Allein im Harz - Solveig Klaus - E-Book

Allein im Harz E-Book

Solveig Klaus

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Beschreibung

Stell dir vor, du kannst niemandem trauen. Nicht mal dir selbst ... Vanessa benötigt dringend Urlaub. Als ihr ein guter Freund seine Waldhütte im Harz anbietet, überlegt sie nicht lange. Eine Reise zu sich selbst soll es werden. Zwei entspannte Wochen mitten in der Natur. Doch bald schon wird sie aus ihrer unbeschwerten Urlaubsidylle gerissen. Etwas Unfassbares beschleunigte ihren Herzschlag. Ein Cosy-Thriller, den man ungern aus der Hand legen mag. Wer schaurig schönen Nervenkitzel eingebettet in eine sagenumwobene Landschaft mag, ist hier genau richtig. Ein Thriller mit nicht allzu vielen grausigen Details, der Lust auf einen Besuch im Harz macht. Ferien in einer einsamen Waldhütte, was soll da schon passieren? Lege das Buch in den Einkaufswagen und finde es heraus. Denke an Geburtstage, Ostern oder Weihnachten. Das perfekte Geschenk für Fans des seichten Psychothrillers.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Impressum

Solveig Klaus

Allein im Harz

COSY Thriller

 

1

„Es geschah im Mittelalter, im Jahre 935. Da erhob sich ein Kloster in Thale, malerisch gelegen an dem breiten Flusse Bode. Zu jener Zeit trat Anselmus in das ehrwürdige Kloster ein und legte den Mönchshabit ab. Doch dieser Mönch Anselmus war vom Bösen durchdrungen und erfüllte all seine Klosterbrüder mit tiefem Schaudern. Unruhe stiftete er unter den Brüdern und war zu jeder Missetat bereit. Anselmus frönte der Unehrlichkeit, Schadenfreude und Völlerei. Auch für Gold tat er alles. Von seinem zweifelhaften Ruhm hörte der Ritter Heinrich von Homburg. Der hatte ein Auge auf die Tochter des Harzgrafen geworfen und war ihrem Liebreiz verfallen, doch diese zeigte ihm die kalte Schulter. In seiner Not wandte er sich an den Mönch und nahm dessen Dienste in Anspruch. Anselmus wäre nicht Anselmus, hätte er aus Gier diese schändliche Aufgabe nicht angenommen. Natürlich gegen bare Münze, sprich zwei Beutel voller blinkender Goldtaler. Er sollte die holde Maid entführen. Dies tat Anselmus mit solch einer Grausamkeit, dass Gott die verzweifelten Schreie des Mädchens hörte. Er verlor ob des Tuns des niederträchtigen Klosterbruders die Beherrschung und überließ den gefallenen Mönch von Stund an dem Teufel. Satan hatte seine Freude daran und verwandelte den Schurken in einen Felsen. Wanderer, die die Harzer Berge besuchen, können das Gestein noch heute im Bodetal sehen.”

Es rauschte, bis alle Geräusche kurz verstummten, dann hörte sie wieder den Radiomoderator: „Sie hören Radio hbw, Ihr Radio für Harz und Börde, mit Achim am Mikrophon. Das war wieder eine Harzer Sage. Und derer gibt es viele hier im schönen Nationalpark Harz. In der nächsten Woche zur selben Zeit erzähle ich Ihnen die Sage von der wunderschönen Prinzessin Ilse, die auf einer Felsenburg wohnte, von Ilses unglücklicher Liebe und wie es dazu kam, dass sie unvergessen blieb. Doch nun zurück in die Gegenwart.”

Seufzend lehnte sie sich zurück und trat fester aufs Gaspedal. Langsam ging es vorwärts auf der Autobahn und diese Harzer Sage war eine gute Einstimmung auf ihren Urlaub.

Ein Jingle wurde eingespielt, dann ertönten Kirchenglocken. „Wir von hbw bringen Ihnen den Gottesdienst dorthin, wo Sie sind. Heute hat der evangelische Kirchenkreis Bernburg wieder einen Radiogottesdienst für Sie aufgezeichnet. Pfarrer Redlich möchte mit Ihnen gemeinsam beten.”

Diese Fahrt zog sich in die Länge, wie ein grauer, durchgekauter Kaugummi. Ihr Nacken war steif und sie fühlte, wie ein noch leichter Spannungskopfschmerz über ihren Hinterkopf nach oben zog. Seit eineinhalb Stunden im Stau! Na ja, in der Ferienzeit war ja auch nichts anderes zu erwarten gewesen. Wie jedes Jahr bremsten unzählige Baustellen die ungeduldigen Urlauber aus, aber sie wollte die Fahrt unbedingt „in einem Ritt“ schaffen. Sie hatte Berlin fast fluchtartig verlassen und war bisher zu keiner Pause bereit gewesen.

Laut Navi eine Fahrt von zweieinhalb Stunden, von ihrer Wohnung in Berlin Kreuzberg bis in den Harz, aber dieser „kurze Sprung“ hatte sich jetzt schon auf knapp vier Stunden ausgeweitet. Sie gähnte und die Augenlider waren schwer, als würden Steine darauf liegen.

Sie hätte sich die Predigt aus Neugier angehört, da sie selbst nicht gläubig und somit auch keine Kirchengängerin war. Doch leider klang der Pfarrer, als hätte er einen starken Kaffee noch viel nötiger als sie.

„Tut mir leid, Herr Redlich“, murmelte sie, „aber bevor ich hier noch einschlafe, brauche ich Musik.“

Sie drehte am Sendersuchlauf, bis ein Dance-Hit aus den Achtzigern erklang. Um mal wieder ihre eigene Stimme zu hören, vor allem aber, um aus ihrer Lethargie zu erwachen, sang sie laut mit: „I’m so excited … la la la la la la.“  

Sie überlegte und schnippte im Takt mit den Fingern, kam aber partout nicht auf die Interpretin.

Anfangs hörte sich ihre Stimme noch kratzig an und sie traf auch nicht alle Töne, aber das war ihr egal. Um ihre Hals- und Nackenmuskeln in Bewegung zu bringen, versuchte sie, ein bisschen im Sitzen zu tanzen. Singen und Tanzen schienen auch das Gehirn anzuregen, denn nun fiel ihr auch wieder ein, dass der Song von den Pointer Sisters war.

Ihre Stimmung besserte sich und die Vorfreude auf die Waldhütte kam langsam zurück. Ihr guter Freund Paul hatte ihr den Schlüssel gegeben. Er fuhr dort häufig mit seiner Familie hin oder überließ einem befreundeten Paar das Häuschen, je nachdem, wer Urlaub hatte und ein paar Tage im Harz verbringen wollte. Paul hatte ihr ins Gewissen geredet, dass ihr die Ruhe in der Idylle des Harzes unbedingt guttun würden. Sie hatte sich erst dagegen gesträubt, sich dann aber doch geschlagen gegeben. Daraufhin hatte sie mit ihrer Chefin gesprochen, die ihr zähneknirschend die restlichen Urlaubstage vom letzten Jahr und eine Woche on top gegeben hatte. Und doch hatte sie ihr noch das Versprechen abgeluchst, die Unterlagen der letzten Werbekampagne mitzunehmen und noch einmal zu überarbeiten. Das sei ja nur eine Kleinigkeit. Die könne sie, sozusagen bei eintretenden Entzugserscheinungen von der Arbeit, einschieben, hatte Brigitte gesagt und ihr dabei zugezwinkert. Einen gewissen Charme hatte sie, das musste Vanessa zugeben.

Neben den Akten aus dem Büro hatte sie auch die mit floralen Ornamenten verzierte Kiste aus massivem Kirschholz eingepackt. Innen war sie mit dunkelgrünem Samt ausgeschlagen und besaß außen einen Verschluss aus Metall, welcher sich schon lange nicht mehr schließen ließ, aufgrund des Inhalts, der an allen Seiten herausquoll. Diese Schatulle hatte sie immer bei sich, wenn es um ihre heimliche Leidenschaft ging. Sie überlegte schon lange, sich eine größere zuzulegen. Diese Kiste jedoch war ein Erbstück und so quetschte sie weiterhin all die Notizen, Bilder und Zeitungsartikel hinein und umwickelte die Kiste mit einem goldverzierten Band, das den Anschein machte, mindestens genauso alt zu sein wie die Kiste selbst.

Die Schatulle war von ihrer Lieblingsomi. Diese hatte ein bewegtes Leben geführt. 1929 geboren, war sie jugendliche Zeitzeugin des zweiten Weltkrieges gewesen und Vanessa hatte beschlossen, die Schilderungen ihrer Großmutter für die Nachwelt festzuhalten. Denn genau das war ihre heimliche Passion - das Schreiben.

Brigitte hatte schon recht damit, wenn sie befürchtete, es würde im Wald zu ruhig für sie werden, so ohne Ablenkung.

Die monotone Autobahn hatte sie schon vor einer Weile verlassen und fuhr nun durch ruhige Ortschaften, wo sie in der prallen Nachmittagssonne kaum einen Menschen auf den Straßen sah. Ein bisschen wirkten die Dörfer wie ausgestorben, doch die Fahrten durch die Orte hielten sie munter, denn sie musste ihr Tempo drosseln und in den Kurven aufpassen. Seit sie Magdeburg durchquert hatte, war sie auf der Landstraße hinter einer Autokarawane hergefahren, bis sie in Aschersleben ankam, einer Stadt, in der mehr Leben auf den Gehwegen herrschte. Sie gähnte, kratzte sich an der Stirn und fuhr in einer ruhigen Seitenstraße in eine Parklücke.

Einige Schritte zurück war ihr das Café „Zum Möhrchen“, wie sie dem Schild entnommen hatte, aufgefallen. Dort holte sie sich einen Coffee to go. Sie roch das Aroma, kräftig und ein wenig herb, und nahm einen Schluck. Ah, und heiß! Sie steckte ihre Zungenspitze zwischen die Lippen, um sie zu kühlen. Mit dem Wachmacher ging sie zurück zum Wagen, stieg ein und fuhr mit neuer Energie an. Nur noch ein paar Kilometer! Knapp zwanzig bis zum Ziel, laut Pauls Beschreibung. Sie fuhr durch weitere verträumte Ortschaften. Die Ebenen wichen und das Land wurde bergig. Das nächste Ortseingangsschild hieß sie in Meisdorf willkommen.

Das musste die letzte Gemeinde vor ihrem Ziel sein, also hielt sie Ausschau nach dem Konsum, den Paul ihr beschrieben hatte. Ja, da war er, in der Nähe der alten Kirche. Paul hatte ihr sogar die Nummer des Försters gegeben, falls es Probleme mit dem Wild gab. Pauls Familie war einmal von einem Waschbären tyrannisiert worden. Was lustig klang, war gar nicht so witzig, denn das Tier hatte nicht nur die Vorräte geplündert, sondern zum Dank auch noch sein großes Geschäft im Wohnzimmer hinterlassen.

Nun kam endlich der Wald in Sicht. Sie war tatsächlich noch nie im Harz gewesen, aber er sah schon von Weitem aus wie ein Märchenwald. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Hänsel und Gretel hier den Weg nach Hause gesucht hatten. Und auch Mönch Anselmus hätte hier hervorragend seine finsteren Pläne ausführen können. Die Bäume verdichteten sich zu beiden Seiten der Straße. Dort standen Laubbäume, eng gedrängt und vermischt mit einigen Nadelgehölzen.

Sie sollte nun die erste Abbiegung nehmen und dann geradezu auf die Hütte zusteuern. Als sie von der Hauptstraße abfuhr, wurde der Weg enger und sie konnte fast nur noch im Schritttempo fahren. Tiefe Spurrillen, kleinere Pfützen und matschige Erde - eigentlich wäre hier ein Jeep angebracht gewesen, aber ihr alter Ford Fiesta musste das auch schaffen. Und dann stand sie vor einer Absperrung. Hier durften nur Forstfahrzeuge durchfahren.

„Scheiße!“, schimpfte sie. Da war sie wohl doch falsch abgebogen. Sie schaute nach hinten. Wie sollte sie in dieser Enge nur wenden? Ihre Hände wurden schwitzig und sie legte den Rückwärtsgang ein. Suchend schaute sie sich um. Da war doch tatsächlich eine kleine Einbuchtung, in der sie wenden konnte.

Ihr Wagen holperte und schüttelte sie durch. „Was war denn das schon wieder?“, sprach sie zu sich selbst. Sie hielt an und stieg aus. Schon umschwirrten sie die ersten Mücken. Sie wedelte mit der Hand um ihren Kopf und Körper, um sie zu verscheuchen. Diese lästigen Viecher!

Sie schaute unter ihr Auto und sah ein Ungetüm von Ast, über den sie gefahren war. Mühsam versuchte sie, ihn unter ihrem Wagen vorzuziehen. Es war anstrengend und wieder fluchte sie, aber manchmal setzte so ein richtig schönes „verdammte Scheiße“ ja ungeahnte Kräfte frei. Als sie den dicken Ast endlich zu fassen bekommen hatte, zerrte sie ihn weg und warf ihn ins Dickicht. Sie wischte sich über die Stirn und als sie auf ihren Handrücken sah, entdeckte sie eine dünne Blutspur.

„Na toll!“ Jetzt hatte sie doch noch eine Mücke erwischt. Vanessa zweifelte langsam daran, dass die Fahrt zu der idyllischen Harzhütte wirklich eine gute Idee gewesen war. Sonst hieß Urlaub doch immer, an den Strand zu fahren, sich in die Sonne zu legen und schwimmen zu gehen. Und nun, hier so allein in der Wildnis? Sie schüttelte den Kopf. Nun war es zu spät. Jetzt wieder zurückzufahren, kam nicht in Frage.

Sie sah sich um. Die Bäume schienen sie anzustarren. Stumm! Trotz der Wärme des sonnigen Julitages fröstelte sie. Was war denn nur los mit ihr? Sie war doch sonst kein Angsthäschen. Na ja, aber eine Dorfpomeranze war sie auch nicht, sondern eine Stadtblume, und deshalb war ihr das Zuviel an Natur doch manchmal unheimlich. Wer wusste schon, was hier alles herumkroch! Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da krabbelte es schon auf ihrer Haut. Ruckartig schaute sie auf ihre Füße. Die steckten in dunkelblauen Ballerinas, die jetzt mit Erde beschmiert und kleinen Stöckchen verziert waren. Und eine riesige Ameise erklomm gerade ihren Knöchel. Erschrocken schüttelte sie ihren Fuß aus. Schnell weg hier!

Stelzend, wie ein Storch, bewegte sie sich zur Fahrertür. Sie würde doch wohl einen einfachen Weg zu einer Hütte finden. Hastig stieg sie wieder ins Auto und legte den Vorwärtsgang ein. Erleichtert bahnte sie sich den Weg zurück zur Hauptstraße, als ihr etwas Großes, Braunes vor den Wagen lief. Sie trat heftig auf die Bremse und würgte den Motor ab.

Was war das denn gewesen? Welches Tier im Wald sah denn wie eine Kreuzung aus Teddy und Löwe aus? Und sie hatte gehofft, die Ameise von eben sei das Größte gewesen, das ihr hier begegnen mochte.

Sie betete, dass sie es nicht überfahren hatte, aber sie hatte keinen Aufprall gespürt.

Mit zittrigen Händen löste sie den Gurt, stieg aus, suchte den Waldboden vor dem Auto ab und sah - nichts. Auch kein Blut. Erleichtert atmete sie auf, zog dann jedoch die Augenbrauen zusammen. Doch, was und wo war es? Vielleicht ein Wolf? Und wenn sie es nicht überfahren hatte, war es dann noch in der Nähe? Bevor sie sich umsehen konnte, ertönte ein schriller Pfiff, dann ein Name. 

„Micki!“ 

Sie drehte sich in die Richtung, aus der sie den Ruf gehört hatte und zuckte zusammen. Hinter ihr stand ein riesiger brauner Hund. Er schnüffelte an ihren Waden und musterte sie mit seinen freundlichen Augen. Der Schrei blieb ihr im Halse stecken und sie fasste sich an den Brustkorb. „Mann, hast du mich erschreckt!“ 

Hinter ihm kämpfte sich gerade ein Mann durch das dichte Gebüsch und trat zu ihnen auf den Waldweg.

„Micki!“, schimpfte er. „Kommst du her!“ 

Der Angesprochene guckte treu und unschuldig und lief zu seinem Herrchen. 

Der Mann war in Wandersachen gekleidet, mit anständigen Schuhen, wie sie neidvoll feststellte. Da krabbelte kein Getier rein.

Er kam lächelnd auf sie zu. „Hat er dir Angst gemacht?“, fragte er schuldbewusst. 

Der Mann hatte kurze blonde Haare und einen dichten Bart, der ihn älter aussehen ließ, als er bestimmt war. Vanessa schätzte ihn auf Ende zwanzig.  

Sie kam gar nicht dazu zu antworten, weil aus demselben Gebüsch wie schon der Wanderer, noch ein Mädel hervorkam. Sie war ähnlich wanderfest gekleidet, nur mit einem kleineren Rucksack auf dem Rücken. 

„Ach, hier steckt der Ausreißer!“, sagte sie, gesellte sich zu ihrer kleinen Versammlung und kraulte Micki den Kopf.

Vanessa betrachtete die Frau. Sie sah ihrem Freund auf eine Art ähnlich, als wären sie Geschwister, und dann doch wieder ganz unterschiedlich. Sie hatte die dunklen langen Haare zu einem Zopf geflochten und die gleiche Bräune im Gesicht wie ihr Freund. Vielleicht lag es auch nur an der Outdoor-Kleidung, die die beiden trugen und die sie wahrscheinlich im selben Laden gekauft hatten.

Als die junge Frau Mickis Streicheleinheit beendet hatte, trat sie an Vanessa heran. „Sorry wegen Micki. Ich hoffe, er hat dich nicht erschreckt!”

Sie runzelte die Stirn. „Er ist mir vors Auto gelaufen! Ich konnte gerade noch rechtzeitig bremsen.”

Die Frau riss die Augen auf. „Oh!” Sie beugte sich zu ihrem Hund und untersuchte ihn. „Du bist aber auch ein Schaf! Läufst wie ein Bekloppter einem Hasen hinterher und wirst dann fast umgefahren! Du Blödi!”, sprach sie zu ihm wie zu einem Kind.

Das große Fellknäul schaute ernsthaft bekümmert drein.

Vanessa schmunzelte und sagte: „Och, er scheint jedes Wort verstanden zu haben. Wie er guckt, der Arme!“

„Ja, er versteht alles. Und es tut uns wirklich leid!”, sagte der Mann und seine Begleiterin stimmte ein.

„Ja, wirklich”, versicherte sie und nickte beflissen dabei.

Vanessa winkte ab. „Ist ja, Gott sei Dank, nichts passiert.”

Einen Moment waren alle still, dann reichte ihr die Frau die Hand.

„Ich bin übrigens Bekka, eigentlich Rebekka, aber alle nennen mich nur Bekka.“  Sie nahm die ihr dargebotene Hand und drückte sie. „Ich bin Vanessa. Und werde häufig Nessa genannt.“ Sie grinste. 

„Und ich bin Elmar, genannt Elmar“, sagte ihr Freund und lachte. „Und Micki kennst du ja schon. Er ist eigentlich ’n ganz Lieber, aber wenn er einen Hasen entdeckt …” Er bewegte seinen Arm wie einen Pfeil vor sich, „dann, zisch, ist er weg.“

Nun stupste Micki Vanessa an und sie streichelte seinen weichen Kopf. Er schloss genießend seine hellbraunen Augen und seine rosa Zunge ließ er weit aus dem Maul hängen.

„Was für ein schönes Tier! Was ist das für eine Rasse?“, fragte Vanessa.

„Ein Leonberger. Wir haben ihn seit zwei Jahren und er ist der beste Freund, den man haben kann“, antwortete Elmar.

„Wandern liebt er, wie wir auch“, bestätigte Bekka und lächelte liebevoll.

„Ich hätte auch gern einen so treuen Freund“, sagte Vanessa bedauernd. „Aber bei mir in der kleinen Wohnung ist zu wenig Platz und den ganzen Tag allein … das wäre auch nichts für ein Tier.“

Erneut breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus, bis Bekka wieder das Wort ergriff. „Ja, das kann ich gut verstehen. Wir wohnen in der Nähe meiner Eltern und die kümmern sich gern tagsüber um Micki. Sie haben einen Bauernhof, da ist er den ganzen Tag nur am Streunern.“

Dann sah sie Vanessa in die Augen. „Was machst du hier eigentlich mit deinem Auto, so mitten im Wald?“

Vanessa zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich habe mich verfahren. Ich suche eine Hütte, die Ferienwohnung von einem Freund. Er hat mir den Weg zwar genau beschrieben, aber irgendwie bin ich dann wohl doch falsch abgebogen.“

„Ach, du machst auch Urlaub hier? Gehst du gern wandern?“, platze es aus Bekka heraus.

„Ähm, ja, ein wenig wandern und die Gegend ansehen“, sagte Vanessa. „Und einfach entspannen“, fügte sie noch hinzu.

„Ach, das kannst du hier ganz wunderbar. Nicht wahr, Elmar?“

Er nickte. „Wir sind seit gestern hier und wollen morgen mal auf den Hexentanzplatz.“

„Klingt toll“, sagte Vanessa.

Bekka schien kurz zu überlegen. „Willst du nicht mitkommen?“, fragte sie dann.

Vanessa freute sich. „Oh, ja, warum nicht?“

„Wir wohnen nicht weit von hier in einer Pension in Meisdorf. Wir könnten uns dort morgen um zehn an der Kirche treffen. Kennst du den Weg dorthin?“

Vanessa runzelte die Stirn. „Hm, ich glaube, da bin ich vorhin vorbeigekommen. Gut, das werde ich schon finden.“

Sie zwinkerte Bekka zu.

Sie verabschiedeten sich und Vanessa steuerte holpernd, aber erstaunlich gut gelaunt zurück auf die Hauptstraße zu. Dort angekommen, sah sie sich um und entdeckte ein Stück den Hang aufwärts einen kleinen Weg. Das musste er sein!

Sie guckte sich noch mal um, ob ihr auch gerade kein Auto entgegenkam, dann fuhr sie auf die Straße, um kurz danach wieder in den Waldweg einzufahren. Der Pfad war ihr vorhin wegen eines großen Baumes, der am Straßenrand stand und den Waldboden überschattete, schmaler vorgekommen, aber jetzt lichtete sich das Dunkel und der Weg stellte sich als gut befahrbar heraus. Und wenn ich den anderen Weg nicht genommen hätte, wäre ich wahrscheinlich Elmar, Bekka und Micki nicht begegnet, dachte sie. Also hat ja alles sein Gutes!

Einige Minuten später entdeckte sie endlich eine Lichtung auf deren kleiner Anhöhe die Hütte stand. Sie sah einladend aus im Licht dieses Sommernachmittags.

Ein letztes zögerliches Blinzeln, dann kam die Gewissheit. Ja, sie täuschte sich nicht: Sie war angekommen. Sie erkannte das Haus von einem Bild, das ihr Paul gezeigt hatte. Vor der Hütte war rechts ein Parkplatz für ihren Wagen und eine rustikale Bank mit Tisch stand links vor der Hütte auf einer schmalen Veranda. In den Fenstern standen alte Blumenkästen mit vertrockneten Geranien. Darunter hingen Spinnenweben mit funkelnden Tropfen vom Regen der Nacht.

Die Hütte war aus massivem Holz gebaut, hätte aber an einigen Ecken ein wenig Ausbesserung gebraucht. Aber was soll’s, sie bezahlte ja nichts dafür, dass sie die nächsten zwei Wochen hier verbringen durfte.

Sie nahm den Schlüssel aus dem Handschuhfach des Autos und war gespannt auf das Innere. Die Tür ließ sich überraschend leicht öffnen und sie befand sich direkt im Wohnzimmer. Ein gemütliches Sofa und ein abgewetzter Lederstuhl standen um den Couchtisch. Es gab sogar einen kleinen Kamin mit senfgelben Kacheln und daneben einen Bastkorb mit Holzscheiten. Auf der anderen Seite stand ein alter Fernseher. Mal sehen, ob der funktioniert, dachte sie. Rechter Hand kam man in die Küche, die einfach und funktionell eingerichtet war. Ein großer Küchentisch mit einer Sitzecke für die ganze Familie dominierte das Zimmer. Die Schrankwand war in Naturholz-Dekor gehalten, so wie das zu ihrer Jugendzeit modern gewesen war. Der Kühlschrank war ausgeschaltet und stand offen, sodass sie einen Blick in sein sauberes Inneres werfen konnte. Es war zwar alles ordentlich hinterlassen, aber über den Möbeln, die nicht abgedeckt waren, lag eine dünne Staubschicht.

Im oberen Stockwerk befanden sich zwei Schlafzimmer, eins mit bunter Tapete und Doppelstockbett und eins in gedeckteren Farben gehaltenes mit Doppelbett. Am Ende des kleinen Flurs fand sie ein Bad mit Dusche und wasserabweisender Tapete in blau-weiß - praktisch, aber altmodisch, fand sie.

In den nächsten zwei Wochen würde sie ganz die Natur genießen können, denn hier im Haus lenkte sie nichts ab, was sie würde drinnen halten können.

In der Nähe sollte sich auch eine Burg befinden: die Burg Falkenstein. Sie freute sich schon darauf, dorthin zu wandern. Es gab wohl auch eine Gaststätte und einen Reiterhof in der näheren Umgebung. Und ansonsten hatte der Harz ja auch einiges zu bieten. Sie musste mal im Wohnzimmer stöbern, denn dort hatte Paul ein paar Prospekte zu Ausflugszielen liegen. Irgendwo in einer der Schubladen im Schränkchen unter dem Fernseher, hatte er gemeint.

Obwohl sie vermutlich nur Bekka und Elmar fragen musste, denn die beiden schienen sich sehr gut informiert zu haben, welche touristischen Ausflugsmöglichkeiten es hier gab. Aber mit eigenem Wissen zu glänzen, konnte ja wohl nicht schaden.

Als sie wieder unten war, atmete sie tief durch. Sie freute sich. Endlich allein, endlich die Sorgen hinter sich lassen. Ein seltenes und vor allem ungekünsteltes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Sie hatte es sich verdient nach den vergangenen sieben anstrengenden Monaten. Es war viel passiert - zu viel. Begonnen hatte alles mit der schmerzhaften Trennung von ihrem langjährigen Lebenspartner Peer vor sechs Monaten. Sie war bei ihm ausgezogen und hatte sich eine kleinere Wohnung gesucht. Dann, vor zweieinhalb Monaten, der plötzliche Tod ihres Vaters.

Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt und das war auch nötig gewesen, denn auf ihr lastete ein immenser Druck wegen der neuen Projekte, viel zu viele, wenn man Vanessa gefragte hätte, und dann noch die Aktenprüfung. Brigitte war dann immer so gestresst und Vanessa selbst zitterte und bangte mit ihr. Zuletzt hatte ihre beste Freundin auch noch ein verlockendes Jobangebot in Paris bekommen und war fortgezogen. Aber Peers Verrat hatte die größte Kerbe in ihrem Selbstbewusstsein hinterlassen. Beim Gedanken daran überkam sie wieder mal eine leichte Übelkeit. Heftig schüttelte sie den Kopf. Nein, nicht daran denken, einfach mal abschalten. Voller Tatendrang ging sie zurück zum Auto und lud ihre Vorräte aus.

In der Küche stellte sie die beiden übergroßen Tüten auf den Tisch. Sie hatte an alles gedacht: Toast, Marmelade, Butter, Eier, Wurst, Käse und vor allem Kaffee. Noch ein paar Konserven, denn Kochen war nicht gerade ihre Leidenschaft. Ungeschickt, wie sie war, briet sie häufig schwarzverkohlte unförmige Dinge oder ihre Töpfe kochten über. Beim Aufwärmen von Fertiggerichten konnte wenigstens nicht ganz so viel schiefgehen. Hoffte sie jedenfalls. Sie blickte zufrieden drein. So konnte sie die erste Woche hier in Ruhe verbringen, ohne noch in den Ort zum Einkaufen zu müssen. Prüfend guckte sie die altmodische Kaffeemaschine an. Ach je, ob sie mit der froh werden würde? Sie entschied sich erst mal für einen türkischen Kaffee und füllte frisches Wasser in einen billigen weißen Wasserkocher, der aussah, als wäre er beim letzten Besuch ersetzt worden.  

In den nächsten Stunden war sie damit beschäftigt, Staub zu wischen und durchzusaugen, ihre Sachen auszupacken und es sich in der Hütte gemütlich einzurichten.

Es gab sogar einen Schreibtisch, der in einem Nebenraum des Wohnzimmers stand. Einen kleinen Laptop hatte sie dabei, aber ins Netz konnte sie damit nicht. Pauls Festnetzanschluss war schon uralt und er hatte gar kein Modem hier. Aber es war nicht unbedingt nötig, dass sie das Internet für die Rohfassung der Biografie brauchte. Sie hatte ja alle Notizen dabei und die Tonbandaufnahmen und Videoclips waren auf ihrem Laptop gespeichert.

Jetzt konnte ihre Auszeit beginnen!

Sie schaute durch ein Fenster nach draußen und atmete auf. Das Grün tut der Seele gut, das hatte sie erst letztens in einem Journal gelesen.

Am Abend gönnte sie sich eine Frühlingssuppe aus der Dose und klickte sich etwas gelangweilt durch das Fernsehprogramm. In Gedanken schweifte sie ab zu ihren neuen Bekannten Bekka und Elmar. Wie sympathisch die beiden waren! Sie dachte an Mickis sanfte Augen und sein kuscheliges Fell.

Vor dem Abendbrot hatte Vanessa noch einen kleinen Spaziergang um das Haus gemacht, bis die Dämmerung gekommen war und die Schatten des Waldes, wie Spinnenhände, nach ihr zu greifen schienen. Die Grillen auf der Wiese hatten aufgehört zu zirpen und so war sie nach drinnen gegangen.

Sie zappte mit der Fernbedienung durch die Programme. Verweilte kurz. Stöhnte auf. Dann drückte sie energisch auf den Aus-Knopf.

Draußen rauschten die Blätter im Wind. Ab und an rief ein Käuzchen, aber sonst umgab Stille die Waldhütte. Es war Zeit fürs Bett, dachte sie. Sie schlappte zur Treppe, um nach oben ins Schlafzimmer und Bad zu gehen.

Vanessa hatte nie an irgendwelche Geister oder Waldmärchen geglaubt und fühlte sich trotz der Einsamkeit in der robusten Hütte sicher. Später am Abend schlief sie selig ein. So hörte sie auch nicht das Knacken der trockenen Äste, als sich jemand der Hütte näherte.

2

Er war so durcheinander. Wo sollte er jetzt hin? Zu seiner Mutter, der fetten Alten, konnte er nicht. Die Polizei würde dort schon auf ihn warten. Freunde gab es in seinem Leben nicht, hatte es nicht gegeben und würde es nie geben. Es gab für ihn nur eins: Das, was ihn reizte. Diese feine weiße Haut, schlanke Fesseln, zarte Zehen, mit oder ohne Lack, war ihm egal, die Wölbung der Fußsohle und nicht zuletzt der Geruch. Hm, wenn er nur daran dachte, bekam er schon ein hartes Glied. Er brauchte neue Füße, ein neues Objekt. Jetzt, wo er frei war, konnte er es wieder - jagen gehen. Er liebte den Wald. Die Stille. Die kleinen scheuen Tiere in der Nacht. Als Kind war er oft hier gewesen. Niemand hatte sich um ihn geschert. Hier hänselte ihn niemand oder - was noch schlimmer war - beachtete ihn gar nicht erst. Als wäre er gar nicht da. Die Tiere im Wald mochten ihn nicht, hatten selbst, als er klein gewesen war, einen Bogen um ihn gemacht. Als ob sie es geahnt hätten, dass er als Teenager einmal viel Freude an ihnen haben würde. Er grinste breit. Ja, hier im Dunkeln fühlte er sich wohl. Er musste noch einen Unterschlupf für die Nacht finden. Die Polizei würde bestimmt bald bundesweit nach ihm fahnden. Bundesweit, klar, aber nicht in der Nähe der Klinik. Nicht in der Hütte! Das war seine Chance. Hier konnte er den Sommer verbringen, ohne dass ihn jemand finden würde.

Eine hohle Wurzel knackte unter seinen Füßen und klang laut in seinem Ohr nach. Hatte er dort eben einen Lichtschein gesehen? Er ging weiter und kam auf die Anhöhe zur Lichtung, zum Haus. Schnell zuckte er zurück. Die Stadtheinis waren wieder da. Ein Auto stand vor der Tür. Mist! Er hatte mit diesem Domizil gerechnet. Aber klar, im Sommer waren die Städter natürlich hier. Er musste vorsichtig sein, damit sie ihn nicht entdeckten. Gerade die Kinder waren eine Gefahr, weil sie überall herumschnüffelten, da und dort spielten und nicht wie die Alten im oder am Haus blieben. Er würde auf der Hut sein müssen!

3

Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten sie wach, frische Luft wehte ihr entgegen, da sie das Fenster angelehnt hatte. Schneller als sonst war sie aus dem Bett heraus. Als sie nach draußen schaute, kam ihr etwas merkwürdig vor. Etwas schien sich verändert zu haben, das sie nicht recht greifen konnte. Vielleicht ein Schatten an einem der Baumstämme? Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie damit auch ihre Gedanken verscheuchen. Nein, ein Wald war schließlich immer in Bewegung! Also verwarf sie den Gedanken und hatte ihn bereits ganz vergessen, als sie im Bad ihrer Morgentoilette nachging.

Unten läutete ein Telefon. Sie kannte den Klingelton nicht, also musste es der Festanschluss im Haus sein, von dem Paul gesprochen hatte.

Sie flitzte die Treppe hinunter und griff nach dem Hörer. 

„Ja?“ 

Es rauschte laut und sie musste sich stark anstrengen, die Worte herauszuhören. 

„Na endlich. Ich dachte schon, es wäre etwas passiert.“

Sie überlegte kurz, wem die vertraute Stimme gehörte. Aber es konnte nur Paul sein. Nun ließ auch das Rauschen nach, sodass sie ihn gut verstehen konnte. Jetzt fiel ihr auch wieder ein, dass sie sich hätte melden müssen, sobald sie angekommen war. Sie klopfte sich an die Stirn. Das hatte sie völlig vergessen. 

„Bist du gut angekommen?“, fragte er.

„Ach Paul, ja danke, alles super. Trotz des Staus! Einmal hab ich mich verfahren, bevor ich die Hütte gefunden habe. Es ist alles, wie du beschrieben hast. Danke noch mal, dass ich mich hier ein wenig ausruhen kann.“

„Das ist schön. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.“ Paul klang erleichtert. Nach kurzem Zögern fragte er: „Wie gefällt es dir?“ 

„Bis jetzt habe ich noch nicht viel gesehen, aber es ist angenehm ruhig hier. Kein Flimmern der Neonreklame von nebenan abends in meinem Schlafzimmer und keine nervigen Betrunkenen oder Raser. Du weißt ja, was bei mir im Kiez für ein Nightlife ist. Aber hier: Ruhe! Und für eure Kinder muss der Wald ein großer Abenteuerspielplatz sein.“ 

Er lachte. „Ja, das ist er. Wenn wir dort sind, sehen wir die Kinder tagsüber kaum. Und Ilka und ich genießen die Ruhe und die Natur.“ 

„Ja, das werde ich auch“, sagte sie, während sie von einem auf den anderen Fuß trat. Sie hatte keine Hausschuhe angezogen und langsam wurde es zu kalt auf dem blanken Boden. 

„Danke, dass du mich angerufen hast. Du bist ein echter Papi. Nun kannst du deine Kleine beruhigt in die Ferien ziehen lassen“, flachste sie. 

„Das höre ich schon, mein Kind“, fiel Paul mit betont ernstem Ton scherzhaft ein. „Dann bis bald, melde dich, wenn du wieder in Berlin bist, okay Nessa?“ 

„Ja, Papi“, antwortete Vanessa. 

„Oder wann immer du was brauchst, dann natürlich auch!“, bekräftigte er. 

Vanessa wartete, ob er noch was sagen würde. Sie war in Gedanken schon draußen im Sonnenschein.

„Ach, noch was“, bemerkte Paul. Er verstummte kurz, bevor er fragte: „Hast du noch was von Brigitte gehört?“

„Brigitte? Nein, warum? Ich habe doch Urlaub!“ Nun konnte sich Vanessa ein Lachen nicht mehr verkneifen. Brigitte war wohl die Letzte, von der sie hier etwas hören wollte. Sie hatte zwar insgesamt ein gutes Verhältnis zu ihrer Chefin, aber sie war ein Workaholic, zum Teil cholerisch, ein Alpha-Tier, unnachgiebig und besserwisserisch, wenn sie auch an besonders guten Tagen freundlich sein konnte. Das wirklich Gute an Brigitte kam monatlich mit dem Gehaltsscheck. So anständig honoriert, dass Vanessa nicht daran dachte, sich um einen anderen Job zu bemühen. Aber in den nächsten zwei Wochen wollte sie definitiv keinen Kontakt mit ihrer Chefin. Und wenn die Firma bankrottgehen sollte. Auch dann nicht.

„Dann viel Spaß. Ciao, Nessa“, säuselte Paul in den Hörer.

Sie verabschiedete sich und legte auf.

Sie kannte ihn beinahe schon zehn Jahre. Er war einer ihrer besten Freunde, Aufmunterer, Charmeur und das, obwohl Romantik zwischen ihnen nie ein Thema war. Er hatte schon jung seine große Liebe geheiratet und mittlerweile zwei tolle Söhne. Eine Vorzeigefamilie, dachte sie ein wenig neidisch. Im Gegensatz zu ihr. Sie war vierunddreißig Jahre alt, hatte einen Ex-Freund, der mit seiner Zahnärztin rumvögelte und kaum ein Privatleben - durch ihren Job. Die anfängliche Freude über die Ruhe in der Hütte war verflogen. Vielleicht sollte sie erst mal einen Spaziergang machen, dann würde sie sich einen Kaffee kochen und danach an die Biografie setzen.

Sie zog ihre bequemen Sandaletten an und schlüpfte aus der Tür.

Der Morgen roch unglaublich frisch. Als Stadtmensch fiel ihr das besonders auf. Sie war sonst ja selten draußen. Morgens mit dem Auto oder der U-Bahn zur Arbeit, dann hinter wohlklimatisierten Panoramafenstern und abends direkt wieder nach Haus. Die Mittagspause in den Park verlegen? Doch den Gedanken hatte sie schon oft wieder verworfen. Vielleicht, weil sie nicht gern mit ihrer Chefin zusammensitzen wollte oder weil sie nicht so eng mit den freien Mitarbeitern war?

Sie arbeitete in der Werbeagentur „Schöner Morgen“. Der Name war eine Anspielung auf ihre Chefin: Brigitte Morgen. Sie war die Inhaberin der Firma und Vanessa ihre einzige Angestellte, wenn man die wechselnden freien Mitarbeiter nicht mitzählte. Sie arbeitete schon neun Jahre für Brigitte und es klappte im Großen und Ganzen sehr gut. Nach ihrem Studium der Kommunikationswissenschaften hatte sie Auslandsluft geschnuppert und war dann über ein anderes Unternehmen bei Brigitte gelandet. Am Anfang hatten sie die meisten Aufträge im Printbereich gestaltet und gedruckt. Flyer und Prospekte oder Plakate für Litfaßsäulen. Aber nun verschob sich ihr Hauptaugenmerk mehr in Richtung Online-Marketing. Häufig wurden sie von Unternehmen gebucht, um Kampagnen für neue Produkte im Internet zu konzipieren und durchzuführen. Und in einer so lebendigen Stadt wie Berlin, wo die Start-ups aus dem Boden schossen wie hier vermutlich die Pilze im Herbst, da hatte man in der Werbebranche kaum eine Verschnaufpause. Und so sehr Vanessa ihren Job auch liebte, so dringend brauchte sie Erholung, auch wenn sie sich das anfangs nur ungern eingestanden hatte. Noch weniger klappte das mit dem Entspannen auf Krampf. Sie lächelte. Genau das hoffte sie, hier zu finden.

Sie blickte auf den Haustürschlüssel in ihrer Hand und überlegte, ob sie abschließen sollte, was ihr hier angesichts des Mangels an Zivilisation merkwürdig vorkam. Sie zuckte mit den Schultern und tat es trotzdem. Man bekam die Berlinerin zwar aus Berlin, aber Berlin eben nicht so schnell aus der Berlinerin.

Sie lief auf die kleine Wiese vor dem Haus, sah den Tau an den Gräsern und fühlte die kühle Feuchtigkeit auf ihrer Haut. Welche Richtung sollte sie einschlagen? Seitlich des Weges, der sie zum Haus gebracht hatte, zweigte ein Pfad ab. Der sah doch vielversprechend aus. Als sie näher an die Bäume herantrat, hatte sie wieder dieses eigenartige Gefühl, dass sie heute Morgen beim Blick aus dem Fenster schon einmal beschlichen hatte. Dazu dieses Ziehen im Bauch. Ein einzelner Baum war es, der ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Was war das? Farbe? Im Wald? Eine Markierung? So ein großer Fleck! Sie trat näher an den Baum heran und betrachtete seine Rinde.

4

In der Klinik für forensische Psychiatrie herrschte seit dem Ausbruch ein heilloses Durcheinander, obwohl heute Sonntag war. Mareike Bode, die Direktorin und Pflegedienstleitung der Klinik, war gleich am Morgen hergekommen und hatte sich mit dem Krisenstab getroffen. Danach hatte sie alle Hände voll zu tun mit Polizeibefragungen und der aufdringlichen Presse.

Gut, sie hatte Management studiert, aber das hier war neben ihren sonstigen Aufgaben als PDL eine ganze Menge. Erst vor kurzem hatte sie kommissarisch die Leitung der Klinik übernommen, denn der vorherige Direktor war im letzten halben Jahr zumeist krankgeschrieben gewesen und dann vor zwei Wochen seinem Krebsleiden erlegen. Nun kam alles auf einmal. Vor allem aber machte ihr zu schaffen, dass sie sich nicht erklären konnte, wie der als gefährlich eingestufte und unter Sicherheitsbeobachtung stehende Patient hatte entfliehen können. Leider hatte die Überwachungskamera seit Freitagabend einen technischen Defekt gehabt und so konnte sie der Kripo auch keine Überwachungsbänder liefern. Sie schämte sich sehr für diese Panne.

Alle Mitarbeiter, die an dem Abend Dienst gehabt hatten, wurden intensiv kontrolliert und sie verbürgte sich für ihre Leute. Scheinbar hatten alle ihre Sorgfaltspflicht erfüllt. Es war erst gestern gewesen, aber es kam ihr vor, als quälte sie das Problem schon mindestens eine Woche.

Nachdem Bode die Dokumentation des Abends bestimmt zum tausendsten Mal durchgegangen war, fuhr sie genervt ihren Dienst-Computer runter.

Sie seufzte. Das war ja wie die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Alles war vorschriftsmäßig verlaufen. Der Patient hatte zu Abend gegessen, war dann in seine Einzelzelle geführt worden, abgeschlossen. Alles wie immer. Die Nachtrundgänge waren durchgeführt und keine besonderen Vorkommnisse gemeldet worden. Friedlich soll er geschlafen haben. Eigentlich war es in der psychiatrischen Klinik in Ballenstedt eine so ruhige Nacht gewesen wie schon lange nicht mehr. Doch am Morgen war er weg. Einfach so. Wie hatte er das angestellt? Keine Ausbruchsspuren. Nichts! Als hätte er sich in Luft aufgelöst!

Noch einmal schaute sie sich verdrossen und müde die Akte des Patienten an:

Tobias Johnny Hess

Alter: 31 Jahre In Behandlung seit dem 05.09.2014

Sie setzte ihre Lesebrille ab und rieb sich die Augen.

---ENDE DER LESEPROBE---