Allein gegen die Lüge - Alex Finlay - E-Book

Allein gegen die Lüge E-Book

Alex Finlay

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Beschreibung

»Vom ersten schockierenden Satz bis zur letzten Seite ein fesselnder Thriller.« Newsweek

Ein junger Mann auf der Suche nach der Wahrheit: Musste seine Familie sterben, um ein Verbrechen zu vertuschen?

Die Nachricht trifft Matt Pine wie ein Schock: Bei einem Urlaub in Mexiko kam fast seine gesamte Familie ums Leben. Die örtliche Polizei behauptet, es sei ein Unfall gewesen, doch das FBI bezweifelt das. Allerdings wollen sie Matt den Grund für ihre Skepsis nicht verraten. Das Drama rückt Matts Familie erneut ins Rampenlicht der Medien. Vor sieben Jahren war sein älterer Bruder Danny wegen Mordes an seiner Highschool-Freundin zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Danny hatte stets seine Unschuld beteuert, und eine große True-Crime-Doku nährte den Verdacht, er könnte zu Unrecht im Gefängnis sitzen. Nun scheint es eine Verbindung zwischen dem rätselhaften Tod seiner Familie und Dannys Fall zu geben, und Matt ist entschlossen, die Wahrheit herauszufinden. Selbst wenn er dafür sein eigenes Leben aufs Spiel setzen muss ...

»Festhalten – hier jagt eine überraschende Wendung die nächste! Ein wahrer Ausnahmethriller, der mit chirurgischer Präzision geplottet ist.« Karin Slaughter

»Finlay beleuchtet das Geschehen sehr geschickt aus wechselnden Erzählperspektiven, er arbeitet mit Rückblenden und einigen gelungenen Plot-Twists, seine Figuren bleiben lebendig.« FAZ

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Seitenzahl: 512

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Die Nachricht ist für Matt Pine ein Schock: Bei einem Urlaub in Mexiko kam fast seine gesamte Familie ums Leben. Die örtliche Polizei behauptet, es sei ein Unfall gewesen, doch das FBI bezweifelt das. Allerdings wollen sie Matt den Grund für ihre Skepsis nicht verraten. Das Drama rückt Matts Familie erneut ins Rampenlicht der Medien. Vor sieben Jahren war sein älterer Bruder Danny wegen Mordes an seiner Highschoolfreundin zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Danny hatte stets seine Unschuld beteuert, und eine große True-Crime-Doku nährte den Verdacht, er könnte zu Unrecht im Gefängnis sitzen. Nun scheint es eine Verbindung zwischen dem rätselhaften Tod seiner Familie und Dannys Fall zu geben, und Matt ist entschlossen, die Wahrheit herauszufinden. Selbst wenn er dafür sein eigenes Leben aufs Spiel setzen muss.

Autor

Alex Finlay wurde mit seinem Thriller Allein gegen die Lüge sofort zum Bestsellerautor. Seine Spannungsromane zählen zu den Topempfehlungen von Goodreads, Cosmopolitan, CNN, Newsweek, Business Week und vielen mehr. Sie sind in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Der Autor schreibt unter einem Pseudonym und ist ein prominenter Anwalt in Washington, D. C., der Klienten in über vierzig Fällen vor dem Obersten Gerichtshof der USA vertreten hat.

Alex Finlay

Allein gegen die Lüge

Thriller

Aus dem Englischenvon Leo Strohm

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Every Last Fear«

bei Minotaur Books, an imprint of St. Martin’s Publishing Group, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2025

Copyright © 2021 by Alex Finlay

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München

Covermotiv: © Magdalena Russocka / Trevillion Images; © Miguel Sobreira / Trevillion Images; © Mark Fearon / Arcangel Images

Redaktion: Regina Carstensen

AB· Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32092-8V002

www.goldmann-verlag.de

Prolog

Die Leichen wurden an einem Dienstag entdeckt, zwei Tage nachdem die Familie ihren Rückflug verpasst hatte. Sechs Tage nachdem sämtliche Handy- und Social-Media-Aktivitäten eingestellt worden waren. Der letzte Post war ein Selfie, mit dem sie ihre Ankunft in Mexiko dokumentiert hatten: Vater und Mutter mit übertriebenen Entenschnuten, das Mädchen im Teenageralter mit vor Peinlichkeit geröteten Wangen, der kleine Junge mit einer Plastiksonnenbrille auf der Nase und einem breiten Lächeln, das eine große Zahnlücke sichtbar machte.

Das kleine Ferienhäuschen lag in der Stadt Tulum, aber nicht direkt am Strand. Vielmehr schmiegte es sich ein wenig abseits der Straße, am Ende eines nicht asphaltierten Weges, der in ein verwildertes Dschungelgebiet führte. Als der Hausverwalter dem örtlichen Polizisten die Eingangstür öffnete, schlug diesem sofort der Gestank entgegen. Die Putzfrau, die nach der Abreise der Gäste eigentlich hätte sauber machen sollen, saß auf der Betontreppe. Ihre Hände waren unablässig mit einem Rosenkranz beschäftigt, und ihr Gesicht war tränenüberströmt.

Im Haus herrschte brütende Hitze.

Lautes Fliegensummen erfüllte die Luft.

Doch trotz des Verwesungsgestanks war nirgendwo Blut zu entdecken. Keinerlei Anzeichen für ein Fremdverschulden. In diesem Augenblick wurde dem Polizisten klar, dass er sich zurückziehen musste.

Eine Stunde später stapften Männer in weißen Schutzanzügen über das Gelände, die Augen fest auf die Messgeräte in ihren Händen gerichtet. Sie entdeckten die Mutter auf dem Sofa liegend, mit einem Taschenbuch auf der Brust. Auf dem gemachten Bett in einem der Schlafzimmer fanden sie das Mädchen, immer noch mit dem Handy in der Hand. Der Junge lag friedlich eingekuschelt unter seiner Decke in seinem Bett, zusammen mit einem Teddybären.

Die Ermittler untersuchten den Herd und den Wasserboiler.

Anschließend traten sie niedergeschlagen hinaus auf die Terrasse, um die externe Gasleitung zu überprüfen. Dort entdeckten sie dann die Blutspur. Und den Vater – oder zumindest das, was von ihm übrig war.

Kapitel 1

Matt Pine

»Harte Nacht gehabt? Du siehst aus, als hättest du hier draußen bei uns geschlafen.«

Matt hielt den Blick auf das Schachbrett gerichtet und achtete nicht weiter auf den wettergegerbten Schwarzen, der ihm an dem zerschrammten Tisch im Washington Square Park gegenübersaß.

»Ist dir gar nicht kalt? Wo ist denn deine Jacke ?«

»Sei still, Reggie«, erwiderte Matt und machte eine Handbewegung, um die Fragen seines Gegenübers zu verscheuchen. »Ich versuche mich zu konzentrieren.« Dann widmete er sich wieder der Planung seines nächsten Zuges. Eine kühle morgendliche Brise wehte durch den Park, und Matt rieb die Handflächen aneinander. Es war viel zu kalt für April.

Reggie ließ ein belustigtes Knurren hören. »Lass dir ruhig Zeit, von mir aus den ganzen Tag. Spielt sowieso keine Rolle.«

In den letzten zwei Jahren hatte Matt keine einzige Partie gegen den obdachlosen Bobby Fischer des East Village gewonnen. Er hätte gerne gewusst, wodurch dieser hochintelligente Mann auf der Straße gelandet war, aber er fragte ihn nicht danach. Er zog seinen Läufer und schlug Reggies Bauern auf g7.

Reggie schüttelte den Kopf, als hätte Matt ihn gerade enttäuscht. Den Blick auf das Brett gerichtet, fragte er ihn: »Kommst du vielleicht gerade von einer Party zurück, oder so?«

»Ja, genau, von drüben in der Goddard.« Matt wies mit einer Kopfbewegung auf die Goddard Hall, einen blassbraunen Backsteinblock gleich neben dem Park.

»In der Goddard? Hast dich wohl bei den Studienanfängerinnen rumgetrieben, was?«, sagte Reggie mit einem rauen Lachen. Er wusste mehr über die New York University als die meisten Uniabsolventen. Vielleicht war es ja das, vielleicht war er früher selbst mal Student hier gewesen.

Es war schon eigenartig, weil Matt immer wieder die Erfahrung machte, dass die Menschen sich ihm gegenüber öffneten und ihm ihre Lebensgeschichten, ihre Geheimnisse, ihre Probleme anvertrauten. Wahrscheinlich hatte er einfach so eine Ausstrahlung. Oder es lag daran, dass er lieber zuhörte und beobachtete als redete. Und Reggie konnte reden, Mannomann. Trotzdem hatte er in seinem unablässigen Wortschwall noch nie einen Hinweis auf sein Leben vor dem Park entdeckt. Dabei hatte Matt nach solchen Anzeichen regelrecht gesucht. Reggie besaß zum Beispiel eine grüne, militärisch aussehende Tasche, also war er vielleicht ein ehemaliger Soldat. Seine Hände und seine Fingernägel waren immer makellos sauber, also hatte er vielleicht im medizinischen Bereich gearbeitet. Sein Straßenslang wirkte manchmal authentisch, manchmal aber auch aufgesetzt. Womöglich verbarg er seine wahre Identität, war ein Krimineller auf der Flucht. Oder er war ein Typ mit einem harten Schicksal, der gerne Schach spielte und keine Notwendigkeit sah, sich gegenüber einem nervtötenden Collegestudenten für sein Leben zu rechtfertigen.

»Respekt. Die ganze Nacht mit irgendwelchen Mädels unterwegs.« Reggie kicherte erneut. »Aber was sagt die hübsche Rothaarige dazu?«

Eine berechtigte Frage. Allerdings hatte die hübsche Rothaarige sich gestern von Matt getrennt. Darum die viel zu vielen Drinks in der Bar 13. Darum die Afterparty in der Goddard und das anschließende ausgelassene Treiben ein paar Stockwerke weiter oben mit Deena (oder Dana?). Darum schon um sieben Uhr morgens mit Brummschädel im Park und nicht in seinem Wohnheimzimmer – seine Schlüsselkarte, sein Zimmerschlüssel und sein Handy steckten in seiner Jacke, und die war spurlos verschwunden.

Reggie zog seinen Turm nach g8 und ließ ein zufriedenes, gelbes Lächeln sehen. »Ich beginne mich langsam zu fragen, wie du es geschafft hast, in diese wunderbare Institution aufgenommen zu werden.« Reggie warf einen Blick auf das Verwaltungsgebäude mit den im Wind flatternden lilafarbenen Flaggen der NYU.

»Allmählich hörst du dich an wie mein Vater«, erwiderte Matt. Er zog seinen Turm nach e1 und sah Reggie an. »Schach.«

Reggie zog seinen König nach d8, aber es war zu spät.

Die Dame nach g3, und das bedeutete unausweichlich: Schachmatt.

»Verd…«, sagte Reggie. Dann rief er einem Spieler an einem der anderen Tische zu: »He, Elijah, was sagst du dazu? Affleck hat mich geschlagen.« Reggie nannte Matt immer nur »Affleck«. Das war seine abfällige Kurzform für »weißes Bürschchen«.

»Nehmt euch in Acht vor dem Schweiger«, deklamierte Reggie im Tonfall eines Predigers. Es klang wie ein Zitat, auch wenn Matt nicht wusste, woher es stammte. »Denn während andere reden, beobachtet er. Und wenn sie endlich schweigen, schlägt er zu.«

Reggie ließ einen zerknüllten Geldschein auf den Tisch fallen.

»Ich will dein Geld nicht haben.« Matt stand auf und dehnte seinen Rücken, bis es knackte.

»Du nimmst das jetzt, verdammt noch mal«, erwiderte Reggie und schnipste den Schein in Matts Richtung. »Du bist Filmstudent, du wirst es noch brauchen.« Noch ein Kichern.

Zögerlich griff Matt nach dem Geld, hob den Blick und nahm die dunkle Wolkenfront wahr, die sich allmählich über die Stadt legte. Er liebte den Duft des unmittelbar bevorstehenden Regens. »Dann komm wenigstens mit in die Mensa, damit ich dir ein Frühstück spendieren kann. Ich hab noch ein paar Gutscheine übrig.«

»Ach, lieber nicht«, erwiderte Reggie. »Beim letzten Mal waren die ja nicht so begeistert …«

Er hatte recht. Der Salonliberalismus hatte seine Grenzen, wie Matt im Zusammensein mit der privilegierten Studentenschaft an der New York University zur Genüge erfahren hatte. Die meisten seiner Kommilitonen betrachteten ihn, unpolitisch und aus dem Mittelwesten stammend, als merkwürdigen Kauz.

»Scheiß auf die«, sagte Matt und bedeutete Reggie, ihm zu folgen. Da hörte er in seinem Rücken eine vertraute Stimme.

»Da bist du ja. Wir haben dich schon überall gesucht.«

Matt drehte sich um und erkannte den Hauswart aus seinem Wohnheim. Was wollte der denn von ihm? Phillip ließ sich normalerweise nur blicken, wenn die Musik zu laut war oder es im Flur nach Gras roch.

»Da sind ein paar Bundesagenten im Wohnheim«, sagte Phillip, und seine Stimme klang besorgt. »Die wollen dich sprechen.«

»Agenten?«

»Ja, genau. Vom FBI. Seit sechs Uhr. Sie haben gesagt, dass du nicht ans Handy gehst.«

»Was wollen die von mir?«, erkundigte sich Matt. Vermutlich ging es um seinen großen Bruder. Seit dieser gottverdammten Dokumentarserie ging es immer nur um Danny.

»Ich weiß nicht. Aber falls du da im Wohnheim irgendwelche illegalen Sachen machst, kann ich dir nicht …«

»Entspann dich, Mann. Mache ich nicht …« Matt hielt inne und holte tief Luft. »Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast. Ich kümmere mich drum. Mal sehen, was die von mir wollen.«

Phillip seufzte genervt und trollte sich.

»Hast du Schwierigkeiten?«, wollte Reggie wissen.

»Ich sollte wohl zusehen, dass ich genau das rauskriege. Verschieben wir das mit dem Frühstück?«

Reggie nickte. »Sei bloß vorsichtig, Affleck. Wenn Bundesagenten um sechs Uhr morgens vor deiner Tür stehen … das kann nichts Gutes bedeuten.«

***

Eine halbe Stunde später saß Matt auf dem schmalen Bett in seinem Wohnheimzimmer. Alles drehte sich im Kreis.

Die FBI-Agentin, die das Gespräch leitete – Matt hatte ihren Namen vergessen –, fing wieder an zu reden. Aber bei Matt kam nur Kauderwelsch an. Als er keine Antwort gab, ging sie mit besorgtem Gesichtsausdruck vor ihm in die Knie. Ihr Partner, ein schlanker Mann in einem dunklen Anzug, hielt sich im Hintergrund und trat pausenlos von einem Fuß auf den anderen.

»Ich habe mit dem Dekan gesprochen«, sagte die Agentin. »Die Uni besorgt Ihnen eine Trauerberatung. Und was Ihre Anwesenheitspflicht an der Uni angeht, da brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.«

Matt wollte aufstehen, aber seine Beine versagten den Dienst. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Die Agentin half ihm, sich wieder aufs Bett zu setzen.

»Alle?«, wollte Matt wissen. Sie hatte es ihm schon zweimal gesagt, aber er konnte es nicht glauben.

»Es tut mir sehr, sehr leid.«

Mom.

Dad.

Maggie.

Tommy.

Er stand wieder auf, stieß irgendwelche Worte hervor und stolperte schließlich ins Badezimmer, ließ sich auf die Knie fallen und übergab sich in die Toilette. Er legte die Hände um die schmutzige Schüssel. Wie lange war er schon hier? Er wusste es nicht.

Irgendwann hörte er ein leises Klopfen an der Tür.

»Bin gleich so weit«, brachte er mühsam hervor. Dann hielt er sich am Waschbecken fest und hievte sich auf die Beine, drehte das Wasser auf und spritzte sich etwas davon ins Gesicht. Anschließend starrte er sein Spiegelbild an. Er sah genauso aus, wie er sich fühlte.

Als er ins Zimmer zurückkam, war nur noch die Agentin da. Ihr Partner hatte sich in der Zwischenzeit verzogen.

»Wie kann so was passieren?«, hörte Matt sich fragen. Seine Stimme klang heiser und sehr weit entfernt.

»Man geht davon aus, dass es ein Unfall war, eine undichte Gasleitung. Aber genau das wollen wir herausfinden. Das FBI und das Außenministerium haben bereits erste Schritte in die Wege geleitet. Wir haben mit den mexikanischen Behörden Kontakt aufgenommen. Mir ist klar, dass es kaum einen schlechteren Zeitpunkt dafür gibt, aber ich muss Ihnen leider ein paar Fragen stellen.«

Matt setzte sich wieder und nickte zum Zeichen, dass er bereit war.

»Soweit wir wissen, haben Ihre Angehörigen dort Urlaub gemacht.«

»Mm-hmm. Meine Schwester und mein kleiner Bruder hatten Frühjahrsferien.« Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. »Es war eine spontane Entscheidung, erst im allerletzten Moment. Und ich hatte eben keine Ferien, darum konnte ich nicht …« Er brach ab.

»Wann haben Sie das letzte Mal etwas von ihnen gehört?«

Matt überlegte. »Meine Mom hat mir vom Flughafen eine Nachricht geschickt, kurz bevor sie abgeflogen sind. Und von Maggie ist vor ein paar Tagen auch eine gekommen.« Das schlechte Gewissen versetzte ihm einen Stich. Er hatte die Nachricht seiner kleinen Schwester nicht einmal gelesen, geschweige denn, darauf geantwortet.

»Und von Ihrem Vater?«

Er schüttelte den Kopf. Sein ganzer Körper fühlte sich taub an. Seit ihrem Streit in den Weihnachtsferien hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Das Herz wurde ihm schwer. Das Letzte, was er zu ihm gesagt hatte …

»Damit wir den zeitlichen Ablauf besser verstehen können, wäre es hilfreich, wenn wir diese Nachrichten lesen können. Hätten Sie etwas dagegen?«

»Nein, natürlich nicht. Aber mein Handy ist in meiner Jacke und die habe ich gestern Abend irgendwo liegen lassen.«

»Wissen Sie, wo?«, wollte die Agentin wissen. Sie zeigte durchaus Mitgefühl, aber Matt spürte auch, dass sie allmählich ungeduldig wurde.

»In der Kneipe, glaube ich.« Bevor er sich aus dem Zimmer des Mädchens geschlichen hatte, hatte er sich alle seine Sachen geschnappt, also konnte die Jacke nur in der Bar geblieben sein.

Die Agentin nickte. »Ich kann Sie hinbringen.«

»Ich glaube kaum, dass die um diese Uhrzeit schon geöffnet haben.«

»Wie heißt die Kneipe?«

»Bar 13, in der East Thirteenth Street.«

Die Agentin zog ihr Handy aus der Tasche und ging ans andere Ende des Zimmers. Sie richtete den Blick durch das mit Regentropfen gesprenkelte Fenster nach draußen und murmelte gleichzeitig jemandem irgendwelche Befehle zu. »Ist mir doch egal. Sag ihnen einfach, sie sollen sofort jemanden vorbeischicken«, ordnete sie an, während sie bereits wieder auf Matt zukam.

»Sind Sie so weit? Können wir los?« Sie machte ein paar Schritte in Richtung Tür.

Matt nickte benommen.

»Brauchen Sie vielleicht eine Jacke oder einen Schirm? Es regnet.«

Matt schüttelte den Kopf und folgte ihr nach draußen.

Im Flur hatte sich bereits ein Grüppchen mit gaffenden Kommilitonen versammelt. Matt wusste nicht, ob sich das mit seiner Familie bereits herumgesprochen hatte oder ob sie glaubten, dass er gerade verhaftet wurde.

Die Agentin – er kam immer noch nicht auf ihren Namen – steuerte den Fahrstuhl an. Als sie in der Kabine standen, fragte Matt: »Haben die Medien es schon mitgekriegt?«

Die Agentin warf ihm einen wissenden Blick zu. »Die Meldung ist draußen, aber ohne Ihren Nachnamen zu nennen. Damit warten sie immer noch so lange, bis die Angehörigen verständigt sind.«

»Ihnen ist doch klar, was passieren wird, sobald die das rauskriegen, oder?« Matt schüttelte angewidert den Kopf. Diese gottverdammte Netflix-Doku.

Die Agentin nickte.

Die Fahrstuhltüren glitten auf, und sie standen einem wilden Haufen von Journalisten und Kamerablitzen gegenüber.

Kapitel 2

Die Fahrt bis zur Kneipe bekam Matt nur schemenhaft mit. Er saß auf der Rückbank, während der Wagen sich im Stop-and-go durch Greenwich Village schob, und war immer noch vollkommen durcheinander von dem, was er gerade erfahren hatte, und von den Fragen, die die Paparazzi ihm entgegengeschleudert hatten: Warum waren Sie nicht mit Ihrer Familie in Mexiko? Wie fühlen Sie sich jetzt? Glauben Sie wirklich, dass es ein Unfall war? Weiß Ihr Bruder schon Bescheid?

Die Agentin war mitten durch die Menge gepflügt, hatte Matt fest am Handgelenk gepackt und ihn hinter sich hergezogen. Als ihr ein Mann mit einer Kamera den Weg verstellte, hatte sie ruhig ihre Dienstmarke gezogen und ihn von Kopf bis Fuß gemustert. Er hatte sich weggeduckt. New Yorker Paparazzi sind nicht so leicht einzuschüchtern. Der Typ musste also gespürt haben, dass mit ihr nicht zu spaßen war.

Matt starrte zum Fenster hinaus. Rote Rücklichter spiegelten sich als verschwommene Streifen auf der nassen Fahrbahn. Er dachte wieder an die Reporter. Weiß Ihr Bruder schon Bescheid?

Danny hatte natürlich weder Fernsehen noch Internet oder Handy, klar. Aber Matts Vater sagte immer, dass Neuigkeiten – und ganz besonders schlechte Neuigkeiten – es immer irgendwie schafften, Gefängnismauern in Lichtgeschwindigkeit zu durchdringen. Angesichts der Prominenz, die Danny durch diese Doku-Serie erlangt hatte, würde er es mit Sicherheit bald erfahren.

Der Wagen hielt vor der Bar 13. Die Kneipe sah bei Tageslicht noch schäbiger aus als sonst. Das eiserne Rolltor war mit Graffiti übersät. Auf dem Bürgersteig stapelten sich Mülltüten, auf denen sich Regenwasserpfützen sammelten. Im Eingang stand ein Mann im Jogginganzug und hüpfte von einem Bein auf das andere. Er spähte in den Wagen, als hätte er schon auf sie gewartet, und kam herüber.

»Sind Sie vom FBI?«, fragte er und bückte sich, um ins Auto sehen zu können. Er war muskulös gebaut und hatte nicht mehr viele Haare auf dem Kopf. Trotz der Kühle standen ihm Schweißtropfen auf der Stirn.

»Special Agent Keller«, sagte sie kühl und sachlich. Endlich wusste Matt, wie sie hieß.

»Ich wurde angerufen, weil es irgendein Problem mit dem Club geben soll«, erklärte der Mann mit hörbarem Brooklyn-Akzent. »Wir sind absolut sauber, also verstehe ich nicht …«

»Es ist mir total egal, ob Sie sauber sind oder nicht«, erwiderte Keller. Keine höflichen Floskeln, keine einfühlsamen Bemerkungen. Sie deutete auf die Rückbank zu Matt. »Er hat gestern Abend hier seine Jacke vergessen. Da steckt sein Handy drin. Lassen Sie uns rein.«

Der Kneipenbesitzer zögerte einen Moment und presste die Lippen zusammen. »Äh, also … haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?«

Keller funkelte ihn an. »Wollen Sie wirklich, dass ich einen besorge? Dann müsste ich womöglich mit einem ganzen Team von Agenten wiederkommen, und zwar … sagen wir, heute Abend um elf? Wer weiß, was wir da alles finden würden.«

Der Besitzer hob beschwichtigend die Hände. »Hören Sie zu, ich würde Ihnen die Jacke ja geben, wenn sie da drin wäre«, sagte er. »Aber mein Türsteher … nach Ladenschluss gebe ich ihm alles mit, was noch da ist.«

»Na, großartig.« Agentin Keller seufzte. »Ich brauche seinen Namen und seine Adresse.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich die …«

»Name und Adresse, oder wir haben wieder dasselbe Problem wie gerade eben.«

»Also gut, also gut. Eine Minute.«

Agentin Keller nickte, und der Besitzer verschwand in der Kneipe. Als er wieder herauskam, hatte er einen Post-it-Zettel mit den gewünschten Informationen dabei. Den nahm ihm Keller aus der Hand und fuhr los.

Zwanzig Minuten später standen sie vor einem Hochhaus mit Glasfassade in Tribeca. Keller lenkte den Wagen in eine Tiefgarageneinfahrt, bis sie bei einem Kontrollpunkt angelangten. Ein Wachmann sah sich ihren Ausweis an und winkte sie weiter.

»Hier wohnt dieser Türsteher?«, fragte Matt, während sie in die Tiefgarage rollten. Das hier war ein High-End-Gebäude in einer High-End-Umgebung. Und hier sollte ein Kneipenrausschmeißer wohnen?

»Nein. Den lasse ich gerade von ein paar Mitarbeitern suchen.«

»Aber was wollen wir dann hier?«

Keller stellte den Wagen in einer Parkbucht neben einer ganzen Reihe identischer Fahrzeuge ab. »Irgendjemand muss es Ihrem Bruder mitteilen.«

»Was? Moment mal!«, stieß Matt hervor und versuchte zu begreifen, was sie da gerade gesagt hatte. Dann: »Nein!«

In dem nun folgenden langen Schweigen blickte Keller ihm forschend in die Augen. »Ich weiß, dass das sehr viel verlangt ist«, sagte sie. »Und ich will gar nicht erst so tun, als könnte ich nachempfinden, was Sie gerade durchmachen. Aber ich habe mit Ihrer Tante gesprochen, und sie hat gemeint, dass Ihre Eltern wollen würden, dass er es von Ihnen erfährt.«

Die Härchen auf Matts Arm stellten sich senkrecht.

»Er ist hier?« Matt war klar, dass das keinen Sinn ergab.

»Das nicht. Wir müssen hoch aufs Dach.«

***

Es war Matts erster Hubschrauberflug überhaupt, aber er wusste beim besten Willen nicht, ob das schummerige Gefühl in seiner Magengegend vom Fliegen oder vom surrealen Verlauf seines Tages kam. Der Hudson war ziemlich unruhig und der Himmel trüb und grau. Agentin Keller saß mit durchgedrücktem Rücken und ausdrucksloser Miene neben ihm.

Sie war keine Plaudertasche. Und sie hielt nichts von Multitasking. Sie starrte nicht auf ihr Smartphone oder las die Zeitung. Ihr Job bestand darin, ihn nach Norden in die Justizvollzugsanstalt Fishkill zu begleiten, und genau das machte sie. Matt hatte nie verstanden, wieso Danny, der in Nebraska wegen des Mordes an seiner Freundin verurteilt worden war, ausgerechnet im Bundesstaat New York einsitzen musste. Es war sein drittes Gefängnis in sieben Jahren.

Als der Hubschrauber in unruhige Luft geriet, dachte Matt an Tommy. Wenn die ganze Familie sich bei irgendwelchen Reisen mit kalkweißen Knöcheln an ihre Sitzlehnen geklammert hatte, hatte sein kleiner Bruder vor Vergnügen gekichert – ohne einen Hauch von Angst. Ihm hätte dieser Flug hier wahnsinnigen Spaß gemacht.

Matt unterdrückte ein Schluchzen und stellte sich Tommy auf der Reise nach Mexiko vor. Er hatte nicht geahnt, dass es der letzte Flug seines Lebens sein würde.

Der Hubschrauber landete auf einem kleinen Airport in einer ländlichen Gegend. Matt löste die Sicherheitsgurte und setzte das Headset ab, bevor er Agentin Keller nach draußen folgte. Die Propeller drehten sich, und er duckte sich instinktiv, so wie er es eine Million Mal im Kino gesehen hatte. Keller ging aufrecht.

Sie sprach mit einem Mann, der sie am Rand des Flugfelds erwartete. Er trug einen sehr förmlichen Anzug und stand neben einem schwarzen SUV. Es war nicht ihr Partner von vorhin, aber sie sahen einander durchaus ähnlich. Dunkler Anzug, Sonnenbrille, ausdruckslose Miene. Neo aus Matrix. Keller und Matt nahmen im Fond Platz, und der Wagen setzte sich in Bewegung, suchte sich seinen Weg über diverse Landstraßen, bis die Betonfestung in den Blick kam.

Inzwischen waren Matts Handflächen schweißnass, und sein Schädel pochte. Allmählich sickerte die Realität in sein Bewusstsein ein.

Sie waren tatsächlich nicht mehr da.

Und bald schon würde er seinem großen Bruder fast alles nehmen, was ihm auf dieser Welt noch geblieben war.

Kapitel 3

Evan Pine

Zuvor

»Evan, wie schön, dass Sie es geschafft haben.« Dr. Silverstein bot ihm einen Platz auf dem Ledersofa ihr gegenüber an.

Evan ließ den Blick durch die Praxis schweifen. Die gerahmten Diplome an der Wand, der aufgeräumte Schreibtisch, die große Standuhr, die in dem farblosen, nüchternen Bürokomplex irgendwie fehl am Platz wirkte.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich letzte Woche nicht angerufen habe«, erwiderte Evan. »Sie können mir die Stunde gerne in Rechnung …«

»Ach was, kommt nicht infrage. Ich habe das mit Ihrem Sohn im Fernsehen gesehen. Es tut mir sehr leid, Evan.«

Sie nannte ihn immer wieder beim Namen. Wahrscheinlich eine professionelle Gesprächstechnik. Er malte sich aus, wie eine deutlich jüngere Dr. Silverstein in der Psychologievorlesung saß und eifrig mitschrieb. Regelmäßige Namensnennung signalisiert dem Patienten, dass Sie ihm zuhören.

Er sollte gnädiger mit ihr sein. Sie war eine gute Therapeutin. Und es war bestimmt nicht einfach, einen Klienten zu haben, der nur zu den Sitzungen kam, weil seine Ehefrau ihm ein Ultimatum gestellt hatte.

»Was ist jetzt der nächste Schritt?«, erkundigte sie sich. »Juristisch, meine ich. Für Danny.«

Evan wollte eigentlich nicht darüber sprechen, aber hier gab es kein Entrinnen. »Die Anwälte sagen, dass das die letzte Möglichkeit war. Der Oberste Gerichtshof hat den Antrag auf Wiederaufnahme endgültig abgelehnt, und das war’s.« Er zuckte mit den Schultern.

Silverstein sah ihn mitfühlend an. »Und wie geht es Danny? Konnten Sie schon mit ihm sprechen?«

Evan musste an den Anruf denken, mit dem er seinem Sohn die Neuigkeit überbracht hatte. Er stellte sich vor, wie sein Sohn sein Gesicht an den schmutzigen Telefonhörer in Fishkill drückte, in dem Wissen, dass er wahrscheinlich den Rest seines Lebens hier oder in irgendeinem anderen gottverlassenen Loch verbringen würde.

»Er hat es besser verkraftet, als ich erwartet hatte. Ehrlich gesagt hat er die meiste Zeit über Linkin Park geredet.«

Dr. Silverstein sah ihn interessiert an, und Evan begriff, dass sie keine Ahnung hatte, wovon er sprach.

»Das ist eine Band. An dem Tag, als ich mit Danny telefoniert habe, wurde im Radio gemeldet, dass der Sänger heute Geburtstag gehabt hätte. Er ist vor ein paar Jahren gestorben. Danny und ich, wir …« Er verstummte und dachte daran, wie er ihn verschwitzt und stinkend vom Footballtraining abgeholt hatte. Danny hatte das Autoradio aufgedreht, und dann hatten sie beide aus voller Kehle den Text von »Numb« mitgegrölt.

»Ist die Musik etwas, was Sie miteinander verbunden hat?«, wollte Silverstein wissen.

Evan musste unwillkürlich grinsen. »Als er noch auf der Highschool war, war Danny total verrückt nach dieser Band. Ich habe das nie verstanden. Die Songs sind alle so voller Wut. Da geht es um die Ängste von Pubertierenden, um gescheiterte Vater-Sohn-Beziehungen … also genau das Gegenteil von Danny und mir.« Eher so wie bei Evan und Matt.

»Wie kommt der Rest Ihrer Familie mit dieser neuen Entwicklung klar? Olivia?« Bevor Evan im letzten Jahr mit seinen Einzelsitzungen angefangen hatte, waren die Pines regelmäßig an jedem zweiten Samstag zur Familientherapie hierhergekommen. Dr. Silverstein kannte sie und ihre spezielle Problematik also gut.

»Liv?«, sagte Evan. »Ich glaube, sie hat inzwischen akzeptiert, dass Danny nie wieder rauskommen wird.«

»Und was macht das mit Ihnen?«

Früher hatte es ihn wütend gemacht. Stinkwütend. Aber jetzt war er neidisch – neidisch darauf, dass seine Frau nicht ununterbrochen das Gefühl hatte, als hätte man sie mit einem Betonblock an den Füßen in den Lake Michigan geworfen. Evan hatte einmal einen Artikel über »verzögertes Ertrinken« gelesen, ein seltenes Phänomen, bei dem die Betroffenen Stunden, manchmal sogar Tage nachdem sie versehentlich Wasser eingeatmet haben, an den Folgen versterben. Genauso kam er sich seit sieben Jahren vor, als würde seiner lädierten Seele allmählich der Sauerstoff entzogen. »Ich verstehe das. Wir mussten schließlich alle nach Wegen suchen, um damit leben zu können.«

Dr. Silverstein schien seine aufgesetzte Verständigkeit sofort zu durchschauen, aber sie hakte nicht noch einmal nach.

»Und wie geht es den anderen Kindern?«

»Maggie lässt sich durch nichts aus dem Konzept bringen.« Beim Gedanken an seine Tochter musste er lächeln. »Sie macht dieses Jahr ihren Schulabschluss und verfällt dadurch automatisch auf andere Gedanken. Aber sie ist und bleibt meine Kämpferin – sie ist fest davon überzeugt, dass ihr großer Bruder wieder freikommen wird, egal, was der Supreme Court sagt.«

In Dr. Silversteins Gesicht zeigte sich ein trauriges Lächeln.

Evan fuhr fort. »Tja, und Tommy ist einfach zu jung, um das Ganze zu begreifen. Außerdem schirmt Liv ihn von allem ab.« Kurz nach Dannys Festnahme hatte Liv erfahren, dass sie schwanger war – »im fortgeschrittenen Alter«, so die diplomatische Formulierung des Arztes. Ungeplant und zum schlechtesten denkbaren Zeitpunkt, aber irgendwie hatten die Schwangerschaft und dieser kleine Junge sie alle gerettet, besonders Liv.

Silverstein wartete lange. Noch so ein Psychologentrick. Überlassen Sie es dem Patienten, die Stille zu füllen.

Als Evan nicht anbiss, ergriff sie schließlich die Initiative: »Und Matthew?«

Evan blickte zu Boden. »Wir reden immer noch nicht miteinander.«

»Das geht jetzt wie lange schon? Vier Monate?« Ihre Stimme klang sachlich, ohne jede Wertung.

Evan nickte und verschränkte die Arme vor der Brust. Er wollte nicht weiter auf das Thema eingehen und war erstaunt, als Dr. Silverstein nicht nachhakte.

Sie blickte Evan nachdenklich an. »Nach einem traumatischen Ereignis – und ich glaube, dass diese Gerichtsentscheidung in gewisser Weise ein ganz eigenes Trauma war – kann ein bewusster Neustart eine positive Wirkung entfalten. Wenn man ein bisschen Zeit außerhalb der gewohnten Umgebung verbringt. Sich vielleicht sogar amüsiert.«

»Sie meinen so was wie einen Urlaub?« Evan gab sich alle Mühe, seine spontanen Gedanken – Haben Sie eigentlich noch alle Tassen im Schrank? – zu verbergen.

»Vielleicht. Oder etwas anderes, einen Ausflug vielleicht. Als Familie.«

»Liebend gern, aber das können wir uns wirklich nicht erlauben. Finanziell, meine ich.« Er stieß den Atem aus und fällte einen Entschluss. Wenn er die Sitzung schon bezahlen musste, konnte er sie auch nutzen. »Sie haben mich gefeuert.«

»Wer?« Dr. Silverstein klang besorgt. »Sie meinen, bei der Arbeit?«

»Ja, genau. Fünfundzwanzig Jahre, und dann Puff.« Er simulierte mit den Fingern eine Explosion.

»Was ist passiert?« Ihr Blick huschte kurz zu der Standuhr, als würde sie befürchten, dass sie jetzt noch mehr Zeit benötigten.

»Das Unausweichliche.«

»Wie meinen Sie das, Evan?« Sie beugte sich mit gefalteten Händen nach vorne, sah ihn konzentriert an.

»Ich meine, ich kann es ihnen nicht verübeln. Das ist eine große Wirtschaftsprüfungskanzlei, und ich habe viel zu wenige Stunden gearbeitet, vor allem seit dem Umzug nach Chicago. Vor sechs Monaten habe ich meinen wichtigsten Mandanten verloren. Und dann natürlich: diese Sendung.«

»Sie meinen die Dokumentation?«

Evan gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben, aber welche Sendung sollte er sonst wohl gemeint haben? Der Grund dafür, dass alle von Danny Pine wussten oder mit ihm mitfühlten. Der Grund dafür, dass die Ablehnung von Dannys Antrag auf Wiederaufnahme seines Verfahrens es bis in die landesweiten Nachrichtensendungen geschafft hatte. Der Grund dafür, dass Evan sich der Illusion hingegeben hatte, sein Sohn würde nach sieben langen Jahren endlich wieder nach Hause kommen. Das Popkulturphänomen. A Violent Nature.

»Ja, genau«, sagte Evan. »Sie haben sie gesehen, oder?«

»Ja, ich habe sie gesehen.«

»Tja, dann wissen Sie ja Bescheid.«

»Ich weiß nicht genau, wie Sie das meinen.«

»Ich bin doch wie ein Irrer rübergekommen.«

»Nein.«

Evan schickte ihr einen enttäuschten Blick.

»Ich finde, Sie haben gewirkt wie ein Vater, der am Boden zerstört ist, weil sein Sohn fälschlicherweise wegen Mordes verurteilt wurde.«

»Und wie ein Irrer.«

Sie erwiderte zwar nichts darauf, aber sie gab ihm recht. Das sah er in ihrem Blick.

Zum Glück stellte sie ihm keine der Fragen, die ihn im Lauf der letzten Woche bis in seine Träume verfolgt hatten. Womit willst du jetzt Geld verdienen? Wie willst du die Raten für das Haus bezahlen? Und Maggies Studiengebühren?

»Ist alles in Ordnung?«

Evan ließ sich gegen die Lehne sinken und stieß den Atem aus. »Es ist schon seltsam, aber als ich die Nachricht bekommen habe, dass Dannys Antrag abgelehnt wurde, habe ich gerade einen Song von Linkin Park gehört, der kurz vor dem Tod des Sängers rausgekommen ist. Im Lauf der Jahre sind seine Texte weniger wütend, aber dafür zunehmend melancholischer geworden.« Evan spürte, wie sich ein Kloß in seiner Kehle bildete, und schluckte. Er spürte, dass Dr. Silverstein ihn prüfend ansah. »In dem Song geht es darum, dass es niemanden interessiert, wenn an einem Himmel mit Millionen Sternen ein einzelner Stern verglüht.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Dieser Sänger«, sagte sie. »Wie ist er gestorben?«

»Er hat sich umgebracht«, erwiderte Evan. Der Satz hing zwischen ihnen in der Luft.

»Evan«, fragte Dr. Silverstein schließlich mit ernster Stimme. »Denken Sie etwa …?«

»Natürlich nicht.«

Die Therapeutin beugte sich ein wenig näher zu ihm und sagte in deutlich sanfterem Tonfall: »Die Medikamente, die Sie nehmen, können bei manchen Menschen auch selbstzerstörerische Gedanken auslösen.«

»Ganz zu schweigen von den Erschöpfungszuständen, sexuellen Problemen und Schlaflosigkeit – alles sehr hilfreich für jemanden, der sowieso schon depressiv ist.«

Sie verzog das Gesicht. »Ich weiß Ihren Humor durchaus zu schätzen, aber es ist mein voller Ernst. Die Medikamente können Suizidgedanken hervorrufen. Sie können den Patienten zu der Vorstellung verleiten, dass es nur noch eine einzige Lösung gibt.«

Oder sie verhelfen dem Patienten dazu, endlich die Wahrheit zu erkennen.

»Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, Dr. Silverstein«, erwiderte Evan. »Es geht mir gut.«

Er sah ihr an, dass sie ihm nicht glaubte.

Wie gesagt, sie war eine gute Therapeutin.

Auszug aus

A Violent Nature

Staffel 1/Folge 1

»Leichenfund am Bach«

SCHWARZERBILDSCHIRM – BANDAUFNAHMEPOLIZEINOTRUF

(nur Audio)

TELEFONISTIN

Notrufzentrale, was kann ich für Sie tun?

ANRUFER

(schwer atmend)

Ich bin mit meinem Hund am Stone Creek. Und da liegt jemand … ich … ich … ich glaube, ein junges Mädchen.

Im Hintergrund ist verstörtes Bellen zu hören.

ANRUFER

Sie müssen sofort jemanden herschicken.

TELEFONISTIN

Ganz langsam, Sir. Sie sagen, da liegt ein junges Mädchen? Atmet sie noch?

ANRUFER

Nein, ihr Kopf … da ist überall Blut … Großer Gott …

EINBLENDUNG – LOKALENACHRICHTENSENDUNG

NACHRICHTENSPRECHER

Im Fall der ermordeten Charlotte Rose scheint es am heutigen Abend einen entscheidenden Durchbruch gegeben zu haben. Die aus Adair stammende Jugendliche hatte eine Hausparty besucht und war anschließend erschlagen am Ufer des Stone Creek entdeckt worden. Wie wir nun erfahren haben, soll der Freund des Opfers, Daniel Pine, am heutigen Abend festgenommen worden sein …

INNEN, STUDIO

EINBLENDUNG

»Louise Lester, Institut für Justizirrtümer«

LESTER

Zuerst war ich skeptisch. Das Institut bekommt ja Tausende Anfragen von Inhaftierten, die alle glauben, dass sie unschuldig sind. Und die hier stammte von der zwölf Jahre alten Schwester des Verurteilten. Aber dann haben wir uns die Verhandlungsprotokolle vorgenommen.

(Lester schüttelt fassungslos den Kopf.)

Die Anklage vertrat die Theorie, dass Danny und Charlotte gemeinsam eine Hausparty besucht haben, dass Charlotte ihm dort eröffnet hat, dass sie schwanger ist, und dass sie sich daraufhin gestritten haben. Anschließend soll Danny sich heftig betrunken haben, und dann sollen sie sich irgendwann im Anschluss an die Party erneut heftig gestritten haben. Er hat sie geschubst, sie ist gestürzt und hat sich dabei eine tödliche Schädelverletzung zugezogen. Danny wurde daraufhin von Panik erfasst und hat ihren Leichnam mithilfe einer Schubkarre ans Bachufer gebracht. Dort hat er ihr mit einem großen Stein den Schädel eingeschlagen. Das war eine sehr blutige Angelegenheit, aber man hat nirgendwo auf seiner Kleidung Blut gefunden, auch keine DNA oder sonstige Indizien. Absolut nichts. Klingt das wie die Tat eines schwer betrunkenen Jugendlichen? Und dann mussten wir feststellen, dass die Anklage der Verteidigung auch noch entlastendes Beweismaterial vorenthalten hatte …

Kapitel 4

Matt Pine

Wände aus Betonstein umgaben das Besucherzimmer des Gefängnisses, und es stank nach einem starken Reinigungsmittel. Matt musterte Agentin Keller, die ihm stumm gegenübersaß. Sie redete nicht viel, aber sie strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das er als beruhigend empfand. Sogar in einem Hochsicherheitsgefängnis, umgeben von Mördern, Vergewaltigern und den übelsten Gestalten, die diese Gesellschaft zu bieten hatte – während das entfernte Geschrei dieser verlorenen Seelen draußen vor der Tür bis in diesen Raum drang –, blieb sie ruhig und beherrscht.

»Das dauert aber«, sagte Matt, nur um die Stille zu durchbrechen. Sie saßen bereits eine gute halbe Stunde hier drin.

Keller nickte.

»Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, da waren wir noch Kinder«, fuhr Matt nervös fort. Er hatte Danny nie im Gefängnis besucht. Dad hatte immer gesagt, dass das Dannys ausdrücklicher Wille war. Sein Bruder wollte nicht, dass seine Geschwister ihn so sahen, eingesperrt wie ein wildes Tier.

Deshalb war Danny in Matts Vorstellung immer noch der Junge von damals. Das Paradebeispiel für einen Kleinstadt-Footballstar. Danny war zwar kein Tom Brady, aber in Adair, Nebraska, war sein Bruder eine große Nummer gewesen.

»Wie alt waren Sie, als er wegmusste?« Keller schien gegen ihre Verachtung für Small Talk anzukämpfen.

»Vierzehn.«

Noch ein Nicken. »Hatten Sie ein enges Verhältnis? Ich meine, bevor …«

»Ja«, log Matt. Als sie noch kleiner waren, hatten sie manchmal stundenlang Forts gebaut und mit Lego-Steinen gespielt, waren auf Bäume geklettert, aber nachdem Danny auf die Highschool gewechselt und ein lokaler Star war, war Matt nicht mehr länger Teil seines Universums gewesen. Dazu kam, dass die Beziehung zwischen seinem Vater und Danny sämtliche Luft im Raum beansprucht hatte. Dad hatte Matt einfach nicht wahrgenommen.

Dann war die wunderschöne Charlotte ermordet worden. Nach einer Highschoolhausparty, wo man sie das letzte Mal lebend gesehen hatte, war sie an einem unbekannten Ort erschlagen und anschließend am Ufer eines Bachs in der Nähe ihres Zuhauses abgelegt worden. Die Polizei hatte im überwucherten Unterholz neben dem Pfad, der quer über das Grundstück der Pines verlief, eine Schubkarre gefunden. Niemand hatte eine Erklärung dafür, weshalb Charlottes Leichnam überhaupt bewegt oder warum ihr nach ihrem Tod auch noch der Schädel eingeschlagen worden war. Nur in einem Punkt waren sich alle sicher gewesen: dass ihr Freund die Tat begangen hatte. Danny Pine.

Von diesem Tag an war nichts mehr gewesen wie zuvor. Es war das Jahr null für die Pines. Es gab ein »vor Charlotte« und ein »nach Charlotte«. Und jetzt hatte Matt ein neues Jahr null.

»Sie haben ihn also nicht mehr gesehen, seit …« Keller brachte ihren Satz nicht zu Ende.

»Meine Eltern haben uns vom Prozess abgeschirmt. Wir haben miteinander telefoniert, aber ansonsten … nein.«

Das letzte Mal hatte Matt Danny an dem Abend gesehen, als Charlotte ermordet worden war. Jener Abend war auch aus einem anderen Grund für Matt sehr bedeutsam gewesen. Jessica Wheeler hatte ihn gefragt, ob er sich heimlich mit ihr treffen wolle. Sie waren in der neunten Klasse gewesen, und er hatte damals noch kein Handy gehabt. Also hatte sie ihm, nachdem sie wochenlang geflirtet hatten, im Physikunterricht einen Zettel zugesteckt:

Heute Nacht um drei Uhr auf dem Maulwurfshügel?

JA oder NEIN

BITTEANKREUZEN

Der Maulwurfshügel war ein berühmt-berüchtigter Treffpunkt für Liebespaare auf der Spitze eines abgeschiedenen Hügels, gar nicht weit vom Stone Creek entfernt. Ein Ort, um in den Sternenhimmel zu schauen und falsche Entscheidungen zu treffen. Natürlich hatte er JA angekreuzt. Und war sehr überrascht gewesen, als sie tatsächlich dort aufgetaucht war, in Schlafanzug und Hausschuhen und mit einer Taschenlampe in der Hand. Sie hatten sich in das kalte Gras gelegt und in den schwarzen, mit Sternen gespickten Himmel geblickt, während die Wolken vor dem Mond vorbeigezogen waren.

»Das erinnert mich an die eine Sternguckerszene aus Nur mit Dir«, sagte Matt. »Hast du den mal gesehen?« Sie schüttelte den Kopf.

»Er ist ziemlich alt und nicht besonders gut, so wie die meisten Nicholas-Sparks-Verfilmungen. Aber diese eine Szene, die fand ich richtig gelungen.«

»Fährst du eigentlich schon immer so auf Filme ab? Ich meine, weil du ständig irgendwelche Sachen mit Filmszenen vergleichst.«

Matt lächelte. »Tut mir leid. Meine Familie flippt da jedes Mal aus.«

»Ich finde das süß.«

»Später will ich Filmemacher werden. An der NYU gibt es ein ganz tolles Filmstudium. Mein Opa hat immer gesagt, also, bevor er krank geworden ist, dass Filme die Gedichte unserer Zeit sind.«

Sie wandte sich zu ihm und sah ihn an.

»Nicholas Sparks … Hast dumal Wie ein einziger Tag gesehen?«

»Na, klar. Die Kritiker fanden ihn grässlich, aber das ist ein absoluter Kultklassiker. Die Szene, wo sie sich im Regen küssen, die gilt als …«

Jessica legte ihm einen Finger auf die Lippen. Dann nahm sie ihn wieder weg, und er spürte, wie ihre Lippen sanft seine Lippen berührten. Ryan Gosling und Rachel McAdams waren ein Dreck dagegen.

Matt legte unwillkürlich die Finger an seine Lippen und dachte an die Stromstöße, die damals durch seinen gesamten Körper gezuckt waren. In diesem Moment ging die Tür auf.

»Matty?«

Matt stand auf und starrte die Person, die da vor ihm stand, verwirrt an. Aus dem jugendlichen Footballstar war ein Mann geworden. Er sah immer noch gut aus mit seinen blonden Haaren und dem kantigen Kinn. Aber in seinen einst so klaren blauen Augen entdeckte Matt eine gewisse Härte. Und nach Dannys durchdringenden Blicken zu urteilen, war er nicht besonders erfreut darüber, Matt zu sehen.

»Was willst du denn hier?«, fragte Danny. »Ich habe Dad ausdrücklich gesagt, dass ich nicht will …« Er unterbrach sich und musterte Keller. »Wer sind Sie?«

»Warum setzt du dich nicht erst mal hin?«, meinte Matt.

Als Danny nicht reagierte, schob der Wärter ihm einen Stuhl hin. »Setz dich, Dan«, sagte er. Seine Stimme klang streng, aber auch ein klein wenig besorgt, als wüsste er bereits, was als Nächstes kommen würde.

Danny setzte sich und sah Matt dabei ununterbrochen an.

Keller sagte: »Lassen wir die beiden einen Augenblick allein.«

Der Wärter schien erleichtert angesichts der Gelegenheit, den Raum verlassen zu können. Ja, er wusste ganz genau, was gleich passieren würde.

»Was ist denn hier los, verdammt noch mal? Matty?«

Matt schluckte und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen und den dicken Kloß in seiner Kehle an. »Es hat einen Unfall gegeben.«

»Einen Unfall? Was denn für einen Unfall? Was soll das …«

»Dad und Mom. Maggie und Tommy. Sie waren in Mexiko, in den Frühjahrsferien. Sie sind … tot, Danny.«

»Tot?« Angst und Fassungslosigkeit schwangen in Dannys Stimme mit.

»Anscheinend eine undichte Gasleitung. In ihrem Ferienhaus«, fuhr Matt fort.

Danny legte die Handflächen auf den Tisch und lehnte sich weit zurück, als wollte er sich von Matts Worten distanzieren. Seine Kiefer arbeiteten. Er wollte etwas sagen, aber es war, als ob ihm sämtliche Worte herausgerissen worden waren.

Während der nächsten zehn Minuten sah Matt, wie sein Bruder in eine Million Splitter zerbrach, so wie es ihm selbst heute Morgen ergangen war.

Irgendwann klopfte jemand an die Tür. Der Wärter steckte den Kopf herein.

»Wir müssen dich zurück in die Zelle bringen«, sagte er. »Ihr müsst euch verabschieden.« Er wollte die Tür gerade wieder schließen, da schaute er Danny direkt an. »Und reiß dich bloß zusammen.«

Danny wischte sich mit dem Hemd die Tränen ab. Erst jetzt wurde Danny klar, dass der Wärter Danny aufgefordert hatte, seine Gefühle in den Griff zu bekommen. Dies hier war kein Ort, wo man sich Schwäche erlauben konnte.

»Ich rufe dich an, sobald ich mehr weiß«, sagte Matt.

Danny blieb stumm.

Matt saß einfach nur da. Was sollte er jetzt noch sagen? Was konnte er noch sagen? Ihre Eltern und Geschwister lebten nicht mehr. Und sie kannten einander kaum.

Der Wärter erschien erneut und winkte Danny zur Tür.

Bevor er den Raum verließ, wandte Danny sich noch einmal an Matt. »Komm nie wieder hierher, Matty.« Danny schluckte. »Sie haben viel zu viel von ihrem Leben für mich vergeudet. Wirf nicht auch noch deines weg.«

Und dann war er verschwunden.

Keller stand in der Tür. Sie hatte Dannys Abschiedsworte gehört. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich.

Matt gab keine Antwort. Er war stinksauer auf sie, weil sie ihn gezwungen hatte hierherzukommen.

Ein weiterer Wärter begleitete sie durch die Anstalt. Sie folgten einer gelben Linie auf dem Betonfußboden. Matt spürte, wie die Blicke der Insassen ihnen von oben folgten. Als sie vor einer Sicherheitstür warten mussten, sah er sich um und beobachtete, wie der Wärter am anderen Ende Danny zu seiner Zelle begleitete.

Sein Bruder besaß immer noch den typischen Gang eines Kleinstadt-Footballstars. Vielleicht wollte er sich vor den anderen Gefangenen keine Blöße geben, aber trotzdem … selbst nach all diesen Jahren strahlten seine Bewegungen eine fast arrogante Selbstsicherheit aus.

Matt dachte noch einmal an jene Nacht mit Jessica Wheeler. An seine beschwingten Schritte, nachdem er sie nach Hause gebracht hatte. Das war kurz vor vier Uhr morgens gewesen und sein Lächeln so strahlend hell, dass es vermutlich sogar auf dem finsteren Fußweg zu sehen war. Auf dem Pfad beim Haus, wo er dann die dunkle Silhouette seines Bruders erblickte – mit der Collegejacke und diesem selbstbewussten Gang –, wie er eine Schubkarre in Richtung Bachlauf schob.

Kapitel 5

Matt hatte den Kopf ans hintere Seitenfenster des Suburban gelehnt. Regenwasser floss über die Scheibe.

Keller saß auf dem Beifahrersitz und drückte ihr Smartphone ans Ohr. Aus irgendeinem Grund hatten sie für den Rückweg nicht den Hubschrauber genommen. Wie lange waren sie jetzt schon unterwegs? Eine Stunde? Zwei?

Der SUV bog von der Interstate 87 ab und fuhr auf eine Shell-Tankstelle. Der Fahrer, der trotz des Nieselregens eine Sonnenbrille trug, stieg aus, um zu tanken.

Keller drehte sich um. »Ich besorge mir mal einen Kaffee«, sagte sie und öffnete die Beifahrertür. »Wollen Sie auch was?«

»Eine Mountain Dew wäre gut. Ich brauche was zum Aufwachen.«

Keller quittierte seine Äußerung mit einem missbilligenden Stirnrunzeln und steuerte den kleinen Tankstellenladen an.

Matt musste wieder an Danny denken. Er malte sich aus, wie sein Bruder in seiner Zelle saß und mit den Tränen kämpfte. Was für ein schrecklicher Ort, wo jede Gefühlsregung als Schwäche galt, die einen zur leichten Beute machte. Er sah die Muskeln seines Bruders vor sich und seine kalten Augen.

Keller kehrte mit einem Kaffeebecher und einer kleinen Plastiktüte zurück. Aber anstatt sich wieder auf den Beifahrersitz zu setzen, kletterte sie zu Matt auf die Rückbank. Sie holte eine Wasserflasche und einen Apfel aus der Tüte und reichte ihm beides.

»Mountain Dew war aus«, sagte sie. Das war eindeutig gelogen. »Aber auf der Akademie haben sie uns beigebracht, dass Wasser eine viel erfrischendere Wirkung hat als Koffein.«

»Tatsächlich?« Matt beäugte den Kaffeebecher in Kellers Hand.

Sie lächelte ihn wissend an und nippte an ihrem Kaffee. Der Fahrer ließ den Motor an, aber Keller blieb auf der Rückbank sitzen. Da wurde Matt klar, dass sie etwas mit ihm besprechen wollte.

»Hören Sie«, begann sie, während der SUV sich wieder in den Verkehr einfädelte. »Mir ist klar, dass das jetzt kein guter Zeitpunkt ist, aber wir brauchen Ihre Hilfe.«

Matt richtete sich auf. Nahm einen großen Schluck Wasser. »Klar.«

»Die Mexikaner machen uns Schwierigkeiten. Es geht um …« Keller holte Luft. »… um den Rücktransport Ihrer Angehörigen. Die Mexikaner wollen die Freigabe erst erteilen, wenn ein unmittelbares Familienmitglied verschiedene Papiere unterschrieben hat.«

»Kein Ding. Ich unterschreibe alles, was die Ihnen schicken.«

»Genau das ist das Problem. Sie wollen uns die Papiere nicht zuschicken. Sie wollen, dass das persönlich vor Ort erledigt wird.«

»Moment mal. Was?«

»Wir haben alle juristischen und diplomatischen Hebel in Bewegung gesetzt, aber die örtlichen Behörden stellen sich stur. Die haben sich schon in Bezug auf Informationen sehr bedeckt gehalten, und jetzt beharren sie darauf, dass ein Angehöriger der Verstorbenen persönlich vor Ort erscheinen muss.«

»Wieso?«, wollte Matt wissen.

»Möglicherweise hängt es damit zusammen, dass sie Auswirkungen auf den Tourismus befürchten. Das, was da passiert ist, ist ja nicht unbedingt die beste Werbung. Oder wir haben es mit irgendeiner bürokratischen Machtdemonstration zu tun. Oder …« Sie sah Matt direkt in die Augen. »… sie haben etwas zu verbergen.«

Matt überlegte. »Wenn Sie das für notwendig halten, okay, dann mache ich das. Wann denn?«

»Wir haben Ihnen einen Flug für morgen früh gebucht.«

Matt schnaufte laut. Hörte diese beschissene Woche denn gar nicht mehr auf? Er nickte unverbindlich und starrte abermals zum Fenster hinaus. Er war nicht gerade in Reiselaune. Er hatte kaum hundert Dollar auf dem Konto. Und seit dem Streit mit seinem Vater hatte er, stur wie er war, von seinen Eltern kein Geld mehr angenommen.

Lange Zeit saßen sie schweigend nebeneinander im SUV, der irgendwann den Henry Hudson Parkway und schließlich Manhattan erreichte.

Der Regen hatte nachgelassen, und plötzlich riss die Wolkendecke auf. Sonnenstrahlen durchschnitten die Düsternis. Der goldene Glanz auf den Hochhäusern erinnerte Matt an eine ihrer Familientraditionen. Jedes Jahr im Juli hatte die Wirtschaftsprüfungskanzlei, in der sein Vater arbeitete, ihre jährliche Betriebsversammlung in New York abgehalten, und sie waren immer alle mitgekommen. Denn der Termin hatte sich mit einem anderen Ereignis überschnitten: Manhattanhenge. Das war einer von zwei Tagen im Jahr, an denen die untergehende Sonne in gerader Linie auf die New Yorker Straßen fiel. An denen die feuerrote Kugel auf ihrem Weg hinter den Horizont von Wolkenkratzern und mehrstöckigen Mietshäusern eingerahmt wurde. Matt dachte zurück an das letzte Manhattanhenge vor dem Jahr null. Sie hatten alle in einem Café in der 14th Street gesessen und Dad und Mom hatten, beschwingt vom Wein und von der Großstadtatmosphäre, Händchen gehalten. Danny hatte die Mädchen abgecheckt, die mit Filmstarsonnenbrillen und kurzen Röcken vorbeistolziert waren. Maggie hatte sich in einen Reiseführer vertieft und alle möglichen Fakten über dieses seltene Sonnenschauspiel heruntergerattert.

Als Nächstes tauchten Bilder vom letzten Jahr auf: dasselbe Café, und alle hatten sich auf den ihnen zugedachten Stühlen niedergelassen. Dad neben Maggie, ihr gegenüber Mom und neben Mom Tommy, der Dannys Platz eingenommen hatte, während Matt – leicht im Abseits – versuchte, sich mit an den winzigen Tisch zu quetschen. Sie spulten mechanisch ihr Pensum ab, taten so, als hätte das Ritual weiterhin eine Bedeutung. Die neuen Pines, jetzt mit verbesserter Rezeptur.

Aber nun spürte er einen großen Schmerz in seinem Inneren, weil beide Versionen seiner Familie nicht mehr am Leben waren. Nach all der Bitterkeit, der Wut, der Sehnsucht nach dem Original hätte er in diesem Moment alles dafür gegeben, seine bizarre Post-Jahr-null-Familie zurückzuhaben. Er hätte alles dafür gegeben, seinem Vater sagen zu können, dass seine Worte ihm leidtaten. Seiner Mutter, was sie ihm bedeutete. Maggie, wie viel Licht sie in sein Leben brachte. Tommy, dass er sie alle gerettet hatte. Aber dieses Leben war vorbei, sosehr er ihm auch nachtrauerte. Die Verwüstung, die Zerbrechlichkeit all dessen, was sie gehabt hatten, war fast mehr, als er ertragen konnte.

»Wo sollen wir Sie absetzen?«, erkundigte sich Keller. »Am Wohnheim?«

»Meinen Sie, dass sie schon weg sind?«

»Wer? Die Reporter?«

»Ja.«

Keller runzelte die Stirn. »Das glaube ich kaum. Haben Sie vielleicht einen Freund, wo wir …«

»Könnten Sie mich vielleicht zur East 17th Street bringen?«

Der Fahrer blickte in den Rückspiegel, und Keller nickte. Der SUV schlängelte sich um mehrere Wagen herum, bis sie im Stau feststeckten. Der Fahrer schaltete das Blinklicht auf dem Armaturenbrett ein, und die Autos vor ihnen schoben sich nach links und rechts, sodass eine schmale Gasse entstand.

Matt starrte erneut zum Fenster hinaus, wo die Feierabendmeute auf dem Weg zur Happy Hour, zu Vorortzügen oder vollgestopften Apartments war.

Endlich machte der SUV in der East 17th Street am Straßenrand Halt.

»Hier?« Keller beäugte den heruntergekommenen Friseurladen und die chemische Reinigung nebenan misstrauisch.

»Mein Freund wohnt da oben.« Matt hob den Blick zu einem der oberen Fenster des vierstöckigen Wohnhauses, das dringend einen neuen Anstrich benötigte.

Keller nickte. »Ich habe gerade die Nachricht erhalten, dass wir Ihr Handy gefunden haben«, sagte sie. »Ich könnte es Ihnen morgen vor dem Abflug vorbeibringen. Ist Ihnen das recht?« Sie reichte Matt einen Zettel. »Hier finden Sie alles, was Sie zu Ihrem Flug wissen müssen, auch den Namen des Konsulatsmitarbeiters, der Sie am Flughafen in Mexiko abholt.«

»Okay.«

»Hat Ihr Freund eine Telefonnummer, unter der wir Sie erreichen können?«

»Die weiß ich nicht auswendig. Steht in meinem Handy.« Die Kunst, sich eine zehnstellige Zahl zu merken, ist dank Apple ausgestorben.

»Na gut. Hier haben Sie meine Nummern.« Sie gab ihm eine Visitenkarte.

Matt warf einen Blick darauf. SARAHKELLER, ABTEILUNGFÜRWIRTSCHAFTSDELIKTE. Wieso hatten sie eine Agentin, die für Wirtschaftskriminalität zuständig war, zu seiner Babysitterin gemacht? Er hatte angenommen, dass das FBI sich entweder wegen Danny und der Doku-Serie eingeschaltet hatte, oder weil amerikanische Staatsbürger im Ausland ums Leben gekommen waren. Na ja, nicht sein Problem.

Er stieß die Seitentür auf und trat auf den Bürgersteig. Inzwischen zeigten sich wieder die Wolken und verdeckten die Sonne.

»Und, Matt«, sagte Keller noch, bevor er die Tür zuschlug. »Mein aufrichtiges Beileid.«

Matt sah die Bundesagentin an und glaubte ihr.

Kapitel 6

Matt drückte noch einmal auf die Klingel des abgetakelten Mietshauses. Schon wieder keine Reaktion. Er schaute links und rechts die Straße entlang, die von verbeulten Autos und Häusern ohne Fahrstuhl gesäumt wurde. Zu mehreren Fenstern ragten Klimaanlagen heraus. Er warf einen Blick durch das dunkle Schaufenster des Friseurladens und sah nur die Umrisse von vier Stühlen vor je einem Spiegel. Matt klingelte ein weiteres Mal. Als immer noch nichts passierte, ging er durch eine schmale Gasse zur Rückseite des Gebäudes, wo sich eine klapperige Feuerleiter befand. Sie war verrostet und wirkte, als würde sie nur darauf warten, jemanden ins Unglück zu stürzen. Matt sprang hoch, erwischte die unterste Sprosse und zog daran. Mit lautem Scheppern rutschte die Leiter nach unten.

Matt kletterte bis in den dritten Stock hinauf. Als er auf dem schmalen Gitterabsatz ganz oben angekommen war, spähte er zum Fenster hinein. Ganesh lag regungslos auf dem Sofa. Die zahlreichen Kifferutensilien auf dem Couchtisch hätten problemlos ausgereicht, um einen Headshop zu bestücken. Das Fenster stand einen Spalt breit offen, sodass das Gebrüll aus dem Fernseher bis nach draußen drang. Matt klopfte gegen die Scheibe.

Als Ganesh sich nicht rührte, zwängte Matt die Finger in den Spalt und schob das Fenster nach oben. Der Rahmen war alt und verzogen und ließ sich nach der Hälfte gar nicht mehr bewegen. Er krabbelte durch die Öffnung.

»Ganesh«, rief Matt, aber sein Freund rührte sich nicht. Er lag besinnungslos und mit geöffnetem Mund da. Hatte seine Brille mit dem Plastikrahmen auf der Nase und eine Tüte Kartoffelchips auf dem Schoß.

»Ganesh«, wiederholte Matt nun lauter, um die Fox News zu übertönen, die aus dem Fernseher, der an der Wand gegenüber vom Sofa montiert war, dröhnten.

Ganesh schreckte auf und blickte sich um. Nachdem er Matt erkannt hatte, schien er sich ein wenig zu entspannen.

»Alter, hast du mich erschreckt«, sagte Ganesh. Er sprach mit einem leichten, kaum wahrnehmbaren indischen Akzent, der sich eher britisch anhörte.

»’tschuldige, aber ich hab geklingelt, und du hast nicht aufgemacht, darum …« Matt deutete mit dem Kinn auf das Fenster. Sie waren schon einmal auf diesem Weg in die Wohnung gekommen, als Ganesh seinen Schlüssel zu Hause vergessen hatte. Aber wenigstens war Matt dieses Mal nüchtern.

»Kein Ding.« Ganeshs Locken waren völlig zerzaust. Er setzte sich auf und wischte sich die Chipskrümel vom Shirt. Dann sah er Matt lange und mitfühlend an. »Ich hab’s bereits gehört … hast du meine Nachrichten gekriegt? Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Matt nickte. Nichts, was Ganesh sagen würde – nichts, was irgendjemand sagen konnte –, würde auch nur das Geringste ändern.

Ganesh beugte sich nach vorne und nahm eine hohe, zylinderförmige Bong vom Couchtisch. Das Feuerzeug in der einen, die Bong in der anderen Hand, so bot er Matt den ersten Zug an.

Matt lehnte mit erhobener Hand ab. Er hatte sich nie etwas aus Marihuana gemacht. Und er fand es jedes Mal wieder merkwürdig, dass Ganesh, ein Republikaner durch und durch, die Droge als Krücke benutzte. Aber sein Mitbewohner aus dem ersten Studienjahr war ohnehin ein rätselhafter Charakter. Ganesh war gerade dabei, sein vierjähriges Studium nach dem dritten Jahr abzuschließen und hatte bereits die Zusage für ein Medizinstudium mit Schwerpunkt Neurowissenschaften in der Tasche. Sehr passend. Ganeshs Gehirn allein bot vermutlich Stoff für viele Jahre Forschung. Er war ein Konservativer, der sich an der liberalen NYU eingeschrieben hatte. Er war ein Einwanderer, der liebend gerne in »Baut-die-Mauer«-Sprechchöre einstimmte. Er war gebildet und doch äußerst anfällig für Verschwörungstheorien. Er war in einem Zehn-Millionen-Dollar-Penthouse in Mumbai aufgewachsen, hatte sich aber für ein Leben in einer siffigen Bude am Rand von Greenwich Village entschieden.

Ganesh stieß eine dicke Rauchwolke aus und richtete die Fernbedienung auf den Fernseher. »Dein beknackter Hauswart hat im Fernsehen über dich geredet. Und deine Freundin auch.«

»Meine Ex«, verbesserte ihn Matt.

»Ich hab’s aufgezeichnet«, sagte Ganesh. Er scrollte durch die Aufnahmen und klickte die lokale Nachrichtensendung an. Als Nächstes tauchte Phillips schnöseliges Gesicht auf der Mattscheibe auf.

»Wir sind alle am Boden zerstört«, sagte Phillip.

»Stehen Sie und Matt Pine sich nahe?«, wollte die blonde Reporterin mit dem Mikrofon in der Hand wissen.

»O ja. Ich bin hier nicht bloß der Hauswart. Wir sind wie eine große Familie.«

Ganesh musste lachen, verschluckte sich am Rauch und hustete.

Als Nächstes war Jane im Bild. Ihre langen roten Haare sahen aus wie frisch geföhnt, und in ihren Augen glitzerten Tränen.

»Mr und Mrs Pine waren wunderbare Menschen. Sie haben mich immer behandelt, als würde ich zur Familie gehören. Und Matthews Schwester Margaret war ein ganz besonderes Mädchen. Sie war für die gesamte Familie eine Stütze. Im Herbst wollte sie ihr Studium am MIT beginnen. Und Tommy.« Janes Stimme brach. »Er war so ein süßer kleiner Junge.«

Ihre Gefühle waren echt. Jane hatte ihm erst gestern mitgeteilt, dass sie ihn zwar liebe, aber dass er ihr nicht das geben könne, was sie brauche. Was immer das war. Dass Jane ihn verlassen hatte, war letztlich nicht weiter verwunderlich. Aber obwohl er sich für einen durchaus aufmerksamen Menschen hielt, hatte er ihre Entscheidung nicht kommen sehen. Sie stammte aus einer reichen Familie, war in einer atemberaubenden Wohnung auf der Upper West Side groß geworden und brachte alle Voraussetzungen mit, um einen dieser Typen von der Stern School of Business, der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der NYU, zu heiraten, die im Anzug und mit Aktenköfferchen in die Vorlesung kamen. Manchmal hatte Matt den leisen Verdacht gehabt, dass Jane nur mit ihm – einem Filmstudenten mit Förderstipendium – zusammen war, um ihre Eltern zu ärgern.

Jetzt tauchte auf dem Bildschirm ein Foto von Danny aus der Doku-Serie auf. Matt griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

Anschließend saßen er und Ganesh eine lange Zeit schweigend da. Matt hing seinen Gedanken nach, und Ganesh war bekifft. Er kaute auf seinen Salz-und-Essig-Chips herum, ohne irgendwelche Plattitüden vom Stapel zu lassen. Das war eines der Dinge, die Matt an Ganesh am meisten schätzte. Er redete keinen Müll. Als die Dokumentation erschienen war – das war während Matts erstem Studienjahr gewesen –, hatte Ganesh ihn davor bewahrt durchzudrehen. »Lass dich nicht stressen, Bro«, hatte er gesagt. »Wir machen Limonade draus und nutzen die Gelegenheit, um ein paar Mädchen abzuschleppen.« Das war nicht der schlechteste Ratschlag gewesen.

Jetzt sagte Ganesh: »Ich wollte nachher noch auf eine Party in Brooklyn gehen. Hast du Lust?«

»Ich glaube, ich bleibe lieber hier. Kann ich bei dir übernachten?«

»Na klar, Mann, bleib, solange du willst. Wie damals«, erwiderte Ganesh. Es klang, als sei ihr erstes Jahr an der Uni ein ganzes Leben lang her. Und in vielerlei Hinsicht war es auch so.

»Ich kann auch hierbleiben«, meinte Ganesh jetzt. »Falls du ein bisschen Gesellschaft brauchst. Ich könnte …«

»Nein, nein, geh ruhig. Ich hab einen anstrengenden Tag hinter mir. Ich gehe früh schlafen.«

»Cool, cool, cool.« Ganesh verschwand im Schlafzimmer. Als er wiederauftauchte, hatte er sich ein Kapuzenshirt übergestreift und roch nach Axe Bodyspray.

»Deine Ex schickt mir pausenlos Nachrichten, dass sie dich sucht. Alle anderen auch. Soll ich …?«

»Sag ihnen nicht, wo ich bin. Ich will ein bisschen allein sein. Morgen früh melde ich mich.«

Ganesh nickte. »Und du willst wirklich nicht mitkommen? Dich ein bisschen ablenken?«

Matt schüttelte den Kopf. Dieses Mal konnte er nicht einfach Limonade draus machen. »Zisch ab. Amüsier dich.«

Ganesh stopfte das restliche Gras vom Couchtisch in die Tasche seines Hoodies und ging los.

Matt war endlich allein. Er rollte sich auf Ganeshs Sofa zusammen und weinte.

Kapitel 7

Sarah Keller

Agentin Keller steckte den Schlüssel in die Tür des kleinen, im Ranchstil gestalteten Häuschens. Motten kreisten um das Terrassenlicht über ihrem Kopf. Readington, New Jersey, war kein schickes Pflaster, aber das war ihr gerade recht. Unter finanziellen Aspekten vernünftig, hätte man angesichts ihres FBI-Gehalts sagen können. Aber umgeben von Arbeiterfamilien und jungen Paaren im ersten eigenen Heim war es hier auch ziemlich sicher.

Im Windfang blieb sie stehen und lauschte den Geräuschen aus der Küche. Leise legte sie ihren Schlüsselbund in die Schale auf dem Flurtischchen und schlich den Gang entlang, setzte ihre Füße sehr behutsam, um die knarrenden Dielenbretter zu umgehen. Als sie vor der Küchentür angekommen war, wurden die Geräusche lauter. Ein gleichmäßiges Rasseln, das sich anhörte wie Maracas.

Und Kichern.

Ohne sich bemerkbar zu machen, spähte Keller hinein.

Bob stand am Herd und machte Popcorn, und zwar nach der altmodischen Methode, in einer Pfanne mit einem Deckel aus Aluminiumfolie. Die Zwillinge standen einen halben Meter entfernt und sahen ihm dabei zu. Michael trug seinen Dinosaurierschlafanzug, Heather das Baumwollnachthemd mit der Schönen ohne Biest.

Bob legte die Hand an den Pfannenstiel und rüttelte mit schnellen Bewegungen an der Pfanne. Die beiden Kinder schüttelten sich im selben Rhythmus. Dann verharrte Bob plötzlich, und die Zwillinge erstarrten ebenfalls – Michael hatte die Arme wie eine Vogelscheuche in die Luft gereckt, und Heather versuchte sich das Lachen zu verkneifen. Anschließend beschrieb Bob mit der brutzelnden Pfanne weit ausladende Achten, und die Kinder schwangen dazu die Hüften, als würden sie unsichtbare Hula-Hoop-Reifen kreisen lassen.

Keller spürte, wie sie von Wärme durchströmt wurde. Bob hatte eine Glatze, aber keine von der stylish-coolen Sorte wie die jungen Agenten, die sie kannte. Nein, seine Glatze wurde von einem Kranz aus dichten schwarzen Haaren umgeben. Das zerfledderte T-Shirt, das er bei irgendeinem Rockkonzert erstanden hatte, wurde durch die Wölbung seines Bauchs zusätzlich strapaziert. Aber die Augen ihrer Kinder brachte er zum Leuchten, als wäre er ein Filmstar. Und Kellers Augen auch.