Allein durch den Iran - Kristina Paltén - E-Book

Allein durch den Iran E-Book

Kristina Paltén

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Beschreibung

Eine Frau joggt alleine durch den Iran und zeigt uns, was möglich ist, wenn wir unsere Angst überwinden. Kristina Paltén ist 31, als sie zum ersten Mal das Laufen für sich entdeckt. Nach einer Lebenskrise steigert sie ihr Trainingspensum und bricht als Ultraläuferin alle Rekorde. Doch auch das reicht ihr irgendwann nicht mehr: Sie will ihre eigenen Vorurteile und Ängste besiegen und alleine durch den Iran laufen. 59 Tage, 1840 Kilometer, einmal quer durch den Iran. Laufend, mit einem Babyjogger fürs Gepäck. Was unglaublich klingt, hat Kristina Paltén tatsächlich getan. Mit genauer Vorbereitung, ortskundigen Helfern im Hintergrund und viel Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Instinkte beginnt sie dieses Abenteuer an einem heißen Augusttag an der türkischen Grenze. Der Anfang ist mehr als holprig, aber sie lernt das Land, das für viele in der westlichen Welt als rückständig und religiös fanatisch gilt, von einer anderen Seite und durch den Blick auf die Bewohner kennen. Kristina Paltén merkt schnell, wie wichtig Gastfreundschaft ist – und so verbringt sie fast keine Nacht in den vorher ausgesuchten Hotels, weil sie immer irgendwo eingeladen wird. Ein Buch, das Hoffnung macht und hilft, Vorurteile abzubauen.

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Seitenzahl: 446

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Kristina Paltén / Desirée Wahren Stattin

Allein durch den Iran

1840 km Vertrauen, Neugier und Offenheit

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Kristina Paltén / Desirée Wahren Stattin

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungPrologDer Mann in dem weißen HemdErster TeilEin Leben in FreiheitWill ich sterben, ohne es versucht zu haben?VorbereitungenÄngsteUnter einer Decke mit der iranischen RegierungZweiter TeilFast zweitausend unbekannte Kilometer liegen vor mirSchlafplatz gesuchtAllein unter einem BaumMarand Running ClubUltralaufDritter TeilÄngste: FortsetzungDer UnfallDer heilige Berg SabalanDer Nebel zwischen den BerghängenSonnenblumenEingeklemmt zwischen zwei FelsblöckenFunkstilleFrauenpowerWunde Stellen und TrolleVier Paar OhrringeDer Zuspruch wächstSchahrasad ist eine PrinzessinDie GeheimpolizeiBabakDer Zusammenbruch in GorganDer BotschafterEin platter ReifenDer NationalparkGelangweiltPolizistenVierter TeilZieleinlaufDer BriefDie HeimkehrEpilogKristinas LogbuchDank der Autorinnen
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Für Yvonne

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Prolog

Der Mann in dem weißen Hemd

18. Tag, Ardabil–Astara, 85 km

 

Das Handy klingelt, als ich seit ziemlich genau zehn Stunden unterwegs bin. Die Melodie stimmt mich fröhlich, und ich bremse auf Schritttempo ab und öffne gleichzeitig das kleine Fach an der Rückseite des Wagens. Dort verwahre ich außer dem Telefon ein wasserdichtes Tütchen mit meiner iranischen Kreditkarte und ein paar Visitenkarten, die ich Leuten geben kann, denen ich begegne, Menschen, die mir auf meiner Homepage folgen wollen.

Mein Smartphone ist ein etwas robusteres, wasserdichtes und stoßfestes Modell. Während meiner gut zwei Monate im Iran ist es meine Rettungsleine und manchmal die einzige Chance, mich mit Menschen auszutauschen, die verstehen, was ich sage.

Es ist Mehrdad, der mich inzwischen so gut kennt, wie nur wenige vor ihm es jemals getan haben. Er ruft aus dem nordwestlich von Teheran gelegenen Karadsch an, wo er lebt. Dort sitzt er mit Landkarten und seinem Computer und bildet den Dreh- und Angelpunkt für die etwa fünfzig Personen, die etwas mit meinem Lauf zu tun haben oder mir mit einer Übernachtungsmöglichkeit oder einer Mahlzeit helfen wollen.

»Du solltest lieber nicht im Dunkeln laufen«, sagt er.

Auf meiner Homepage kann er sehen, dass noch ein weiter Weg vor mir liegt. Allen, die Zugang zu dem passwortgeschützten Kartenbild haben, zeigt ein Spot an, wo ich mich derzeit befinde. Meine Route wird alle zehn Minuten von tropfenförmigen Markierungen angezeigt – wenn das Satellitensignal richtig funktioniert. Im Moment muss ich noch mindestens zwanzig Kilometer bis Astara, meinem Tagesziel, laufen. Dort werde ich mir Staub, Schweiß und Salz vom Leib duschen und mich in ein frisch bezogenes Hotelbett legen dürfen.

Mehrdad weiß, dass es schon dämmert. Es ist der zweiundzwanzigste September, und die Sonne geht gegen sechs Uhr unter. Bis die letzten schrägen Strahlen der Abendsonne über der gebirgigen Landschaft verschwunden sind, dauert es nur noch eine Viertelstunde. Zurück bleibt völlige Dunkelheit. Die Konturen der Straße sind dann kaum noch zu erkennen, und nicht jeder Autofahrer schaltet in der Dämmerung das Licht ein.

»Aber hier gibt es Straßenlaternen«, erkläre ich und sage in dem Augenblick die Wahrheit.

»Aha, dann bist du auf einer Landstraße?«

»Wenn Straßenlaternen die Definition für eine Landstraße sind, bin ich auf einer«, antworte ich.

Mehrdad klingt ein wenig beruhigt. Dann erzählt er mir, dass er mit einer Familie an der Straße in Kontakt steht, bei der ich diese Nacht schlafen könnte, falls ich es doch nicht bis zu dem Hotel in Astara schaffen sollte.

»Wenn es geht, möchte ich eigentlich die ganze Strecke laufen«, sage ich zögernd.

Mehrdad ist besorgt um mich, und ich möchte seine Fürsorglichkeit nicht abweisen. Es ist mir seit jeher schwergefallen zu sagen, was ich meine und will, was Mehrdad begriffen hat. Mittlerweile ruft er die Familien, bei denen ich schlafe, sogar im Voraus an, um ihnen mitzuteilen, dass ich eine Frau bin, die ungern sagt, was sie wirklich will. So erzählt er ihnen zum Beispiel, dass ich zum Frühstück gern ein Spiegelei esse und manchmal einfach möchte, dass man mich in Ruhe lässt.

Obwohl ich es nicht offen ausspreche, versteht er jetzt, dass er mich nicht überreden kann, irgendwo zu übernachten, bevor ich Astara erreicht habe.

»So, so, na ja, wenn du möchtest, bist du ihnen jedenfalls herzlich willkommen. Du bist eine starke Läuferin«, sagt er.

Wir beenden das Gespräch. Ich lege mein Handy in das Fach zurück und erhöhe das Tempo. Atme die laue Abendluft ein und fühle mich trotz der Strecke, die ich an diesem längsten Tag meines Laufs durch den Iran bereits zurückgelegt habe, gut bei Kräften. Die Straße neigt sich sachte abwärts, und es herrscht wenig Verkehr, einzelne Autos rauschen vorbei, und Baby Blue, mein Joggingwagen, wackelt dann manchmal kurz im Fahrtwind. Im Licht der Straßenlaternen erkenne ich die Konturen von Bäumen. Links von mir befindet sich etwas, das ein Bachbett sein könnte, obwohl ich nicht das Geräusch von fließendem Wasser höre, rechts steigt ein bewaldeter Hang auf.

Den Kinderwagen, mit dem ich laufe, haben meine Laufpartnerin Carina und ich auf diesen Namen getauft. Baby Blue ist ein er, ein kleiner, stabiler Junge, ungefähr fünf Jahre alt und immer zuverlässig. Als Carina und ich 2013 von der Türkei nach Schweden gelaufen sind, haben wir uns viele Geschichten über ihn ausgedacht. Bei meinem Lauf durch den Iran ist Carina allerdings nicht dabei. Baby Blue und ich sind allein.

Im Iran geht und läuft man auf der rechten Straßenseite, in Fahrtrichtung, und außerhalb der Städte gibt es keine Bürgersteige. Es kommt häufig zu Unfällen, und die Zahl der Verkehrsopfer ist im weltweiten Vergleich eine der höchsten, aber im Moment fühle ich mich trotzdem sicher. Es ist ein gutes Gefühl, umschlossen von grauer Finsternis allein auf der Straße zu sein. Die Welt besteht nur aus dem, was ich sehe, und das gefällt mir. Der Duft von Dämmerung und warmem Wald trägt mich durch die Landschaft, die nach und nach immer dunkler wird. In meiner Brust breitet sich ein heiteres Gefühl von Freude, ja, fast Glück aus.

Kurz darauf ist es stockfinster. Es ist ungefähr sechs Uhr abends, und ich habe die letzte Straßenlaterne hinter mir gelassen. Jetzt sehe ich nicht mehr, wohin ich meine Füße auf der unebenen Straße setze, und die Autofahrer sehen mich genauso wenig. Ich bleibe stehen und hole die Reflektorweste heraus. Der an Baby Blue angeschlossene Fahrradcomputer zeigt die Distanz an, die ich an diesem Tag bisher gelaufen bin: 55 Kilometer. Um mich herum gibt es nichts als das Zirpen der Heuschrecken und die Silhouette der Landschaft im Licht der Sterne.

Ich sehe einzelne Lichtpunkte, die vor mir die Gebirgskette hinaufklettern, ansonsten ist es vollkommen schwarz. Meine Augen gewöhnen sich relativ gut an die Dunkelheit, aber ich merke, dass es mir schwerfällt einzuschätzen, ob diese Lichter nun mehrere Kilometer oder nur ein paar Hundert Meter entfernt sind. Wenn mir ein Auto entgegenkommt, sehe ich weg, um nicht geblendet zu werden, weil das mein Sehvermögen im Dunkeln beeinflussen würde.

Nach einer halben Stunde in der Finsternis erahne ich rechts oberhalb der Straße etwas, das ein Haus sein könnte. Als ich näher komme, erkenne ich, dass es ein Restaurant ist. Licht strömt aus den vielen Fenstern, was gemütlich und einladend aussieht. Vor dem Restaurant parken mehrere Autos, und vom Parkplatz führt ein kleiner Kiesweg zur Hauptstraße hinunter, auf der ich laufe. Im Lichtschein des Hauses sehe ich, dass an der Abzweigung drei Männer stehen und sich unterhalten.

Ich ändere meinen Kurs ein wenig, damit ich um sie herumlaufen kann. Ich bin daran gewöhnt, angehalten zu werden, und rede eigentlich gern mit allen, die mehr über mich und mein Abenteuer erfahren wollen, aber an diesem Abend will ich einfach nur weiterlaufen. Es ist dunkel, in meinen Knien und Oberschenkeln spüre ich langsam, aber sicher schmerzhaft die fünfunddreißig Kilometer lang abwärts führende Strecke, außerdem liegt noch ein längerer Weg vor mir, bis ich mein Tagesziel erreicht habe. Im Grunde habe ich keine Zeit anzuhalten.

Als ich mich den Männern nähere, sprechen sie mich an. Wie üblich bleibe ich stehen, und wir versuchen, einander zu verstehen. Sie sprechen kein Englisch, und ich beherrsche nur wenige Vokabeln Persisch. Es entwickelt sich ein hölzerner und plumper Dialog, in dem einzelne Wörter die ganze Kommunikation bestreiten sollen. Es ist nicht möglich, etwas näher zu erläutern oder Aussagen in nuancierende Phrasen einzubetten.

Einer der Männer trägt ein weißes Hemd und versucht, mir Tee anzubieten.

»Chai?«

Ich antworte möglichst höflich, wie ich es gelernt habe. »Na merci.« Nein, danke.

Der Mann lässt nicht locker.

»Chai?!«

Er erhebt die Stimme und sieht mich auffordernd an. Seine Augen sind groß, weit aufgerissen. Ist er high?

Obwohl streng verboten, sind Drogen im Iran ziemlich weit verbreitet und ihr Besitz wird mit langen Gefängnisstrafen, manchmal sogar mit der Todesstrafe geahndet. Seine Freunde wirken allerdings nüchtern, und ich merke, dass sein Verhalten ihnen peinlich ist. Er wiederholt seinen Wunsch, Tee mit mir zu trinken, und ich sage erneut »na merci«.

Daraufhin geht er rasch um Baby Blue herum, packt den Griff und hält ihn fest, als würde er sich weigern, ihn wieder loszulassen. Was soll das, was hat er vor?

»Davande Astara«, sage ich und versuche zu lächeln. Ich will nach Astara laufen.

»Machina Astara! Chai!«

Der Mann, der offensichtlich Drogen genommen hat, möchte also Tee mit mir trinken und mich anschließend nach Astara fahren. Sein Ton ist aggressiv, und er wiederholt immer wieder seine Worte. Ich soll mich zu einem Mann ins Auto setzen, der unter Drogen steht? Nie im Leben. Er baut womöglich einen Unfall oder fährt mich ganz woanders hin. Wie soll ich dann herausfinden, wo ich gelandet bin? Ich kann in diesem Land ja nicht einmal die Straßenschilder lesen!

Er ruft laut, und ich antworte mit einem entschiedenen »na«. Lange genug habe ich ihn freundlich behandelt, jetzt will ich weiterkommen. In mir steigt Wut auf. Ich kann hier nicht länger wichtige Laufzeit vergeuden. Da er offenbar nicht vorhat, freiwillig loszulassen, versuche ich, seine Finger aufzubiegen, aber sein Griff ist fest. Nach einer gefühlten Ewigkeit von »na merci« und Versuchen, ihn zum Loslassen zu bewegen, platzt mir der Kragen. Ich schlage ihn, so fest ich kann. Ich haue ihm direkt aufs Handgelenk. Ich weiß nicht, woher die Bewegung kommt, es geschieht rein instinktiv, aber der Mann zuckt zusammen und lässt endlich los. So schnell ich kann, laufe ich in die schützende Dunkelheit.

Mein Herz pocht. Alle Kraft ist nach vorn gerichtet. Ich will nur fort von diesem Mann, der offensichtlich bereit ist, mich zu etwas zu zwingen, was ich nicht will.

Nach ein paar Metern merke ich, dass er mir hinterherläuft. Ich höre seine Schritte näher kommen und spüre plötzlich, dass er mir auf den Po schlägt. Was zum Teufel …?

Mein Körper erhöht das Tempo, ohne dass ich mich bewusst dazu entschieden hätte, und meine Herzschläge donnern in den Ohren. Lauf, lauf einfach weiter!

Ich drehe mich nicht um, sehe nicht nach, was er macht, will Tempo und Konzentration nicht verlieren. Ich möchte bloß schnell weg.

Er scheint mir nicht zu folgen. Oder? Mein schneller Atem ist das Einzige, was ich höre, und ich kann nicht mehr klar denken. »Großer Gott, ich habe ihn geschlagen! Was wird er jetzt tun?«

Ich laufe weiter, geradewegs in die Nacht hinein, und denke an ein Gespräch zurück, das ich vor meiner Reise mit Pedram, einem meiner Kollegen bei Ericsson, geführt habe. »Wenn du als Frau angegriffen wirst und deinen Angreifer schlägst, wirst trotzdem du zur Rechenschaft gezogen, ist dir das klar? So funktioniert das Gesetz im Iran. Verglichen mit der Aussage eines Mannes sind Zeugenaussagen von Frauen im Iran nur die Hälfte wert. Steht sein Wort gegen deins, bist du dran.«

Pedram war siebenundzwanzig Jahre zuvor aus dem Iran nach Schweden geflohen und machte sich Sorgen wegen allem Möglichen, was mir bei meinem Lauf zustoßen könnte. Als wir über den Iran sprachen, schaute er sich häufig um und senkte die Stimme. Er erzählte mir von den letzten Hinrichtungen und der herrschenden politischen Unterdrückung im Land. Wie viel war ich bereit zu riskieren, fragte er. Eine Vergewaltigung? Mein Leben?

Er erkundigte sich auch, wie ich von der Reise erzählen wolle. »Wie verschlüsselst du die Texte, die du auf deinem Computer schreibst, wenn du dort bist, aber nichts veröffentlichen willst? Was tust du, wenn sie deine Sachen durchsuchen und sehen, dass du zum Beispiel etwas darüber geschrieben hast, wie die Frauen im Iran behandelt werden, oder wenn du regimekritische Gedanken formuliert hast?«, fragte er mich. Selbst wenn ich nichts schriebe, was gegen das Gesetz verstoße, werde das Regime meinen Text oder irgendetwas anderes gegen mich benutzen und als illegal bezeichnen können, um mich dafür zur Rechenschaft zu ziehen, meinte er.

 

Mein Sehvermögen im Dunkeln erholt sich allmählich wieder, und ich erkenne die Konturen der Bäume, die Straße und die niedrige Metallleitplanke auf der linken Seite. Seit ich von dem Berg heruntergekommen bin, ist die Landschaft relativ flach, und Baby Blue zieht mich nicht mehr so vor- und abwärts wie in den letzten Stunden.

Das Laufen bereitet mir keine Probleme, und ich spüre, dass sich die Ruhe in den Schritten auf meinen Körper überträgt. Wie lange werde ich noch brauchen? Etwa anderthalb Stunden, vielleicht noch etwas länger.

Nach einer Weile höre ich hinter mir das Geräusch eines Motorrads. Es kommt schnell näher und wird mich jeden Moment einholen. Als es neben mir ist, dreht der Fahrer sich plötzlich zu mir um und schreit, so laut er kann. Er brüllt aggressiv und ohrenbetäubend, und vor Schreck mache ich einen Satz und habe das Gefühl, zwei Meter hoch zu springen. Ich sehe noch das weiße Hemd und die aufgerissenen Augen, dann verschwindet er in der Dunkelheit vor mir.

Ich bleibe stehen. Mein Herz rast. Adrenalin wird durch die Adern gepumpt, und in den Schläfen pocht die Angst. Was hat er jetzt vor? Holt er seine ganze Familie, die aus vier Brüdern und ebenso vielen Schwägern besteht? Ruft er all seine Freunde zusammen, um mir aufzulauern? Und was soll ich tun? Es gibt doch nur diese Straße. Ich kann nicht umkehren, da ist nichts. Die Strecke vor mir ist meine einzige Chance weiterzukommen: zwanzig Kilometer mit einem erschöpften Körper und dem unleugbaren Risiko, dass ein Mann unter Drogeneinfluss und seine Kumpel aus der Dunkelheit auftauchen, um … ja, um was zu tun? Mich zu misshandeln? Mich zu vergewaltigen? Und mich anschließend am Straßenrand zurückzulassen, damit ich überfahren werde?

Als ich meinen Lauf durch den Iran plante, gaben mir viele den Rat, zur Abwehr von Menschen, die mir übel mitspielen wollen, Pfefferspray mitzunehmen. Ich selbst überlegte, ob ich für den Fall, dass ich mich schutzlos und ängstlich fühlen würde, vorsorglich eine Elektroschockpistole einpacken sollte. Wenn ich mit dem Gedanken an eine Waffe spielte, kam ich jedoch jedes Mal zu dem Schluss, dass dies dem eigentlichen Sinn meiner Reise widersprechen würde. Ich wollte durch den Iran laufen, um für Vertrauen, Neugier und Offenheit zu werben. Da konnte ich doch keine Waffe tragen. Wenn ich glaubte, dass sich meine Reise unbewaffnet nicht durchführen ließe, sollte ich sie lieber erst gar nicht antreten. Wenn ich mich von Furcht leiten ließ, konnte ich keinen Beitrag zum Frieden leisten. Außerdem glaubte ich ehrlich gesagt nicht, dass ich tatsächlich eine Waffe benötigen würde. Deshalb stehe ich nun mit leeren Händen da, habe allerdings etwas anderes dabei.

Als ich Baby Blue in Schweden versuchsweise packte, legte ich sorgsam eins nach dem anderen in die verschiedenen Packbeutel und Fächer. Als das einbeinige Fotostativ an der Reihe war, merkte ich, dass es hart war und wie ein Schlagstock aussah. Außerdem war es nicht sonderlich schwer. Ich würde es also problemlos heben und kräftig zuschlagen können. Nachdem ich das entdeckt hatte, fühlte ich mich sicherer, schämte mich aber auch ein wenig für meine gewalttätigen Gedanken und dafür, in gewisser Weise doch eine Waffe dabeizuhaben.

In der tiefen Dunkelheit stehend, möglicherweise mit einem zugedröhnten Irren zwischen mir und der Sicherheit in Astara, wird mir klar, dass ich das Stativ unter Umständen brauchen werde.

Meine Hände zittern, als ich den untersten Packbeutel öffne, in dem sich mein Zelt, aber auch das Stativ befindet. Ich will es herausziehen, aber es bleibt stecken, und ich ziehe und zerre daran. Schnell, ich will nicht mit leeren Händen dastehen! Ein solches Herumtasten will ich vermeiden, wenn der Mann in dem weißen Hemd zurückkommt. Das Stativ soll griffbereit sein, und ich wiege es kurz in der Hand, ehe ich es oben auf Baby Blue lege, direkt unter den elastischen Riemen, der von einer Seite zur anderen gespannt ist, um das Gepäck im Wagen zu halten. Dann laufe ich weiter. Ich habe Pudding in den Beinen, zittere am ganzen Leib. Ich kann es mir nicht leisten, Angst zu haben. Hier gibt es nur mich, und ich muss mich zur Wehr setzen können.

Eine halbe Stunde vergeht, in der nichts passiert, außer dass meine Beine immer schwerer werden und mein Körper noch etwas mehr schmerzt. Die Landschaft verändert sich, die Bäume sind verschwunden, und es wird flach. Ich starre nach vorn, um Schlaglöcher im Asphalt auszumachen, und trippele vorsichtig, um Unebenheiten spüren und ausgleichen zu können. Ich fühle, dass der Untergrund glatt ist, sehe aber nicht, welche Beschaffenheit er hat. Ich glaube, er besteht aus Sand und Stein, bin mir aber nicht sicher.

Eine weitere halbe Stunde später sehe ich weit voraus einen einsamen weißen Punkt, danach noch einen und noch einen. Straßenlaternen! Endlich! Ich erkenne, dass ich mich Astara oder etwas anderem nähere, was einer Stadt gleicht, und es kommt mir vor, als würde mein Körper von neuer Energie erfüllt, ich spüre, dass ich es tatsächlich schaffen werde.

Seit einer geraumen Weile schon verläuft links von mir ein hoher Zaun mit viel Stacheldraht auf der Krone, ohne dass ich begriffen hätte, was das ist – bis jetzt. Schlagartig wird mir klar, dass es die Grenze zu Aserbaidschan ist. Ich erinnere mich an die Karte, nach der ich dem Grenzverlauf folgen sollte.

Hoch über mir sehe ich einen Wachturm, höre den Wachposten im nächsten Moment »Welcome to Iraaaaan!« über die ganze Ebene rufen und muss auf einmal lachen. Er ist freundlich. Er ist mein Freund, wir gehören zusammen. Ein unsichtbares Band verbindet uns. Als würde sich die ganze Anspannung der letzten Stunde lösen, sprudelt das Lachen förmlich aus mir heraus, ich kann gar nicht mehr aufhören.

Kurz darauf laufe ich weiter, nun aber im Licht der Straßenlaternen. Vor meinem inneren Auge sehe ich das Hotel und sehne mich nach Stille, Sicherheit, einer Dusche und danach, allein zu sein. Nachdem ich fast drei Wochen lang bei gastfreundlichen Familien übernachtet habe und mir nicht eine Minute Ruhe vergönnt war, brauche ich etwas Zeit für mich.

Die Laternen stehen immer dichter, und die Straße wird vierspurig. Ich weiß, dass Astara nahe ist, aber nicht, wie ich von der Hauptstraße aus in die Stadt komme. Die persischen Straßenschilder helfen mir nicht weiter. Ich halte Ausschau nach einer deutlich markierten Abfahrt, an der ich endlich abbiegen kann. Mein Körper kann auf jeden weiteren Kilometer verzichten.

Dann wird der Eindruck, sich in der Nähe einer Großstadt zu befinden, auf einmal wieder schwächer. Das Licht ist gedämpft, die Straßenlaternen stehen in größeren Abständen. Schlagartig erkenne ich, dass ich falsch bin. Ich habe die Abfahrt verpasst und lasse Astara hinter mir. Ich ziehe mein Handy heraus und sehe, dass ich zwei SMS von Carina bekommen habe. In der ersten schreibt sie: »Wenn du nach Astara kommst, musst du bei der zweiten Kreuzung links abbiegen.«

Durch die Signale des Spots weiß sie exakt, wo ich bin. In ihrer zweiten SMS schreibt sie: »Du hast die Abfahrt nach Astara verpasst!« Weil der Benachrichtigungston nur ein kurzes Klicken ist, habe ich ihre SMS nicht gehört.

Ich seufze. Hätte ich ihre Mitteilung rechtzeitig gesehen, wären mir einige Kilometer erspart geblieben. Da hier, in Stadtnähe, das Internet funktioniert, klicke ich Google Maps an, wende Baby Blue und laufe mit dem Telefon in der Hand zurück.

Ein paar Hundert Meter weiter finde ich die richtige Abfahrt. Die Straßen und Häuser umarmen mich mit ihrem Licht und ihren Menschen. Ihrer Wärme. Hier gibt es keine finsteren Gehölze, und der Mann in dem weißen Hemd ist keine Bedrohung mehr.

In einem Kreisverkehr auf dem Weg ins Stadtzentrum bin ich verwirrt und weiß nicht, welche Richtung ich einschlagen soll. Mehrdad hat mir eine Adresse geschickt, aber Persisch ist schwer zu deuten, wenn man keinen Buchstaben versteht. Plötzlich taucht ein Streifenwagen mit vier grün gekleideten Militärpolizisten auf.

Oh nein, nicht die Polizei, nicht jetzt.

Sie halten neben mir und lassen die Scheibe herunter.

»Passport, please!«

Sie treten lässig autoritär auf, und ich habe ein ungutes Gefühl, was allerdings auch an dem liegen mag, was ich kurz zuvor erlebt habe. Da ich die Sprache nicht beherrsche, schärfe ich meine Intuition und merke schnell, ob mir ein Mensch freundlich gesinnt ist oder nicht, und jetzt sagt mir mein Gefühl, dass diese Polizisten es darauf anlegen, ihre Macht zu demonstrieren. Bisher haben das nur sehr wenige Polizisten getan, die meisten sind ausgesprochen hilfsbereit.

Ich seufze und ziehe meinen Pass heraus. Sie schauen hinein, nicken hochmütig, geben ihn mir zurück, bedanken sich und fahren weiter. In meinem Körper breitet sich Erleichterung aus. Und Müdigkeit. Ich bleibe im Kreisverkehr stehen und weiß immer noch nicht, welche Straße ich nehmen soll. Ein Taxi hält. Der Fahrer lächelt, und ich lächele auch und zeige ihm die Adresse in meinem Telefon. Er lächelt erneut und gibt mir zu verstehen, dass ich ihm folgen solle. Es ist eine kurze Strecke von wenigen Hundert Metern, und er fährt vor, um mir den Weg zu zeigen. Als wir angekommen sind, will er kein Geld annehmen, lächelt stattdessen zum dritten Mal, hält sein Handy hoch und fragt: »Ax?« Ich nicke. Er macht ein Selfie von uns beiden und winkt mir zum Abschied zu. »Ax« ist eines der ersten Wörter, die ich im Iran gelernt habe, es bedeutet »Bild«. Ich lächele dankbar und denke daran, wie viele nette und hilfsbereite Menschen es doch gibt!

Dann bugsiere ich Baby Blue die Treppenstufen zum Hotel hinauf. Vor mir liegt ein roter Teppich, links befindet sich die Rezeption. Mehrdad hat mein Kommen angekündigt und der Portier den Meldeschein bereits ausgefüllt. Ich ziehe meinen Pass heraus und ergänze die fehlenden Angaben.

Ich bin müde und erledigt, triumphiere aber trotzdem. Ich habe es geschafft! Der Fahrradcomputer ist bei 85 Kilometern stehen geblieben. Stolz mache ich ein Bild davon und poste es auf Facebook. Ich weiß, dass sich viele, die mir im Internet folgen, wegen dieser Etappe Sorgen gemacht haben. Vierzehn Stunden habe ich gebraucht, um mein Ziel zu erreichen. Jetzt wissen sie, dass ich in Sicherheit bin.

Der Mann am Empfang fragt, was ich essen möchte, und ich entscheide mich für »Zereshk Polo«, Reis mit getrockneten süßsauren Beeren und Hähnchenfleisch. Ich schleppe mich ins Restaurant und setze mich an einen der Tische. Ich bin der einzige Gast. Mein Körper ist schlapp, aber nicht steif. Als das Gericht serviert wird, genieße ich seinen Duft. Ich esse alles auf, jedes einzelne Reiskorn. Nach der Mahlzeit hilft der Mann in der Küche mir, Baby Blue die verwinkelte Treppe zu meinem Zimmer hochzutragen. Ich stelle mich angezogen unter die Dusche, seife die Kleider ein, ziehe sie anschließend aus und lasse sie im Wasser auf dem Boden liegen, während ich den Körper einseife. Hinterher wringe ich sämtliche Kleidung gründlich aus. Es ist wichtig, dass sie bis zum morgigen Lauf trocken sind. Ich hänge sie über einen Stuhl und breite sie auf dem Schreibtisch aus.

Schließlich lege ich mich aufs Bett und tue nichts. Lausche lediglich den Geräuschen von der Straße, lasse zu, dass mein ausgepumpter Körper zur Ruhe kommt. Greife schließlich nach meinem Telefon und lasse Tina Turners »The Best« laufen. Es ist der Song, den ich gehört habe, als ich den Weltrekord auf dem Laufband aufstellte, und immer, wenn es gerade hart ist, singe ich ihn. Ich mag den Text: »You’re simply the best, better than all the rest, better than anyone, anyone I ever met.«

Er tröstet mich und hilft mir, an mich zu glauben. Ich beschließe, vor dem Einschlafen noch zu bloggen, obwohl ich eigentlich zu müde dafür bin. Ich weiß, dass die Einträge in meinem Blog für meine Schwester und meine Eltern wichtig sind. Und für meinen Lebensgefährten Fredrik. Sie zeigen ihnen, dass ich angekommen bin und es mir gut geht. Außerdem weiß ich, dass der Blog für manche Menschen zu einer Art Gutenachtgeschichte geworden ist.

Also blogge ich, wenn auch nur kurz, erzähle aber nichts von dem, was passiert ist, nichts von dem Mann in dem weißen Hemd, der mich in der Dunkelheit gejagt hat.

Ich habe heute einen Mann geschlagen. Ich weiß nicht, ob das verboten ist, oder welche Strafe darauf steht. Dagegen weiß ich, dass ich mich in einem Land aufhalte, das ich nicht kenne, in einem Land, das in dem Ruf steht, willkürlich zu agieren, wenn es um Rechtssicherheit geht. Schon bei den Vorbereitungen zu meinem Lauf habe ich zu spüren bekommen, was es bedeutet, eine Figur in einem politischen Spiel zu sein. Ich weiß nicht, wer meinen Blog liest, und will keinem einen Grund geben, mich in Schwierigkeiten zu bringen, für welche läppische Handlung auch immer.

Mein rationales Ich sagt mir, dass der Mann mich wegen des Schlags auf das Handgelenk niemals anzeigen wird. Er stand unter Drogen und Drogenmissbrauch, das könnte für ihn mit der Todesstrafe enden. Meine Angst ist jedoch nicht rational. Und so bleibt trotz allem ein vages Unbehagen. Was wird aus mir, wenn er mich wegen Körperverletzung anzeigt? Dann bin ich erledigt, dann wird man mich zur Rechenschaft ziehen, weil ich eine Frau bin. Einen Satz, wie ich ihn gerade zu Papier gebracht habe, könnte das Regime außerdem als Kritik auffassen und mich verhaften lassen. Deshalb schreibe ich lieber nichts darüber.

Ich erzähle auch Mehrdad nichts davon, sonst würde er mir nie mehr erlauben, im Dunkeln zu laufen, und ich möchte mich nicht einschränken lassen. Es ist ein ganz eigenes Gefühl, so umsorgt zu werden, obwohl ich ganz allein bin. Mehrdad ist mein Leibwächter, trotzdem verschweige ich ihm gewisse Dinge, denn letztlich ist es meine Entscheidung, meine Angst und mein Mut.

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Erster Teil

Ein Leben in Freiheit

Bis zum Alter von einunddreißig Jahren wäre ich freiwillig nicht einen einzigen Meter gelaufen.

Laufen existierte in meiner Welt nicht. Es war langweilig und anstrengend, außerdem hatte man mich in der Schule dazu gezwungen.

Geweckt wurde mein Interesse erst, als eine Schulfreundin mich eines Tages anrief und fragte, ob ich Lust hätte, mit ihr am Stockholmer Frauenlauf über zehn Kilometer teilzunehmen. Die Herausforderung reizte mich irgendwie.

Ich kann es ja mal probieren, dachte ich und suchte einen Trainingsanzug heraus.

Meine Schulfreundin lief mir schnell davon. Nach acht Kilometern war ich todmüde, und meine Beine brannten, aber als ich umgeben von Plastikkonfetti auf die Zielgerade bog, jubelte alles in mir. Überall sah ich lächelnde Frauen mit geröteten Wangen. Die Kraft in diesen Frauen und ihrem Lauf war riesengroß. Spaß hatte es mir auch gemacht!

In der folgenden Woche fuhr ich in das Naherholungsgebiet Lida in Tullinge nahe Stockholm und lief fünfzehn Kilometer. Es war eine Tortur, meine Waden schmerzten, aber der unerwartete Genuss überwog. Ich sog den Duft der Kiefernnadeln auf dem Erdboden ein und sah Vögel, die sich vor dem Herbst auf ihren Zug vorbereiteten. Als ich heimkam, war ich sehr zufrieden mit mir. Meine Beine, fünfzehn Kilometer! Wow!

In den nächsten Tagen fühlte ich am ganzen Körper, dass ich ihn herausgefordert hatte, und genoss es, die Glieder zu dehnen und zu drehen, um meinen Muskelkater zu spüren. Damals wusste ich es noch nicht, aber das Laufen sollte meine Medizin und die Basis für mein zukünftiges Leben werden. Eine neue, mit vielen Dienstreisen verbundene Arbeit, die mir gar nicht gefiel, frustrierte mich. Parallel zu meiner unbefriedigenden beruflichen Situation versuchte ich viele Monate erfolglos, schwanger zu werden. Das Gehirn streikte, und der Körper brach zusammen. Ein paar Monate nachdem ein Arzt mich wegen eines Burn-outs krankgeschrieben hatte, teilte mir die Liebe meines Lebens mit, er wolle nicht mehr mit mir zusammenleben. Das war ein schwerer Schlag für mich. Was war mir eigentlich gelungen, wenn ich nicht arbeiten und kein Kind bekommen konnte und von meinem Mann verlassen wurde?

Das Laufen half mir bei der Bewältigung dieser Lebenskrise. Als ich allmählich aus meiner Erschöpfungsdepression herausfand, erlebte ich bei meinen Laufrunden zum ersten Mal seit langer Zeit Momente des Glücks. Ich meldete mich beim Stockholmer Halbmarathon an und liebte die Erfahrung. Als ich ein halbes Jahr später geschieden war, lief ich meinen ersten Marathon und geriet in einen Glücksrausch, den ich mir niemals hätte vorstellen können. Das Laufen füllte zudem die Leere aus, die die vergeblich gewünschten Kinder hinterlassen hatten.

Durch das Laufen lernte ich mich selbst kennen. Ich genoss es, mich zu bewegen, und merkte, dass der Spaß für mich erst richtig anfing, wenn es den anderen langweilig wurde. Ich erkannte, dass meine Beine mich an Orte tragen konnten, an denen ich nie zuvor gewesen war, und sei es auch nur in die Stockholmer Parks und Naherholungsgebiete, und dass das Abenteuer, das Ziel der Reise nicht zu kennen, meinen Körper kribbeln ließ. Durch das Laufen verbrachte ich viele Stunden allein und hatte viel Zeit, über mein Leben nachzudenken – oder die Gedanken ruhen zu lassen, wenn mir das lieber war.

Nach meinem ersten Marathon wollte ich unbedingt eine noch größere Strecke laufen und begann zu recherchieren. Strecken, die länger sind als ein Marathon, werden Ultraläufe genannt, wobei man Zeit- und Distanzläufe unterscheidet. Wenn es über eine bestimmte Zeit geht, laufen die Teilnehmer auf einer Bahn immer im Kreis und beim Schlusssignal hat der Läufer gewonnen, der in der Zeit, für die man gemeldet ist, die weiteste Strecke zurückgelegt hat. Das kann eine Stunde, das können aber auch sechs, zwölf, vierundzwanzig, achtundvierzig oder sogar zweiundsiebzig Stunden sein. Die klassische Strecke ist der Sechstagelauf. Das Gegenmodell bilden Läufe über eine bestimmte Distanz, meist fünfzig oder hundert Meilen, was gut achtzig beziehungsweise hundertsechzig Kilometern entspricht.

Ich wollte es ausprobieren, aber für welches Konzept sollte ich mich entscheiden? Eine bestimmte Zeit lang zu laufen, erschien mir naheliegend – die Läufer bleiben auf einer Bahn und können problemlos aussteigen, wenn es ihnen zu anstrengend wird oder sie sich verletzen –, aber ich traute mich noch nicht recht und beschloss deshalb, stattdessen meine Freundin Emelie zu unterstützen, die vierundzwanzig Stunden laufen wollte, um zu schauen, wie weit sie kommen würde. Es war ein Erlebnis, das mir die Tür zu einer völlig neuen Welt öffnete.

In der Ultrakultur waren offensichtlich alle willkommen – Frauen, Männer, Übergewichtige, Alte – und jeder Läufer erlebte die Veranstaltung auf seine eigene, ganz persönliche Art. Während der vierundzwanzig Stunden liefen die Spitzenathleten konstant, sie reduzierten sogar die Zahl ihrer Toilettenbesuche. Andere machten lange Pausen, setzten sich, um eine Banane zu essen, oder legten sich auf eine Matte und schliefen zwei Stunden. Bei einem dieser Läufe sah ich sogar den siebenjährigen Arvid! Er lief eine Runde, blieb stehen und umarmte seine Mutter, lief noch eine, blieb stehen und legte eine Pfannkuchenpause ein, lief noch zwei. Ruhte sich aus.

Bei vielen klassischen Distanzen, zum Beispiel einem Marathonlauf, ist es nicht weiter ungewöhnlich, dass die Zuschauer und gelegentlich sogar die Veranstalter zusammenpacken und nach Hause gehen, noch ehe die letzten Teilnehmer das Ziel erreicht haben. Bei Ultraläufen ist das anders. Der Gewinner wird selbstverständlich gefeiert, aber auch der letzte Ankömmling im Ziel. Ihre oder seine Leistung ist schließlich mindestens genauso groß und manchmal sogar noch größer, wenn die Person länger gelaufen ist. Manchmal wird der letzte Teilnehmer im Ziel sogar mit einem Feuerwerk geehrt.

Das war mein Ding. Sieben Monate später nahm ich an meinem ersten 24-Stunden-Lauf teil. Als der Startschuss knallte, dachte ich verwirrt: Ah ja, jetzt soll ich also auf einer Vierhundertmeterbahn einfach einen Tag lang immer im Kreis laufen? Gleichzeitig erschien mir das wie ein Luxus. Vierundzwanzig Stunden für mich allein! Ich durfte tun, was ich wollte – Musik hören, mit anderen reden, einfach meinen Gedanken nachhängen.

Über das Laufen fand ich auch viele neue Freunde, lernte aber vor allem Carina Borén kennen. Bei einem Lauf in Täby 2010 liefen wir siebzig Kilometer zusammen und waren seither unzertrennlich. Ich hatte meinen »partner in adventure« gefunden. Wir liefen gemeinsam, lachten, schwitzten und veranstalteten schließlich ein Wochenende für Schwedens Ultraläufer, zu dem wir einen Professor aus Südafrika einluden, gemeinsam aßen, einander kennenlernten, plauderten und natürlich liefen. Carina war es auch, die mir beistand, als ich auf die vierzig zuging und versuchte, ohne festen Partner ein Kind zu bekommen. Ich hatte einige Jahre auf den Vater meiner zukünftigen Kinder gewartet und irgendwann begriffen, dass er mich nicht rechtzeitig finden würde, sodass ich in einer Kopenhagener Klinik drei Mal eine In-vitro-Fertilisation durchführen ließ. Nach diesen Versuchen saßen Carina und ich bei ihr daheim und aßen Gebäck. Sie hatte für Kindergeburtstage gedachte Servietten gekauft, um der Feier die passende Atmosphäre zu geben und meinen Eizellen auf die Sprünge zu helfen. Carina hatte auch keine Kinder, und falls ich schwanger werden sollte, würde sie sich die zehn gesetzlich vorgesehenen Vatertage freinehmen und als Zweitmutter fungieren, so hatten wir es beschlossen. Zeitgleich planten wir unseren ersten Lauf über eine wirklich lange Distanz. Falls aus dem Kind nichts werden sollte, wollte ich mich auf etwas anderes freuen können, und Carina wünschte sich, ein Abenteuer zu erleben. Unsere Wahl fiel auf einen Lauf von der Türkei nach Hause. Auf dieser Route würden wir besonders viele Länder durchqueren, die wir nicht kannten, die Türkei, Bulgarien, Rumänien, die Ukraine, Polen, Litauen, Lettland und Estland. Es war ein Abenteuer, das uns Freude schenken würde, wenn aus dem Kind nichts wurde.

Der Schwangerschaftstest fiel nie positiv aus. Mutter zu werden durfte ich leider nicht erleben. Als man mir das erste Mal zwei befruchtete Eizellen einsetzte, hatte ich das Gefühl, goldene Eier in meinem Bauch zu tragen. Ich wiegte sie, träumte von ihnen, umhegte sie. Doch der Test war negativ, und kurz darauf bekam ich meine Tage. Danach wagte ich nicht mehr zu hoffen. Der Absturz war so bitter.

Die Kinderlosigkeit erfüllte mich mit großer Trauer, bescherte mir aber auch völlige Freiheit. Nun konnte ich bedingungslos meiner inneren Stimme folgen. Carina und ich setzten unsere Pläne in die Tat um und liefen 2013 drei Monate von der Türkei nach Stockholm. Die letzte Etappe von Finnland aus paddelten wir. Es war der Startschuss zu einer ganzen Reihe toller gemeinsamer Abenteuer.

Beruflich versuchte ich, weiter guten Mutes zu bleiben, so gut es eben ging. Ich arbeitete als Ingenieurin bei Ericsson, saß in der Firmenzentrale in Kista nahe Stockholm und war damit beschäftigt, Drittprodukte in Ericssons Softwarelösungen zu integrieren, aber in Wahrheit beanspruchte das Laufen einen immer größeren Teil meiner Lebenszeit, und ich liebte es.

Nach der Türkeireise dachte ich umgehend über das nächste Abenteuer nach, was würde es sein? Ich wollte mehr in der Region rund um die Türkei laufen, die Gegend war schön, und die Menschen waren sehr freundlich. Beim nächsten Mal sollte meine Reise aber auch eine tiefere Bedeutung haben.

In den vergangenen Jahren war mir aufgefallen, dass zwischen den Menschen überall auf der Welt immer stärker Angst grassierte. Die Kluft zwischen dem Westen und dem Islam schien täglich größer zu werden. Die Basis für unser Weltbild bilden häufig Vorstellungen, deren Ausgangspunkt die Furcht vor einer anderen Religion oder vor einem anderen Volk ist. Ich selbst bilde da keine Ausnahme.

Deshalb beschloss ich, durch den Iran zu laufen, ein Land, in dem das Regelwerk der Scharia galt, zu dem ich keinerlei Verbindung hatte und das ich etwas diffus mit »gefährlichen Ländern im Mittleren Osten« in einen Topf warf. Ich hoffte, mir und der Welt beweisen zu können, dass so viel Angst unbegründet ist. Dies würde mir am besten gelingen, wenn ich mich etwas stellte, wovor ich Angst hatte, und ein Lauf durch den Iran gehörte zum Furchteinflößendsten, was ich mir überhaupt vorstellen konnte. Ein perfektes Projekt, das wahrscheinlich einige Aufmerksamkeit erregen würde, genau, wie ich es wollte.

Wovor hatte ich Angst? Vor Männern mit drohenden Fäusten, die mich mit Steinen bewerfen oder jagen würden, um mein gottloses Verhalten zu stoppen, als Frau frei durch ihr Land zu laufen? Oder davor, dass ich Gefahr lief, zum Opfer einer Gruppenvergewaltigung oder eines Lynchmobs zu werden, der meinen verbrannten, zerstückelten Körper anschließend in einen Fluss warf? Meine Fantasie kannte keine Grenzen und war makaber.

Durch unseren Lauf von der Türkei nach Schweden hatte ich jedoch gelernt, dass viele unserer Ängste Vorurteilen geschuldet sind und sehr wenige dieser Vorurteile, wenn überhaupt eines, mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Ich dachte, wenn meine Ängste einem unbekannten Land gegenüber so aussehen, geht es vielen anderen wahrscheinlich genauso. Und wenn ich mit einer Reise zu Fuß durch den Iran Vorurteile widerlegen und auf diese Weise Angst und Fremdenfeindlichkeit verringern könnte? Dann würde bei meinem Lauf nicht nur ich im Mittelpunkt stehen, die zwei Monate lang einen Fuß vor den anderen setzt, sondern etwas, das andere Menschen vielleicht grundsätzlich beeinflussen kann.

Ich bin in einer gläubigen Familie aufgewachsen. In unserem kleinen Ort in Nordschweden war die Sonntagsschule ein wichtiger und ganz selbstverständlicher Treffpunkt für sämtliche Kinder, und meine Eltern gingen sowohl ins Gebetshaus als auch in die Kirche. Mein christlicher Kinderglaube hat sich im Laufe der Jahre in eine Richtung verändert, die ich als wahr empfinde. Mein Glaube besteht darin zu tun, wonach sich mein Herz sehnt. Gott hat mir eine Sehnsucht eingepflanzt, und ihr zu folgen heißt, Gottes Weg zu folgen. Dadurch, dass ein Teil Gottes in mir ist, bin ich Gott, und Gott ist ich. Das gilt für alle Menschen. Wenn ich meinem Herzen folge und damit den Weg einschlage, den Gott für mich vorgesehen hat, fühle ich mich gut und verbreite Gutes.

Mein unerfüllter Kinderwunsch machte mich zwar sehr traurig, aber ich sah darin auch ein Zeichen. Wenn Gott wollte, dass ich mich nicht meinen Kindern, sondern dem Laufen widmete, dann sollte es eben so sein.

Und mit den Leitsternen Vertrauen, Neugier und Offenheit beschloss ich, durch den Iran zu laufen, und wollte es allein tun.

Will ich sterben, ohne es versucht zu haben?

Ende 2014 stellte ich einen Weltrekord im 48-Stunden-Lauf auf dem Laufband auf. Im Februar 2013 hatte ich den 12-Stunden-Rekord aufgestellt, und zwischen März und Juli war ich mit Carina von der Türkei nach Hause gelaufen.

Als ich zwölf Stunden lief, bestand die größte Herausforderung darin, dass das Publikum bei mir bleiben durfte, ganz gleich, ob ich nun Erfolg haben oder scheitern würde. Ich empfand die Zuschauer als ungeheuer inspirierend und merkte, dass ich umgekehrt sie inspirierte. Ich durfte im Mittelpunkt all des Positiven stehen, das so entstand. Jetzt wollte ich das wieder erleben und achtundvierzig Stunden war ich nie zuvor gelaufen.

Den 48-Stunden-Rekord stellte ich genau wie den 12-Stunden-Rekord im Fitnessstudio Actics in Kista auf, und das Ganze entwickelte sich zu einem regelrechten Volksfest. Mir gänzlich unbekannte Menschen kamen zu mir und feuerten mich an, gaben Blumen und Geschenke für mich ab. Im Publikum stand auch ein Mann namens Amir Nazari. In den folgenden Monaten wurden Amir und ich enge Freunde, und heute frage ich mich, ob aus dem Lauf durch den Iran ohne ihn überhaupt etwas geworden wäre.

Bei einer unserer ersten Begegnungen gingen wir Kaffee trinken. Amir wollte einen Rekord im Spinning aufstellen und erfahren, wie das Regelwerk funktionierte.

Er war ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit wachen Augen und grau melierten Haaren. Wenn er sprach, hörte man in seinem ansonsten fehlerfreien Schwedisch einen leichten Akzent. Außerdem ging er auf Krücken. Dieser Mann, der Gehhilfen benötigte, wollte einen Weltrekord im Spinning aufstellen? Ich wunderte mich, traute mich aber nicht, ihn danach zu fragen.

Er erzählte, eines seiner größten Hobbys sei Radfahren, er nehme an Rennen in ganz Schweden teil. Momentan überlege er, ob er etwas tun könne, was meinem Weltrekord gleichkommen würde, allerdings im Bereich Indoorcycling. Anschließend erzählte er, er stamme aus dem Iran, wo vor mehr als fünfundzwanzig Jahren seine Liebe zum Radfahren geweckt worden sei.

Iran! Oh, wow! Ich erzählte ihm auf der Stelle von meinem Plan, durch sein früheres Heimatland zu laufen. Ich sagte, ich hoffte, der Welt mit einem Lauf durch den Iran zeigen zu können, dass ein Großteil der herrschenden Angst unnötig sei. Amir hielt mitten in einer Bewegung inne und sah mich mit seinen braunen Augen an:

»Wenn du durch mein altes Heimatland läufst, verspreche ich dir, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um dir zu helfen«, erklärte er und schien jedes Wort zu meinen. Dann erzählte er mir, wie er in den Achtzigerjahren nach Schweden gekommen war. Dass seine Beine im Iran-Irak-Krieg von Granatsplittern zertrümmert worden waren, als er Verwundete zum Feldlazarett trug, womit er in gewisser Weise jedoch Glück gehabt hatte. Da er keinen Militärdienst mehr leisten konnte, erhielt er einen speziellen Ausweis, der es ihm erlaubte, aus dem Iran auszureisen, wenn er dies wollte.

Als er zweiundzwanzig war, fiel ihm eine Reise nach Rumänien ins Auge. In Rom und Stockholm sollte er umsteigen. Amir schlug zu. Er hatte nicht die Absicht, jemals in Rumänien anzukommen, stieg stattdessen in Stockholm aus dem Flugzeug und stellte einen Antrag auf politisches Asyl. Seine Mutter war damals seit vier Jahren tot, von seinem Vater, seinen Geschwistern und Freunden hatte er sich verabschiedet. Er ging davon aus, dass er nie mehr zurückkehren würde.

Amir durfte schließlich in Schweden bleiben, wurde Ingenieur, Vater und Radfahrer. Die Kriegsverletzung behinderte ihn beim Gehen, bereitete ihm beim Radfahren jedoch keine Probleme.

Amir und ich wurden Freunde. Ich lernte seine Frau und Kinder kennen, und er lud mich zu seinem fünfzigsten Geburtstag ein.

Einige Tage nach diesem Fest setzen wir uns mit einer Landkarte zusammen und planen meine Reise. Welche Route eignet sich am besten, wenn ich den Iran durchqueren möchte?

»Ich laufe gern in schöner Natur«, sage ich über die Karte gebeugt.

»Dann schlage ich vor, dass du hier läufst. Das ist die grüne Lunge des Irans. Dort ist es nicht so heiß, dafür aber feucht«, meint Amir und zeigt auf das grüne Gebiet südlich des Kaspischen Meers.

Es kribbelt im Bauch. Die grüne Lunge des Irans, das will ich sehen! Aber ich möchte auch eine Strecke laufen, die lang genug ist, um mit Recht sagen zu können, dass ich das Land durchquert habe. Der Iran ist mehr als dreimal so groß wie Schweden. Nur die etwa sechshundert Kilometer von der türkischen Grenze bis an die Grenze zu Aserbaidschan zu laufen, wäre mir wie ein Betrug vorgekommen.

Amir wirkt nachdenklich.

»Es wäre bestimmt gut, wenn du Kurdistan meiden würdest, das an der Grenze zum Irak liegt. Dort kommt es häufiger zu Unruhen. Der Südosten des Irans, Belutschistan, ist ebenfalls unruhig, und die Grenzregion zu Afghanistan solltest du lieber nicht besuchen. Dort spielt der Drogenhandel eine große Rolle, und es gibt viele Flüchtlinge.«

»Könnte ich vom Kaspischen Meer zum Persischen Golf laufen?«, erkundige ich mich.

»Große Teil des Irans bestehen aus Wüste, ich denke, auf der Route würde es für dich sehr hart werden«, antwortet Amir. »Außerdem sind die Entfernungen zwischen den Städten groß.«

»Ich kann nur Verpflegung für einen Tag mitnehmen«, sage ich. »Ich muss also Dörfer oder Städte in einem Abstand von ungefähr fünfzig Kilometern finden.«

Amirs Blick richtet sich erneut auf die Karte.

»Dann würde ich vorschlagen, dass du diese Route nimmst«, sagt er und zeigt sie mir mit dem Finger. Los geht es im nordwestlichen Iran, wo das Land an die Türkei grenzt, und von dort über Berge und durch Wüste zum Kaspischen Meer. Es ist anstrengend, mit einem etwa vierzig Kilo schweren Kinderwagen bergauf zu laufen, aber die Berge scheinen nicht besonders hoch zu sein. Hinter dem Kaspischen Meer schiebt sich Amirs Finger weiter bis zur Grenze nach Turkmenistan. Wir messen zwischen Daumen und Zeigefinger und schätzen die Strecke auf eintausendsechshundert Kilometer. Carina und ich sind damals dreitausendzweihundertfünfzig Kilometer gelaufen. Das hier ist nur die Hälfte. Ein Kinderspiel!

»Das sind tausend Meilen«, sage ich begeistert und denke an die Meilenwettbewerbe bei Ultraläufen. »Vielleicht taufe ich meinen Lauf ja ›Tausend und eine Meile‹.«

Carina und ich sind zwischen Istanbul und Tallinn an fünfundsiebzig Tagen hintereinander im Durchschnitt einen Marathon pro Tag gelaufen, gefolgt von ein paar weiteren Kilometern in Finnland. Fünfzig oder siebzig Kilometer pro Tag zu laufen, sollte also kein Problem sein. Diesmal will ich mir mehr Zeit nehmen, zu schreiben und Menschen zu treffen, aber fünfunddreißig Kilometer pro Tag dürften eigentlich kein Problem darstellen. Das Ziel ist nicht bloß der Lauf selbst, sondern auch, Aufmerksamkeit zu erregen und anderen zu zeigen, was ich erlebe. Es wird sich hoffentlich herausstellen, dass die meisten Leute, denen ich begegne, ganz normale, freundliche Menschen und keine gefährlichen Fremden sind, wie Muslime manchmal gesehen werden. Ich habe durchaus vor, auch über Probleme zu schreiben, auf die ich stoße und die vielleicht sogar Vorurteile bestätigen. Meine Reise wäre sinnlos, wenn ich beschönigen würde, was ich erlebe, nur um so meine Grundhaltung zu verteidigen, dass der Mensch und die Welt größtenteils gut sind.

Ich stelle mir den Iran und die Dinge vor, die ich dort erleben werde. Ich sehe Männer in weißen fußlangen Gewändern mit schwarzen Bändern um Kopftücher vor mir, die Kamelkarawanen über die Sanddünen der Wüste führen. Mir ist bewusst, dass dies ein überholtes Fantasiebild ist, dennoch setzt es sich hartnäckig fest. Alle Männer sind gleich und streng religiös, während die Frauen sich stärker nach Freiheit sehnen. Die achtzig Millionen Menschen zählende Bevölkerung ist für mich eine homogene Gruppe, die guttural spricht und laut ist. Dabei weiß ich eigentlich schon, dass Persisch als das »Französisch des Mittleren Ostens« gilt und eine weiche, fließende Sprache ist.

In meiner Vorstellung ist der Iran ein gesetzloses Land, in dem mich jeder hinter Gitter bringen kann, wenn ihm danach ist. Mir schwebt außerdem vor, dass viele Iraner gut ausgebildet sind, sorgsam gebügelte Kleider tragen, berühmte Dichter zitieren und viel über Geschichte wissen.

An meinem Arbeitsplatz wird meine bevorstehende Reise von vielen enthusiastisch aufgenommen und unter den Schweden-Iranern, die bei Ericsson arbeiten, verbreitet sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer. Sie melden sich bei mir mit Zuspruch und guten Ratschlägen, und die Tatsache, dass ich ausgerechnet durch ihr Heimatland laufen werde, lässt ihre Augen leuchten.

Aber nicht alle sind zufrieden, vor allem mein direkter Vorgesetzter murrt. Will ich mir etwa schon wieder freinehmen? Zur gleichen Zeit werden in unserem Unternehmen weitere Entlassungen angekündigt.

Die letzten Jahre waren für Ericsson schwierig, und viele haben ihre Stelle verloren. Als die Lage besonders schlimm war, verkleinerte sich die Belegschaft von einhundertsiebzehn- auf vierundfünfzigtausend Angestellte. Jetzt sollten weitere zweitausend Stellen abgebaut werden, und die Zahl der Mitarbeiter in meiner Abteilung musste um zwanzig Prozent reduziert werden.

Ich war vierundvierzig und mochte meine Kollegen, fand meine Arbeitsaufgaben jedoch sinnlos. Dann kam mir eine Idee. Sollte ich hier wirklich noch zwanzig Jahre herumsitzen und mich langweilen, oder konnte Ericssons Ankündigung meine Eintrittskarte zu einem anderen Leben werden?

Ich hatte bereits eine ganze Reihe von Vorträgen über meine Weltrekorde und Abenteuer gehalten. Auch der bevorstehende Lauf durch den Iran hatte im Vorfeld einiges Interesse geweckt. Deshalb ging ich davon aus, dass sich auch nachher viele dafür interessieren würden. Meine Vorträge wurden geschätzt, häufig bekam ich tosenden Applaus. Viele kamen hinterher zu mir und wollten mit mir reden und mehr erfahren. Vielleicht bestand ja die Möglichkeit, von meinen Abenteuern und dem, was mir am meisten am Herzen liegt – das Laufen –, zu leben. Durch das Laufen und andere Herausforderungen entwickele ich mich menschlich weiter.

Ericsson hat Angestellten, denen gekündigt wurde, stets eine großzügige Abfindung gezahlt. Sollte ich also dafür sorgen, von Ericsson einen warmen Abschiedsgruß auf dem Weg in mein neues Leben zu bekommen? Beim bloßen Gedanken kribbelte es am ganzen Körper. Und wenn es schiefgeht? Tja, dann werde ich eben in einer Imbissbude arbeiten müssen, habe es aber immerhin versucht.

Will ich sterben, ohne es versucht zu haben?

Ich ging zu meinem Chef und sagte ihm, wie die Dinge lagen.

»Von mir aus dürfen Sie mich gerne feuern.«

Innerlich hatte ich mir bereits das Bild eines Lebens ohne Schreibtisch und sinnlose Projekte ausgemalt, in dem ich mich häufiger mit Freunden treffen und mehr laufen konnte. Ich war wirklich neugierig: Wer bin ich in völliger Freiheit? Welche ungeahnten kreativen Talente werden aufblühen? Schlummert in mir eine Unternehmerin, die zum Vorschein kommt, sobald ich ihr die Chance dazu gebe? Irgendwann im Leben wollte ich das erleben, und vierundvierzig schien mir dafür das perfekte Alter zu sein. Hellwach und stark, mit der ganzen Welt vor meinen Füßen. Bei Ericsson hatte ich mich darin geübt, Vorträge zu halten, auch extern. Eine Basis für meine Selbstvermarktung existierte also schon.

Es gab durchaus Signale, die mir nahelegten, lieber an meinem Schreibtisch zu bleiben. Mehrere Persönlichkeitstests sowie diverse Therapeuten, die ich aufgesucht hatte, zeichneten das gleiche, eindeutige Bild: Ich bin ein vorsichtiger Mensch, möchte immer alles unter Kontrolle haben und bin nicht sonderlich risikofreudig.

Es deutete mit anderen Worten alles darauf hin, dass Abenteuer keine geeignete Beschäftigung für mich waren. Sich als Läuferin selbstständig zu machen, erfordert nämlich einen gewissen Hang zum Exhibitionismus, weil man sein Geld nicht mit dem Laufen selbst verdient, sondern mit den Vorträgen, die man darüber hält. Als die introvertierte, nach Sicherheit dürstende Nordschwedin, die ich nun einmal war, hätte ich folglich bei Ericsson bleiben und bis zu meiner sicheren Rente ein ebenso sicheres monatliches Gehalt beziehen sollen.

Ich hatte jedoch beschlossen, mein Leben nicht von Furcht bestimmen zu lassen. Mich lockte ein anderes Dasein, und ich war bereit, es zu testen.

Mit Amirs Hilfe war die Planung meines Laufs bereits weit fortgeschritten. Nun stellte sich die Frage, ob ich Urlaub bekommen würde, um in den Iran zu fahren, oder ob ich den Urlaub erst gar nicht beantragen musste, da ich ohnehin keinen Job mehr haben würde. Das schlimmste Szenario sah so aus, dass man mich weder entlassen noch mir Urlaub genehmigen würde. Was sollte ich dann tun? Ich wusste, was ich wollte, traute mich aber nicht, die Entscheidung selbst zu treffen, sondern überließ sie meinem Chef. Außerdem war es finanziell für mich von Vorteil, wenn die Firma mir kündigte. Ich hoffte das Beste, auch wenn der Gedanke mich zugleich schreckte.

Vorbereitungen

»Aber warum willst du unbedingt im Iran laufen?«, fragt Evis.

Wir sind drei Freundinnen, Evis, Klara und ich, die sich im Frühjahr 2015 im Vapiano in der Stockholmer Altstadt treffen. Es ist ein Freitag, und wir sitzen in roten Ledersesseln, essen Nudelgerichte und trinken Wein. Draußen hasten Menschen in die nahe gelegene U-Bahn-Station oder aus ihr heraus.

»Ich will sehen, ob es wirklich so gefährlich ist, wie die Leute glauben«, antworte ich.

»Und was ist, wenn es tatsächlich so gefährlich ist, wie die Leute glauben?«, entgegnet sie.

»Was könnte denn deiner Meinung nach passieren?«, sage ich.

»Denk an Fredrik und die Kinder. Ihr seid doch gerade erst zusammengezogen. Warum willst du ausgerechnet jetzt laufen? Kannst du das nicht einfach genießen und deine neue Familie Gestalt annehmen lassen?«, fragt sie zurück.

Evis hat mir Fredrik vorgestellt. Wir lernten uns bei einem sommerlichen Flusskrebsessen bei ihr kennen und interessierten uns beide für das Laufen und für berufliche Selbstständigkeit. Mit seinen drei Kindern war er nicht so flexibel wie ich, sodass ich zu ihm nach Gustavsberg zog, wo wir gemeinsam ein Haus kauften, was in jeder Hinsicht fantastisch ist, aber auf ein Familienleben als Vollzeitjob habe ich keine Lust.

»Ich will meinen Beitrag zu etwas Gutem leisten. Der Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen verschärft sich immer mehr. Was wir aus den Medien erfahren, ist nur ein Bruchteil der Wahrheit, aber viele Menschen glauben, dass die Welt so ist. Ich dagegen glaube, das meiste, was auf der Welt passiert, ist gut«, sage ich und verstumme.

Als keiner der anderen den Faden aufgreift, spreche ich weiter.

»Es gibt in Stockholm Polizeieinheiten für Mädchen, die sich nicht trauen, alleine joggen zu gehen. Ich laufe seit zwölf Jahren allein in Stockholm, und mir ist nie etwas passiert. Was ist, wenn wir uns vor etwas fürchten, das es gar nicht gibt? Ängstliche Menschen handeln häufig falsch. Vielleicht kann ich ja zeigen, dass die Welt eigentlich ganz gut ist? Die Diskussion nuancieren? Zu mehr Verständnis zwischen den Kulturen und Religionen beitragen? Das könnte sicher nicht schaden.«

Klara sieht mich forschend an.

»Wie meinst du das?«, will sie wissen. »Meinst du, wenn eine Iranerin, die eine Gefangene in ihrem eigenen Zuhause ist, sieht, dass du eine Freiheit besitzt, die sie nicht hat, fühlt sie sich besser?«

»Hm, na ja … das weiß ich nicht. Ich hoffe, die Frauen, die mir begegnen, werden vielleicht anfangen, größere Träume zu haben und einen ersten Schritt dahin machen, diese Träume auch zu verwirklichen«, sage ich.

»Aber was ist, wenn sie diese Schritte gar nicht machen können und ihnen stattdessen nur noch klarer wird, wie eingesperrt sie sind? Hast du dann einen Beitrag zu etwas Gutem geleistet?«

»Hm, nein … Ich weiß es nicht. Alles habe ich noch nicht durchdacht«, gestehe ich.

»Kristina, wenn du vorhast, in einem Leichensack nach Hause zu kommen, will ich nicht mehr deine Freundin sein. Ich habe nicht die Absicht, mich diesem Schmerz auszusetzen«, sagt Evis plötzlich.

Ich zucke zusammen.

»Du glaubst, dass ich in einem Leichensack heimkomme?«, sage ich.

»Nein, aber ich sehe das Risiko.«

»Vielleicht kommst du ja auch in mehreren Säcken zurück«, ergänzt Klara.

Klara und Evis sind zwei meiner besten Freundinnen. Sie machen sich Sorgen um mich, bringen aber auch genau die Angst zum Ausdruck, die ich bekämpfen will.