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Horst Evers

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Beschreibung

Wer sind hier die Aliens? Mit ein paar Lichtjahren Abstand sieht unser Leben ganz schön merkwürdig aus. Der Flughafen BER wird eröffnet. Ein großer Tag für Berlin und Brandenburg. Genau 7,34 Sekunden lang läuft er wunderbar. Dann allerdings stürzt quasi aus dem Nichts ein wirklich großes Raumschiff auf alle drei Startbahnen. Dies ist der Auftakt zu einer Geschichte, die alles, was wir über außerirdisches Leben zu wissen meinten, über den Haufen wirft. Es treten auf: hochentwickelte Zivilisationen, denen lange Weltraumflüge längst viel zu mühsam sind und die andere Welten einfach online erobern; hyperintelligentes, sprechendes Plastik; Chamäleonsoldaten, die automatisch die Form annehmen, die ihnen gerade den größten strategischen Vorteil verschafft – und Goiko Schulz, 36 Jahre alt und eigentlich nur für seine Mutter etwas Besonderes. Gemeinsam mit einer schlechtgelaunten Fahrradkurierin und einem alten russischen Zeitreiseforscher wird er zur letzten Hoffnung der Menschheit. Ziel der kleinen Gruppe ist der interplanetare Verbrauchergerichtshof. Doch äußerst mächtige Feinde tun alles, damit sie diesen niemals erreichen … Horst Evers schaut in die nähere Zukunft, um sich von Außerirdischen die Erde erklären zu lassen. Was er erfährt, ist erstaunlich und sehr, sehr lustig. Manchmal benötigt man nur ein wenig Abstand, um alles zu verstehen. Schon 20 oder 30 Millionen Lichtjahre können da enorm viel ausmachen.

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Horst Evers

Alles außer irdisch

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Wer sind hier die Aliens? Mit ein paar Lichtjahren Abstand sieht unser Leben ganz schön merkwürdig aus.

 

Der Flughafen BER wird eröffnet. Ein großer Tag für Berlin und Brandenburg. Genau 7,34 Sekunden lang läuft er wunderbar. Dann allerdings stürzt quasi aus dem Nichts ein wirklich großes Raumschiff auf alle drei Startbahnen. Dies ist der Auftakt zu einer Geschichte, die alles, was wir über außerirdisches Leben zu wissen meinten, über den Haufen wirft. Es treten auf: hochentwickelte Zivilisationen, denen lange Weltraumflüge längst viel zu mühsam sind und die andere Welten einfach online erobern; hyperintelligentes, sprechendes Plastik; Chamäleonsoldaten, die automatisch die Form annehmen, die ihnen gerade den größten strategischen Vorteil verschafft – und Goiko Schulz, 36 Jahre alt und eigentlich nur für seine Mutter etwas Besonderes. Gemeinsam mit einer schlechtgelaunten Fahrradkurierin und einem alten russischen Zeitreiseforscher wird er zur letzten Hoffnung der Menschheit. Ziel der kleinen Gruppe ist der interplanetare Verbrauchergerichtshof. Doch äußerst mächtige Feinde tun alles, damit sie diesen niemals erreichen …

 

Über Horst Evers

Horst Evers, geboren 1967 in der Nähe von Diepholz in Niedersachsen, studierte Germanistik und Publizistik in Berlin und jobbte als Taxifahrer und Eilzusteller bei der Post. Er erhielt u.a. den Deutschen Kabarettpreis und den Deutschen Kleinkunstpreis. Seine Geschichtenbände, zuletzt «Wäre ich du, würde ich mich lieben» (2013), wie auch sein Roman «Der König von Berlin» (2012) sind Bestseller. Horst Evers lebt mit seiner Familie in Berlin.

Für Gabi

Prolog

Am frühen Nachmittag des 22. April 1992 erfuhr Juri Gregoritsch Antonow Pigorsski, dass er sterben würde. Allerdings war es kein Arzt, der es ihm mitteilte. Auch kein Richter oder gar Mörder. Es war das Leben selbst, das ihn mit dieser unerwarteten Neuigkeit überrumpelte.

An jenem erfreulich milden Frühlingstag hatte er einen vielversprechenden Platz auf einer halbsonnigen Bank im Moskauer Gorki-Park gefunden. Gerade wollte er sich in eine fast sechzig Seiten starke Abhandlung über relevante Singularitäten innerhalb der Quantengravitation vertiefen, als wie aus dem Nichts ein ungefähr fünfjähriger Junge vor ihm stand und fragte, was er da lese. Juri überlegte kurz, ob er dem Kind die Bedeutung einer möglichen Quantengravitation erklären könne, hielt es dann aber eher allgemein: «Ich befasse mich mit der Natur aller Dinge, Zeiten und Dimensionen.»

Sein Gegenüber verlor erstaunlicherweise nicht das Interesse, sondern verblüffte mit der nächsten Fachfrage: «Warum?»

Die Antwort fiel Juri nicht schwer. «Ich versuche einfach, es zu begreifen. Das ist kompliziert, weißt du. Allein diesen Artikel hier können nur sehr wenige Menschen verstehen.»

«Und was machst du, wenn du es verstanden hast?»

«Dann denke ich weiter.»

«Bis wann?»

Juri lachte. «Bis immer. Das hört nie auf.»

«Welchen Sinn hat es dann?»

In diesem Moment verpuffte Juris heitere Stimmung. Mit einem Mal erkannte er etwas in der Natur der Dinge, Zeiten und Dimensionen, das er bislang nicht bedacht hatte: Am Ende seines Lebens erwartete ihn ein großes Nichts. Nicht nur er würde verschwinden. Auch sein Denken, all seine Mühe, sein qualvolles Ringen um Erkenntnis würden sich auflösen. Nur ein schwaches Echo seiner organischen Existenz bliebe von ihm auf diesem Planeten zurück. Da hätte er seine Zeit genauso gut mit dem Ausfüllen von Kreuzworträtseln und der Teilnahme an Preisausschreiben verbringen können. Oder mit Wein, Weib und Gesang. Wobei er sich diesbezüglich eigentlich keine großen Versäumnisse hatte zuschulden kommen lassen; dennoch hätte er sich seine Tätigkeit auf diesem Feld umfangreicher und exzessiver vorstellen können. Er könnte natürlich etwas zu Papier bringen. Die Ergebnisse seiner jahrelangen Grübeleien, seiner Theorien in ein Werk gießen. Aber wer würde das lesen? Die Fachwelt nahm ihn nicht ernst. Hielt ihn für einen Spinner. Sie schützte sich vor ihrem eigenen Unverstand mit Selbstgefälligkeit. War zu sehr mit dem Versichern der eigenen Bedeutung beschäftigt, ihre Arroganz verhinderte jeden verspielten, mutigen Gedanken. Sein Werk wäre bereits ignoriert und vergessen, noch bevor er es verfasst hätte.

Das Kind wurde von den Eltern ermahnt, es solle den klugen Mann nicht bei der Lektüre stören. Juri rief ihnen zu, sie würde es womöglich erstaunen, aber ihr Junge hätte ihm gerade gezeigt, dass er bei weitem nicht so klug sei, wie er selbst gemeint habe. Die Eltern antworteten, das glaubten sie nun wohl schon, denn der Junge sei ein Mädchen. Sie fragten Juri nach einem preiswerten Lokal in der Nähe, sie seien nur zu Besuch in Moskau. Eigentlich kämen sie aus Maiory, das in der Nähe von Odessa liege. Juri empfahl ihnen das «Goikoschje» in der Krymskaya Nab. Maiory, was für ein hübscher Name für einen Ort, dachte er.

Juri befand: So wie ein Autor nur Geschichten schreiben sollte, die niemand anderer zu erzählen vermag, so sollte auch er die ihm anvertraute Lebenszeit in einer Weise nutzen, wie es niemand sonst könnte.

Somit traf Juri Gregoritsch Antonow Pigorsski in dieser Minute an jenem frühen Nachmittag des 22. April 1992 eine Entscheidung, die die Welt aufs ungeheuerlichste verändern sollte.

Teil 1

1. Die Flughafeneröffnung

«Manche Menschen sind eben irgendwie für den Mittelplatz geboren.» Mit einem strengen Blick wies Kira Goiko an, sich endlich in sein Schicksal zu fügen.

Der allerdings blieb bockig, selbst jetzt, als sie bereits in den Sesseln saßen. «Laut unseren Tickets habe eindeutig ich den Sitzplatz F. Du kannst dich nicht einfach auf meinen Platz setzen und sagen, das ist dann so.»

Kira strich ihr rotbraunes, schulterlanges Haar aus dem Sommersprossengesicht. «Wenn es aber doch mal so ist?»

«Ist es aber gar nicht. Außerdem ist das auch kein Argument.»

«Ach, du denkst, du hast die besseren Argumente?»

«Allerdings habe ich die besseren Argumente.»

«Gut, wunderbar. Dann hast du eben die besseren Argumente, und ich habe den Fensterplatz. So hat jeder was. Das ist gerecht.»

Goiko schüttelte sich, besser gesagt: Er wurde geschüttelt. Vom Körper seines kräftig gebauten Nachbarn auf dem Gangplatz. Dessen kurzes Lachen war in einen heftigen Hustenanfall übergegangen, der seine kompletten zweieinhalb Zentner erbeben ließ.

Goiko, selbst auch nicht gerade der sportliche Typ, bemerkte so erst spät den Vibrationsalarm des Handys. Obwohl er gern noch eine Weile über eine schlagfertige Antwort für die – verglichen mit ihm – unfassbar athletische Kira nachgedacht hätte, schaute er mit dem gewohnten Reflex aufs Display. So routiniert wie dieser Blick war auch sein Stöhnen: «Oh, nö!» Dennoch nahm er das Gespräch an und begann, sofort zu sprechen: «Du, Mama, das ist jetzt schlecht …»

«Haben Sie das Handy nicht ausgeschaltet?» Für den Gang-Mann, der gerade erst mit knapper Not dem Erstickungstod entronnen war, schien es der zweite Schicksalsschlag binnen weniger Sekunden. Er konnte es nicht fassen, dass dieser schlaffe Halbglatzenkerl, der in seiner nachlässigen Discounter-Kleidung nun auch nicht sehr wohlhabend wirkte, zu einer derart attraktiven Begleiterin kam. Wurden die Paare in Berlin jetzt im Losverfahren bestimmt? Warum hatte ihm da keiner was von gesagt?

«Ach, das ist ja toll.» Goiko ignorierte seinen Sitznachbarn und bemühte sich stattdessen um Kiras Aufmerksamkeit. «Mama sagt, wir waren im Fernsehen. Also zu sehen. Im Bild. Als wir über die Außentreppe in das Flugzeug …»

«Wir starten gleich. Sie müssen das Handy ausschalten!»

Der voluminöse Sitznachbar ließ nicht locker. Mit einer Hand tastete Goiko zur Seite, so, als wollte er dessen Snoozetaste betätigen, sprach dabei aber unbeirrt weiter ins Telefon. «Nein, Mama, ich kann nicht durchs Fenster winken. Ich habe leider den Mittelplatz.»

«Machen Sie sofort das Handy aus!»

«Ja, eigentlich hatte ich den Fensterplatz. Aber dann war Kira so traurig, da hab ich ihr den Fensterplatz überlassen …»

«Sofort! Sofort aus! Oder ich …»

«… genau, ganz Gentleman. So, wie du mich erzogen hast. Du kennst mich ja.»

«Hallo! Hallo!!! Sie haben es nicht anders gewollt. Ich rufe jetzt die Stewardess.»

«Kira, Mama meint, dann sollst du doch mal durchs Fenster winken. Sie glaubt, sie kann das im Fernseher sehen.»

Kira fuhr herum, warf Goiko einen Blutgerinnungsblick zu, riss dann demonstrativ die Jalousie vor dem kleinen Fenster nach oben und deutete mit den Händen ein Halswürgen an.

Goiko nickte zufrieden. «Ja, die Kira sagt, das macht sie sehr gerne. Siehst du sie schon winken?»

Kira fixierte Goiko und zeigte pantomimisch eine Schlinge, als ob sie sich aufhängen wollte.

«Hallo, Frau Stewardess, können Sie bitte mal kommen? Der Mann hier hat immer noch sein Handy an. Er telefoniert sogar!»

«Du, die Mama sagt, sie glaubt, sie hat dich erkannt. Sie hat dich durchs Fenster winken sehen. Haha! Ja, Mama, die Kira freut sich sehr!»

Kira hielt sich einen Pistolenfinger an den Kopf und drückte ab.

«Ja, genau, das achte Fenster von vorn. Das sind wir.»

«Bitte beenden Sie sofort das Gespräch und schalten Sie Ihr Handy aus!»

Goiko erschrak, so dicht war die Stewardess vor seinem Gesicht. Zudem sprach sie unnötig laut. Andererseits war es beeindruckend, wie grazil sie sich über seinen gewaltigen Sitznachbarn beugen konnte, ohne diesen zu berühren. Ob sie das wohl gesondert trainieren? Ein spezielles Stewardessen-über-den-Gangplatzsitzer-Beugen-Yoga?

«Durch die irrsinnig vielen Übertragungswagen und Live-Berichterstattungen haben wir ohnehin eine unglaubliche Menge externer Signale. Es ist außerordentlich wichtig, dass Sie unverzüglich alle Ihre technischen Geräte ausschalten, speziell die Handys!»

Der gesamte Passagierraum verstummte. Nun begriff auch die Stewardess, wie laut, wenn nicht leicht panisch sie gesprochen hatte. Zwei Sekunden herrschte völlige Stille. Bis sie durch die nun gut hörbare Stimme der Mutter aus dem Telefon durchbrochen wurde:

«Sag mal, Junge, weißt du denn nicht, dass man im Flugzeug nicht telefonieren darf?»

Das wirkte wie der Startschuss für ein kolossales Stimmengewirr. Erst nach einer Weile wurde es von einem schrillen Pfeifton aus der Bordsprechanlage beendet. Es knisterte, dann erklang die sonore Stimme des Kapitäns. Goiko war überzeugt, dass es spezielle Filter in den Flugzeugmikrophonen gab, durch die jede Stimme sonor klang. Oder die Stimmbildung war Teil der Ausbildung des Flugpersonals, wie das Anti-Passagier-Berührungs-Yoga. «Herrschaften, hier spricht Ihr Kapitän Jürgen Witte. Ich begrüße Sie an Bord des Airbus A380, Flug LH 7601 von Berlin nach New York. Es gibt nicht den geringsten Grund zur Beunruhigung. Durch die extrem lange Bauzeit des Flughafens BER in Schönefeld, die vielen endlosen Pannen und Probleme sind heute bei der Eröffnung natürlich alle wahnsinnig angespannt. Auch haben wir aufgrund der vielen Live-Übertragungen und des strengen Zeitplans etwas mehr Stress beim Start als gewöhnlich. Das sehen wir aber mal sportlich, oder? Dafür sind wir alle bei einem historischen Ereignis dabei. In wenigen Sekunden werden der Regierende Bürgermeister von Berlin und der Ministerpräsident von Brandenburg ihre Eröffnungsansprache beginnen. Wie Sie wissen, ist es das Ziel, dass wir, der Jungfernflug, genau in dem Moment abheben, in dem die beiden gemeinsam den Flughafen für eröffnet erklären. Sie können sich vorstellen, wie schwierig es ist, das logistisch hinzukriegen und exakt zu timen. Aber ich verspreche Ihnen, wir schaffen das. Wichtig wäre nur, dass Sie uns in der Tat ein wenig helfen und alle technischen Geräte, vor allem die Handys, sofort ausschalten!»

Goiko bemerkte sehr wohl, dass sämtliche Augenpaare nun auf ihn gerichtet waren. «Mama, ich muss jetzt wirklich Schluss machen.»

«Natürlich, Junge. Warum hast du eigentlich nie versucht, Flugkapitän zu werden? Du wärst so ein feiner …»

«Ja, bis dann, Mama.» Goiko drückte sie weg. Kira starrte, wie schon die ganze Zeit, angestrengt zu Boden – in der Hoffnung, niemand könne ihr Gesicht sehen und auf die Idee kommen, sie hätte etwas mit dem Mittelplatzpassagier zu tun. Der hatte mittlerweile das Telefon ausgeschaltet, wartete noch, bis es gänzlich heruntergefahren war, hielt es dann triumphierend in die Luft und sprach nicht ohne Pathos: «Es ist ausgeschaltet!»

Ein kurzer Applaus der anderen Passagiere. Die Stewardess ging zurück zu ihrem Extrasitz. Während die Maschine in Richtung Startbahn rollte, schaltete der Kapitän die Eröffnungsrede der beiden Landeschefs auf die Bordlautsprecher: «Doch was lange währt, wird endlich gut. Wir bedanken uns bei den insgesamt siebzehn Flughafenchefs, den zwölf Technischen Leitern und neun Vorstandschefs der Flughafengesellschaft – jeder von ihnen hat auf seine Art einen unverzichtbaren Beitrag zu diesem Projekt geleistet. Genauso gedenken wir der siebenundvierzig Mitarbeiter, die während der Bauzeit verstorben sind, grüßen die dreiundneunzig mittlerweile verrenteten Mitstreiter und freuen uns über 1184 Flughafenkinder, die während der Errichtung dieses internationalen Knotenpunktes geboren wurden …»

Die Maschine hatte nun die Startbahn erreicht und begann, langsam zu beschleunigen.

«… auch wenn es noch ein paar Jahre dauern wird, bis endgültig alles komplett funktionsfähig ist, sodass dieser Flughafen dann mit etwas Glück vielleicht doch zum geplanten Luftdrehkreuz werden kann …»

Erneut quietschte es aus den Lautsprechern, dann hörte man die Stimme des Kapitäns, nun eindeutig nicht mehr sonor, sondern schrill und aufgeregt: «Wer immer hier noch sein Handy auf Empfang hat, macht das bitte jetzt sofort aus! Irgendwas stört die Technik. Das muss aufhören. Vermeiden Sie Panik!!!»

Natürlich gingen wieder alle Blicke zu Goiko. Der jedoch hielt zum Beweis seiner Unschuld das ausgeschaltete Handy in die Höhe und schwenkte es kurz hin und her. Parallel zu dieser Bewegung schlackerte das Flugzeug nach links und dann wieder nach rechts.

«Schalten Sie sofort Ihr Telefon aus!», brüllte es über die Lautsprecher. Goiko sah, wie ihn die anderen Passagiere anspringen wollten, aber niemand traute sich, den Sicherheitsgurt zu lösen. Der Gang-Mann schlug planlos auf Goiko ein, während Kira stumm und verzweifelt mit der Stirn an den Sitz des Vordermanns dotzte. Goiko rief: «Ich versichere Ihnen, mein Handy ist aus! Aus! Aus! Aus!» Dabei hielt er es hoch und schwenkte es beim letzten «Aus!» erneut hin und her, woraufhin das Flugzeug wieder schlackerte.

«Ich kann die Maschinen nicht stoppen! Ich habe keine Kontrolle mehr!!!» Der Kapitän verzichtete längst darauf, sich den Anschein von Ruhe oder Souveränität zu geben. Vielleicht hatte er aber auch nur vergessen, dass er von den Passagieren noch über Lautsprecher zu hören war.

«Wie kann ich es Ihnen nur beweisen? Mein Telefon ist wirklich aus!», schrie Goiko und hielt es abermals hoch. «Tot! Nichts rührt sich! Definitiv!!!»

Dann klingelte das Handy.

Ließ sich die Stimmung im Passagierbereich bis zu diesem Läuten noch mit extrem angespannt beschreiben, bekam sie nun etwas völlig Gelöstes. Aber eben auf eine höchst ungute Weise gelöst. Denn auch die rückhaltlose Bereitschaft zur Lynchjustiz ist frei von aller zivilisatorischen Verkrampftheit. In jedem Fall überstieg der Lärmpegel in der Maschine den der Turbinen in erheblichem Maße, zumindest gefühlt. Goiko starrte fassungslos auf das Display seines doch mit absoluter Sicherheit ausgeschalteten Handys. Tatsächlich leuchtete da ein Punkt. Darunter der Text: «Retten Sie alle, indem Sie das Licht fangen!»

Mit einem durch unzählige Stunden sinnloser Fruit-Ninja-Spiele trainierten Reflex wischte Goiko mit dem Zeigefinger über den Bildschirm und jagte den leuchtenden Fleck. Das Flugzeug wurde daraufhin hin und her geworfen. Goiko war nun klar, dass er mit seinen Wischbewegungen auf dem Display die Maschine steuerte. Er hatte keine Ahnung, warum, folgte aber dennoch den Anweisungen, denn nichts schätzt der Ahnungslose mehr als Klarheit und Stärke. Allerdings manövrierte er nicht gerade sanft. Der Airbus war bereits von der Startbahn abgekommen und ratterte, begleitet von ohrenzerfetzenden Schreien der Passagiere, über die Wiese Richtung Rabatten und Zaun. Goiko bemerkte, dass einige jetzt doch die Gurte gelöst hatten und die Stewards und Stewardessen an ihn ranzukommen versuchten. Auch einen Air-Marshall, der schon seine Waffe gezogen hatte, erspähte Goiko. Während Kira, nur noch genervt, mit den Händen vor dem Gesicht ihren Kopf rhythmisch gegen die Jalousie des kleinen Fensters hämmerte, wollte der dicke Mann ihm das Telefon aus der Hand schlagen, was aber misslang, da seine Arme für seinen massigen Oberkörper ungerechterweise viel zu kurz waren. Das Flugzeug schleuderte hin und her, und niemandem gelang es, bis zu Goiko vorzudringen. Der jagte weiter konzentriert dem Punkt hinterher. Er wusste, dass er damit womöglich eine furchtbare Katastrophe herbeiführen konnte, aber die letzten vierzehn Tage hatten ihn eben auch gelehrt, welch ungeheure Macht das Unwahrscheinliche besaß, wenn es nur erst zur letzten Hoffnung geworden war. Also wischte und hoffte er.

Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass der Air-Marshall nun von mehreren Passagieren gestützt wurde, sodass er die Waffe jetzt tatsächlich einigermaßen ruhig auf Goiko richten konnte.

«LASSEN SIE SOFORT DAS HANDY FALLEN, ODER ICH SCHIESSE!»

Goiko blieb auf das Display konzentriert und hetzte mit seinem Finger unbeirrt dem Licht hinterher. «Wissen Sie nicht, wie gefährlich das Abfeuern einer Waffe im Flugzeug ist?»

«Wir sind ja noch am Boden. Also kein Unterdruck. Das ist nicht anders, als würde ich im Bus einen Schuss abgeben. Außerdem ist das eine Impulswaffe. Spezialanfertigung für die Luftsicherheit. Nur von mir persönlich abfeuerbar, ungefährlich für die Bordaußenwand, aber für Sie so tödlich wie gutes altes Blei.»

Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Goiko das höchst interessant gefunden. Jetzt aber konnte er den Erläuterungen kaum folgen. «Sie verstehen das nicht! Ich verstehe es ja selber nicht, aber ich muss das tun!»

«Wenn Sie das tun müssen … zwingen Sie mich … auch was … zu tun.» Die stockende Stimme des Sicherheitsbeamten verriet, wie unwohl er sich in seiner Haut fühlte. Gerne hätte er noch unabhängige Expertisen zu dieser Situation eingeholt. Doch die Dynamik des Unheils forderte ihr Recht auf überstürztes Handeln ein. Der Koloss auf dem Gangplatz löste seinen Gurt und warf sich auf Goikos Schoß, wodurch er ihn quasi fixierte. Selbst für einen wackligen und nervösen Air-Marshall war er nun zu einem leichten Ziel geworden.

«Schießen Sie!», schrie der Zweieinhalbzentnermann.

«Ja, verdammt! Knallen Sie ihn ab!», brüllten auch andere Passagiere.

Der Air-Marshall rief: «Lassen Sie endlich das Handy fallen! Das ist meine letzte Warnung!» Goiko machte keinerlei Anstalten, der Aufforderung Folge zu leisten, dennoch drückte der Air-Marshall nicht ab. Da ertönte die klare Stimme des Kapitäns aus den Lautsprechern: «Sie müssen den Mann überwältigen. Er wird uns sonst alle umbringen.»

Kira, die in ihrer Verzweiflung versucht hatte, alles so teilnahmslos wie nur möglich zu verfolgen, war überrascht, wie gut und deutlich man in diesem infernalischen Tumult einen Pistolenschuss heraushören konnte. Bei Impulswaffen hätte sie eigentlich nicht so ein herkömmliches Geräusch erwartet. Noch erstaunlicher fand sie allerdings, dass dieser Knall, noch bevor Goiko getroffen war, begleitet wurde von einem Lärm, wie es ihn noch nie auf der Erde gegeben hatte.

Etwas Großes fiel vom Himmel. Etwas sehr, sehr, sehr, sehr, sehr Großes. Dennoch hatte es keiner kommen sehen. Dieses sehr, sehr, sehr, sehr, sehr große Etwas, das nun nicht nur auf das gesamte Rollfeld des Flughafens krachte, sondern sich mit seiner Wucht auch ein gutes Stück in die Erde grub, war der Menschheit unbekannt. Vermutlich. Denn eigentlich war nichts außer einer gewaltigen Staub- und Dreckwolke zu erkennen. Was genau da vom Himmel gestürzt war, konnte noch niemand sagen.

Den Passagieren dämmerte, dass ihr Flugzeug in allerletzter Sekunde dem herabstürzenden, außerordentlich großen Etwas ausgewichen war. Nur eine Reihe höchst unkonventioneller Steuerbefehle hatte sie vor dem Schlimmsten bewahrt. Erst jetzt, als Goiko getroffen worden war, wurde ihnen bewusst, dass er mit seinem Ausweichmanöver allen das Leben gerettet hatte. Außer sich selbst.

Wobei seine absurde Bestimmung zum Helden schon einige Zeit vorher ihren Anfang genommen hatte.

2. Der Lotteriegewinn – Berlin zwei Wochen vor der Eröffnung des Flughafens Berlin-Brandenburg

Goiko Schulz, sechsunddreißig Jahre alt und eigentlich nur für seine Mutter etwas Besonderes, hatte nicht unbedingt einen Masterplan für sein Leben. Nur zwei Jahre fehlten, dann würde er genau so lange studiert haben, wie er zuvor nicht Student gewesen war. Ob er das feiern würde, wusste er noch nicht. Die Mutter fragte ihren einzigen Sohn in unregelmäßigen Abständen nach seinen Zielen. Gerade in beruflicher Hinsicht. Er erklärte ihr dann, dass die Zeiten, in denen man einen Beruf ergriffen, dann vierzig Jahre gearbeitet habe, um schließlich zufrieden in Rente zu gehen, vorbei seien. Heutige Karrieren seien sehr viel schwerer zu planen. Da müsse man flexibel sein und bleiben. Sie erkundigte sich daraufhin gerne, auf wie viele Jahre Flexibilität sie sich denn bei ihm noch so ungefähr einzurichten habe. Worauf er antwortete, die große Chance, der besondere Moment in einem Leben, ereigne sich eben nur ein Mal. Viele Menschen würden ihn verpassen, weil sie zu früh aufgäben und sich in irgendeinen Beruf, irgendeine Laufbahn stürzten. So leicht wolle er sich sein Leben nicht machen. Daher warte er mal noch ab.

Vor rund einem Monat hatte er immerhin nach vielen Versuchen eine Stelle an der Freien Universität Berlin ergattert. Wissenschaftliche Hilfskraft, also studentischer Mitarbeiter bei Professor Metzger, dem Nietzsche-Experten. Allerdings nicht, weil dieser Goiko besonders geschätzt oder protegiert hätte. Professor Metzger mochte überhaupt niemanden. Eigentlich respektierte er kein lebendes Wesen außer seiner Katze. Und kein Kollege wünschte die Zusammenarbeit mit Professor Metzger. Untergebene fürchteten sie. Mit Wissenschaft hatte diese Hiwi-Stelle sowieso wenig zu tun. Goikos Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, Zarathustra zu versorgen, den Kater, der mindestens so arrogant und respektlos war wie der Professor. Die letzte Hilfskraft hatte gekündigt, nachdem Metzger verlangt hatte, er möge dem seinerzeit erkrankten Tier alle Mahlzeiten vorkauen.

Dazu kam die Weigerung Metzgers, sich Goikos Namen zu merken. Er schätzte seinen neuen Mitarbeiter allerdings aufrichtig dafür, dass dieser keinerlei Ehrgeiz oder Interesse an einer wissenschaftlichen Karriere vortäuschte, sondern offensichtlich die einjährige Laufzeit seines Hilfskraftvertrags nur nutzen wollte, um mal ein bisschen Ruhe vor Fragen der Berufsplanung und seiner Mutter zu haben.

Dabei hatte Goiko selbstverständlich Ehrgeiz und Stolz. Sogar nicht zu knapp. Jedoch verfügte er auch über ein ungewöhnliches Talent. Er war ein Meister darin zu erkennen, wie er sich verhalten musste, um möglichst jedem Ärger aus dem Weg zu gehen. Ein Virtuose des strategischen «Sein-Licht-unter-den-Scheffel-Stellens», also der seltenen Kunst der Untertreibung. Einer Kunst, die ihm in aller Regel, so auch bei Professor Metzger und Zarathustra, letztlich zum Erfolg verhalf. Allerdings blieb dieser Erfolg unsichtbar für alle anderen, manchmal sogar für Goiko selbst. Das machte ihm von Zeit zu Zeit mehr zu schaffen, als er zeigen mochte.

Darüber hinaus ergab sich schon kurz nach Antritt der Stelle ein anderes, viel größeres Problem, das Goiko ohnehin verlässlich von den Zumutungen seiner beiden Dienstherren ablenkte: Er hatte sich verliebt. Rettungslos und ohne jede seriöse Hoffnung auf Erfüllung. Denn die junge Doktorin, der er mit Haut und Haar gehörte, obwohl sie bislang wohl weder sein Haar noch seine Haut, noch sonst irgendwas von ihm wahrgenommen hatte, spielte nicht nur in einer ganz anderen Liga als er. Es war sogar eine andere Sportart, deren Regeln man ihm nicht einmal verriet.

Nach allem, was man hörte, war sie brillant. Obwohl erst Anfang dreißig, bereits promovierte Physikerin, Mathematikerin, Philosophin, Ingenieurin der Nanotechnologie, zu allem Überfluss auch noch wahnsinnig gutaussehend. Also vielleicht nicht nach dem Raster von Privatfernsehen und Werbeindustrie. In diesen Welten hätte man sie wahrscheinlich sogar etwas pummelig genannt. Nein, von der modernen Antikörperfetthysterie, die ein ganzes Leben auf die Erstellung eines noch perfekteren Profilbildes ausrichten will, war sie weit entfernt. Auch ihre Kleidung war eher unambitioniert und bewusst sorglos gewählt. Hätte ihr langes, leicht gekräuseltes schwarzes Haar spezieller Pflege bedurft, hätte sie ihm diese wohl verweigert. Nicht von ungefähr hatte sie einen Hang zum Pferdeschwanz. Ihre blasse Haut war vermutlich robuster, als es den Anschein hatte. Für jemanden, der derart diszipliniert und erfolgreich arbeitet, trat sie vergleichsweise höflich, sogar stets freundlich auf. Dass sie dennoch so unnahbar wirkte, war gewiss nichts Persönliches. Sie war eben unterfordert vom Kontakt mit Lebewesen wie Goiko. Völlig desinteressiert an allem, was nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatte. Und weniger als er hätte man kaum mit ihrer Arbeit zu tun haben können. Daher ignorierte sie ihn nicht einfach nur. Sie nahm ihn erst gar nicht genügend wahr, um ihn überhaupt angemessen ignorieren zu können. Kurz, sie verhielt sich wie eine klassische Traumfrau.

Der Großteil von Goikos Gedanken kreiste um sie. Drei Begegnungen hatte er bislang provoziert. Jede war noch deprimierender verlaufen als die vorherige. Den ersten Versuch hatte er in der Mensa unternommen. Nachdem er sie tagelang observiert hatte, bemühte er sich während zwei Essensausgaben vergeblich, den Platz hinter ihr in der Schlange zu ergattern. Im dritten Anlauf aber war es ihm nach fast dreißigminütigem Lauern gelungen. Phase zwei jedoch, das charmante und intelligente Ansprechen, misslang. Unzählige geeignete Sätze hatte er sich vorher zurechtgelegt. Humorige, wie: «Den Vanillepudding würde ich heute lieber nicht nehmen. Einer der Köche hat vorhin verzweifelt seine beige Schürze gesucht.» Den er aber verwarf, weil er mal gehört hatte, dass schöne Frauen keine Sätze mögen, in denen die Farbe Beige vorkommt. Genauso wie er die Variante aussortierte: «Ich weiß nicht, was ich von den Mensaköchen halten soll. Ist Ihnen mal aufgefallen, dass es hier nach Vollmondnächten immer frisches Wild gibt?» Er konnte ja nicht ausschließen, dass sie mit einem der Mensaangestellten befreundet oder gar verwandt war. Deshalb entschloss er sich, einfach auf den Moment und seine Improvisationskunst zu vertrauen. Eine Strategie, die er, obwohl sie noch nie funktioniert hatte, immer wieder gern wählte, da sie am wenigsten Vorbereitung verlangte.

Leider brachte er dann in der Schlange gar keinen Satz heraus. Auch nicht, als er sie auf dem Weg zum Tisch noch einmal einholte und wie zufällig ein wenig neben ihr herlaufen konnte. Als sie einen Einzelplatz zu wählen schien, bei dem es absolut keine Chance gab, sich neben sie zu setzen, ergriff ihn eine solche Verzweiflung, dass er sie in seiner Not vermeintlich ungeschickt anrempelte. Wobei er sich für das Ungeschickte nicht sehr verstellen musste. Auf ihrem Tablett schwappte der Kaffee über, der Joghurt fiel um, und zwei Spritzer klacksten auf ihren Ärmel. Erneut ein für alle anderen unsichtbarer Erfolg Goikos. Aus seinem Entsetzen heraus konnte er nun sogar einen ganzen Satz zu ihr sagen: «Um Gottes willen! Das tut mir sehr leid. Kann ich das irgendwie wiedergutmachen?» Daraufhin schenkte sie ihm tatsächlich ein seine Verliebtheit exponentiell steigerndes Lächeln, und es entfaltete sich sogar ein Dialog:

«Ach, machen Sie sich mal keine Gedanken.»

«Was?»

«Na, sehen Sie, das hat doch gut geklappt. Tschüss.»

Und schon saß sie an dem vor ihm sicheren Einzelplatz.

Goiko recherchierte mehr über sie. Er begriff, dass sie sich völlig über ihre Arbeit und Forschung definierte, weshalb er es bei der zweiten provozierten Begegnung noch intelligenter anging. Der neue Königsweg war der Kontakt über das Fachliche. Er fasste sich ein Herz und sprach sie direkt auf einem der Universitätsflure an:

«Entschuldigen Sie, aber ich habe gesehen, dass Sie sich auch mit Zeitreisen beschäftigen.»

Wieder schenkte sie ihm ein Lächeln, was aber wohl nur die Funktion hatte, ihn in Sicherheit zu wiegen, um in Ruhe den Abschuss vorzubereiten.

«Auch?»

«Bitte?»

Die junge Frau zog eine Augenbraue hoch. «Sie meinten: ‹auch mit Zeitreisen beschäftigen›?»

«Na ja, ach so, nun, ich habe da ebenfalls einige Überlegungen angestellt und dachte, Sie haben vielleicht mal Lust, sich ein wenig über unsere Arbeit auszutauschen. Natürlich ohne Geheimnisse zu verraten, klar. Nur einfach mal zur Entspannung ein bisschen mit einem Gleichgesinnten plaudern.»

«Einem Gleichgesinnten?»

«Sozusagen.»

Das dritte Lächeln. Freundlich wie immer. «Wissen Sie, was? Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Tatsächlich bin ich mit meiner Zeitreise-Forschung schon sehr weit, und bald könnte ich einen Durchbruch erzielen. Sie werden es nicht glauben, aber gerade jetzt bin ich aus der Zukunft genau an diesen Punkt meiner Vergangenheit zurückgereist, nur um mich davon abzuhalten, mit diesem sinnlosen und ermüdenden Gespräch noch mehr Zeit zu verschwenden als schon geschehen. Also dann, tschüss!»

Eine Antwort, die Goiko ermutigte. Schließlich hätte sie auch einfach wortlos gehen können. Daher bereitete er die dritte Begegnung vor, die doppelt demütigend für ihn verlief: Zunächst schien sie sich nicht einmal an Goiko und die Gespräche mit ihm zu erinnern, was bei jemandem mit ihrem Verstand und Gedächtnis schon eine besondere Enttäuschung war. Zudem hatte er sich auf ihre Anzeige beworben. Über das Schwarze Brett der Universität hatte sie jemanden gesucht, der sich während einer Forschungsreise um ihre beiden Meerschweinchen kümmern sollte. Tatsächlich machte sie bei seiner Bewerbung ein kurzes Video von ihm, in dem er sich den Meerschweinchen vorstellen und ihnen erklären sollte, warum er der Richtige für ihre Pflege sei. Einen Tag später teilte sie Goiko per Mail mit, die Meerschweinchen hätten das Video gesehen und sich gegen ihn entschieden. Sie, die Meerschweinchen, dankten aber für seine Mühe.

Nach dieser dritten erfolglosen Begegnung schmiedete Goiko einen folgenschweren Plan. Wie gewohnt dachte er seine aktuelle Lage und alle daraus resultierenden Optionen gefühlt sehr sorgsam durch. So lange jedenfalls, wie er sich konzentrieren konnte, was in der Regel leider bei weitem nicht bis zum Ende war. Er begriff, dass es nur eine Möglichkeit gab: Seine Traumfrau musste sich irgendwie verpflichtet fühlen, ihm einmal eine echte Chance zu geben, um dann zu erkennen, wie gut sie es doch mit ihm treffen würde. Um ihrer beider Liebe und glücklichen Zukunft auf die Sprünge zu helfen, bot sich daher nur eine sinnvolle, logische Maßnahme an: Goiko wartete an jenem Donnerstagvormittag, zwei Wochen vor der Eröffnung des neuen Flughafens, geduldig an der Takustraße, sah seine Traumfrau, wie sie, wie immer sehr zügig, mit ihrem Opel Adam um die Ecke sauste, und trat dann, gemäß seinem brillanten, gründlich halbdurchdachten Plan, in aller gebotenen Unvorsicht auf die Straße. Sie sollte ihn anfahren, dann würde sich schon alles Weitere aufs günstigste fügen.

Nun ist es ein Phänomen der menschlichen Sinne, dass die letzten Bruchteile von Sekunden vor einer Katastrophe oder einem Unfall immer in extremer Zeitlupe durchlebt werden. Es ist erstaunlich, zu welchen Leistungen das menschliche Hirn angesichts einer großen Gefahr fähig ist. Während unsere Sinneswahrnehmung im sonstigen Alltag mehr oder weniger auf schnellen Vorlauf geschaltet ist, man also vieles gar nicht mitbekommt oder sofort wieder vergisst, scheint sie eine Katastrophe richtig zu genießen. Als wollte sie selbst die kleinste Einzelheit bloß nicht verpassen. Es ist vermutlich nicht wissenschaftlich bewiesen, dennoch spricht einiges dafür, dass unser zerebrales Sensorium wohl letztlich alle Eigenschaften eines gewöhnlichen Gaffers hat.

Nachdem Goiko auf die Straße getreten war, sah er die Front des Opels in Zeitlupe auf sich zurasen. Er konnte zwar nicht mehr entkommen, fand jedoch durchaus noch die Zeit zu denken: «Ah, verdammt! Vielleicht doch keine so brillante Idee. Sieht so aus, als ob das viel mehr weh tun wird als vermutet. Möglicherweise ist es sogar eine erschütternd blöde Idee.»

Ja, leider wurde Goiko das Gefährliche und Unberechenbare seines Plans erst zur Gänze bewusst, als es definitiv kein Zurück mehr gab. Seiner Traumfrau gelang es aber zu reagieren. Unfassbar geistesgegenwärtig, ja geradezu außerirdisch schnell, extrem scharf und heftig bremsen konnte sie. Wodurch der Wagen nach leichtem Schleudern ganz knapp vor ihm zum Stehen kam. Die Stoßstange berührte seine Hose, nicht aber das schlotternde Bein darunter. So knapp war es. Hieraus ergab sich für Goiko folgende Gefühlskette: Entschlossenheit, Entsetzen, leichte Enttäuschung, da er sich ja schon mit dem Unheil abgefunden hatte, dann aber doch Erleichterung, weil sein wahrlich dämlicher Plan ohne Folgen geblieben war. Erleichterung, die, als er das vierte Lächeln seiner Traumfrau sah, fast sogar in Glück übergegangen wäre, hätte es nicht noch dieses ungute Geräusch gegeben.

Es gibt ja so Geräusche, die man zwar zum allerersten Mal hört – und doch begreift das körpereigene Alarmsystem sofort das Unheilvolle dieses völlig fremden Klangs. In diesem Fall kam das Geräusch vom Fahrrad der Fahrradkurierin, die mit sehr hohem Tempo im Windschatten des Opels gerast war, aber natürlich überhaupt nicht so schnell und wirksam bremsen konnte und daher auf das Auto auffuhr. Die Kurierin wurde mit der ganzen unbarmherzigen Wucht des Trägheitsgesetzes nach vorn geschleudert, woraufhin sie, mit den Händen voraus und angemessen schreiend, kerzengerade auf Goiko zuflog. Dieser konnte zwar nicht mehr ausweichen, wohl aber noch denken: «So richtig weiß man eben doch immer erst hinterher, wie idiotisch und wirklich vollkommen unberechenbar so ein halbdurchdachter Plan sein kann.»

Dann krachte es. Erheblich. Auf so eine dumpfe Art. Weshalb sich Goikos Sinneswahrnehmung nun erst mal auf den angebotenen Schmerz einließ. Dann sperrte sie den Laden kurzzeitig ganz zu. Wodurch die komplette und nun abgeschlossene Gefühlskette letztlich folgende war: Entschlossenheit, Entsetzen, leichte Enttäuschung, Erleichterung, Verliebtheit, Alarmierung, Erstaunen, Schmerz, Feierabend.

 

Als Goiko wieder zu sich kam, fand er sich ein paar Meter vor dem Wagen in die Kurierin verkeilt auf dem Asphalt liegen. Über ihn gebeugt, gleich einem Engel: die junge Doktorin. Der Engel sprach mit freundlicher Stimme seltsame Sätze:

«Hallo? Alles in Ordnung? Was mich mal interessieren würde: Diese unglaubliche Doofheit – kam die eigentlich einfach so über Nacht? Oder haben Sie die sich mühsam Stück für Stück über einen längeren Zeitraum erarbeitet?»

Goiko versuchte, seine Gedanken und die Knochen zu sortieren. Offensichtlich war wie durch ein Wunder nichts gebrochen, auch nicht ernsthaft verletzt. Außer seiner Würde, aber das war ja in seinem Fall ohnehin nicht so das ganz große Ding. Immerhin hatte sie ihn diesmal wiedererkannt. Ein kleiner Erfolg war also durchaus zu verzeichnen. Langsam begann er, auch wieder zu sprechen: «Könnten Sie mir einen Gefallen tun? Schnell in die Vergangenheit reisen und mich von diesem schwachsinnigen Fehler abhalten?»

Das fünfte Lächeln. «Wenn eines für mich quasi wissenschaftlich bewiesen ist, dann das, dass es wohl nichts im Universum gibt, was Sie von schwachsinnigen Handlungen abhalten könnte. Selbst wenn ich in der Zeit zurückreisen könnte, wäre ich Ihnen und Ihrer speziellen Kraft kaum gewachsen.»

«Ist das ein Kompliment?»

«Es gibt tatsächlich bekannte Zivilisationen, wo das ein gewaltiges Kompliment wäre. In Ihrer aber wohl eher nicht, Herr Goiko Schulz.»

«Sie kennen meinen Namen?»

«Warum sollte ich nicht? Aber nun muss ich dringend los.»

«Bitte? Sie waren in einen Verkehrsunfall verwickelt. Sie können hier nicht einfach … das ist ungesetzlich.»

«Ich muss los. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich aus dieser Geschichte raushalten könnten. Würden Sie das für mich tun?»

«Was?»

Sie stand auf und ging zügig zu ihrem Wagen. «Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar.»

«Inwiefern?»

«Insofern. Glauben Sie mir, es wird sich bestimmt für Sie lohnen. Und dann werden wir auch endlich richtig schön einen Tee zusammen trinken. Versprochen.» Als hätte dieses vage Versprechen Goiko nicht längst gereicht, rundete sie das Ganze mit dem sechsten Lächeln ab. Sie zögerte noch einmal, bevor sie ins Auto stieg, schlug die Augen auf, als wollte sie sagen: «Was soll’s?», und rief Goiko lachend zu: «Auch wenn Sie das jetzt wahrscheinlich weder glauben noch verstehen: Sie haben bislang alles richtig gemacht.» Dann sauste sie davon.

Goiko schaute ihr noch kurz nach, bevor er sich endlich um die Kurierin kümmerte. Sie wirkte äußerlich unverletzt, schien aber benommen. Ihr Atem ging ruhig und regelmäßig. Er kroch unter ihr hervor, hob sie vorsichtig auf den Bürgersteig und bastelte aus seiner Tasche und Jacke ein provisorisches Kopfkissen. Dann holte er das Fahrrad von der Straße. Noch bevor er wieder bei ihr angelangt war, sang es aus ihrer Weste – «Radioactive». Er erkannte den Song und begriff seine Klingeltonfunktion. Goiko fasste sich ein Herz, holte das Handy aus der Brusttasche und ging kurzentschlossen ran. Es hätte ja ein Angehöriger oder Freund sein können. Vielleicht auch der Arbeitgeber, eben jemand, den er informieren und um Rat fragen könnte.

«Ja, hallihallo, spreche ich mit der Kira?»

«Äh, nein.»

«Hier ist der Torben von der Better-Radio-Late-Morning-Show. Ich hätte gern mal die Kira gesprochen.»

«Wer ist da?»

«Better-Radio-Late-Morning-Show. You can bet, we’re better. Better Radio. Na, klickert’s?»

«Die Kira kann grad nicht.»

«Oh, das ist aber schade. Weil, wenn sie nicht sofort antwortet, verliert sie ihre Chance auf den Super-Bonus-Extra-Special-Radio-Better-Gewinn. When you think, things come better, then it’s Better. The best radio in town.»

«Sie verliert?»

«Ja, und das wäre doch schade, wo sie sich schon seit Wochen durch so viele Runden gekämpft hat. Sie ist so weit gekommen. Zu scheitern, nur weil sie einmal nicht die Frage des Tages beantworten kann. Jetzt, so extrem dicht vorm Ziel. Sind Sie sicher, dass sie keine Zeit hat?»

«Extrem dicht vor welchem Ziel?»

«Na, vor ihrem großen Traum! Nur noch eine richtige Antwort, und sie hat es geschafft. Aber sie müsste die Frage natürlich wie immer sofort und richtig beantworten. So sind nun einmal die Regeln. If Better calls, you better answer!»

Goiko starrte auf die Kurierin, die offensichtlich Kira hieß. Sie stöhnte. Er hielt kurz die Hand aufs Handy. «Entschuldigen Sie … Kira … meinen Sie, Sie könnten eine Frage Ihres Radioquiz beantworten?»

«Hmmpffgrhhhhfffmlamm …»

Das hieß dann wohl eher nicht. Goiko beschloss, ihr zu helfen. Ihre Unpässlichkeit war definitiv seine Schuld. Seit Wochen nahm sie an diesem Ratespiel teil, hatte unzählige Runden überstanden, sich wahrscheinlich gegen Zehntausende andere Bewerber durchgesetzt. Er war es ihr schuldig zu helfen, wenn er konnte. Schaffen würde er es ohnehin nicht. Vermutlich ging es um Allgemeinbildung, und da es die finale Frage war, sicher um eine außerordentlich anspruchsvolle Ebene der Allgemeinbildung. Die Wahrscheinlichkeit, dass er die Frage würde beantworten können, war so gering wie die Wahrscheinlichkeit, einen Unfall mit einer durch die Luft fliegenden Fahrradkurierin zu haben. Dennoch hoffte er, es könnte vielleicht einmal ein Folgefehler den Ursprungsfehler aufheben. Also sagte er kurzentschlossen: «Die Kira hat mich beauftragt, für sie zu antworten.»

«Sicher? Die Kira war bislang extrem gut in unserem Spiel. Das wäre ja ein großer Vertrauensbeweis, wenn sie nun ausgerechnet bei der finalen Frage jemanden beauftragt.»

«Sie kann halt gerade nicht, deshalb meinte sie, ich soll doch für sie antworten.»

«Sie sind also ihr Lebensgefährte?»

«Was?»

«Sie wissen, nur Partner, Kinder oder Eltern dürfen ausnahmsweise mal für eine Frage einspringen. So sind die Regeln.»

Goiko überlegte kurz, ob er diese letzte Chance, dem nächsten Desaster auszuweichen, nicht besser nutzen sollte, aber noch bevor er zu einem durchdachten Ergebnis gekommen war, hörte er sich sagen: «Wir lieben uns. Sehr. Wir wollen heiraten.»

«Wirklich?»

«Natürlich. Hätte ich sonst ihr Handy?»

Der Moderator schien plötzlich zu hyperventilieren. «Ooooh, ich ahne was! Was Großes! Ist das hier womöglich gerade Ihr Antrag?»

«Was?»

«Ihr Antrag. Sie machen Kira Ihren Antrag live in Better Radio?»

Goiko wusste nicht, wie ihm geschah, besann sich aber darauf, dass man Verrückten besser nicht widersprach. «Genau. Das hier ist mein Antrag. Live auf Better Radio. Kira, willst du den Rest deines Lebens mit mir verbringen?»

«Wow! Honeymoon live auf Better Radio! Aber wo sonst? The better sound for better romance!»

«Hat Kira damit gewonnen?»

«Natürlich nicht. Der Antrag hat doch mit dem Quiz nichts zu tun.»

Goiko ärgerte sich. Es wäre auch ohne Antrag gegangen. Aber egal, er wollte es jetzt hinter sich bringen. «Können Sie mir bitte die Frage stellen?»

«Natürlich. Also gut. Sie sind bereit. Hier kommt …»

Eine Einspielung startete. Bombastische Musik, die Ouvertüre von «Also sprach Zarathustra» von Richard Strauss, dazu sprach die deutsche Stimme von Bruce Willis bedeutungsschwanger: «Die finale Frage!», in etwa der Intonation, wie sie in anderen Radiospots «Alles – außer Tiernahrung» sagte.

Dann redete der Moderator weiter, allerdings nun mit einem feierlichen, offiziellen, seriösen Tonfall. «Die finale Frage. Sie kennen die Regeln. Zehn Sekunden für die Antwort. Kein Googeln, keine Nachfrage, keine Korrekturen. Bereit?»

Goiko schluckte. Egal, es gab ja längst kein Zurück mehr.

«Bereit.»

«Also gut, die Frage lautet: Was ist der Casimir-Effekt?»

Stille. Zu hören war nur das Ticken einer Uhr im Radiosender. Goiko zählte die Schläge, einer pro Sekunde, und konnte es selbst kaum glauben, als er nach dem achten Schlag wie aus dem Nichts sagte: «Der Casimir-Effekt beschreibt die theoretische Möglichkeit der Entstehung von negativer Energie bis hin zu Anti-Materie-Teilchen.»

«Was?»

«Der Casimir-Effekt erlaubt zumindest theoretisch das Erzeugen von Feldern mit negativer Energiedichte.»

Der Moderator war sichtlich erschüttert. Es war geplant gewesen, die ganze Late Morning Show mit den finalen Fragen für die letzten sechs Kandidaten zu verbringen. Alle sollten derart schwere Fragen bekommen, dass niemand sie würde beantworten können und man am nächsten Tag noch einmal ein großes Stechen mit allen sechs in Konferenzschaltung hätte machen müssen. Das gesamte Konzept für zwei vierstündige Livesendungen war mit einer unerwarteten, richtigen Antwort über den Haufen geworfen worden. Der Moderator überlegte, ob er die Antwort irgendwie für ungültig erklären konnte. Aber dazu wusste er selbst zu wenig über den Casimir-Effekt. Wer hätte denn auch vermutet, dass eine Fahrradkurierin – beziehungsweise ihr Partner – so eine Frage beantworten kann? Welche Fahrradkurierin ist denn mit einem Teilchenphysiker liiert? Mit unfassbar schlecht gespielter, gequälter Begeisterung rief er: «Richtig! Die Antwort ist komplett richtig! Wir haben einen ersten Gewinner!»

In letzter Sekunde war ihm noch eingefallen, wie er zumindest die heutige Sendung retten konnte. Er würde nun einfach behaupten, es gebe mehrere Preise. Dann würde er die anderen Kandidaten bei noch schwierigeren Fragen scheitern lassen, und am Ende hätte eben nur der erste Kandidat gewonnen. Beschwingt von dieser smarten Lösung, fand er zu alter Form zurück. «Ist das nicht wunderbar? Dann wird die Reise ja wahrscheinlich euer Honeymoon, oder?»

«Was?»

«Die Hochzeitsreise.»

«Äh, ja, natürlich. Sozusagen.»

«Wenn das nicht romantisch ist. Better Radio for better romance. Denn …?»

«Ääh … was?»

«Denn wir spielen weder easy noch heavy listening. Wir spielen better listening.»

«Ach so.»

«Kiras Daten haben wir ja bereits. Dann gebe ich Sie gleich an meine Redakteurin weiter, damit sie auch Ihre Daten aufnehmen kann.»

«Muss das sein?»

«Natürlich, die Tickets sind strikt personengebunden und nicht übertragbar. Wie Sie sich denken können, sind die Sicherheitsvorkehrungen extrem streng.»

«Sind sie das?»

«Klar, aber Sie wollen ja auch nicht, dass auf Ihrer Hochzeitsreise irgendwas schiefgeht, oder?»

«Äh, natürlich nicht.»

Goiko hörte, dass auf Kiras Handy ein neuer Teilnehmer anklopfte. «Mama und Papa» leuchtete es in dem Fenster mit der Anrufererkennung.

«Na denn, feiert schön, Goiko und Kira! Und was für eine andere Musik könnten wir nun spielen als diese? Better Radio, denn: Better ist das!»

Goiko erkannte noch die ersten Takte von Alicia Keys’ New-York-Song «Empire State of Mind», dann klackte es ein paarmal in der Leitung, und schließlich war die Redakteurin dran. Wie in Trance gab Goiko ihr seine persönlichen Daten, ehe er sich am Ende doch endlich ein Herz fasste und fragte: «Entschuldigen Sie, was für eine Reise haben wir eigentlich genau gewonnen?»

Die Redakteurin war perplex wegen dieser seltsamen Frage, beantwortete sie aber trotzdem. «Na, das wissen Sie doch. Da spielt Ihre Verlobte doch schon seit Wochen drum. Die ganze Stadt redet davon. Der Jungfernflug. Der erste Flug vom neuen Flughafen. Nach New York! Zwei Tickets. Sie sind dabei!»

3. Nach dem Schuss – Berlin-Brandenburg, am Tag der Flughafeneröffnung

Die Wucht der Impulsladung, die in Goikos Brust eingeschlagen war, warf ihn in den Nebensitz, direkt auf Kira. Zum ersten Mal seit dem Unfall vor zwei Wochen waren sie sich wieder ganz nah, lagen sich in den Armen. Damals war Kira in ihn reingeschossen, diesmal hatte der Air-Marshall ihn in sie geballert.

Die völlige Reizüberflutung der letzten Sekunden hatte für gelähmtes Entsetzen gesorgt. Das aus dem Ruder laufende Flugzeug, der Kampf mit Goiko, der Schuss und schließlich das riesige Ding, das vom Himmel fiel. Kein Wunder, dass sich die sensorischen Betriebssysteme der Passagiere fürs Erste komplett aufgehängt hatten und nun wieder neu starten mussten. Zu groß waren die Arbeitsspeicheranforderungen der gleichzeitigen Anwendungen gewesen. Zumindest für handelsübliche menschliche Gehirne dieser Generationen. Dann aber sortierten sich langsam die Gedanken.

Natürlich starrten alle den niedergeschossenen Goiko an. Gut, er war verrückt gewesen und auch ein Idiot. Außerdem hatte er sein Handy nicht ausgeschaltet, damit den Start sabotiert und alle hier in Gefahr gebracht. Insofern konnte man die Entscheidung, auf ihn zu schießen, im Prinzip vertreten. Das hätte wohl selbst Goiko mit etwas Abstand irgendwann einsehen müssen.

Andererseits hatte es sich nun aber auch erwiesen, dass er allen Passagieren das Leben gerettet hatte. Gerade weil er ein derartiger Blödmann war. Was ganz genau geschehen war, wusste ohnehin niemand. War da wirklich ein Ding vom Himmel gefallen? Hatte man sich tatsächlich noch gerade so durch waghalsige Manöver retten können? Oder war alles bloß Einbildung? Eine kollektive Hypnose oder Wahrnehmungspsychose, ausgelöst durch die Nahtoderfahrung? Vielleicht war es nicht mal eine Nahtod-, sondern eine Ganztoderfahrung. Und nun befand man sich in einer Zwischenwelt. Durch die Scheiben sah man nur endloses Grau. Auch drang ein leicht muffiger Geruch ins Flugzeug. Riecht so das Nirwana? Oder der Himmel? Die Hölle? Falls dem so wäre, wäre dort ja zumindest schon mal rein olfaktorisch nicht so sehr viel, auf das man sich freuen könnte.

Niemand traute sich, diese Fragen zu stellen. Wenngleich sie alle beschäftigten. Für die These der Zwischenwelt sprach, dass der erschossene Goiko plötzlich wieder zum Leben erwachte. Mit einem Geräusch, das klang wie ein aus unendlichen Körpertiefen herausvulpendes Aufstoßen, beinah, als würde er einen Kohlensäuredämon in die Welt schleudern, entwich der vermeintliche Tod wieder aus ihm. Gleichzeitig kehrten Goikos nicht sehr realitätsbezogene Lebensgeister zurück in sein überfordertes Bewusstsein. Auf die anderen Passagiere hatte diese heftige Explosion überschüssiger Luft eine ähnliche Wirkung wie der Pistolenschuss nur wenige Augenblicke zuvor. Fast war es, als würde sich ein Kreis schließen. Als markierten die beiden Geräusche den Beginn und das Ende eines Fensters, in dem für ganz kurze Zeit alles anders war. Einer eigenen Logik folgte. Wo große Sachen vom Himmel fielen und der herkömmliche Tod sich vorübergehend nicht für die Menschen zuständig fühlte. Nun aber kehrte alles ins Übliche zurück. Auch die gespenstische Stille verwandelte sich, obwohl eigentlich niemand was sagte, wieder in eine gewohnte Geräuschkulisse schweigender Menschen.

Den ersten gut verständlichen Satz in diese gar nicht mehr so beunruhigende Ruhe hinein sprach dann auch der Tote: «Oh, tut das weh!!!» Goiko rieb sich mit der rechten Hand die Brust. In der linken hielt er das Handy, das offensichtlich den Schuss abgefangen hatte. Genau genommen war es die Schutzhülle, von der der Impuls einfach abgeprallt war, offensichtlich ohne weiteren Schaden anzurichten. Goiko erinnerte sich. Stoß- und schussfest hatte auf der Packung gestanden. Nicht im Traum hatte er diesem Werbeversprechen geglaubt. Es nur zur Kenntnis genommen. Zu viele «unzerbrechliche» Kämme hatte er in seiner Jugend kaputt gesessen, als dass er solchen Aufdrucken jemals wieder Vertrauen schenken würde. Doch diese Handyschutzhülle war aus anderem Holz geschnitzt. Wobei sie natürlich aus Plastik bestand. Wie sich zeigte, war es ein besonderer, beeindruckender Kunststoff. Der Schlag hatte das Telefon nur heftig auf Goikos Solarplexus gedrückt. Gebrochen, angeknackst oder sonst ernsthaft verletzt war wohl nichts, es blieb bei der kurzen Bewusstlosigkeit und einem nachklingenden Schmerz in der Brust.

«Du lebst?» Kiras Stimme klang fast vorwurfsvoll, obwohl sie es in diesem Fall nun einmal wirklich nicht so meinte. Sie war aufrichtig erleichtert, hatte sich aber andererseits auch schon mit seinem Tod in ihren Armen abgefunden.

«Bist du jetzt enttäuscht?» Goiko war der traurige Unterton in ihrer Stimme nicht entgangen.

«Nein, natürlich nicht. Es ist nur ungewohnt, wenn jemand so einen Schuss in die Brust unverletzt übersteht. Nicht, dass ich das schon mal erlebt hätte, aber man hat ja doch so eine gewisse Erwartungshaltung aus Büchern und Filmen. Und wenn man es dann in echt erlebt, ist man schon überrascht, wenn der Erschossene gar nicht tot ist.» Sie strich ihm über die Stirn, als wollte sie eine Strähne aus seinem Gesicht wischen, was bei Goikos Halbglatze seltsam wirkte. Womöglich hatte sie ihn nun doch einmal mit Charlie verwechselt. Unbewusst, aber immerhin.

Der Kapitän meldete sich wieder über die Bordsprechanlage. «Ich habe den Tower benachrichtigt und einen Arzt angefordert. Sobald dieser Staubregen es erlaubt, werden die hier sein. Gibt es sonst noch Verletzte?» Ein allgemeines leises Wehklagen hob an. Erst jetzt fiel Goiko auf, dass der dicke Nebenmann auch das Bewusstsein verloren hatte. Nachdem er ihm ein bisschen in die Wangen gekniffen hatte, zeigte sich aber, dass er nur vor lauter Panik und Überforderung eingeschlafen war. Fluchtschlafen. Hierdurch waren ihm wesentliche Teile des Geschehens entgangen. Als er aufwachte, begann er sofort wieder, auf Goiko einzuschlagen. Der Air-Marshall, der jetzt auch den Schock seines vermeintlichen Todesschusses überwunden hatte, zog ihn von Goiko weg, wogegen sich der Gang-Mann nach Kräften wehrte. Weshalb ihn der Air-Marshall, um sich und ihm langwierige, komplizierte Erklärungen zu ersparen, nun richtig k.o. schlug. Im Folgenden entschuldigte er sich noch mehrfach bei Goiko für dessen Erschießung, wobei er nicht zu erwähnen vergaß, dass er ja letztlich auch nur seine Arbeit verrichte.

Goiko dankte ihm, befreite sich von Kira und dem Gurt, stieg über den kampfunfähig geschlagenen Nebenmann und machte sich unsicheren Schrittes auf den Weg zur Toilette. Allerdings nicht aus herkömmlichen Gründen. Eine frische SMS, die er während des kleinen Scharmützels auf dem Nachbarsitz unbemerkt hatte überfliegen können, erteilte ihm mehr oder weniger den Befehl, schnellstmöglich die Flugzeugtoilette aufzusuchen. Da sein Telefon ihm bereits zweimal das Leben gerettet hatte, beschloss er, dieser Anweisung zu folgen. Was sollte schon passieren? Kaum hatte er die Kabinentür abgeschlossen, nahm das Handy wieder Kontakt auf. Diesmal jedoch sprach es laut hörbar zu ihm:

«Guten Tag, Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich darauf gefreut habe, endlich direkt mit Ihnen reden zu können.»