so viel Geld, und wer würde es mir schenken, ohne auch nur ein Dankeschön zu erwarten?

Aber in der kommenden Stunde bin ich glücklicherweise beschäftigt und muss das Rätsel gezwungenermaßen beiseitelassen. Tawny und ich bewegen uns wie zwei Eiskunstläuferinnen auf dem schwarz-weiß gewürfelten Fußboden. Die Synchronizität kommt daher, dass ich hier im Gertie’s schon seit meinem fünfzehnten Lebensjahr kellnere und meine Kollegin zufällig auch meine beste Freundin ist.

»Tisch sechs brauchte mehr Ketchup, ich hab ihnen eine Flasche gebracht«, sagt Tawny, während sie sich unter meinem Tablett voller Eistees duckt.

»Hab gesehen, dass du Mrs Lewis hast. Da hab ich ihr gleich ihre Extraportion Ranchdressing gebracht«, sage ich und hänge den nächsten Bon in die Küche.

Ein paarmal könnte ich schwören, dass Logan mich beobachtet, aber immer, wenn ich hochschaue, scheint er in eine Bestellung vertieft oder die Rechnung von jemandem einzutippen. Das größte Wunder ist allerdings, dass ich vor ihm keine weiteren peinlichen Nervenzusammenbrüche mehr habe. Und während wir unsere Taschen aus den Spinden geholt und ausgestempelt haben, hat Tawny mich ausreichend aufgemuntert.

Kaum sind wir durch die Hintertür nach draußen getreten, hören wir ein leises, heiseres Miauen. Ein großer, struppiger Tabby-Kater biegt um die Ecke und peitscht seinen krummen Schwanz.

»Tigery!«, flöte ich und bücke mich, um ihn hinter den Ohren zu kraulen.

Es brauchte viel Geduld und eine Menge von Gerties Hühnchen, aber letztlich hat der misstrauische Streuner, der hinter dem Diner lebt, mir erlaubt, ihn zu lieben. In den Tagen seit dem Brand war Tigery ein großer Trost. Und sobald ich ein Quartier habe, wo Haustiere erlaubt sind, werde ich ihn mit Federbetten und Kaviar vom Löffel verwöhnen, als wäre er ein schwächliches Prinzchen.

»Du klingst immer, als würdest du nach Jahrzehnten der Trennung deinen langvermissten Ehemann wiedertreffen«, spottet Tawny. »Dabei hast du ihn heute Morgen zuletzt gesehen.«

»Tja, vielleicht sind ein paar Stunden in Katzenjahren ein Jahrzehnt. Und was Ehemänner angeht … da habe ich das Gefühl, ich könnte es deutlich schlechter treffen als mit Tigery.«

Der Kater lässt sich auf den Boden plumpsen und streckt die Pfoten aus.

»River«, sagt Tawny, »noch sind wir nicht in die Wir-heiraten-unsere-Katze-Liga abgestiegen. Okay? Und ich glaube auch nicht, dass es jemals so weit kommen wird.« Tigery schlägt mit dem Schwanz wie zustimmend auf den Beton.

»Ich danke euch beiden für eure Zuversicht«, sage ich.

Nach noch ein paar Streicheleinheiten hat Tigery genug und trottet in die Dunkelheit davon. Ich stehe auf und wische mir den Staub von den Knien.

»Danke für heute«, sage ich und umarme Tawny. »Hab dich so lieb.«

»Pah«, sagt sie und drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Hab dich lieber.«

Mit einem guten, wenn nicht sogar glücklichen Gefühl gehe ich zu meinem Auto. Doch kaum habe ich die Tür zugeschlagen, umfängt mich die Stille wie ein Attentäter. Ich hätte ihn kommen sehen sollen. Die Junihitze Arizonas macht mir das Atmen schwer und lässt den Seitenspiegel runterhängen. Denn das Panzertape, mit dem ich ihn festgeklebt hatte, ist in der Sonne weich geworden. Ohne Tawny, ohne das Gemurmel der Gäste, ohne das Klingeln der Türglocke, kommt alles zurück.

Diese Sache, die ständig lauert und die ich für kurze glückliche Momente des Tages manchmal vergesse. Jetzt überfällt sie mich wieder, aus dem Grunde meines Herzens:

Meine Mom ist weg. Mein Dad ist tot. Und mein Leben wird nie mehr wie früher sein.

3River

Ich rieche den Gestank von angebranntem Essen, kaum dass ich die Wohnungstür öffne. Der säuerlich-rußige Geruch schneidet durch den Nebel, der mich auf der gesamten Heimfahrt umgeben hat. Eine Sekunde lang bin ich wieder in jene Nacht zurückversetzt. In die lodernden Flammen und die schwarzen Rauchwolken, die aus den Fenstern quellen. Wieder dort, wo ich nicht atmen, nichts sehen kann …

Nein.

Ich schlage der Erinnerung die Tür zu und grabe meine Fingernägel in die Handflächen, während ich mich zurück in die Gegenwart zwinge.

»Hey!«, ruft Tita Anna aus der Küche. »Ich bin hier!«

Nachdem mein Puls sich beruhigt hat, hänge ich meine Tasche an den Haken neben der Haustür und stecke den Kopf in die Küche. Tita Anna kauert vor dem Backofen und späht durch das kleine Fenster.

»Ist fast fertig«, sagt sie.

»Ich fürchte, es war vor dreißig Minuten fertig«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln.

Ihres erstirbt schlagartig. »Oh Gott. Riecht es angebrannt?«

Ich verziehe nur die Lippen.

»Hach, okay, das Traurige daran ist, dass ich mir hier wirklich Mühe gegeben habe.« Sie schüttelt die Fäuste Richtung Decke. »Sei verflucht, Super Mommy’s Kitchen! Vielleicht würde es helfen, wenn in dem Rezeptblog mehr von Rezepten und weniger von ihrer Ehe die Rede wäre …«

Ich schnappe mir zwei Topfhandschuhe und schalte den Ventilator über dem Herd ein.

»Sei bereit!« Sie zuckt erst zusammen, dann reißt sie die Ofenklappe auf.

Ich packe rasch die Auflaufform, und Tita Anna knallt die Ofentür wieder zu, bevor noch mehr Rauch herausquellen kann.

Wir starren beide auf die schwarze Masse in der Form.

»Was … war das?« Ich stochere hinein, und schwarze Kruste zerfällt.

»Das sollte ein Auflauf mit Hühnchen sein.« Sie schiebt sich die Brille hoch und schüttelt den Kopf. »Mann. Jay war immer derjenige, der so was konnte …« Sie räuspert sich. Es dauert nur kurz, bis sie sich streckt und ihr T-Shirt zurechtzupft. »Lust, essen zu gehen? Ich lade ein!«

Der Abluftventilator dröhnt auf höchster Stufe. Trotzdem riecht es noch verkohlt, was mein Herz rasen lässt.

»Klar«, sage ich. Denn in diesem Moment ist es wahrhaftig überall besser als hier.

 

Ich liebe Tita Anna. Sie ist deutlich jünger als mein Dad, gerade mal in ihren Dreißigern. Und schon seit ich klein war, hat sie mich immer total zum Lachen gebracht. Genaugenommen ist sie eine Cousine zweiten Grades von meinem Dad. Aber sie stammt aus einer Familie mit vier Schwestern. Dort zog sie in der Sekunde aus, als das möglich war, und nannte Dad immer den Bruder, den sie nie hatte.

Sie arbeitet im Homeoffice als Projektmanagerin für ein Tech-Unternehmen und ist die Respektlosigkeit in Person. Während wir jetzt in einem italienischen Restaurant sitzen, erzählt sie mir, dass sie für ihren neuen Zoom-Hintergrund ein Video von sich selbst aufgenommen hat. Darin sieht man, wie sie in ihr eigenes Homeoffice kommt, überrascht tut, weil jemand sich in einem Videotelefonat befindet, und den Raum wieder verlässt.

»Was?« Ich schüttle den Kopf und drehe weiter Linguini auf meine Gabel. »Erklär mir das noch mal.«

»Okay, okay.« Sie wirft ihr langes schwarzes Haar nach hinten. »Also, wenn ich das Video als meinen Hintergrund bei Zoom verwende, dann sieht es aus, als würde ich gerade in meinem Zimmer sitzen, ja? Ich bin auf dem Video, in echt, und wenn dann das aufgenommene Video läuft, zeigt es, wie ich reinkomme und überrascht schaue, weil ich mich selbst bei einem Zoom-Anruf störe, mich entschuldige und wieder rausgehe.« Sie lacht schnaubend und spießt eins von ihren Ravioli auf.

»Verschluck dich nicht!«, sage ich, als sie es sich, immer noch lachend, in den Mund schiebt.

»Werd ich nicht«, versichert sie mir. »Aber wie auch immer: Keiner hat irgendwas gesagt. Nicht der Kunde. Nicht mein Chef. Ich glaube, sie fürchten sich, was Falsches zu sagen. Als ob sie denken, wenn sie fragen würden, ob ich das war oder ob da eine Filipina in meiner Wohnung ist, würden sie rassistisch klingen. Hach, ich liebe so was. Meine einzige Befürchtung ist, dass sie von mir erwarten, dass ich Tagalog spreche, wenn ich noch mehr Sachen in der Art abziehe.«

Ich schüttle den Kopf und schaue auf meinen fast leeren Teller. Der Kellner kommt und schenkt uns Wasser nach. Dann fragt er, ob ich fertig bin. Tita Anna bittet um eine Verpackung zum Mitnehmen und die Dessertkarte.

»Also«, sagt sie und sieht mich über das Foto eines Limoncellokuchens hinweg an.

»Also?«, wiederhole ich, zaghaft lächelnd.

Tita Anna legt die Dessertkarte hin, kratzt sich am Kinn und schaut nachdenklich an die Decke.

»Unsere Wohnung ist Mist, oder?«, platzt es nach einer Minute aus ihr heraus.

Ich lache erstaunt. Nach dem Unglück bestand Tita Anna darauf, dass ich bei ihr einzog. Es ist wunderbar, mit ihr zusammenzuwohnen. Aber die Wohnung an sich? Ich würde mich nie trauen, irgendwas dagegen zu sagen, weil Tita Anna dermaßen liebenswürdig war. Aber die Wände sind so dünn, dass ich genau höre, welche Videos unsere Nachbarn auf YouTube sehen. Ich kann sogar das Klicken ihrer Tastatur hören. Und im Badezimmer gibt es ein Loch, durch das es jedes Mal runtertropft, wenn unser Nachbar von oben sich duscht. Was von allem das Schlimmste ist?

Dass Haustiere nicht erlaubt sind, also kein Tigery.

Trotzdem ist es ein kleiner Preis dafür, mit Tita Anna zu wohnen.

Und die Tatsache, dass ich mir leicht etwas Besseres für uns beide leisten, ja dass ich uns eine Wohnung kaufen könnte, wenn ich wollte – das ist etwas, das Tita Anna mir niemals vorwerfen würde. Sie weiß, ich will das Geld von GoFundMe nicht anrühren, weil ich aus dem Schlimmsten, was mir je passiert ist, nichts machen will, von dem ich irgendwie profitiere. Vor allem nicht, weil ich keine Ahnung habe, wo dieses Geld überhaupt herkommt.

Deshalb sage ich jetzt: »Ganz ehrlich? Jede Wohnung ist die beste Wohnung, solange du dabei bist.«

»Ach, Rivvy.« Tita Anna greift über den Tisch und drückt meine Hand. »Ich hab dich gar nicht verdient. Und natürlich bin ich deiner Meinung.« Sie beugt sich ein Stück näher. »Aber wir können überallhin. Überall sein. Solange es da WLAN gibt, kann ich meinen Job machen.« Aufgeregt beginnt sie zu schwärmen. »River, wir könnten in Rom leben. Rom. Überleg mal: jeden Abend hausgemachte Pasta, echten Limoncello, Wein von einem Weingut, das nur eine kurze Zugfahrt entfernt liegt.«

Es bricht mir fast das Herz. Als Tita Anna mein Gesicht sieht, werden ihre Augen feucht und ihr Blick traurig.

Wir denken beide an meinen Dad.

Ständig schrieb er neue Sachen auf seine Bucketlist. Die meisten waren albern. Eine Partie Schach gegen den Papst spielen. Gaststar in einer Folge von Law & Order sein. Ein wildes Nabelschwein zähmen, sodass es ihm wie ein Haustier folgt.

Aber ein Punkt auf der Liste war durchaus realistisch gewesen: eine Reise nach Italien.

So wollte er seine fünfundzwanzig Jahre ohne Alkohol feiern. Wir wären in Rom gestartet, weil er eine Münze über seine linke Schulter in den Trevibrunnen werfen wollte. Dann sollte es weiter nach Florenz und Venedig gehen. Er hatte sich vorgenommen, drei gelati pro Tag zu essen und die Tauben auf dem Markusplatz zu füttern. Als ich ihm erklärte, dass das inzwischen verboten sei, bestand er darauf, es trotzdem zu tun, es sei die Strafe wert.

Unnötig zu erwähnen, dass er es nie nach Italien geschafft hat.

Tränen schießen mir in die Augen. Rasch wische ich sie weg.

»Ich … ja. Ja, vielleicht auch nicht. Ich habe nicht nachgedacht …« Tita Anna schüttelt den Kopf. »Aber es gibt noch andere Orte. Kalifornien?« Sie lächelt zaghaft, hoffnungsvoll. »New York? Die Great Smokey Mountains? Jeder Ort, wo du Keksteig im Juli in deinem Auto liegen lassen kannst und er nicht schwarz verkohlt. Oder ein Ort, wo es keine ›Skorpion-Saison‹ gibt?«

Einen Augenblick lang stelle ich mir das vor. New York. Einen Ort mit richtigen Jahreszeiten. Um Mitternacht auf einen Sprung in die Bodega, um einen Becher Ben & Jerry’s zu holen. Die unzähligen Bars mit Open Mics an jedem Tag der Woche. Tita Anna, die mich schimpft, weil ich spätabends U-Bahn gefahren bin. Das klingt wunderbar.

Aber es ist unmöglich. Ich kann nicht weg. Mein Leben besteht nur noch aus Glasscherben, die zwischen den Saguaro-Kakteen in der Sonora-Wüste verstreut liegen. Jede Scherbe eine brennende Frage. Um weiterleben zu können, muss ich sie alle einsammeln, die Stücke zusammensetzen und schauen, welchen Sinn das ergibt. Ich brauche Antworten. Und die Antworten werden niemals irgendwo anders zu finden sein als hier.

»Ich kann nicht weg.« Ich seufze. Tita Anna nickt, als hätte sie schon die ganze Zeit gewusst, dass das meine Antwort sein wird.

»Wegen deiner Mom?«

»Unter anderem«, sage ich, während ich an Tawny, den Diner und Tigery denke. »Aber doch, na klar. Ich meine, was, wenn sie zurückkommt und … und ich nicht hier bin?«

Tita Anna verzieht das Gesicht, aber sie sagt nichts. Muss sie auch nicht. Ich weiß, was sie denkt. Das Gleiche, was Tawny denkt. Das Gleiche, was die Polizei gedacht hat.

Warum an jemand glauben, der nicht an dich geglaubt hat?

Meine Mutter war eine Mom, die mir jeden Abend Geschichten vorgelesen und die Stimme jeder Figur perfekt imitiert hat, von der Grille Chester bis zum Zauberer Gandalf und zu Miss Honey in Matilda. Der Typ Mom, die den Kopf in den Nacken warf, wenn sie über meine Storys lachte. Eine Mom, die meinen Dad küsste, wenn sie dachte, ich würde nicht hinsehen, und die nicht nur den Hochzeitstag, sondern auch noch den Jahrestag ihrer ersten Verabredung feierte.

Aber meine Mom war auch der Typ, der zu kämpfen hatte. Ich hatte nie einen Namen dafür, wie ihre Stimmung von einem Extrem ins andere umschlagen konnte. Wie sie manchmal so strahlend glücklich sein konnte und es dann wieder kaum aus dem Bett schaffte. Sie nannte das ihre Blue Days, und das Einzige, was dagegen zu helfen schien, war Wandern. Wenn es ihr gutging, holte sie all ihre Wanderkarten hervor, deutete auf die blauen Venen der Flüsse und die roten Arterien der Straßen, und zeigte mir all die Routen, die sie schon gegangen war, sowie alle, die sie noch gehen wollte. Ging es ihr nicht gut, dann schnappte sie sich ihren Rucksack und marschierte los, oft ohne sich auch nur zu verabschieden.

Meine Mom wanderte auf die altmodische Art. Nie nahm sie ein Handy mit. Alles, was sie brauchte, waren der Rucksack, den sie schon als Teenager besessen hatte, ein Kompass und eine Melodie zum Pfeifen.

»Als ich anfing, hatte ich noch nicht mal ein Telefon«, erzählte sie. »Ich hab Briefe geschrieben. Ich war niemandem verpflichtet. Das Einzige, was ich tun musste, war, alle drei Wochen eine Postkarte schicken.« An wen?, fragte ich mich immer. Ihre Eltern waren beide tot.

Nachdem ich auf der Welt war, richteten sich die Postkarten an mich. Und wenn sie länger als eine Woche wegblieb, kam sie mit einem Packen Briefe zurück. Sie wollte mein Gesicht sehen, wenn ich ihre Worte las. »Es gibt mir das Gefühl, du wärst dort bei mir«, sagte sie immer.

Dann nimm mich doch mit, wollte ich ihr so gern sagen, aber ich brachte es nicht über mich. Aus Furcht, meine Anwesenheit würde den Zauber behindern, der sie auf ihren Ausflügen zu heilen schien.

Nicht lange nach meinem achtzehnten Geburtstag ging es Mom wieder schlecht. Sie verließ oft das Haus, ohne uns zu sagen, wohin. Sie brach in Tränen aus, wenn ihre Sachen nach einem kompletten Programmdurchlauf des Wäschetrockners noch feucht waren. Sie schlief bis vier Uhr nachmittags.

Als ich eines Morgens Anfang Oktober aufwachte, wunderte es mich nicht, dass sie fort war.

»Ihre Wanderausrüstung fehlt.« Dad hatte in den Schrank geschaut, bevor er einen Seufzer ausstieß. »Ich glaube, das war nur eine Frage der Zeit.«

»Es wird ihr besser gehen, wenn sie zurückkommt«, sagte ich mit mehr Überzeugung, als ich tatsächlich verspürte.

Als Mom zu Halloween nicht zurück war, packte mich erstmals die Angst. Dann verpasste sie Thanksgiving. Nachdem sie auch Weihnachten verpasst hatte, rief Dad die Polizei. Anschließend setzte er sich mit mir hin, um zu reden. »Riv, ich glaube, wir müssen uns darauf gefasst machen, dass deine Mom vielleicht nicht …« Seine Augen glänzten von nicht geweinten Tränen. »Dass sie uns diesmal vielleicht endgültig verlassen hat.«

Ich weigerte mich, das zu glauben. Denn egal, wie Moms Stimmung war, eine Sache änderte sich nie: wie sehr sie mich liebte. Ich wusste – so tief in mir drin, dass ich es nicht erklären konnte –, dass sie eines Tages zurückkommen würde.

Dass sie es vielleicht schon getan hatte.

Eine Woche nach der Beerdigung hinterließ jemand einen Strauß Glockenblumen, Dads Lieblingsblumen, vor Tita Annas Tür. Es lag keine Nachricht dabei, aber ich wusste, die konnten nur von ihr sein. Ich hätte nicht ertragen, sie verwelken zu sehen, also hängte ich sie verkehrt herum zum Trocknen auf. Jetzt stehen sie in einem Schraubdeckelglas auf meiner Kommode und sind so zerbrechlich, dass eine Berührung sie zu nichts zerbröseln lassen würde.

Tita Anna nimmt meine Hand in ihre. »In dem Fall«, sagt sie, »sollten wir vielleicht eine Reise machen. Mal hier rauskommen und dir eine Pause von … dem allen geben, aber mit einem Rückkehrdatum.«

Ich starre unsicher auf die Krümel auf meinem Teller und stelle mir vor, wie mein Dad sie einem Schwarm Tauben zuwirft.

»Weißt du was?«, sage ich leise. »Lass uns das machen. Lass uns nach Italien fahren.«

»Ja?« Tita Annas Miene hellt sich auf.

Die Vorstellung, all die Dinge, die Dad hatte machen wollen, jetzt ohne ihn zu tun, zerreißt mir zwar das Herz, aber ich kann mir auch nichts Besseres vorstellen, um sein Andenken zu ehren.

 

Und vielleicht, falls ich so viel Glück habe, noch ein zweites Mal das große Los zu ziehen, wird meine Mom zurück sein, wenn ich wieder nach Hause komme.

4River

Mom gab ihre Leidenschaft fürs Wandern nicht auf, selbst wenn Klapperschlangen in ihr Gepäck krochen oder Brennnesseln ihr die Haut verbrannten. Und Dad hörte nicht als Trainer auf, wenn seine Spieler – oder eher deren Eltern – auf dem Spielfeld Wutanfälle kriegten. Wir sind alle gezwungen, mit wenig erfreulichen Sachen klarzukommen.

Deshalb kündigte ich auch nicht auf der Stelle, als Gertie uns erzählte, wir würden das Catering der Graduation Party von Tate »Hackfresse« Franklin in seiner Villa übernehmen, die sich in der exklusivsten Gated Community von Scottsdale befindet.

Tate ist der mit Abstand nervigste Typ unseres Jahrgangs. Sein Dad war Quarterback in der NFL gewesen, und selbst wenn Tate einen nicht alle drei Sekunden daran erinnert, dann muss man stattdessen mit seinem ständigen Gerede über Treuhandvermögen und die rote Corvette fertigwerden, die er zu seinem sechzehnten Geburtstag bekommen hat.

Fünf Minuten kurze Pause sind schon mehr als genug mit Tate Franklin. Jetzt muss ich die nächsten sechs Stunden damit zubringen, ein gestärktes weißes Button-down-Hemd mit Fliege zu tragen und ihm winzige Burger auf einem Silbertablett zu servieren. Wenigstens werde ich mit Tawny arbeiten. Aber auch mit Logan, der mich wie immer ignoriert.

Er würdigt mich kaum eines Blicks, als wäre ich nur ein Geist, der neben ihm Platten mit pikant gefüllten Teigschnecken trägt. Tatsächlich behandeln mich all meine ehemaligen Mitschüler so. Als wäre ich ein körperloses Tablett, das Erfrischungen anbietet. Das ist einerseits eine Erleichterung, und andererseits bewirkt es, dass ich mich beschissen fühle.

»Nur noch vier Stunden, Riv.« An der Station, wo wir unsere Tabletts neu befüllen, zupft Tawny meine Fliege zurecht.

»Das schaff ich nicht«, krächze ich. Tawny wirft mir noch einen mitfühlenden Blick zu, bevor sie davoneilt, weil ein ehemaliger Klassenkamerad mit den Fingern nach ihr schnippt.

»Nur Arschlöcher hier«, murmele ich.

Logan, der in der Nähe steht, schaut für eine halbe Sekunde zu mir. Aber gerade als ich mich frage, ob das ein angedeutetes Lächeln ist, das seine Lippen umspielt, dreht er sich schon wieder zu einer Traube Mädchen um, die ihn ungeniert anhimmeln.

Es ist heute zu heiß, um draußen zu sein, also findet die Party in der großen Eingangshalle des Hauses statt. Dieser riesige, über zwei Etagen offene Raum hat Marmorboden und zu beiden Seiten eine doppelt geschwungene, offene Treppe. Wir Bediensteten müssen allerdings dauernd rein- und rauslaufen. Das Ganze ist ein kaum kontrolliertes Chaos. Im einen Moment bin ich draußen an der Grillstation, wo Gertie winzige Burger-Pattys wendet, im nächsten wische ich verschüttete Cola von den Marmorfliesen. Alles wirkt wie verschwommen, bis ich meinen Namen aufschnappe. Und zwar von einer Gruppe Mädchen mit glänzenden, elegant frisierten Haaren.

»… rührt Millionen von Dollars nicht an? Das ist absurd.«

Ich blinzle. Sie reden eindeutig über mich.

»Das ist schlimmer als absurd! Das ist dumm.« Das kam von einem großen Mädchen, mit dem zusammen ich in der Neunten Sportunterricht hatte. »Habt ihr sie gesehen? Ich würde ja lieber sterben, als mich dabei erwischen lassen, wie ich in Tates Villa herumhusche, um all meinen alten Mitschülerinnen Thunfischsalat zu servieren.« Sie untersucht ihre Nägel und verzieht dabei angewidert das Gesicht. »Also, warum arbeitet sie überhaupt noch? Was will sie damit beweisen?«

»Zum Teufel«, sagt da eine der anderen, »ich würde Thunfischsalat sogar in meiner Hosentasche rumtragen, wenn ich dafür mit ihm arbeiten könnte.« Ich beobachte, wie sie alle die Köpfe in Logans Richtung drehen. Zugegeben, der sieht in einer Uniform, die eigentlich designt ist, um ihn unsichtbar zu machen, supergut aus.

»Thunfischsalat, Ladies?«, sage ich mit lauter, eisiger Stimme. Es ist mir eine kleine Genugtuung, wie sie sich daraufhin ruckartig umdrehen und für einen kurzen Moment aussehen wie Rehe mit perfektem Eyeliner im Scheinwerferlicht. Es ist auch keine Überraschung, dass sie dann wortlos auseinanderhuschen, ohne die mit Fischsalat gefüllten kleinen Paprikaschoten auf meinem Tablett auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Die hätte ich nicht mal gefragt!«, sagt Tawny, die sich mir von hinten nähert und den sich zerstreuenden Mädchen böse nachstarrt.

Bevor ich ihr antworten kann, kommt Tates Dad angeschlendert und macht mit seinem Champagnerglas eine ausholende Geste. »River. So schön, dich zu sehen.« Seine schleppende Sprechweise ist noch etwas schleppender als sonst, klebriger. Er ist offensichtlich betrunken. Und anscheinend gewöhnt, betrunken zu reden. Jetzt wirft er uns ein charmantes Lächeln zu.

»Zuerst war ich überrascht, als Tate sich für heute Gertie’s gewünscht hat. Eigentlich ist der Laden ja nichts Besonderes …« Mr Franklin unterbricht sich selbst und hüstelt in seine Faust. Wer hätte gedacht, dass er so viel Eigenwahrnehmung aufbringt?

»Was ich damit sagen will, ist natürlich, dass alles einfach großartig ist und Tate sich so freut. Hab vielen Dank für deinen engagierten Einsatz heute!« Eine Sekunde lang blicken seine glasigen Augen ernst. »In der Hinsicht bist du ganz wie deine Mom.«

Mir läuft es kalt über den Nacken. Ich spüre, wie Tawny sich neben mir größer aufrichtet. Wie konnte ich das vergessen? Ich war heute Abend so sehr mit meinen eigenen Gefühlen beschäftigt, dass es mir komplett entfallen war.

Mom hat früher für diesen Mann gearbeitet. Sie hat Tate Franklins Haus geputzt.

Ist das poetisch oder erbärmlich, dass ich ihren Platz eingenommen habe, um für denselben Millionär zu arbeiten?

»Deine Mom war unsere Beste Cleaning Lady«, sagt Mr Franklin. »Wir vermissen sie hier wirklich, weißt du.« Sein Ton hat beinah etwas Wehmütiges. Als müsse er sich zusammennehmen, richtet er sich auf und spricht plötzlich ganz geschäftsmäßig.

»Sie konnte unsere Silberlöffel zum Glänzen bringen. Und kein einziges Mal schlug sie etwas von unserem antiken Porzellan ab. Kein einziges Mal!« Mr Franklin sagt das total begeistert. »Weißt du überhaupt, wie schwer es ist, so gutes Personal zu finden?«

Um uns herum geht die Party lärmend weiter. Logan steht nur ein paar Schritte entfernt und serviert meinen alten Freundinnen Audrey und Marissa Mini-Tacos. Die Musik hat von einem Dua-Lipa-Song zu einem kitschigen Instrumentalstück gewechselt. Kailey Collins und ihr Ex knutschen nicht besonders heimlich in einer Ecke. Aber ich kriege kaum etwas davon mit, denn meine Wut verkleinert die Welt zu einem schmalen Streifen, während dieser betrunkene Mann weiter von den Putzqualitäten meiner verschollenen Mutter faselt.

»Sollte sie jemals wiederauftauchen, lass sie unbedingt wissen, dass ich offen wäre für eine Bewerbung auf ihre alte Stelle.«

Dann hebt er sein leeres Glas wie zu einem Toast in unsere Richtung, bevor er zu irgendwelchen Gästen weitertorkelt.

Ich zittere vor Wut, als ich ihm nachschaue.

»Was für ein unglaublicher Wichser!«, zischt Tawny bebend und gestikulierend. Das überrascht mich total. Tawny war immer wütend auf meine Mom. Nie verteidigte sie sie. Das rührt mich wirklich. Anscheinend siegt in Tawnys Augen bei Stein-Schere-Papier in Sachen Scheiße-Sein ein Arschloch-Ex-NFL-Spieler über eine Mutter, die ihr Kind vernachlässigt.

»Yeah«, stimme ich ihr zu, doch sie scheint mich kaum zu hören.

»Herablassender, elitärer –« Beim letzten Wort reißt sie die Arme seitlich hoch und knallt mir so versehentlich das Tablett mit den Thunfisch-Paprikas vor die Brust.

Tawny schlägt erschrocken die Hände vor den Mund, während ich leise aufstöhne. Ein paar Mädchen, die früher in meiner Spanischklasse waren, schauen herüber und kichern leise.

»Oh, River. Es tut mir so, so leid.« Sie sieht ganz elend aus vor lauter Bedauern. Ich seufze.

»Ich weiß. Es ist ja nur … Thunfisch …«

»Ich hol schnell ein paar Lappen«, ruft sie und eilt schon davon.

Ich gehe auf die Knie und schiebe mit ein paar Servietten den auf dem Boden verteilten Thunfischsalat auf mein ruiniertes Tablett. Da fällt ein Schatten auf mich, und plötzlich bin ich umhüllt vom rauchigen Duft der Rinde des Palo Verde, die in einer dunklen Nacht in der Sonora-Wüste brennt. Als ich hochschaue, sehe ich Logan, und Gott steh mir bei, wenn ich jetzt auch noch weiß, dass er so riecht.

»Harter Abend?«, fragt er und bückt sich, um mir beim Wegputzen zu helfen.

»Äh, ja«, bringe ich verblüfft heraus. Es war das vielleicht erste Mal, dass Logan etwas zu mir sagte, das nicht unmittelbar mit der Arbeit zu tun hatte. »Könnte man so sagen.«

Logan hält inne, um mich anzusehen. »Scheint so, als hättest in letzter Zeit eine Menge von denen.«

Ich schlucke schwer. Dann ist es ihm also aufgefallen. Vielleicht bin ich doch nicht total unsichtbar für ihn. Er greift in seine Schürze, zieht ein sauberes Geschirrtuch heraus und hält es mir hin.

»Danke«, flüstere ich, und meine Finger streifen seine, als ich es nehme.

Bisher ist mir das noch nie aufgefallen, aber Logan hat eine kleine Narbe an seiner Oberlippe, gleich links von seinem Amorbogen. Eine schräge Vertiefung, als hätte ein großer Daumennagel sich tief in die pralle Lippe gebohrt und dort diese Spur hinterlassen. – Es ist wirklich unfair, dass jemand so gut aussieht wie er.

Er räuspert sich. »Hör zu, Santos –«, fängt er an, aber bevor er noch mehr sagen kann, dröhnt Tates alkoholisiertes Bellen durch den Raum.

»Schaut mal, wer endlich da ist! Wurde auch Zeit, dass du dich sehen lässt, Pierce.«

Oh nein. Gott, bitte nicht. Hab ich nicht schon genug gelitten?

Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nehme, aber ich drehe mich um und sehe ihm ins Gesicht. Noah Pierce.

Der Junge, der mir das Herz gebrochen hat.

5River

Noah steht verlegen an der Haustür mit den Doppelflügeln. Seine Augen schweifen durch den Raum, und sofort treffen sich unsere Blicke, bevor Tate ihn betrunken in die Arme schließt.