Alles Amok - Anita Augustin - E-Book

Alles Amok E-Book

Anita Augustin

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Beschreibung

Jakob ist ein ganz normaler Typ mit einem ganz normalen Scheißleben. Wirklich ganz normal? Das Leben: ja. Der Typ: Na ja, da weiß Jakobs Mutter mehr, aber die sitzt senil im Heim und kann es keinem erzählen. Jakobs Freunde kennen sein Geheimnis auch nicht, nur was ein Scheißleben ist, das wissen sie ganz genau. Und dann taucht eines Tages Jürgen auf. Jürgen mit seinen komischen Sprüchen von den Freuden der Finsternis und der Glorie der Gewalt. Er verspricht Jakob und seinen Freunden ein Leben voll wilder Freiheit, voll süßer Anarchie. Aber nichts auf dieser Welt ist gratis, und so hat auch die Freiheit ihren Preis: Alle müssen mitspielen in dem Mordsspektakel, das Jürgen plant. Ein höllischer Spaß, bei dem das Lachen so manchem vergeht.

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Das Buch

Jakob ist ein ganz normaler Typ mit einem ganz normalen Scheißleben. Wirklich ganz normal? Das Leben: Ja. Der Typ: Tja, da weiß Jakobs Mutter mehr, aber die sitzt senil im Heim und kann es keinem erzählen. Jakobs Freunde kennen sein Geheimnis auch nicht, nur was ein Scheißleben ist, das wissen sie ganz genau. Klein, grau, mühsam. Und dann taucht eines Tages Jürgen auf. Jürgen mit seinem dunklen Lächeln. Jürgen mit seinen komischen Sprüchen von den Freuden der Finsternis und der Glorie der Gewalt. Er verspricht Jakobs Clique ein neues Leben voll wilder Freiheit, voll süßer Anarchie. Aber nichts auf dieser Welt ist gratis, und so hat auch die Freiheit ihren Preis: Alle müssen mitspielen in dem Mordsspektakel, das Jürgen plant.

Ein höllischer Spaß, bei dem das Lachen so manchem vergeht.

Die Autorin

Anita Augustin, geboren 1970 in Klagenfurt, hat in Wien Philosophie und Theaterwissenschaft studiert und an der Ersten Österreichischen Barkeeperschule ihr Diplom gemacht. Nach Stationen in New York und London lebt sie heute als freie Dramaturgin in Berlin.

ANITA AUGUSTIN

ALLES AMOK

Roman · Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

ISBN 978-3-8437-0954-5

© 2014 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinUmschlagmotiv: akg images / Monstrum figura genitalis viri, Historia Monstrorum 1642

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

0

Am Tag vor der Operation waren wir Eis essen, sie und ich. Morgen ist das verboten, Jakob, hat sie zu mir gesagt, da musst du nüchtern sein, sonst kann der Herr Doktor die bösen Sachen nicht aus dir herausnehmen.

Nüchtern?

Was heißt das, Mama?

Hand in Hand durch den Park vor der Klinik, sie erklärt mir, was nüchtern heißt, da drüben ist ein Kiosk, da gibt es Eis.

An das Wetter kann ich mich nicht so genau erinnern, aber ich glaube, es war schön. Ja, schön, sagen wir einfach, dass es so war. Sonne, kräftiger Wind, ein paar weiße Wölkchen am blauen Himmel, etwas in der Art.

Wind hat meiner Mutter immer gut gepasst. Ihre Frisur mit den bretterharten Wellen ist dann ein bisschen aus dem Leim gegangen, und das war gut. Haarspray, gottverfluchtes. Mit sechzehn oder siebzehn habe ich ihr gesagt, dass sie viel hübscher aussieht, wenn die Wellen weich sind. Mach’s dem Wind nicht so schwer, Mama, habe ich gesagt.

Damals war ich neun.

Meine Lieblingssorte war Salz.

Das hat es natürlich nicht gegeben, das gibt es bis heute nicht, Eis aus Salz, und das ist schade.

Himbeer-Zitrone, zweimal bitte.

Wir sitzen im Park auf einer Bank, wir essen Eis, ganz langsam, damit die Zeit nicht vergeht. Die soll sich verpissen, die Zeit, sagt meine Mutter, und es ist das erste und letzte Mal in meinem Leben, dass ich sie so etwas sagen höre. Verpissen.

Leute gehen vorbei.

Wir essen Eis.

Eine Frau auf Krücken.

Wir essen Eis.

Ein Mann mit Hut, eine Frau mit Hund, der Hund ist ein Dackel, der Dackel ist fett, meine Mutter macht einen Witz über die Dackelbesitzerin und lacht, ich verstehe den Witz nicht, aber ich lache mit. Der Himmel ist blau, die Wölkchen sind weiß, das Eis schmilzt im Becher, weil wir so langsam essen, oh wie herrlich der Wind. Er fährt durch die Frisur meiner Mutter, sie wird mit jeder Bö hübscher.

Nüchtern bedeutet nichts im Magen haben, nicht betrunken sein, nichts schönreden. Sachlich bleiben. Das Böse ist böse, und es muss raus.

Ich lege den Plastiklöffel weg, ich fahre mit zwei Fingern in den Becher, ich lecke die Finger ab.

»Fertig?«, sagt sie.

»Fertig«, sage ich.

Schade. Jetzt ist die Zeit doch vergangen, und dabei haben wir uns so bemüht.

»Kann ich noch ein Eis haben?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Und Salzstangen?«

Sie schüttelt den Kopf, sie sagt: »Du musst dich jetzt bedanken für das Eis, Jakob. Gib mir deine Hände.«

Ich gebe ihr meine Hände, sie faltet sie zum Gebet.

»Laut oder leise?«, sage ich.

»Ganz leise. Nur im Kopf. So kann er dich am besten hören.«

Ich schließe die Augen, ich bete stumm.

Schmerzensreiches Jesulein

Ich danke dir, das Eis war fein.

Ich öffne die Augen, meine Mutter sieht mich an. Ihre Hände sind noch immer um meine gelegt, ihr Blick ist seltsam verschwommen. Jetzt presst sie meine Hände zusammen und schluckt. Ich kann es hören. Ein trockenes Geräusch, zugleich irgendwie nass. Wie Wasser, das durch den Abfluss im Waschbecken läuft, der Abfluss ist verstopft.

»Was hast du denn, Mama?«

Sie schluckt wieder.

»Was ist denn?«

»Nichts.«

Sie lässt meine Hände los.

»Aber …«

»Es ist nichts, Jakob. Komm, wir müssen zurück.«

Der Weg zurück ist viel zu kurz, wir gehen ganz langsam, Kies knirscht unter unseren Füßen. Vorbei an einem Beet mit gelben Blumen, vorbei an einem Springbrunnen, die steinerne Meerjungfrau steht auf der Schwanzflosse, ihr welliges Haar ist auch aus Stein.

Nüchtern hat viele Bedeutungen.

Nichts bedeutet immer das Gegenteil.

Damals habe ich gedacht, dass sie traurig ist, heute weiß ich es besser. Sie war nicht traurig. Sie hat getrauert. Um mich. Zwölf Stunden vor der Operation hat sie schon gewusst, dass es schiefgehen wird. Dass es nichts nützt und alles noch schlimmer macht.

Zwölf Stunden.

Das ist genug Zeit, um sich zu verpissen. Raus aus dem Park, vorbei am Kiosk, schnell noch ein Eis abgreifen oder ein paar Salzstangen, und ab nach Hause.

Wir gehen an einem kegelförmig geschnittenen Busch vorbei, wir gehen an einem Fahrradständer vorbei, da vorne ist der Eingang, noch drei Meter, noch zwei, meine Mutter bleibt stehen. Ohne Grund, einfach so. Sie legt ihren Arm um meine Schulter, ich lege meinen Arm um ihre Taille. Dann lehnt sie sich an mich. Nur kurz, nur für einen Moment.

Sie lehnt sich an mich.

Ein neunjähriger Bengel weiß noch nicht, dass man den besonderen Momenten im Leben einen Namen geben muss, damit sie unvergesslich bleiben. Es hat trotzdem geklappt. Ich habe diesen makellos schönen Moment nie vergessen, und es ist höchste Zeit, dass ich ihm einen Namen gebe. Vorname und Nachname, wie es sich gehört.

Ich taufe diesen Moment auf den Namen: Vorbei.

Ich taufe ihn auf den Namen: Nie wieder.

DIENSTAG

Im Jahr acht der Hoffnung auf den Tod meiner Mutter und einen sicheren Arbeitsplatz

1

Ich bin billig, jeder kann mich haben. Aber billig darf man natürlich nicht sagen, und ich sage das auch nicht. Nicht zum Kunden.

Zum Kunden sage ich günstig.

Ich sage preiswert.

Manchmal sage ich auch einfach: 9,50 die Stunde plus Risikozuschlag, und dann lasse ich mich auf 7,50 ohne Risikozuschlag runterhandeln.

Zugegeben: Mir ist noch nie was passiert, die ganzen Jahre nicht. Bis auf die Sache letzten Sommer, da bin ich attackiert und gebissen worden. Kein schönes Erlebnis, aber was soll’s, Schwamm drüber. Trotzdem finde ich, dass die Kunden einen Zuschlag zahlen sollten, ich meine: Der Job ist gefährlich, verdammt nochmal! Aber das darf man natürlich nicht sagen, und ich sage das auch nicht.

Ich sage: Der Job ist heikel.

Oder: Der Job hat so seine suboptimalen Facetten.

Aber egal, was ich sage, ich ziehe dabei die Mundwinkel nach oben.

Regel Nummer eins im direkten Kundengespräch: Immer schön lächeln.

Regel Nummer zwei: Immer schön lächeln.

Regel Nummer drei: Immer schön lächeln, auch am Telefon. Ich führe fast alle Kundengespräche am Telefon, und dabei lächle ich. Der Kunde kann es nicht sehen, aber er hört es. Stimmlage, Sprechrhythmus, alles verändert sich, wenn du lächelst. Auch dein Atem verändert sich, und das bedeutet: Der Kunde kann dich sogar dann lächeln hören, wenn du schweigst. Er wird deinem bezaubernden Lächeln lauschen, und dann wird er dir etwas abkaufen, zum Beispiel eine Dienstleistung der ganz besonderen Art.

Und jetzt die schlechte Nachricht: Das Lächeln muss echt sein. Echt, ehrlich, aufrichtig, wahr, nenn es, wie du willst, auf jeden Fall muss es das sein. Also glaub nur nicht, dass du mit ein bisschen Mundwinkelnachobenziehen durchkommst.

Das weiß ich übrigens alles von Herbert, der kennt sich da aus. Er ist Verkäufer bei HA&EM, er lächelt acht Stunden pro Tag, manchmal zwölf, und er tut es gerne.

»Lächeln steht mir«, sagt Herbert immer. »Ich sehe dabei supersexy aus, findest du nicht auch, Süßer?«

Bitte, Herbert, sag nicht immer Süßer zu mir.

»Geht klar, Jakob. Aber weißt du was, Süßer: Ich sehe nicht nur supersexy aus, wenn ich lächle, ich fühle mich auch so. Außen hui, innen hui, und der Kunde merkt das. Der Kunde ist dann schwuppdiwupp selbst gut drauf und kauft die Socken im Sechserpack. Oder er kommt mit vier T-Shirts aus der Anprobe und will keins davon nehmen, aber dann lächle ich ihn an, und schwuppdiwupp nimmt er sie alle. Sogar das abartig hässliche Teil mit dem Tigeraufdruck.«

Mein Handy klingelt, der Kunde heißt Max. Kein Nachname, einfach nur Max.

»Hallo Max, was kann ich für dich tun?«

Und Max sagt, was ich für ihn tun kann. Dann sagt er, dass ich um drei am Bahnhof sein soll.

»Das ist sehr kurzfristig«, ich ziehe die Mundwinkel nach oben, »aber es lässt sich machen. 9,50 die Stunde plus Zuschläge.«

»Zuschläge?«

»Risikozuschlag. Kurzfristigkeitszuschlag.«

Max sagt nichts. Das mit dem Kurzfristigkeitszuschlag war vielleicht keine so gute Idee. Ich zähle bis drei, dann ziehe ich die Mundwinkel noch ein Stück weiter nach oben.

»Na gut, kein Kurzfristigkeitszuschlag. Aber nur, weil du es bist, Max.«

Ich kenne diesen Mann gar nicht.

Meine Mundwinkel sind am Anschlag.

Ich sage: »Der Risikozuschlag ist leider nicht verhandelbar. Die Sache klingt so, als hätte sie ihre suboptimalen Facetten.«

Stille. Atmen. Kein Lächeln zu hören, aber Max will mir ja auch nichts verkaufen. Ich versuche es noch ein paar Sekunden, dann lasse ich die Mundwinkel fallen.

»Na gut, kein Risikozuschlag. Also: 9,50 die Stunde, und wir sind im Geschäft.«

Und Max sagt: 6,50.

Und ich sage: 8,50.

Und Max sagt: 6,50.

Und ich sage: 7,50.

»6,50«, sagt Max. »Hauptbahnhof, Gleis vier, Punkt drei.«

Ich nicke schweigend, Max legt auf.

Später werde ich Herbert erzählen, dass es schon wieder nicht geklappt hat, und Herbert wird mir auf die Schulter klopfen und sagen: »Kopf hoch, Süßer, das wird schon. Irgendwann fühlst sogar du dich voll hui, und dann lächelst du diese Arschlöcher in Grund und Boden.«

Personalausweis, Handy, Brieftasche. Klopapier, Heftpflaster, ein selbstklebender Wundschnellverband. Das mit dem Tee dauert jetzt zu lange, ich fülle Leitungswasser in die Thermoskanne. Regenjacke nicht vergessen, Medikamente nicht vergessen. Der Bahnhof ist überdacht, und meine Medikamente habe ich heute schon genommen, aber sicher ist sicher, also runter damit. Ich schlucke, ich spüle nach. Verpflegung nicht vergessen. Banane, Schokoriegel. Ohne Mampf kein Kampf, wie es so schön heißt.

Und jetzt eine Durchsage an alle Amateure, die ohne Musikinstrumente und Halspastillen losziehen:

Tu’s nicht.

Irgendwann wirst du heiser sein vom vielen Brüllen, und dann kannst du eine Pastille einwerfen oder auf das Musikinstrument umsteigen oder beides. Aber nur, wenn du den Kram dabeihast.

Ich wühle in der Kiste mit den Instrumenten. Trommel, Rassel, Klapper. Max hat gesagt, dass die anderen alle mit Trillerpfeifen kommen. Ich finde eine Trillerpfeife, dann entscheide ich mich doch für die zweiröhrige Vuvuzela. Herrliches Instrument. Viel besser als die normalen Fußballfantröten. Wenn du gute Lungen hast, schaffst du einen Schalldruckpegel von hundert Dezibel, das entspricht dem Lärm einer Kettensäge in einem Meter Entfernung.

Ich lege die Vuvuzela ganz oben in den Rucksack und schnüre ihn zu. Jetzt fehlt nur noch das Wichtigste. In meiner Einzimmerwohnung ist nicht so viel Platz, deswegen habe ich das Wichtigste auf dem kleinen Raucherbalkon verstaut. Zum Glück bin ich Nichtraucher, zum Glück mag ich keine Blumen. Herbert sagt immer, dass er an meiner Stelle ein paar Kräuter pflanzen würde, und dann könnten wir gemeinsam kochen, irgendwas mit frischem Thymian, das wäre doch nett. Zum Glück bin ich weder Herbert noch schwul. Schwulsein ist okay, Herbertsein ist okay, aber mein Balkon bleibt sauber. Wertvoller Stauraum, sinnvoll genutzt.

Die Ablage habe ich selbst gezimmert, aus Pressspanplatten. Sieht aus wie ein überdimensionaler Karteikasten und funktioniert auch so. Achtundzwanzig Rubriken, bei Bedarf erweiterbar, alphabetisch sortiert.

A wie Abtreibung zum Beispiel.

Oder B wie Billiglöhne.

K wie Konservierungsstoffe.

Ü wie Überfischung.

Z wie Zwangsprostitution.

Die Pappschilder habe ich alle selbst gemalt. Kleine Kunstwerke, wenn Sie mich fragen. Rein inhaltlich ist der Gestaltungsspielraum eher bescheiden, ich halte mich da an die gängigen Formulierungen, meine Kunden schätzen das.

Lieber schwul und lebensfroh als verklemmt und hetero!

(H wie Homophobie.)

Was will ich? Was willst du? Tofu und Salat dazu!

(M wie Massentierhaltung.)

Friedlich oder militant: Wichtig ist der Widerstand!

(G wie Geht immer.)

Max hat gesagt, dass die Aktion heute möglichst gewaltfrei über die Bühne gehen soll. Egal was passiert, hat Max gesagt, wir bleiben cool. Also keine provokanten Parolen. Ich suche unter F nach etwas Passendem, ich finde etwas Passendes. Jetzt noch den Stab fixieren, damit ich das Schild bequem hochhalten kann, fertig ist die Protestlaube. Schonbezug drüber, damit die Kunst nicht leidet, und auf geht’s. Zu Herbert. Als Profidemonstrant bist du fast so was wie ein Schauspieler, und als Schauspieler brauchst du zwei Dinge:

Erstens ein bisschen Talent.

Zweitens ein schönes Kostüm.

Ohne Talent kommst du zur Not noch durch, aber ohne Kostüm: keine Chance.

Das war jetzt ein Witz.

Hahaha.

2

Ich liebe HA&EM. Anders kann man das nicht sagen. Ich liebe diesen Laden. Und am meisten liebe ich ihn an Tagen wie heute, wenn hier die Hölle los ist.

Das Gewühl, das Gedrängel, das Gerangel, ich liebe es. Ich liebe das Gedudel aus den Lautsprechern und das Gekicher der Schulmädchen, wenn sie in der Wäscheabteilung scharfe Strings von den Hängern rupfen wie reife Feigen. Ich liebe die jungen Frauen in der Young-Fashion-Abteilung mit ihren pinken Fingernägeln, die sich in Sonderangebote krallen wie verzweifelte kleine Vögel. Ich liebe es, wenn diese jungen Frauen nach bunten Blusen aus Baumwolle greifen, die irgendein Kind in Usbekistan gepflückt hat. Irgendein trauriges kleines Kind mit zerkratzten Händen und verkrümmter Wirbelsäule.

Herbert sieht nicht gut aus. Er steht in der Herrenabteilung bei der Anprobe und sortiert Klamotten. Käsiges Gesicht, sein Ausschlag ist schlimmer geworden. Chronische Dermatitis, Ursache ungeklärt. Normalerweise sieht Herbert aus wie jemand mit unreiner Haut, heute sieht Herbert aus wie jemand, der dringend zum Arzt sollte. Seine Hände wimmeln rattenflink durch den Berg aus giftigem Textilmüll, von dem schon viele Näherinnen in Bangladesch Allergien bekommen haben. Viele Männer stehen Schlange, um den Müll zu probieren.

»Alles entgiftet«, sagt Herbert immer, »das ist alles entgiftet, wenn es einmal raus ist aus den Fabriken da drüben. Und dann musst du es zur Sicherheit noch einmal waschen, bevor du es anziehst.«

Jetzt fährt er sich mit der Hand übers Gesicht und wischt Schweiß weg.

»Hallo, Herbert.« Ich stelle den Rucksack ab und lege das Schild auf den Boden. »Krasser Schub, warst du beim Arzt?«

Herbert schüttelt den Kopf, die Ratten wimmeln.

»Versprich mir, dass du zum Arzt gehst.«

Herbert lächelt matt, die Ratten wimmeln.

»Hast du kurz Zeit?«

»Heute nicht, Süßer. Ich bin seit sechs auf Achse, Frühschicht im Lager, und jetzt muss ich die Spätschicht auch noch machen, wir sind unterbesetzt. Außerdem«, er zieht eine Hand aus dem Müll und hält sie hoch, »außerdem hat mich Sandra heute gestempelt.«

Sandra ist die Storemanagerin. Bei HA&EM duzen sich alle. Flache Hierarchien. Auf dem Handrücken steht SMILE! Wie es aussieht, hat Herbert heute sein supersexy Lächeln vergessen und ist dabei erwischt worden.

»Na«, sage ich, »Kopf hoch, es gibt Schlimmeres. Und das ist lange her.«

»Lange her?«

»Vergiss es, Herbert.«

Und dann überrede ich Herbert, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen für mein Kostüm. Und dann gebe ich Herbert ein paar Hinweise. Und dann ist Herbert ein bisschen hilflos, weil ihm das, was ich sage, nichts sagt. Linke Szene zum Beispiel. Oder Altachtundsechziger. Und dann sage ich zu Herbert, dass er mich einfach schlecht anziehen soll.

Zehn Minuten später stehe ich an der Kasse. Die Frau hinterm Tresen begrüßt mich laut, ihr Lächeln ist so strahlend wie ein Atomreaktor. Außen hui, innen pfui. Auf ihrem Handrücken steht HALLO!

Ich liebe HA&EM.

Es ist die Hölle.

Und immer, wenn ich hier bin, wird mir klar, dass mein eigenes Leben ein Paradies ist, und ich bin dankbar. Dankbar für alles, was ich habe.

Für meinen verblödeten Job.

Für meine bescheuerten Kunden.

Für das winzige Loch, in dem ich wohne.

Für das riesige Loch in meiner Brieftasche.

Und vielleicht finden Sie das ja jetzt ein bisschen übertrieben. Vielleicht denken Sie ja jetzt: Mein Gott, man wird sich ja wohl noch ein paar nette Klamotten kaufen dürfen, ohne dafür gleich in der Hölle zu landen. Oder: Mein Gott, man kann ja nicht bei jeder fröhlich gemusterten Bluse an ein usbekisches Kind denken. Und wissen Sie was: Da haben Sie völlig recht. Aber es ist ein guter Trick. Der beste, wenn es darum geht, das eigene Leben schön zu finden, und ich bin hier an diesem schrecklichen Ort wirklich immer zutiefst dankbar für alles, was ich habe. Nur für eines nicht.

Je näher ich der kleinen Gruppe auf dem Bahnsteig komme, desto klarer wird mir, dass ich ein paar Fehler gemacht habe. Dass ich nicht gut vorbereitet bin. Mein Kostüm zum Beispiel: nicht gut. Oder mein Schild: gar nicht gut. Ich habe mich für ein schlichtes Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! entschieden, und das war ein Fehler.

Die zwanzig Leute, die da stehen, sind alle in Schwarz. Schwarze Stiefel, schwarze Hosen, schwarze Kapuzenjacken. Die schwarzen Schals hochgezogen bis zu den Nasen, ein paar tragen Sonnenbrillen. Wer keinen Schal hat, hat eine Sturmhaube, wer keine Sonnenbrille hat, hat Augen. Aber keiner hat ein Gesicht. Und es sind lauter Kerle, soweit ich das erkennen kann. Na, wenigstens stimmt mein Geschlecht, also halbwegs, die Kerle sind ziemlich kräftig gebaut, was man von mir nicht behaupten kann. Jetzt winkt mir einer zu, das muss Max sein.

Winkewinke macht Max mit der einen Hand, mit der anderen hält er ein Schild hoch.

Kein Vergeben! Kein Vergessen! Haut den Nazis auf die Fressen!

Winkewinke mache ich zurück und gehe ein bisschen langsamer. Zeit schinden, nachdenken. Was tun, wenn sich Max über meinen dilettantischen Aufzug beschwert? Ein anderer Kerl hebt ein Schild hoch.

Blut und Boden! Blut und Boden! Schießt den Nazis in die Hoden!

Ich gehe noch langsamer. Wahrscheinlich muss ich Max Rabatt geben. Zwanzig Prozent Nachlass auf den Stundenlohn. Wieder ein Schild.

Egal womit und wo und wann: Zündet alle Nazis an!

Fünfzig Prozent, wie es aussieht. Mein Schild war echt ein Griff ins Klo.

»Hallo Max«, sage ich zu dem vermummten Typen mit Sonnenbrille. »Ich bin Andi Anti. Wir haben telefoniert.«

Max lächelt. Ich kann es nicht sehen, aber ich kann es hören.

»Hallo Andi.« Sympathische Stimme. Leicht gedämpft unter der Sturmhaube, aber sympathisch.

»Tut mir leid wegen«, ich zeige auf meine rote Schirmmütze, meinen roten Sweater, meinen roten Gürtel. Links und rot, das passt doch zusammen, oder?, hat Herbert gesagt.

»Kein Problem, Andi. Ich bin froh, dass du’s für 6,50 machst. Würde dir gerne mehr geben, aber die Kohle ist knapp, und wir haben investieren müssen für die Aktion heute.«

»Verstehe.« Ich nicke. Keine Ahnung, was er damit meint. Wahrscheinlich den Bastelbedarf für die Schilder. Gleich wird er meins sehen wollen, ich habe den Schonbezug noch nicht abgenommen, aber wenn ich’s mache, gibt’s Ärger. Höchste Zeit für ein Kompliment, das entspannt.

»Coole Brille übrigens«, sage ich.

»Danke. Und übrigens: cooler Künstlername, Andi Anti, echt cool.«

»Danke.«

»Und jetzt zeig mir dein Schild, Andi. Bin schon gespannt, ich meine: Du bist Vollprofi, von dir kann man was lernen.«

Ich atme tief durch, ich nehme den Schonbezug ab.

Stille unter der Sturmhaube.

Ich zähle bis drei, ich sage: »Fünfzig Prozent Rabatt.«

Stille unter der Sturmhaube.

Ich sage: »Siebzig.«

»Wow!«, sagt Max. Dann noch einmal: »Wow!« Er berührt mein Schild, er streicht mit den Fingern behutsam über Krieg, dann liebevoll über Faschismus. »Astrein. Ein Klassiker. Daran erkennt man den Profi. Kein überflüssiger Schnickschnack, keine alberne Protestlyrik von wegen Boden und Hoden, wirklich astrein.« Er klopft mir auf die Schulter, ich grinse wie ein Tumorpatient, der gerade erfahren hat, dass es doch nur ein harmloses Geschwür ist. »Und jetzt lass uns loslegen, Andi. In ein paar Minuten kommt der Zug mit den Nazischweinen, also nichts wie ran an den Speck. Da drüben steht die Tasche mit den Waffen, such dir was Schönes aus.«

»Okay.«

Hat er gerade Waffen gesagt?

Habe ich gerade Okay gesagt?

Und wo ist eigentlich – der Gedanke bleibt mir im Verstand stecken. Ich drehe mich um und suche den Bahnsteig ab. Zwei ältere Frauen mit Rollkoffern, die ängstlich zu uns herüberschielen. Ein Mann mit Krawatte und Blumenstrauß. Er umklammert den Strauß und glotzt auf die halbverwelkten Blüten, als gäbe es da etwas anderes zu entdecken als halbverwelkte Blüten. Ganz hinten beim Ausgang zur Halle eine Bahnangestellte in Uniform. Sie hält sich etwas ans Ohr und gestikuliert hektisch.

Drei Frauen, ein Mann, das war’s.

»Du, Max«, ich drehe mich wieder um.

»Ja, Andi?«

»Wo ist eigentlich die Polizei?«

Ich meine, unter uns gesagt: Wenn eine Horde Neonazis aus der Provinz angereist kommt, zum Bundesligafinalspiel, und ein Haufen enthusiastischer Antifaschisten das Empfangskomitee bildet, dann müsste es doch vor Polizei nur so wimmeln. Wimmelt aber nichts hier. Weit und breit nichts zu sehen von Freunden und Helfern.

Deeskalationsservice.

Gewaltmanagement.

Flaute.

Max grinst. Ich kann es nicht sehen, aber ich kann es hören.

»Die wissen doch Bescheid, Max, oder?«

Ich kann es hören.

»Ist doch angemeldet, die Demo, oder?«

»Keine Sorge, Andi.« Max hat wirklich eine sympathische Stimme. »Die kommen schon noch, die Bullen. Genauer gesagt: Die sind schon unterwegs.«

Er zeigt nach oben, ich folge dem Finger, da hängt etwas. Ganz oben in der Überdachung, ein kleines Ding.

»Videokamera«, kichert Max. »Hightech, letzter Stand. Scharf wie der Arsch meiner Frau, wir sind seit zehn Jahren verheiratet, und langsam kriegt sie den bösen Blick, so wie das Ding da oben.«

Ich starre auf das scharfe Ding mit dem bösen Blick.

»Also keine Sorge, die wissen längst Bescheid, die sind längst unterwegs.«

Ich starre. Das Ding starrt zurück.

»Aber bis sie da sind, haben wir die Schweine längst zu Blutwurst verarbeitet.«

Mein Gesicht, denke ich.

»Je blutiger, desto besser.«

Ich bin hier der Einzige mit Gesicht.

»Und wenn sie dann da sind, die Bullen, dann geht’s erst so richtig los.«

Gott sieht dich, Jakob.

»Dann wird’s erst so richtig lustig.«

GOTT sieht dich, Jakob!

Ich senke den Kopf, mein Blick tropft auf den Bahnsteig wie Blut aus einer Stichwunde. Ich hebe den Kopf, Max holt tief Luft. Das kann ich an der Sturmhaube erkennen, die auf Mundhöhe nach innen gesaugt wird. Dann brüllt Max mit der ganzen Inbrunst eines fanatischen Antifaschisten:

»Bul-len sind die größ-ten Schwei-ne!«

Und zwanzig fanatische Antifaschisten brüllen im Chor:

»Doch wir ha-ben Pflas-ter-stei-ne!«

»Po-li-zis-ten! Po-li-zi-sten!«, brüllt Max.

»Schlä-ger, Mör-der und Fa-schis-ten!«

Es gibt Momente im Leben, da hast du die Wahl: Entweder du nimmst die Situation ernst, oder du nimmst sie mit Humor. Wenn du die Situation ernst nimmst, wird sie dich ernst nehmen, und dann bist du erledigt.

»Mensch, Max, du willst mich verarschen, nicht wahr, das ist dir aber echt gelungen, hahaha.«

»Verarschen?«

»Naja, du hast doch selber gesagt, am Telefon, dass die Demo so gewaltfrei wie möglich ablaufen soll, und dass wir cool bleiben.«

»Stimmt. Hab ich gesagt. So gewaltfrei wie möglich, und wenn es nicht möglich ist, dann eben nicht. Also: Bleib cool, Andi, und hol dir endlich was Schönes aus unserer kleinen Waffenkammer. Schlagring, Springmesser, wir haben echt investiert, das Zeug wird immer teurer.«

Ding Dong meine Damen und Herren auf Gleis vier fährt ein Regionalexpress 3214 Ankunft fünfzehn Uhr zehn bitte zurücktreten vorsicht bei der Einfahrt.

»Anpfiff!«, brüllt Max.

Zwanzig Hände greifen in Hosentaschen und holen Trillerpfeifen heraus. Zwanzig Trillerpfeifen werden durch Schals und Sturmhauben in Münder gestoßen. Ich renne los.

3

Nein. Ich habe als Kind nicht davon geträumt, später einmal Demonstrant zu werden. Schon gar nicht Profidemonstrant.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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