Alleensterben - Carsten Lohmann - E-Book

Alleensterben E-Book

Carsten Lohmann

4,8

Beschreibung

Der erfolgreiche Unternehmer Steininger kommt bei einem Autounfall ums Leben, ein paar Tage später wird eine junge Frau in einem Schwimmbad umgebracht. Die Kommissare Franz Obermüller und Stephanie Wiesmaier von der Polizei Seefeld beschäftigen sich zunächst mit dem Schwimmbadmord, bis sich eine Manipulation am Fahrzeug des Unternehmers herausstellt. Der Mörder der jungen Frau entdeckt Geschäfte in seiner Firma, die nur mit Korruption und Bestechung zustandekommen konnten. Er versucht, dies für sich und seine Flucht aus Deutschland zu nutzen. Obermüller und Wiesmaier sowie ihr autistischer Kollege Birol Özdemir finden heraus, dass im Familienunternehmen Steiningers Misstrauen, Gier und Neid an der Tagesordnung stehen.

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Seitenzahl: 579

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Für Steff

Überblick

Prolog – Geschnitten Brot

Abschnitt 1: Neues Jahr – Alte Lasten

Abschnitt 2: Grenzgänge

Abschnitt 3: Jenseits der Grenze

Abschnitt 4: Schusslinien

Abschnitt 5: Neun Tage

Epilog

Prolog – Geschnitten Brot

Mai 2009

Die nun schon achte Dienstreise nach Südafrika. Sie saßen mal wieder an einer Hotelbar in Johannesburg und tranken bereits um 18 Uhr die dritte Flasche Champagner. Der Sommer ließ nicht mehr lange auf sich warten, aber dafür hatten sie jetzt keinen Sinn. Und keine Zeit. Denn ganz so leicht war es dann doch nicht. Die Geschäfte fielen ihnen nicht in den Schoß, sie mussten schon etwas dafür tun. Dass sie sich aber sieben Beine ausreißen mussten, wäre sicher übertrieben gewesen. Wie viele Beine also? War auch egal, es lief und mit dem guten französischen Champagner war vieles einerlei. Der Ehrlichkeit halber mussten sie gestehen, dass sie die Gläser nie ganz austranken und immer andere Gäste einluden, mitzutrinken. In großer Runde schmeckte es ihnen noch besser, sie ließen sich feiern und waren spendabel. Waren Damen dabei, konnten sie auch aufmerksam und zuvorkommend sein, aber nur dann. Ansonsten ließen sie sich reichlich gehen, doch die Kontrolle verloren sie nie. Warum auch? Eine eventuell viel zu hohe Rechnung zu bezahlen, die irgendwann schwer zu erklären war, das lag ihnen fern. Notfalls wurde sie aufgeteilt und andere bewirtete Personen wurden benannt. Bisher wurde jede Reisekostenabrechnung ohne Beanstandung von der Buchhaltung durchgewinkt. Was sollten diese Sesselpupser sonst auch tun? Und sie wussten und ahnten nichts. Sie machten einfach, was man ihnen sagte. Bat man sie, größere Zahlungen zu leisten, und ergänzte man „bitte über das Verrechnungskonto!“, taten sie dies. Von Südafrika hatten sie keine Ahnung, die Zahlendreher in der Buchhaltung. Wäre ja auch noch schöner! Schließlich waren es die Vertriebsleute, die der Firma das Wachstum brachten, das sie brauchte, um in ihrem Marktsegment ganz vorne anzukommen. Die evoluteering AG aus Starnberg wollteihren amerikanischen Wettbewerbern unbedingt dort Paroli bieten, wo sie sich traditionell schwerer taten als in ihrem Heimatland. Das europäische Festland mit seinen vielen Ländern bot zu viele Unterschiede. Mal war es die Mentalität, mal war es die Art, wie man Geschäfte machte, die für die amerikanischen Lösungen, „one fits all!“ (für alle dieselbe Lösung!), eher weniger passte. Und aufstrebende Länder wie die BRICS-Staaten waren noch schwieriger zu erobern. Hier war viel zu holen und hier ließen sie die Amis ganz in Ruhe. Das Geld lag auf der Straße.

Otto Helath und Klaus Bartelsfelder waren die besten Verkäufer ihres Unternehmens. Sie übertrafen jedes Jahr ihre Ziele und wurden auf immer schwierigere Kunden in immer exotischeren Ländern angesetzt. Das Management wusste um ihre Verkaufsqualitäten und Abschlussfähigkeit. Sie brachten die Aufträge, die das Unternehmen brauchte. Heute waren sie bei einem bedeutsamen Unternehmen der Chemiebranche, das nicht nur in Südafrika, sondern auch in Europa tätig war. Und sie hatten tatsächlich eine unterschriebene Absichtserklärung mitnehmen können. Bevor das ‚Entspannungsprogramm‘ auf ihren Suiten winkte, wurde zunächst noch die Hotelbar trocken getrunken, gefühlt wenigstens – der Champagner wurde vom Herumliegen schließlich auch nicht besser. Den Deal heute hatten sie selbständig eingefädelt und das Geld, das normalerweise an ihren „Kontaktmann“ wanderte, teilten sie sich. Seine Rechnung hatten sie einfach kopiert und nur ihre südafrikanische Bankverbindung eingesetzt. Es lief. Es lief wie geschnitten Brot.

Wie waren sie nun nach Johannesburg gekommen? Ein erfolgreiches südafrikanisches Chemieunternehmen wollte wachsen und hatte ein Problem. Es konnte gar nicht schnell genug die Daten verarbeiten, die es generierte und die ihre Kundengeschäfte langfristig absichern würden. Es musste ein System her, mit dem jeder Vertriebsmitarbeiter an jedem Ort der Welt wusste, was sein Kunde kaufte und brauchte. Und so hatten sie die Kunden-Hotline in Starnberg angerufen und um einen Besuch in ihrem Hause gebeten. Man war schüchtern gewesen und versprach, schnell eine Kaufentscheidung zu treffen, um das erfolgreiche Software-Unternehmen nicht zu enttäuschen. Die Starnberger Geschäftsführung hatte ohne lange Überlegungen entschieden: Nach Südafrika schicken wir nur unsere Besten. Dass der Chef Helath und Bartelsfelder um den Besuch in Johannesburg gebeten hatte, war klar und kam den beiden sehr gelegen. Otto hatte sich gerade von seiner Frau getrennt, die mit einem Mann Anfang dreißig durchgebrannt war und endlich mal richtig Liebe erleben wollte. Leider hatte Otto die letzten Jahre einfach zu wenig Zeit für sie gehabt. Aufgrund seines Zugewinns an Geld in den Jahren ihrer Ehe wusste er, die Scheidung würde teuer werden. Und es war ihm suspekt, sich von ein paar Annehmlichkeiten des Lebens zu verabschieden. Klaus hatte ein anderes Problem, er hatte über eine Beteiligungsfirma im Mittleren Osten viel Geld – Scheiß-Geld nannte er es – verloren. Und dass der Vertrag auch noch eine Nachschusspflicht vorsah – na ja, man hat halt nicht immer Zeit, das Kleingedruckte zu lesen. Das ärgerte ihn immer mehr. Er musste spätestens im Oktober die nächsten drei Millionen Euro auf den Tisch legen, sonst drohte sich alles zu einem Problem zu entwickeln. Doch er verdrängte den Gedanken an die Methoden, mit denen seine Geschäftspartner ihr Geld einfordern würden. Zu verlieren, war keine Alternative. Er hatte noch ein paar Joker im Ärmel und der Erfolg mit Otto kam und schweißte zusammen. Auf. Gedeih. Und. Verderb. Jetzt. Oder. Nie.

Otto Helath und Klaus Bartelsfelder waren ein ungleiches Paar, vielleicht machte genau das ihre Stärke aus. Otto war untersetzt, eher introvertiert, der Denker und Stratege. Er entwickelte die Pläne, die sie gemeinsam umsetzten. Klaus war groß, schlank, sportlich, der geborene Verkäufer. „Notfalls wird einem Eskimo der zweite Kühlschrank verkauft“, sagte er immer. Der Deal musste laufen und dafür sorgte er überzeugend und mit Bravour. Wenn ein Einkäufer Bedenken äußerte, manipulierte Otto ihn mit seinen Psychospielchen, redete von Spektrumserweiterung und ähnlichen Dingen. Diese Klaviatur spielten sie rauf und runter. Und es zahlte sich aus. Das letzte Jahr war so erfolgreich, dass sie sich beide teure Uhren und jeweils ein Ferienhaus in bester Lage kaufen konnten. Otto zog es an den Gardasee. Klaus hatte in Kitzbühel zugeschlagen. Er hatte sogar einen reichen Russen ausgestochen. In Kitzbühel war er gerne mit denen zusammen, die, wie er, den Erfolg gepachtet hatten. Was muss, das muss.

Sie wollten gerade in ihre Suiten gehen, als Klaus’ Handy klingelte und das Display anzeigte: Teilnehmer unbekannt. Klaus ging immer an sein Telefon, ihm ging kein Anruf durch die Lappen. Er war Vertriebsmann. „Wenn du nicht für deine Kunden erreichbar bist, kannst du auch nicht verkaufen“, sagte er jedem, der es hören wollte. Der Anrufer war Helmut Steininger, Vorstandsmitglied der Steininger AG aus München. Er bedankte sich für die Präsentation, die ihm Klaus Bartelsfelder nach ihrem Telefonat per Mail geschickt hatte. Ja, er hätte Interesse und plane mit ihnen etwas richtig Tolles zu machen, sagte Steininger. Er war freundlich, etwas unnahbar, förmlich, aber die Richtung stimmte.

Bartelsfelder antwortete: „Wir haben zusammen alle Chancen, wir müssen sie nur nutzen.“ Dies könnte der Anfang einer Geschäftsbeziehung mit großen Potenzialen sein. Der Durchbruch, der Einstieg bei einer deutschen Top-Firma mit Riesenpotenzialen. Das könnte der nächste Referenzkunde werden! Bartelsfelder wusste, die Prostituierte, die gleich in seine Suite kommen durfte, würde seinen Endorphinausstoß zu spüren bekommen. Er kannte sie schon. Sie war eine junge heiße Schwarze, die förmlich glühte.

Abschnitt 1: Neues Jahr – alte Lasten

Donnerstag, 7. Januar 2010, am Morgen

„Obermüller!“, rief der Polizeihauptkommissar von der Polizei Seefeld am Pilsensee im Landkreis Starnberg mit erwartungsfroher Stimme, als er das Telefon in seinem wohlig warmen Büro abnahm.

„Franz, ein gutes neues Jahr! Ich hoffe, du hattest schöne Weihnachtsferien“, schnaufte sein Kollege Polizeiobermeister Benedikt Handtke am anderen Ende ins Telefon.

„Ja, hatte ich“, sagte Obermüller und machte eine kurze Pause, die ihn sofort zum Nachdenken brachte. „Aber jetzt sind sie endgültig vorbei, wie es scheint.“

„Ich glaube, da könntest du recht haben. Leider musst du sofort mitkommen, wir müssen bei einer Unfallaufnahme dabei sein“, antwortete Handtke. Im Telefon knackte etwas.

„Moment mal, wieso das? Ich bin gerade mal eine Stunde wieder im Büro. Warum machen das nicht die Kollegen vom Bereitschaftsdienst? Oder nimm einen der Anwärter mit.“

„Es gibt einen Verkehrstoten, da sollte jemand von uns dabei sein.“

„Oh, okay. Ich komme. Wir treffen uns gleich vor der Tür“, antwortete Obermüller und legte auf. Er schüttelte den Kopf und dachte: Das geht ja schon wieder gut los. Ohne weiteres Zögern nahm er seine Jacke. Ein kurzer Blick aus dem Fenster in Richtung Marienplatz, ein Griff zu Handschuhen und Mütze, schon war er aus dem Büro. Er überlegte kurz, nach was es im Flur roch, und vermutete, dass die Reinigungsfirma den Bodenreiniger gewechselt hatte. Vor der Tür der Polizei Seefeld traf er seinen jungen Kollegen Handtke, der mit dicken Stiefeln und Mütze auf ihn wartete. Er wirkte, als stünde er schon länger dort.

Nach Neujahr war der Winter ins Fünf-Seenland nach Oberbayern gekommen. Es waren in wenigen Tagen dreißig Zentimeter Schnee gefallen und es war bitterkalt geworden. Die Straßen waren teilweise schneebedeckt, nachts war es bis minus 16 Grad kalt, tagsüber strahlte alles wunderschön in der Sonne. Die Landschaft war ein einziges Wintermärchen in klirrender Kälte. Leider kommt bei diesen Gedanken jetzt der Unfall dazwischen, dachte Obermüller. „Weißt du schon, was passiert ist?“, fragte er seinen Kollegen, als sie die Mühlbachstraße in Seefeld herunterfuhren.

„Nur, dass ein Auto auf der Fahrt von Weßling in Richtung Seefeld beim Gut Delling gegen einen Baum geprallt ist und der Fahrer wohl seinen Verletzungen erlag.“

Hm, dachte Obermüller, was für ein Mist gleich nach den schönen Weihnachtsferien. Überhaupt hätten die auch noch ein paar Wochen weitergehen dürfen. Sie schwiegen für den restlichen Teil der Fahrt. Beide fühlten sich nicht besonders wohl bei dem Gedanken, gleich einen Toten in einem Auto zu sehen. Kein Mensch mag so etwas, auch Polizisten gewöhnen sich nur schwer an solche Anblicke, zumal die Polizei alles so sieht, wie es sich zugetragen haben könnte. Ein frischer Tatort hat immer eine Botschaft, die man als geschulter Polizist aufnehmen muss.

Der Unfallort bot ein Bild des Grauens. Ein Mercedes-Benz der R-Klasse hatte sich regelrecht um eine der dicken Eichen gewickelt und war völlig zerstört. Nur noch die Heckscheibe war heil, alles andere kaputt, Scherben und Trümmer überall. Der Fahrer hing noch im Sicherheitsgurt. Er trug einen dunklen Anzug. Die Airbags des Autos hatten sich alle geöffnet und hingen nun schlaff herunter. Sein Kopf war mit etwas Blut verschmiert und anormal zur Seite geknickt. Wahrscheinlich Genickbruch. Sein Gesicht wirkte auf eine seltsame Weise entspannt. Er lächelte sogar leicht. Trotz der eisigen Kälte spürte Obermüller Schweiß in seinem Nacken. Wie er solche Anblicke hasste! Der letzte Tote war noch nicht allzu lange her. Ein Fall, der ihm noch in den Knochen steckte, noch nicht vollständig verarbeitet war. Den Termin mit dem Polizeipsychologen sollte er bald mal ausmachen, fiel es ihm nun ein.

Die Verkehrspolizisten hatten die Unfallstelle großräumig abgesperrt, sodass sich die Anzahl der Schaulustigen in Grenzen hielt. Handtke sprach mit einem der Kollegen und ließ sich erklären, was die Unfallaufnahme ergeben hatte. Wahrscheinlich war der Fahrer ins Schleudern geraten und dann mit einer Wagenseite in den Schnee, der ihm jede Chance nahm, das Auto wieder zu stabilisieren. Fast ungebremst schien er den Baum getroffen zu haben. Handke schaute sich um, während er zuhörte. Obermüller war plötzlich nicht mehr zu sehen. Handtke fand ihn etwa hundert Meter von der Unfallstelle entfernt. Er schien konzentriert, strich mit seinen Armen durch die Luft, um einen Verlauf zu beschreiben. Dann schaute er sich die Schneespuren an. Genau ausmachen, welche vom Mercedes stammten, konnte er nicht. Handtke beobachtete seinen Kollegen und saugte alles auf – es gab noch viel zu lernen. Er wusste, dass Obermüller ein guter Beobachter war und die Bilder regelrecht abspeicherte. Sein langjähriger Ausbilder und Mentor hatte ihm über Jahre erklärt, wie man einen Tatort liest. Erst einen Gesamteindruck verschaffen und sich dann nach der Zwiebelmethode die Details erschließen, Schicht für Schicht, bis man zum Kern der Sache vordringt. Auch auf den ersten Blick unwichtige Details können im Laufe der Ermittlungen bedeutsam werden. Und alles gehörte zusammen. Jeder Tatort war ein mehr oder weniger großes Puzzle, nur die Anzahl der Teile variierte.

Schließlich gingen sie zurück zum Unfallfahrzeug. Handtke hatte mit der Hand ein Zeichen gegeben. Die Feuerwehr zerlegte daraufhin Teile des Autos mit einem Schneidbrenner, bis der verunglückte Mann herausgehoben werden konnte. Ein Anblick des Schreckens. Kraftlos hingen der Kopf sowie die Arme und Beine herunter. Überall floss Blut, das langsam gefror. Obermüller wurde schlecht. Dann erkannte er den Mann plötzlich: Es musste bei einem Maibaumfest in Seefeld gewesen sein, sie hatten nebeneinander an einem Tisch gesessen und sich flüchtig unterhalten. Er musste etwa dreißig Jahre alt sein. Seiner Brieftasche konnten der Ausweis und ein paar weitere Papiere entnommen werden. Ein Bild mit zwei kleinen Kindern und einer hübschen Frau ließ vermuten, dass er eine Familie hatte. Der Ausweis gab die notwendigen Informationen, die sie zur Identifikation des Mannes benötigten. Es war Helmut Steininger aus Seefeld-Hechendorf. Die Techniker hatten Nummern an den herumliegenden Fahrzeugteilen aufgestellt und nahmen den Unfallort präzise auf. Den Verlauf der Spuren fotografierten sie mit einer 3D-Kamera und filmten den Straßenverlauf. Obwohl scheinbar kein weiteres Fahrzeug beteiligt war, wurde alles akribisch festgehalten, vermessen und notiert. Alles wirkte wie ein Unfall, der durch einen Fahrfehler entstanden war. Die Polizei Seefeld hatte nach der mangelhaften Aufnahme des Tatorts bei den Morden am Ehepaar Peschl im Jahr 2009 eine dicke Rüge von der Staatsanwaltschaft München und der Presse erhalten, weil man der Ansicht war, dass dort schlampig – eine Münchner Gazette hatte geschrieben: „...voreingenommen und zwar in der Weise, dass man von einem Selbstmord ausgegangen war“ – gearbeitet worden war. Das stimmte und stimmte nicht. Glücklicherweise hatte dies keine Auswirkungen auf die Ergreifung der Täter und deren noch ausstehende Verurteilung gehabt.

Obermüller ging auf Handtke zu. „Benedikt, ich denke, wir haben alles gesehen, was wir sehen mussten.“ Er musterte seinen Kollegen. „Hast du schon das Aufnahmeprotokoll unterschrieben? Ich würde dann gern mal langsam zurück ins Büro fahren. Dort liegt noch einiges an Arbeit aus den letzten Wochen. “

„Ja, ja, Franz, aber lass mich jetzt nicht hängen. Wir sollten noch zu den Steiningers fahren und die Witwe informieren. Ich weiß, dass das sehr unangenehm ist, ich möchte es ungern allein tun, und warten können wir damit auch nicht“, antwortete Handtke mit einem Stirnrunzeln. Sein Atem dampfte aufgrund der Kälte.

„Magst du nicht Stephanie mitnehmen? Die ist einfühlsamer als ich“, entgegnete Obermüller und hoffte, dass Handtke zustimmen würde. Rein vom Dienstgrad war Obermüller höher als Handtke, so dass er sich eigentlich nicht bitten lassen musste, aber dank der Teambuilding-Maßnahmen des Chefs der Polizei Seefeld, Ralf Deininger, hatte man sich auf neue Regeln der Zusammenarbeit geeinigt. Dazu gehörte unter anderem, dass der, der die Einsatzleitung hatte, auch die Führung übernahm.

„Du, ich habe sie noch gar nicht auf dem Dienstplan gesehen. Kann sein, dass sie noch nicht wieder da ist.“

„Hm, ich habe auch schon seit Tagen nichts mehr von ihr gehört“, log Obermüller und grinste in sich hinein.

„Also, dann fahren wir zur Witwe, die Adresse haben wir ja“, nickte Handtke.

„Dann los“, stimmte Obermüller seufzend zu.

Die beiden Polizisten verabschiedeten sich von ihren Kollegen und stiegen wieder in ihr Auto ein. Handtke telefonierte noch kurz mit einem der Kollegen in der Polizeidienststelle, ob eine Nachricht für ihn vorlag. Obermüller fand das etwas wichtigtuerisch, aber sein Magen teilte ihm etwas anderes mit. Er war auf Zusammenziehen eingestellt und fühlte sich schwer an. Nach fünf Minuten erreichten sie das Haus der Familie Steininger, das am Ende der Seestraße in Hechendorf lag. Eine schöne große Villa mit tollem Garten und Seezugang zum Pilsensee stand eingeschneit vor ihnen. So möchte man wohnen, dachte Obermüller, leider zerstören wir in wenigen Minuten das Familienglück. Obermüller griff in Richtung seiner Dienstwaffe, bevor sie am Tor klingelten und warteten. Ein Ritual seit Jahren. Es änderte sich nicht. Die Polizisten warteten und spürten die Kälte. Nichts geschah in den folgenden Sekunden. Gefühlt wurden sie – bedingt durch die Kälte – schnell zu einer halben Ewigkeit. Doch dann öffnete sich die Tür, eine junge Frau in einem edlen Kittel stand im Türrahmen. „Guten Tag, die Herren, Sie wünschen?“, rief sie ihnen über den Hof zu.

„Polizei Seefeld, das ist mein Kollege Handtke, mein Name ist Obermüller. Wir möchten mit Frau Steininger sprechen“, rief Obermüller zurück.

Die Bedienstete kam zum Tor, prüfte die Dienstausweise genau und schaute den beiden Polizisten in die Augen. Sie nickte kurz und sagte mit plötzlich dünner Stimme: „Kommen Sie bitte herein.“ Damit öffnete sie das Tor.

Sie folgten ihr über den Platz vor dem Haus, auf dem ein schwarzer Audi Q5 mit abgetönten Scheiben stand, bis in die Eingangshalle. Es handelte sich offensichtlich um ein gepflegtes, modernes Haus mit ein paar klassischen Elementen. Obermüller schaute sich um. Es fiel ihm sofort auf,

dass das Haus sehr gut gesichert war. Mehrere kleine Kameras und Bewegungsmelder waren für das geschulte Auge erkennbar, zudem waren die Fenster, die Obermüller sehen konnte, vergittert. In der Eingangshalle war es angenehm warm. Irgendwo musste ein Kachelofen brennen, denn es knackte gelegentlich.

„Folgen Sie mir bitte in die Bibliothek und nehmen Sie Platz. Frau Steininger kommt in wenigen Minuten. Sie ist noch am Telefon. Vielleicht kann ich Ihnen in der Zwischenzeit Ihre Jacken abnehmen oder müssen Sie sie anbehalten?“

„Nein, das ist sehr freundlich. Danke schön“, antwortete Handtke und überreichte ihr beide Jacken.

„Ich bringe Ihnen gerne einen Tee, wenn Sie mögen.“

„Oh, so etwas bekommen wir selten und nehmen das Angebot bei der Kälte gerne an.“ Handke lächelte dankbar.

Die Hausangestellte verließ die Bibliothek. Obermüller spürte, dass langsam Leben in seine Zehen zurückkam. Handtke sagte etwas, was Obermüller aber nicht beachtete. Er war mit seinen Gedanken irgendwo anders. Nach ein paar Minuten kam eine junge, mittelgroße und hübsche Frau in den Raum. Sie trug eine weiße Bluse mit Perlenkette und eine schwarze Hose, dazu schwarze Schuhe. Feste Schuhe daheim? Warum nicht, sagte sich Obermüller und machte sich eine gedankliche Notiz. Handtke übernahm sofort die Initiative. Du lernst, dachte Obermüller.

„Sind Sie Frau Marie-Luise Steininger, die Ehefrau von Helmut Steininger?“

„Ja, wen haben Sie sonst erwartet?“, antwortete sie und schüttelte den Kopf.

„Frau Steininger, wir haben leider eine sehr traurige Mitteilung für Sie. Ihr Mann ist vor einer Stunde auf der Graf-Törring-Allee ins Schleudern geraten und gegen einen Baum geprallt. Dabei ist er seinen schweren Verletzungen erlegen. Es tut uns sehr leid und wir möchten Ihnen unser aufrichtiges Mitgefühl aussprechen.“ Handtke bekam eine schwache Stimme.

Obermüller beobachtete beide. Noch wirkte Frau Steininger gefasst. Aber dann: „Oh, mein Gott!“, rief sie und fing augenblicklich an zu weinen und zu zittern. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht, stand ein paar Sekunden so da und verließ dann den Raum mit den Worten: „Bitte entschuldigen Sie mich.“

Nach wenigen Sekunden kam die Hausangestellte zurück in die Bibliothek und sagte: „Hätten Sie das nicht mit etwas mehr Mitgefühl übermitteln können?“ Sie schien durch die offene Tür mitgehört zu haben.

Obermüller antwortete: „Solche Botschaften lassen sich leider nicht auf angenehme Weise übermitteln. Richten Sie bitte Frau Steininger aus, wir müssen in ein paar Tagen noch einmal mit ihr sprechen.“

„Warum denn?“, fragte die Hausangestellte mit verwirrtem Blick.

Obermüller griff nun ein: „Das ist reine Routine, wir sind dazu verpflichtet. Herr Handtke wird Ihnen seine Karte da lassen, dann kann sie sich melden. Rufen Sie Frau Steiningers Hausarzt an. Er sollte sie besuchen, das wäre sinnvoll. Der Kriseninterventionsdienst ist auch schon informiert. Die Kollegen werden in circa einer halben Stunde hier eintreffen, um sich um Frau Steininger zu kümmern. Es tut uns alles sehr leid.“

Auch die Hausangestellte hatte jetzt Tränen in den Augen.

Sie verabschiedeten sich. Die beiden Polizisten gingen zu ihrem Auto zurück und fuhren zur Polizeistation nach Oberalting-Seefeld. Diese Momente mochte Obermüller überhaupt nicht. Er wollte nicht der Überbringer solcher Botschaften sein, aber einer musste es ja machen. Handtke hatte seinen Teil sehr gut gemacht.

Bevor Obermüller zurück in sein Büro ging, hielt er am Kiosk am Marienplatz an und begrüßte Petra, die etwas zu klein geratene, aber fröhliche Inhaberin, mit den Worten: „So, nun erfolgt die lange angekündigte Festnahme verbunden mit den besten Wünschen für 2010, liebe Petra“, posaunte er heraus und lachte über seinen eigenen Witz.

Sie kommentierte das nur mit: „Dann mal los. Und ich hoffe, für dich wird das Jahr ebenso angenehm wie für mich, Franz.“ Sie schaute ihn voller Bewunderung an.

Den üblichen Kaffee und die Butterbrez’n verspeiste er ohne ein weiteres Gespräch und las dabei eine Lokalzeitung. Als er wenig später im Büro ankam, lag unter seiner Bürotür ein Zettel mit den Worten: „Komm mal vorbei, Happy New Year! S.“ Obermüller lächelte und ging in Richtung Stephanie Wiesmaiers Büro. Er klopfte an die Tür, trat ein und ging auf seine Kollegin zu. „Gutes neues Jahr, Stephanie! Ich freue mich, dich zu sehen.“ Das Büro war wärmer als seins und roch nach ihrem Parfum.

Stephanie lächelte, stand auf und kam ihm entgegen. Sie umarmte ihn und küsste ihn auf beide Wangen. „Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Franz. Und dir auch ein gutes neues Jahr!“

„Was gleich mal richtig übel losging“, brummte Obermüller. „Wieso ging es übel los? Du hast doch heute auch deinen ersten Tag, oder?“

„Ja, genau, das ist es eben. Ich dachte, ich starte locker in meinem Büro mit der Durchsicht der Post und den E-Mails, da nimmt mich Beni gleich mit zu einer Unfallaufnahme mit einem Toten und anschließender Übermittlung der Nachricht bei der Witwe.“

„Oh, nicht schön, Franz. Was war es denn? Ein Verkehrsunfall?“

„Ja, und ein ziemlich heftiger dazu. Nein, das war gar nicht schön. Die Witwe war natürlich am Ende, aber so ist es ja meistens.“ Obermüller schaute sich um und beobachtete Stephanie. „Wenigstens wird sie nicht verarmen. Es war eine Familie aus Hechendorf mit Villa und gang.“ Dann erzählte er noch die Details des Unfalls, doch schließlich kamen die beiden auf andere Themen zu sprechen. Er spürte, wie sich seine Stimmung hob und sein Herzschlag schneller wurde.

„Wie waren deine Weihnachtsferien, Franz?“, fragte Stephanie.

„Du, schön und erholsam. Das war auch wirklich notwendig.“

„Bei mir auch. Ich habe den Abstand zur Arbeit sehr genossen.“

„Aber sag mal, du bist so braun und siehst so richtig gut aus. Gar nicht mehr so überarbeitet. Wo warst du denn?“

„Ich? Ich war mit meiner Freundin Brigitte, der Beraterin, ich hatte dir mal von ihr erzählt, auf Fuerteventura für zehn Tage. Das war total toll. Wir hatten bestes Wetter und haben die Nächte durchgetanzt.“

„Beim Durchtanzen der Nacht ist doch das Wetter egal, oder? Frauenlogik“, Obermüller schüttelte den Kopf.

„Obermüller, es beginnt gerade ein neues Jahr, du wirst mich doch nicht schon nach zehn Minuten das erste Mal auf die Palme bringen?“, grinste Stephanie.

„Das war nie meine Absicht“, entgegnete Obermüller und lachte.

„Wie geht’s Amelie? Alles okay mit ihr?“

„Ja, mit Amelie ist alles bestens. Sie hat bald ein paar wichtige Prüfungen und muss die nächsten Wochen noch einiges lernen, aber das ist sie gewohnt und ich bin es mittlerweile auch.“ Obermüller lächelte und seufzte.

„Was habt ihr so gemacht in den freien Tagen?“

„Wir waren nach Weihnachten eine Woche im Ötztal zum Skifahren, wie schon in meiner SMS beschrieben, dann hatten wir noch ein paar schöne Tage zu Hause, mal bei ihr, mal bei mir.“

„Klingt wunderbar, aber nun ist ja der Alltag zurück.“

Obermüller zögerte kurze und fuhr dann fort: „An welchem Fall wirst du jetzt arbeiten?“

„Na, ich habe ja noch den Tiefkühlkost-Fahrer auf dem Tisch. Da werde ich weitermachen. Es sind noch ein paar Vernehmungen zu machen. Ist nicht super spannend, aber ich komme wenigstens voran.“

„Ich muss ein paar Berichte schreiben und habe einen kleineren Fall auf dem Tisch.“

„Franz, was ist klein für dich?“ Stephanie schaute ihn an und war plötzlich sehr aufmerksam. Von Obermüller wollte und konnte sie immer lernen.

„Ich habe im Oktober eine Mail bekommen, die ich bisher noch nicht bearbeitet habe. Also las ich sie heute Morgen und nun muss ich mich mal darum kümmern.“

„Und um was geht es? Dass Männer nicht einfach mal zur Sache kommen können“, schnaufte sie.

„Wiesi, locker bleiben, ist alles gut. Eigentlich ein Nachbarschaftsstreit, der aber einen üblen Verlauf nahm. Ein Bauer hat seinem Nachbarn, der ebenfalls Bauer ist, den Gänsestall angezündet. Sie sind seit Jahren verfeindet, aber nun ist es eskaliert."

„Wie gehst du vor?“, fragte Stephanie neugierig.

„Ich mache ein wenig Druck, indem ich alle hierher bestelle und sie in einem Raum warten lasse. Dann setze ich zwei Streifenpolizisten in Zivil dazu. So kommen sie sicher miteinander ins Gespräch. Danach vernehme ich alle hintereinander. Einer wird im Warteraum oder bei mir beichten. Da bin ich mir sicher. In Frage kommen nur wenige: jemand aus der Familie oder der Angestellte.“

„Na dann viel Spaß. Was ist mit Mittagessen? Gehen wir zusammen?“

„Können wir machen“, antwortete Obermüller.

In dem Moment öffnete sich die Tür und ihr Chef, Ralf Deininger, stand mit einem jungen Kollegen in der Tür. „Grüß Gott, Kollegen, ein gutes neues Jahr. Wie ihr wisst, hatten wir einen zusätzlichen Kollegen zur Unterstützung der Ermittlungsarbeit beantragt und aus heiterem Himmel wurde dieser plötzlich genehmigt.“ Deininger strahlte alle an. „Damit möchte ich euch euren neuen Kollegen vorstellen. Das ist Birol Özdemir.“

Stephanie und Obermüller schauten sich kurz an. Deininger beobachtete sie. Er wusste, es war der erste Eindruck, der zählte, wenn man sich kennenlernt. Birol Özdemir begrüßte seine beiden neuen Kollegen mit festem Händedruck. Er stellte sich kurz vor. Özdemir war in München geboren, 24 Jahre alt und hatte bisher bei der Polizei in Freising gearbeitet. Er schaute Stephanie ungewöhnlich lange an, aber wer konnte ihm das verdenken? Ihre langen braunen Haare, ihre schöne Urlaubsbräune – sie wirkte erholt und trug heute im Dienst, wie fast immer auch privat, körperbetonte Kleidung. Obermüller verfolgte die Szene mit Argusaugen.

„Der Kollege Özdemir wird keinen Außendienst machen können. Das ist ihm aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich, aber er ist ein hervorragender Ermittler und das kann er auch vom Schreibtisch aus tun. Herr Özdemir wird an Sie berichten, Obermüller.“

„Willkommen, Kollege", sagte Obermüller erstaunt und sah Özdemir aufmerksam an. Erfahren, wie er war, machte er sich schnell ein Bild. Ausstrahlung, Körpersprache, Mundhaltung, alles in Bruchteilen von Sekunden analysiert, geordnet, untersucht und und ausgewertet. Birol lächelte verkrampft zurück.

„Auch von mir ein herzliches Willkommen. Ich bin auch noch nicht so lange hier, ich denke, es wird Ihnen hier in Seefeld gefallen“, meinte Stephanie. Wahrscheinlich hoffte sie, dass ein Türke zu Beginn seiner Dienstzeit besser als eine Frau bei der Polizei Seefeld behandelt wird.

„Setzen Sie sich bitte beide bald mit ihm zusammen und arbeiten Sie Herrn Özdemir ein. Er soll Sie und die anderen Kollegen im Team unterstützen“, sagte Deininger. Der Ton verriet sofort, dass er gleich gehen würde. Und so war es dann auch. Einen Moment später war er fort und Özdemir folgte ihm kommentarlos. Deininger liebte kurze, schnelle Besprechungen. Die Dinge auf den Punkt bringen, den Mitarbeitern vertrauen und nur dann eingreifen, wenn es notwendig war. So war ihr Chef und er wurde von allen dafür geschätzt. Leider wurde er nicht jünger, wie schließlich alle. Obermüller spürte, dass seine Kraft langsam nachließ. „Man wird nicht jünger“, sagte schon Obermüllers Oma an ihrem achtzigsten Geburtstag.

„Das war aber mal eine Überraschung. Ein neuer Kollege und wir wurden vorab nicht mal informiert.“ Stephanie war ebenso verwirrt über den Besuch des Chefs mit dem neuen Kollegen.

„Was soll’s“, sagte Obermüller mit einem Achselzucken. „Besser als eine Stellenstreichung, wie sie in manchen Behörden zurzeit Gang und Gebe ist.“

„Ich werde mal einen Schlag reinhauen. Wir sehen uns später, Franz. Holst du mich um 12 Uhr ab?“

„Mach ich. Wir gehen in meine italienische Bar in Herrsching. Bis später.“

„Italienische Bar? Lecker“, freute sich Stephanie, aber Obermüller war bereits verschwunden.

Donnerstag, 7. Januar 2010, am Vormittag

Karl-August Hausmanninger schloss die Tür zu seinem Büro auf, nahm sich einen frischen Kaffee aus dem Kaffeeautomat, setzte sich an seinen Computer und öffnete den Ordner mit dem Namen „De_Bruin“. Er war im Dezember zufällig darauf gestoßen. Der Name sagte ihm zunächst nichts, aber wer weiß, was sich Interessantes dahinter verbarg. Und wenn er hier nichts Interessantes findet, wird es bald ein anderer sein, er musste einfach nur weitersuchen. Er würde finden, was er suchte, da war er sich sicher. Zu eindeutig war der Hinweis der Kollegen beim Vertriebsmeeting im September in Seefeld gewesen, dass sie jeden Kunden bekommen könnten, wenn sie nur wollten. Sie hätten immer den richtigen Beschleuniger zur Hand, so sagten sie.

Heute war es ruhig in der Firma, die meisten waren noch in den Weihnachtsferien, da konnte er sich für die Suche nach den Unterlagen, die er unbedingt haben wollte, Zeit nehmen. Der hervorragende Geschäftserfolg der Softwarefirma evoluteering AG in Starnberg hatte die Geschäftsführer veranlasst, allen Mitarbeitern zwei Tage Sonderurlaub zu schenken, den die meisten gleich nahmen, um ihre Weihnachtsferien zu verlängern. Alle hatten im vergangenen Jahr hart gearbeitet, das Geschäft wuchs – trotz der vergangenen Wirtschaftskrise – um mehr als 40 %. Der Gewinn war sogar um über 60 % nach oben gegangen. Was für ein Jahr! Schon die Weihnachtsfeier war feucht-fröhlich gewesen, der Champagner floss in Strömen und später duzten sich sogar die, die sich jahrelang erfolgreich dagegen gewehrt hatten. Hausmanninger genoss den Kontakt zu einigen der Kolleginnen und Kollegen, aber nicht zu allen. Bis auf ein paar in der Geschäftsleitung war es prima in der Firma. Er wollte die Sonderurlaubstage an die Reise mit der Familie im März hängen. Er mochte die Sonne und das Meer und so konnte die Familie noch länger die Wärme genießen. Noch ein paar Urlaube, dann werden die Mädchen nicht mehr mit ihren Eltern verreisen, dachte er.

Er klickte sich durch die Ordnerpfade und öffnete die Unterordner des De_Bruin-Ordners. Im Hauptordner waren jede Menge Präsentationen und Dateien abgelegt, die die Geschäftsaktivitäten seiner Firma mit dem großen Kunden in Südafrika, der De Bruin Engineering zeigten. De Bruin Engineering war eine große Baufirma, die ihre Kunden bei großen Projekten und Investitionsvorhaben unterstützt und berät. Die Bauwirtschaft in Südafrika boomte seit Jahren. Die Fußball-Weltmeisterschaft warf sogar in den vorliegenden Unterlagen ihre Schatten voraus. Das halbe Land wurde in kürzester Zeit umgebaut, neu gestaltet und entwickelt. Jeder Mitteleuropäer fragte sich, wie die Südafrikaner so viel schneller bauen konnten und fand keine Erklärung.

Hausmanninger suchte eigentlich etwas anderes, doch der Hinweis auf einen Brief an die Firma De Bruin sprang ihm ins Auge. Und darin fand sich tatsächlich einiges, was lesenswert war. Klaus Bartelsfelder und Otto Helath, die beiden erfolgreichen Vertriebsmanager der Firma oder besser: Lieblinge des Managements, wie Hausmanninger fand, hatten im Jahre 2006 den ersten großen Kunden in Südafrika versucht zu gewinnen. Nachdem Hausmanninger den ersten Brief gelesen hatte, bekam er Lust, mehr oder sich vielleicht auch alles in diesem Ordner anzuschauen. Schließlich wollte er verstehen, was dort tatsächlich passiert war und warum sie so sehr im Rampenlicht standen. Bartelsfelder und Helath hatten – nach langer Akquise – die Leistungsfähigkeit der Softwareprodukte der evoluteering AG vorgestellt, die Verhandlungen erfolgreich geführt, das Management überzeugt und den Vertrag mit dem Kunden abgeschlossen. Nach ihrer Rückkehr wurde der erfolgreiche Geschäftsabschluss mit einem extra anberaumtem Sommerfest gewürdigt. Es folgte der Durchbruch des Unternehmens. Nun war man erstmals in Afrika vertreten. Man wurde plötzlich in der Industrie beachtet. Die Preiskalkulation war schlichtweg ein Armutszeugnis für die Verkäufer gewesen, aber darüber war damals nicht gesprochen worden. Der Preis war viel zu niedrig, die Installation der Software auf 120 Computern wurde regelrecht verschenkt und die Wartung war für drei Jahre kostenlos. Hausmanninger konnte nicht nachvollziehen, dass diese Bedingungen vom Vorstand genehmigt worden waren. Der Vorstand forcierte eigentlich eine hohe Rentabilität des Unternehmens, um den baldigen Börsengang vorzubereiten. Normalerweise waren ihre Zugeständnisse an neue Kunden gering. Das wusste er aus eigener Erfahrung. Ein Projekt, das Hausmanninger über ein halbes Jahr mit einem Zulieferer aus der Automobilindustrie verhandelt hatte, war am in der Industrie üblichen Fünf-Prozent-Rabatt pro Jahr, entschieden durch den Vorstand, gescheitert. Hausmanninger selbst hatte dies 27.000 € Bonus und einige schlaflose Nächte gekostet.

Interessant waren auch die Reisekostenabrechnungen der beiden Vertriebsmanager. Sie waren in teuren Hotels abgestiegen und hatten jede Menge Service auf Firmenkosten gebucht. Abgezeichnet waren die Reisekostenabrechnungen mit einem ihm unbekannten Zeichen. Hausmanninger vermutete, dass ein Teil der Abrechnungen nachträglich geändert worden waren. Aber warum, so fragte er sich. Wo gab es hier noch Unregelmäßigkeiten? Und warum war das Projekt in Südafrika so wichtig gewesen?

Donnerstag, 7. Januar 2010, am Nachmittag

Der Alltagstrott hatte Franz Obermüller bereits wieder eingeholt. Kaum aus den Weihnachtsferien zurück, überschlugen sich die Ereignisse. Erst der Unfall auf der Graf-Törring-Allee, nun die Vernehmungen der Bauernfamilie. Der einzige Lichtblick des Tages war die Mittagspause in der Vino & Pizzateca in Herrsching am Ammersee mit Stephanie, die ein paar lustige Geschichten aus ihrem Urlaub erzählte. Franca und Benito, die Inhaber der italienischen Bar, wollten natürlich wissen, wer sie denn sei, schließlich kannten sie diese Dame noch nicht. Franca hatte vermutet, sie sei Obermüllers neueste Freundin, nein, das hielt sie nicht für unwahrscheinlich. Später aßen sie Triangoli gefüllt mit Gorgonzola und Walnüssen in Prosecco-Sauce. Stephanie fragte Obermüller, warum sie nicht schon früher einmal hier gewesen seien, was Obermüller nicht beantwortete. Dies hier war sein persönliches „Wohnzimmer“, hierher nahm er nur seine engsten Vertrauten mit.

Wie von Obermüller im Dezember letzten Jahres vorgeschlagen, war sie in ihrem Urlaub an mehreren Abenden mit flachen Schuhen in Clubs gegangen und von vielen Männern angesprochen worden. Immerhin hatte sie so Abende, die sie nichts kosteten, aber keiner der Männer suchte eine Beziehung, alle waren nur auf schnelle Abenteuer aus. Die Bilder, die sie Obermüller vom Urlaub auf ihrem neuen iPad zeigte, begeisterten ihn. Sie sah mit ihren 1,78 m, der Bräune, im knappen T-Shirt und in enger Jeans einfach gut aus. Ihre Figur war trainiert und drahtig. Amelie kann da nicht mithalten, dachte er. Nun bestätigte sich auch eine frühere Vermutung. Stephanie trug ein sogar recht großes Bauchnabel-Piercing. Irgendein Gegenstand hing an einer Kette. An den Abenden, an denen sie in High Heels ausging, machte sie nur wenige neue Bekanntschaften. Obermüller fühlte sich bestätigt. Stephanie erzählteund erzählte – nur einer wollte nicht locker lassen, er stellte sich als Agenturbesitzer aus Hamburg vor und bot ihr sogar an, dass sie für ihn modelte. Allerdings benötigte er dafür Probeaufnahmen, die er mit ihr gleich in seinem Hotelzimmer machen wollte. Sie hatte sich gesagt: Also gut, das musst du dir doch mal genauer anschauen. Viel passieren wird dir schon nicht, du kannst dich ja wehren. Im Hotelzimmer angekommen, bat sie der freundliche „Gentleman’“, sich komplett auszuziehen. Stephanie weigerte sich, worauf er handgreiflich wurde. Mit ein paar schnellen Griffen hatte sie ihn überwältigt und mit einer Krawatte an einer Wasserleitung gefesselt. Danach ging sie und teilte an der Rezeption mit, der Herr von Zimmer 4043 wünsche den Zimmerservice mit einer Drei-Liter-Magnumflasche Champagner und einer großen Portion Kaviar. Der Kellner könne ruhig reingehen, die Tür sei offen. Am nächsten Morgen rief sie noch einmal im Hotel an und fragte nach dem Agenturbesitzer. Der hatte bereits in der Nacht bezahlt und war abgereist. Besser für ihn, sonst hätte sie ihn noch angezeigt.

Stephanie machte einen erholten Eindruck und war erfrischend. Sie wirkte gelöster, machte ein paar Witze und hatte sich irgendwie verändert. Als sie im Sommer letzten Jahres nach Seefeld versetzt wurde, war sie eine biedere, ehrgeizige Polizistin, die keiner mochte. Obermüller hatte nach einer Krisensitzung mit ihr entschieden, ihr eine neue Chance zu geben und er wurde nicht enttäuscht. Sie entwickelte sich zu seiner wichtigsten Kollegin, arbeitete teamorientiert und kooperativ an seiner Seite. Sie war es dann auch, die den Erfolg im letzten Fall sicherstellte. Die Presse überschlug sich anschließend mit Lobeshymnen und ganzen Bilderserien über die großgewachsene Polizistin aus dem Münchner Umland. Sie brachte es sogar in einer Wochenendausgabe einer Münchner Boulevardzeitung auf die Titelseite, was immer noch für reichlich Gesprächsstoff beider Polizei in Oberbayern sorgte. Die Weihnachtsferien und die Abwesenheit vieler Kolleginnen und Kollegen, die nicht im Schichtdienst arbeiten mussten, bremsten das Ausmaß des Geredes.

Obermüller beobachtete sie und sie spürte deutlich ihre Veränderung. Er nahm jede kleine Entwicklung ihrer Körpersprache wahr und bemerkte eine andere Art von Anspannung. Sind meine Vermutungen richtig, fragte er sich. Oder ist es die Wärme des Raumes? Er wusste, er durfte nicht sehr weit gehen. Da war noch Amelie Becker, seine Freundin, und die liebte er. Im letzten Urlaub waren sie noch vertrauter geworden. Der letzte Fall hatte ihn an seine Grenzen gebracht und Amelie war die Bezugsperson, die ihn forderte und die er brauchte. Sie holte ihn aus seinem Polizistenalltag mit teilweise lebensbedrohlichen Situationen heraus. Es belastete ihn immer noch, dass er einen Menschen hatte erschießen müssen. Deininger hatte ihm empfohlen, zu einem Psychologen zu gehen, was Obermüller vor sich herschob. Vielleicht, weil er selbst bestimmen wollte, wie er darüber hinwegkam. Amelie, Rechtsreferendarin kurz vor dem zweiten Staatsexamen, hatte im Nebenfach Psychologie studiert und coachte ihn, was jedoch neue Probleme brachte. Sie war damit nicht nur Freundin und Geliebte, sondern auch Beraterin. Ihre blitzschnellen Gedanken irritierten ihn manchmal und erzeugten bei ihm das Gefühl, manipuliert zu werden.

Stephanie erzählte weiter, was sie an ihrer Wohnung in Weßling verändert hatte und dass sie mit Brigitte ein paar Mal in München ausgegangen wäre. In Clubs, die nicht einmal Obermüller, ein seriöser Kenner der Münchner Szene, kannte. Er vermutete, dass dort andere Musik gespielt wird, als er es mochte. House war seine Welt, am besten rund um die Uhr und immer.

Obermüller erzählte Stephanie von den möglichen Strukturveränderungen bei der Polizei in Oberbayern, von denen er gehört hatte, und welche Auswirkungen dies auf die Laufbahn haben könnte. Nach dem gemeinsamen Mittagessen trennten sich die beiden. Stephanie hatte ein paar Vernehmungen in Inning zu machen und Obermüller wollte sich um die Bauernfamilie kümmern. Dabei hatte er sie pausenlos und übergroß in seinem Kopfkino vor sich. Was für ein Erlebnis!

Kurz vor 17 Uhr steckte Birol Özdemir noch seinen Kopf in Obermüllers Büro und fragte ihn, wann er Zeit für ein Einführungsgespräch hätte. Obermüller freute sich, dass der junge Kollege sofort Interesse an der Arbeit zeigte und die aktuellen Fälle kennenlernen wollte. Er beschloss, Özdemir zunächst Baumann vorzustellen, der bekannt dafür war, junge Kollegen schnell einzuarbeiten und gut zu coachen. Baumann war eher als er selbst in der Lage, Organisationsstrukturen, Vorgehensweisen bei Ermittlungen und all die Alltagsthemen zu erklären. Er hatte einfach mehr Geduld und war abgeklärt. Obermüller wollte immer gerne seinen eigenen Weg gehen und das wollte er Birol Özdemir nicht gleich am ersten Tag stecken. Stephanie gab nicht so schnell auf. Nach ein paar Monaten Zusammenarbeit hatte sogar Obermüller kapiert, dass sie zu zweit schlagkräftiger sind, als er allein sein konnte.

Donnerstag, 7. Januar 2010, am Abend

Amelie hatte Obermüller tagsüber zwei SMS geschickt, die er nicht recht verstand. Es gab irgendetwas zu besprechen. Was, wusste er nicht. Er dachte sich, dass sie in den letzten Wochen so viel zusammen gewesen waren, dass mehr oder minder alles besprochen worden sein musste. Er für seinen Teil hatte nicht viel Neues zu erzählen. So fuhr er mit einem schlechten Bauchgefühl am Abend zu ihr. Seine Freundin hatte eine kleine, aber sehr schöne Wohnung in München-Neuhausen in der Nähe des Hirschgartens. Obermüller war immer gerne dort. Zusammen mit ihr konnte er dort den Alltag hinter sich lassen. Sie klang am Telefon ziemlich reserviert, als er sie nach der Arbeit anrief. In den letzten Wochen hatten sie noch wunderbare Tage inniger Liebe erlebt, auch wenn sie tagsüber getrennt waren und sie immer wieder für Stunden lernen musste. Heute klang sie einfach nur fremd, fand er.

Mit Herzklopfen schloss er ihre Wohnungstür auf. Sie kam ihm entgegen und umarmte ihn. Die Wohnung roch wie immer. Der Kuss war kürzer als sonst und ihre Stimme klang angespannt. Das bevorstehende Gewitter war bereits zum Greifen nahe. Obermüller konnte bei privaten Dingen schlecht abwarten und auszusitzen. „Liebste, was ist los? Warum klingst du heute so anders?“, begann er sofort das Gespräch.

„Franz, es ist alles in Ordnung, aber ich muss dir später etwas sagen“, antwortete sie mit angespannter Stimme. „Lass uns doch vorher essen. Ich habe Sushi aus der Stadt für uns mitgebracht.“

„Amelie, das kann ich nicht gut. Du bist irgendwie anders heute und ich habe einfach kein gutes Gefühl wegen dem, was du mir sagen möchtest. Vorher erst einmal essen, das schaffe ich schon gar nicht.“

„Gut, dann warte. Ich hole das Essen und dann beginnen wir gleich“, sagte sie erstaunlich souverän. Sie ging in die Küche und holte das Tablett mit den Sushi-Rollen. Mit einem Lachen kam sie zurück ins Wohnzimmer. „Franz, es ist keiner gestorben.“

„Aber so ähnlich, oder?“, sagte er und rümpfte die Nase. Sein Blick war angespannt und erwartungsvoll.

Sie ließ es sich nicht nehmen, in Ruhe alles abzustellen und den Tisch zu decken. In der Zwischenzeit ging er an ihre Musikanlage und legte eine CD aus der Café Del Mar-Serie ein. Viel Auswahl hatte sie nicht. In ihm stieg die Nervosität, wie er es lange nicht erlebt hatte, aber Amelie war ruhig und geradezu provozierend abwartend. Heute mied sie den sonst üblichen Augen- oder Körperkontakt mit ihm. Das macht sie absichtlich, dachte er. Normalerweise hatte sie jede Situation bestens im Griff und wusste jederzeit passend zu reagieren. Obermüller war anders, er zeigte seine Emotionen und war immer geradeheraus.

Endlich nahm sie seine rechte Hand und begann zu sprechen: „Franz, du weißt, dass ich am 22. Januar meine letzte Prüfung haben werde. Heute rief mich Papa an und sagte mir, dass ich ab dem 1. Februar ein Praktikum in San Francisco bei einer Partnerkanzlei machen kann.“ Sie sprach, ohne zu atmen, und war angespannt. „Die Reise würde ich aber schon recht bald nach der Prüfung beginnen, um noch ein paar Tage vor Ort für die Wohnungssuche und diverse Vorbereitungen zu haben. Ist das nicht super?“

Obermüller schluckte und fühlte sich noch schlechter. An Sushi essen war nicht mehr zu denken. Er brach zwar die Stäbchen auseinander, legte sie aber sofort wieder auf den Tisch. Lustlos füllte er Soja-Sauce in das kleine Schälchen vor ihm und rührte viel zu viel Wasabi-Paste hinein. Aber das war jetzt auch egal. Er schaute sie an und fragte: „Für wie lange ist das?“ Seine Augen wirkten sofort traurig.

„Papa sagte, vier Monate mit der Option auf Verlängerung, wenn die Partnerkanzlei und ich es wünschen.“ Sie lachte und freute sich.

Er riss sich zusammen. So gut es ging. „Liebste, natürlich freue ich mich für dich. Das ist schon eine super Gelegenheit.“

Zunächst schwieg sie, dann zischte sie los: „Nein, Franz, du gönnst es mir nicht wirklich. Das sehe ich an deinen Augen. Du möchtest, dass ich hier bei dir bleibe.“ Der Ton war scharf.

Obermüller verstand nicht, dass sie so in die Offensive ging. Er schwieg und verlor seine Souveränität, weil er irritiert war. Wie sollte er darauf antworten? Am liebsten wäre er gegangen und hätte frische Luft geschnappt. Irgendwie passte ihm das Ganze nicht.

Sie erhöhte weiter den Druck. „Möchtest du nichts dazu sagen? Mir gratulieren wäre auch eine Option, falls du es mir gönnst.“ Sie sah ihn ernst an und schenkte sich Wein nach. Obermüller hatte noch nichts aus seinem Glas getrunken. Die Situation war eiskalt. Zeigt sie gerade ihr wahres Gesicht, fragte er sich. So hatte er sie noch nie erlebt. Sie war plötzlich ein anderer Mensch für ihn. Fremd und unnahbar. Wahrscheinlich versucht ein Kriminalpolizist noch viel mehr aus dem Verhalten zu lesen, dachte er sich. Nach ein paar Sekunden beiderseitigen Schweigens kriegte er sich ein. „Doch, Hase, natürlich gratuliere ich dir. Das ist eigentlich eine wunderbare Sache, aber du wirst sehr weit weg sein und einen erheblichen Zeitunterschied zu mir haben. Da kann ich nicht mal schnell für ein Wochenende kommen.“ Er machte eine Pause und schaute kurz durch den Raum. „Und am meisten überrascht mich, dass du mich so wenig in den Planungsprozesse eingebunden hast. Wir waren doch so viel zusammen“, brummte.

Amelie stand auf und trat zu ihm. Sie wurde langsam wieder die, die Obermüller vertraut war. Sie spürte scheinbar, dass sie ihn trösten musste. „Franzl, es ist nur für ein paar Monate, maximal für ein halbes Jahr. Das schaffen wir auch mit der Distanz.“ Sie hatte seine Zeichen nun endlich verstanden. Hatte wirklich etwas gedauert.

„Ich sehe das etwas anders. Du wirst einen ganz anderen Tagesablauf haben als ich. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, gehst du gerade erst los.“

„Dann mailen wir viel oder telefonieren übers Internet mit Kamera“, entgegnete sie.

Obermüller schaute in eine andere Richtung. Er dachte nach. Plötzlich klang seine Stimme wütend. „Warum überraschst du mich damit heute?“

„Franz, da hast du recht und das tut mir auch leid. Es ist irgendwie untergegangen.“ Sie spürte, dass das nicht besonders plausibel klang. Sie hatte es verdrängt, ihm etwas zu sagen. Obermüllers Körperhaltung änderte sich und das sah auch Amelie. Plötzlich war er im Polizistenmodus. Er muss mit strukturiertem Denken und einer Analyse der Situation begonnen haben, dachte sie.

Schweigen für eine gefühlte Minute.

„Amelie, ich bin enttäuscht und muss das erst einmal verarbeiten. Für mich ist das alles sehr überraschend und es klingt, als hättest du alles ohne mich geplant.“ Seine Stimme wurde traurig und er schaute zu Boden. „So etwas Bedeutsames passiert nicht eben nebenbei.“

„Es tut mir leid“, stotterte sie und ihr wurde langsam klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Ihre sonst übliche Souveränität war nun auch dahin.

„Unsere Beziehung begann nicht einfach. Ich hatte einen schwierigen Mordfall zu lösen, in den du auch noch hineingezogen wurdest, was mir noch heute sehr schwer fällt zu verstehen. Danach hatten wir wunderbare Wochen und ich hoffte, unsere Liebe wächst und bringt uns mehr und mehr zusammen.“

Plötzlich hatte Amelie Tränen in den Augen und sie schluchzte. „Meinst du, es wäre besser, hier zu bleiben?“ Das Kartenhaus war zusammengefallen, sie begann zu zittern.

Obermüller betrachtete sie, es wirkte fast ein bisschen gespielt, wie sie sich jetzt benahm, was er aber vermutlich falsch einschätzte. Dann fasste er einen Entschluss und sagte mit fester Stimme: „Wenn du es jetzt nicht tust, bekommst du vielleicht nie wieder eine neue Chance. Also hast du keine andere Wahl.“ Sie schaute ihn mit großen Augen an und wartete, was als Nächstes kommen würde. Er holte tief Luft. „Ich für meinen Teil brauche nun etwas Zeit, um nachzudenken und mich zu sammeln. Ich möchte gehen und nach Hause fahren. Hier bleiben kann ich leider nicht mehr.“

„Du gehst?“ Amelie war augenblicklich geschockt. „Ist es jetzt aus?“

„Nein, nicht aus, nur eine Atempause. Ich werde nach Herrsching fahren und in meinem eigenen Bett darüber nachdenken, was das alles für uns bedeutet.“ Obermüller stand auf, schob den Stuhl an den Tisch zurück und ging in den Flur. Dort nahm er seine Tasche, zog seine Schuhe und Jacke wieder an und ging mit einem leisen „Ciao“, ohne sie noch einmal zu küssen. Im Hintergrund lief gerade eines seiner Lieblingslieder. Als es zu Ende ging, saß er bereits wieder in seinem Auto und fuhr davon.

Sie stand noch eine Weile hilflos vor dem Wohnzimmerfenster, hoffte, dass er zurückkam, was er aber nicht tat. Dann warf sie das Sushi in den Müll. Später schickte sie ihm noch eine lange E-Mail, in der sie ihm ihre Situation beschrieb und um Verständnis bat. Sie erklärte, dass sie lange Single und gewohnt gewesen wäre, nur für sich selbst zu entscheiden. Nach den turbulenten Wochen und der später wunderschönen gemeinsamen Zeit hatte sie sich von Franz Obermüller umklammert gefühlt. Sie hoffte, sich ihrer Liebe zu ihm in den USA noch klarer zu werden, und war gewillt, alles dafür zu tun, dass sie nach der Zeit in San Francisco zusammenbleiben konnten.

Er lag lange wach im Bett und dachte nach. Die E-Mail hatte er gelesen, aber nicht darauf reagiert. Was war heute wirklich passiert? Er wusste es nicht. Hatte sie das Ende der Beziehung eingeläutet oder war es nur eine „Betriebsstörung“? War sie vielleicht doch aus einer anderen Welt als er? Er wälzte sich die halbe Nacht im Bett herum. Seine Gedanken fuhren Achterbahn. Er war hin- und hergerissen und lauschte in die Nacht. In Herrsching war es ruhig. In den frühen Morgenstunden hatte es angefangen zu schneien.

Freitag, 8. Januar 2010, am Morgen und tagsüber

Hausmanninger hatte früh mit seiner Frau gefrühstückt, da sie den Sieben-Uhr-Flug nach Dresden nehmen wollte, um ihre Eltern zu besuchen. Die Kinder schliefen noch, aber das war kein Problem, denn schließlich hatten sie Ferien. So konnte er früh auf der Arbeit sein, um nach der Mittagspause wieder gehen und ein paar Erledigungen machen zu können. Vielleicht anschließend mit den Kindern ins Schwimmbad? Ach nein, die waren dann sicher noch bei ihren Freundinnen. Schwimmen war seine große Leidenschaft, er war schon in seiner Schulzeit Landesmeister von Oberbayern gewesen und hatte es ein Mal bei den Deutschen Meisterschaften geschafft, bis ins Finale zu kommen. Leider hatte es nicht für das Treppchen gereicht, aber immerhin. Er fand, dass Schwimmen etwas Meditatives hat, wenn man weich durchs Wasser gleitet, regelmäßig Luft holt und sich so harmonisch bewegt, dass der Körper in Balance ist. Er konnte beim Schwimmen herrlich nachdenken und über die Dinge des Lebens sinnieren. Im Wasser hatte er die wichtigsten Entscheidungen seines Lebens getroffen. War heute wieder ein besonderer Tag für eine Entscheidung, die richtungsweisend für sein Leben ist? Auf einem Starkbierfest in München vor vielen Jahren lernte er so seine spätere Frau Andrea kennen, die ihn wegen seiner tollen, muskulösen Figur angesprochen hatte. Sie hatten sich spontan verliebt, waren nach einem halben Jahr zusammengezogen und hatten zwei Jahre später geheiratet. Andrea war eine patente Frau, gelernte Krankenschwester und später Heilpädagogin mit einer kleinen eigenen Praxis. Die Kinder, zwei Mädchen im Alter von 12 und 14 Jahren, waren prächtig gelungen und der ganze Stolz der Eltern. Beide waren sehr intelligent, besuchten das Gymnasium in Sendling und waren für ihr Alter erstaunlich lieb, selbst in ihrer Pubertät. Andrea hatte ein gutes Händchen mit den Kindern, sie gab ihnen viel Freiheit und zeigte ihnen andererseits ihre Grenzen auf. Karl hielt sich in Erziehungsfragen gerne zurück. Er war sich nie sicher, wie nahe er seinen Töchtern wirklich kommen konnte. Trotzdem liebte er sie. Ohne sie wäre alles nichts, sagte er immer zu Andrea. Er war viel dienstlich unterwegs, in seinem früheren und auch im aktuellen Job, was eine gewisse On-Off-Beziehung mit Andrea mit sich brachte. Ihn störte das weniger.

Nachdem er die Eingangspost des Tages in seinem Büro gelesen hatte, wollte er weiter den De_Bruin-Ordner lesen, weil sich immer mehr Merkwürdigkeiten auftaten, die ihn neugieriger machten. Um was ging es da wirklich? Hausmanninger fand diverse Entertainment-Abrechnungen in einem der Ordner. Bartelsfelder und Helath hatten einige Flüge im südlichen Afrika gebucht, sie waren in Windhoek, Johannesburg, Port Elizabeth und Maputo gewesen und hatten dort Firmen sowie mögliche potenzielle Kunden getroffen. Alles verlief immer nach demselben Muster: zwei bis drei Tage in einem Hotel mit vielen Besprechungen, hohe Bewirtungsbelege und Listen von x Meeting-Teilnehmern. Die Weine waren immer hochwertig und die Menüs hatten selten weniger als fünf Gänge. Wellness-Rechnungen gab es ebenfalls einige. Erstaunlicherweise waren alle Besuchsberichte immer sehr kurz gehalten und jedes Geschäft fast abgeschlossen. Hausmanninger glaubte, dass die Besuchsberichte im Nachhinein abgeändert worden waren.

Über die Firma eMonkey Consult aus Johannesburg wurde dem neuen südafrikanischen Kunden, der Firma De Bruin Engineering, Bargeld übergeben. Das schienen ihm Schwarzgeldzahlungen an das Management zu sein. eMonkey Consult hatte hohe Beratungsrechnungen an die evoluteering AG in Starnberg gestellt, die er später fand, woraus Zahlungen an Vertriebsmitarbeiter sowie Bestechungsgelder geleistet worden waren. Es war also Geld über eine Beratungsfirma in Südafrika gewaschen worden. Keiner der Ordner auf dem Laufwerk war mit einem Kennwort versehen worden. Alles war offen, alles lesbar. Er konnte die Ordner aber nicht einfach kopieren. Das wäre nachvollziehbar und hätte unmittelbar ein Protokoll erzeugt. Er brauchte zwei Dummy-E-Mailadressen, die er nutzen konnte. Eine zum Senden und eine zum Empfangen. Damit konnte er sich jede Datei einzeln als Anhang senden. Etwas mühselig, aber es funktionierte. Der letzte Beweis, ein paar der Belege aus den Büchern der deutschen Firma in Kopie, würde sich aber schwieriger gestalten. Er musste Einblick in die Belege der Buchhaltung bekommen, was grundsätzlich nicht möglich war. Dort sollten auch die hohen Rechnungen für Beratungsleistungen, vermutlich noch einmal über Umwege, zu finden sein, denn irgendwie musste das Geld ins Ausland geschafft worden sein. Der Zeitraum der Bezahlungen war zudem völlig unklar. Hausmanninger fragte sich, ob die Firma auch so erfolgreich und gesund wäre, wenn nicht alle die Tricksereien gelaufen wären. Die Machenschaften wurden offensichtlich von der Geschäftsleitung mitgetragen. Managementkreise innerhalb der evoluteering AG hatten nicht nur den Fiskus betrogen, sondern auch Geschäfte ermöglicht, die es unter normalen Bedingungen möglicherweise nicht gegeben hätte. Wie wettbewerbsfähig war die Firma wirklich?

Für heute hatte er allerdings genug. Noch vor 12 Uhr entschied er, die Firma wieder zu verlassen. Bis zum Morgen waren zehn Zentimeter Neuschnee gefallen, dann kam die Sonne heraus und nun begann es wieder zu schneien. Hausmanninger rief seine Frau an und wollte hören, was sie so machte. Von seiner Entdeckung erzählte er nichts.

„Hallo Bärli, ich sitze gerade mit meinen Eltern und Mandy am Mittagstisch und wir unterhalten uns. Mama hat leckere Broiler gemacht, die wir gleich essen werden. Hier ist alles bestens. Ich vermisse dich.“

„Ich vermisse dich auch. Ich gehe gleich noch schwimmen. Auf der Arbeit war es heute ruhig, Gott sei Dank. Viele haben noch Urlaub“, beschrieb er seinen Vormittag etwas gelangweilt.

„Wann wirst du mit deinem Chef sprechen, Bärli? Du müsstest bald befördert werden und eine Gehaltserhöhung würde uns auch helfen“, pushte sie ihn. Wenn sie ihm nicht empfahl, zum Chef zu gehen und um mehr Geld zu betteln, sollte er sich am Arbeitsmarkt umschauen. Jede Woche dieselbe Leier.

„Ich weiß, Mausi. Nächste Woche schnappe ich ihn mir und dann werde ich alles mit ihm besprechen. Mit meinem Headhunter habe ich auch Kontakt aufgenommen“, verteidigte er sich. „Grüß alle von mir und melde dich später noch mal.“

„Wann wirst du zu Hause sein? Die Mädchen haben Freundinnen zu Besuch“, antwortete Andrea.

„Ich denke, sie sind bei ihren Freundinnen? Egal, gegen drei etwa. Ich möchte vorher noch das neue Hallenbad in Hechendorf testen. Das hat vor Kurzem eröffnet und soll gelungen sein.“

„Na, dann viel Spaß und melde dich bitte, wenn du wieder zu Hause bist. Ich vermisse euch alle drei. Tausend Küsse, Bärli, bis später“, sagte Andrea und legte auf.

Hausmanninger sagte noch „Servus“, was sie aber nicht mehr hörte. Dann schaltete er alle Geräte aus, nahm seine Jacke und ging zur Tür. Im selben Moment nahm jemand die Türklinke in die Hand. Es war Sina Müller, in Fachkreisen auch – aufgrund der optischen Ähnlichkeit – Siena Miller genannt, die sich erkundigen wollte, ob Hausmanninger mit zum Chinesen gegenüber zum Mittagessen gehen wollte.

„Hi Sina, ich habe meine Arbeit für heute erledigt und wollte gerade gehen. Trotzdem, danke der Nachfrage, aber heute klappt es leider nicht.“

„Dann ein schönes Wochenende und bis Montag in alter Frische“, lächelte sie. Nebenbei war sie auch noch Helaths Assistentin.

Irgendetwas war heute anders, das spürte er. Das Auffinden der sensiblen Belege aus Afrika hatte ihn aufgedreht. Er fühlte das Adrenalin und im Auto ballte er die Faust. Es lief plötzlich. Den Oldie aus den Achtzigern im Radio sang er ohne eine Textlücke komplett mit, was er sonst nie tat. Hausmanninger fuhr über Perchting nach Seefeld und hielt an der Schmankerl-Metzgerei Ruf in Oberalting am Marienplatz an. Dort holte er sich eine Schnitzelsemmel, einen kleinen Becher Selleriesalat und zum Trinken gab es eine Apfelschorle. Hinter ihm standen zwei Polizisten in der Schlange, die Witze über ihre Uniform machten, weil sie so schlecht passten. Na ja, coole US-Cops seid ihr auch wirklich nicht, lachte Hausmanninger in sich hinein. Anschließend aß er sein Mittagessen im Auto und fuhr dann nach Seefeld-Hechendorf, wo die Gemeinde ein nagelneues Schwimmbad mit einem 50-Meter-Becken gebaut hatte. Es war ein Schwimmbad ohne viel Schnickschnack und Wellness-Pipapo. Schwimmhalle, Saunabereich und das war’s. Oder hatte es für mehr nicht gereicht? Ja, heute bin ich böse, grinste er. Er wollte das Schwimmbad unbedingt testen, zumal dort ein Extrabereich eingerichtet war, in dem nur Bahnen geschwommen werden sollten. Nachdem er sich eine Zweistundenkarte gekauft hatte, zog er sich um. Im Wasser hatte er das Gefühl, als würde er heute getragen. Nach fünfhundert Metern machte er eine kurze Pause. Heute lief es einfach. Er schaute sich um und dann geschah es wie aus heiterem Himmel. Keine zehn Meter von ihm entfernt war eine Gruppe junger Frauen, die lachten, wahrscheinlich Gymnasiastinnen, die Ferien hatten. Eine war dabei, wie er es besonders mochte. Es war, als würde sich ein Schalter umlegen und seine frühere triebhafte Neigung, einen für ihn speziellen Typ Frau – jung und blond mit mädchenhaften Körper – zu besitzen, kam zurück. Nein, bitte nicht!

Freitag, 8. Januar 2010, am frühen Abend

Obermüller freute sich. Er hatte den Brandstifter der Scheune überführt. Es hatte zwar etwas gedauert, aber irgendwann war die Frau des Nachbarn eingeknickt und hatte die Tat zugegeben. Sie hatte die Scheune angezündet, weil sie sich für etwas anderes als ihr Mann rächen wollte. Sie lag mit der Bäuerin von nebenan im Clinch, die ihre alten Schulden bei ihr nicht begleichen wollte. Irgendwann war sie dann so sauer, dass sie das Feuer legte. Obermüller nutze die Technik, die seiner Meinung nach am besten geeignet ist, einen Täter zu einem Geständnis zu bringen: im rechten Winkel sitzen, die zu vernehmende Person reden lassen und Vertrauen im Gespräch aufbauen. Er begann zunächst mit ganz anderen Themen, aber nach kurzer Zeit war so viel Vertrauen vorhanden, dass er die Antwort nur noch geduldig abzuwarten brauchte. Keine Fragenketten, keine verschachtelten Sätze verwenden. So funktionierte es auch nach zwei Stunden Vernehmung der Bäuerin. Es erfolgte sofort die Festnahme – aufgrund ihrer Drohungen, die sie im Laufe der Vernehmungen gegen weitere Familienmitglieder der Nachbarn ausgesprochen hatte, war mit weiteren Straftaten zu rechnen. Sie wurde in Untersuchungshaft genommen und in ein Frauengefängnis überführt. Alles Weitere durften die Kollegen sowie die Staatsanwaltschaft erledigen. Birol Özdemir ließ er alle Vernehmungen hinter der verspiegelten Scheibe im Nebenraum verfolgen. Er sollte sehen, wie Obermüller arbeitete.

Wieder zurück in seinem Büro war er zufrieden mit sich und dem heutigen Tag. So lief gute, strukturierte Polizeiarbeit, wie er fand. Das war natürlich auch seinen eigenen Erwartungen und seiner guten Vorbereitungsarbeit geschuldet. Professionell arbeiten und gute Resultate abliefern, das strebte er immer an. Bremsen konnte ihn zurzeit nur Amelie. Jeder Gedanke an sie machte ihn traurig und hoffnungslos, ihre Entscheidung noch beeinflussen zu können. Die Frage, ob sie vielleicht doch nicht die Richtige für ihn ist, verdrängte er immer wieder. Möglicherweise wollte er es nicht so richtig wahrhaben. Sie bot ihm etwas, was er bisher noch nicht in seinen Beziehungen oder überhaupt in seinem Leben hatte: Zugang zu anderen Kreisen als die, aus denen er kam, und sie war eine wertvolle Ratgeberin und Weggefährtin. Frühere Beziehungen liefen immer anders, er musste den meist jüngeren Damen die Kastanien aus dem Feuer holen. Und der Sex mit Amelie war okay, auch wenn sie nicht die Figur hatte, von der er normalerweise träumte. Die hatte Stephanie. Und die zeigte sich seit ihrer Wiederkehr aus dem Weihnachtsurlaub anders, sie war souveräner und selbstbewusster geworden. Möglicherweise hatte Brigitte, ihre neue Freundin, einen guten Einfluss auf sie. Obermüller musste sie unbedingt kennenlernen und herausfinden, was für ein Typ Frau sie war. Damit wandte er sich wieder der Polizeiarbeit zu und las ein paar E-Mails. Die meisten Anhänge waren Zusätze zu geänderten Verwaltungsrichtlinien. Er überflog sie und löschte sie dann gleich. Die wichtigen Dinge konnte ihm auch Baumann in einer Mittagspause erzählen. Der las alles, war von Hause aus skeptisch und glaubte stets, dass der Staat den Polizisten das Leben noch schwerer machen wollte.

Nach einer weiteren halben Stunde stand er auf, ging zum Fenster und schaute auf den Marienplatz. Es hatte erneut begonnen zu schneien. Überall lagen schon meterhohe Schneeberge. Am Kiosk brannte noch Licht und er sah Pet